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Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)

Martin Walser: Ehen in Philippsburg (1957)

Die Verlogenheit der „besseren“ Gesellschaft und wie man ihr verfällt

Philippsburg ist eine Chiffre für Stuttgart, und der Roman spiegelt die Erlebnisse von Martin Walser als junger Rundfunkschaffender in Stuttgart. Später sprach Martin Walser von der demütigenden Erfahrung, wie ihm deutlich wurde, dass er niemals in der Stuttgarter „besseren“ Gesellschaft akzeptiert werden würde. (Er wollte dann vermutlich auch gar nicht mehr akzeptiert werden.)

Der Roman handelt von Hans Beumann, der frisch nach der Vollendung seines Studiums nach Philippsburg kommt und dort als Kommunikationschef für den Industriellen Volkmann zu arbeiten beginnt, der Rundfunk- und Fernsehgeräte produziert. Dazu muss er gegen seine Überzeugung auf eine möglichst populäre – sprich: niveaulose – Programmgestaltung der Rundfunksender hinarbeiten, damit möglichst viele Menschen solche Geräte kaufen. Auch muss er die Firma Volkmann bei denen sympathisch machen, die aufsteigen, und darf nicht zu denen loyal sein, die verlieren. Beumann ist sich bewusst, dass er damit seine Ideale verrät, stimmt aber nach kurzen Bedenken zu.

Auf einer Party (am Anfang des Buches), auf der alle Größen der Philippsburger Gesellschaft anwesend sind, wird mit oberflächlichem Lob und geheuchelten Komplimenten nicht gespart. Hans Beumann lässt sich zum Sex mit Anne, der Tochter seines neuen Chefs, verführen. Daraufhin entwickelt sich ein Abtreibungsdrama mit allem drum und dran, wie man es sich für die damalige Zeit eben so vorstellt, und Beumann macht dabei eine sehr dumme Figur. Das alles wird konterkariert durch Rückblenden zu Beumanns Mutter, die ihren Sohn als uneheliches Kind auf die Welt brachte. Als alles vorbei ist, verlobt sich Beumann mit Anne (Verlobungsparty gegen Ende des Buches).

An der Figur des Dr. Benrath wird das Drama des Liebhabers durchgespielt, der ständig heimlich tun muss, der sich nicht von seiner Geliebten lösen kann, der die Geliebte aber auch nie wird heiraten können. Es folgt der Selbstmord der betrogenen Ehefrau und die gefühlskalte Reaktion des Dr. Benrath, der damit auch den Draht zu seiner Geliebten verliert und die Stadt verlassen muss.

An der Figur des Rechtsanwaltes Dr. Alwin und seiner Ehefrau Ilse wird ein Ehepaar gezeigt, das völlig auf Ehrgeiz und die Beförderung der Karriere des Ehemannes getrimmt ist. Die Beziehung zur Ehefrau ist geschäftsmäßig kühl, nebenbei hat Dr. Alwin eine Geliebte. Dr. Alwin ist ein narzisstischer Egomane, der glaubt, sich alles erlauben zu können, und fühlt sich dabei noch großmütig. Er hält sich für einen fürsorglichen Ehemann, weil er nicht vor anderen prahlt, eine Geliebte zu haben. Als er fahrlässig einen Motorradfahrer totfährt, wälzt er die Schuld auf andere ab und sucht Trost bei seiner Geliebten. Manchmal fragt sich Dr. Alwin, wozu er das alles tut: Für ihn besteht der wahre Sinn des Lebens in Faulenzen und Ficken.

Am Ende des Romans wird Hans Beumann in den Nachtclub Sebastian eingeführt und feierlich aufgenommen, zu dem nur die „bessere“ Gesellschaft Zutritt hat: Hier trifft man alle Männer, die man zuvor im Roman kennengelernt hat, in ausgelassener Runde wieder. Zu jedem Gast gesellt sich sofort ein Mädchen. – Hans Beumann stellt sich einem ungebetenen Gast aus der niederen Gesellschaft entgegen, in dessen Charakter er den Charakter der Spielkameraden seiner Kindheit wiedererkennt. Er schlägt ihn nieder und wird als Held bejubelt. Im Nachtclub Sebastian trifft Hans Beumann auch Marga wieder, seine wahre Liebe. Anfängliche Bedenken, die Dienste von Marga in Anspruch zu nehmen, wischt der frisch mit Anne verlobte Hans Beumann bald beiseite, und so lässt er sich von Marga – als Kunde – ins Bett ziehen. Dass er sie liebt, bringt er nicht mehr über die Lippen, doch ist Hans Beumann wild entschlossen, noch oft bei Marga vorbeizuschauen, parallel zu seiner Ehe mit Anne. Am Ende des Romans ist Beumann überrascht davon, wie leicht ihm die Lügen vor Anne von den Lippen gehen.

Während des Romans wirft Beumann nach und nach seine moralischen Bedenken ab und verrät auch wiederholt seine Herkunft aus einem Provinznest. Der Kontrast zu Beumann ist Herr Klaff, der nicht einmal als Pförtner akzeptiert wird, Suizid begeht, und Beumann seine Aufzeichnungen hinterlässt („Spielzeit auf Probe“). Diese irritieren Beumann ein wenig, können ihn aber nicht auf seinem Weg stoppen, ein Arschloch unter Arschlöchern zu werden.

Die „bessere“ Gesellschaft beschwört immer wieder Familie und Christlichkeit, lebt selbst aber völlig anders: Ein klarer Fall von „rechts reden, links leben“. Der mächtige Chef der Philippsburger Zeitung Büsgen ist sogar schwul und bringt zu Parties wie selbstverständlich „einen seiner Jünglinge“ mit (der Roman erschien 1957). Die Eliten haben auch eine positive Einstellung zum Militär und pflegen Kriegsrhetorik. – Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Rückkehr zum Christentum nach dem verlorenen Krieg in der „besseren“ Gesellschaft nur geheuchelt und der vorherrschende Konservatismus dumpf und dunkel war. Wie Walser später deutlich machte, geht es aber nicht gegen diese oder gegen jene politische Richtung, sondern vielmehr ist die „bessere“ Gesellschaft immer verlogen, egal ob sie konservativ ist oder nicht. Man kann auch dumpf und dunkel links sein, und „links reden, rechts leben“ ist heute der Hit. Walser: Es kommt für diese Leute nicht darauf an, ob sie links oder rechts sind, sondern darauf, dass sie in der ersten Klasse fahren! (aus dem Gedächtnis zitiert)

In etlichen Passagen findet sich bereits jener Topos, der später beherrschend für Walsers Bücher werden wird: Der tatenlose innere geistige Kampf des Ohnmächtigen angesichts eines Mächtigeren.

Es sind etwas zuviele Metaphern im Text.

Eingestreut in den Roman finden sich viele kleine Miniaturen:

  • Die aufdringlich modern sein wollende Mutter Annes.
  • Die grundsätzliche Unmöglichkeit der Annäherung an andere Menschen.
  • Die Hure Johanna in der Straße der armen Leute.
  • Kleinheitserfahrungen des Neulings angesichts der angeblich „besseren“ Gesellschaft.
  • Die Erfahrung der ersten selbstgekauften guten Klamotten.
  • Eine Karikatur auf damalige Rundfunkstudios.
  • Die Erfahrung, dass Komplimente einen auch dann beeinflussen, wenn man weiß, dass sie geheuchelt sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 10. Januar 2022, mit zensierten Kraftworten)

Jules Verne: Die Geheimnisvolle Insel (1874)

Oller Schinken? Weit gefehlt: Wunderbare Erzählung!

Die „ollen Schinken“ von Jules Verne werden plötzlich wieder lesbar, wenn man sie als Hörbuch genießt: So manche Länge fällt gar nicht mehr als solche auf, weil der Hörer sich in eine genießende, passive Haltung begibt. Vermutlich las man Bücher früher so, wie man sie heute hört?

Jedenfalls ist Jules Vernes „Geheimnisvolle Insel“ eine wunderbare Erzählung, die Jules Verne Schritt um Schritt vor den Augen des Lesers entfaltet. Ganz unterschiedliche Charaktere fliehen gemeinsam aus Gefangenschaft und landen auf einer einsamen Insel, wo sie sich zurecht finden müssen. Dabei spielt jeder Charakter seine Stärken aus. Nebenbei ist dieses Werk auch ein Loblied auf die Zivilisation, deren Aufbau aus einfachsten Verhältnissen hier exemplarisch beschrieben wird. Robinson Crusoe ist nichts dagegen. Der Ingenieur als Führungsfigur wird geradezu als Ikone der Wissenschaft verherrlicht. Der Aufbau der Zivilsation macht so manche Länge des Werkes aus, die im Hör-Modus aber kurzweilig bleibt: Es ist in Wahrheit richtig interessant!

Die einsame Insel hält außerdem ein Geheimnis vor, das die Gefährten erst nach und nach kennenlernen. Der Leser rätselt mit ihnen mit.

Was dieses Werk so angenehm macht, ist vielleicht auch der Umstand, dass es ein Werk aus einer besseren Zeit ist, aus einer besseren Welt: Man glaubte noch an Nation und Menschheit gleichermaßen, an Zivilisation und Wissenschaft, an Menschlichkeit und Wehrhaftigkeit. Die Welt, die sich auf der geheimnisvollen Insel entfaltet, ist eine Welt, die in Ordnung ist. Unsere Gegenwart sollte sich davon eine dicke Scheibe abschneiden.

Als Hörbuch gehört. Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 22. März 2016)

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel (1988)

Gescheiterte literarische Verarbeitung verschwörungstheoretischen Denkens

Zentrales Thema des Romans „Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco ist die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern für Geheimgesellschaften und die von diesen gehüteten oder gesuchten oder enthüllten Geheimnisse. Geheimgesellschaften sind hier z.B. Templer, Rosenkreuzer, Jesuiten, Freimaurer. Geheimnisse sind hier z.B. der Gral, der Stein der Weisen, die Kabbala, Magie oder pseudo-wissenschaftliche Theorien wie Pyramidengeheimnisse, Hohlwelt und Erdströme. Diese Thematik wird anhand eines Lektoren-Trios in einem Mailänder Verlag entfaltet: Immer wieder kommen sie mit verrückten Autoren in Kontakt, die ihnen Manuskripte voller Verschwörungstheorien unterbreiten.

Das Buch beginnt mit einer furiosen Einleitung, in der der Autor etwas zuviel mit gebildeten Assoziationen brilliert; eine Stilart, die wohl für italienische oder französische Literatur typisch ist. Die ganze erste Hälfte des Buches besteht anschließend darin, in kaum zusammenhängenden Ereignissen die verschiedensten Geheimgesellschaften und Geheimnisse kennen zu lernen, und auch eine Reihe obskurer, typischer Charaktere einzuführen. Dazu entführt der Autor den Leser auch kurz nach Brasilien zu synkretistischen Kulten. Zu lange ist nicht erkennbar, wohin das alles führen soll.

Die zweite Hälfte des Buches besteht darin, dass die drei Lektoren alle diese Geheimgesellschaften und Geheimnisse aus Spaß nach der Methode der Leichtgläubigkeit der Verschwörungstheoretiker zu einem großen Ganzen verknüpfen: Ausgehend vom Verbot der Templer im Mittelalter würden seitdem verschiedene Abspaltungen der Templer unter verschiedenen Namen der verloren gegangenen Karte zu dem verloren gegangenen Geheimnis der Templer nachjagen: Über Francis Bacon und dessen wissenschaftlicher Utopie „Neu-Atlantis“, Athanasius Kircher, der Synarchie von Agartha, bis hin zu Freimaurern und den „Protokollen der Weisen von Zion“. Die ganze bekannte Geschichte wird nach diesem Muster umgedeutet. Als einer der Lektoren diesen „großen Plan“ einem Verschwörungstheoretiker erzählt und behauptet, er habe das Rätsel der Karte gelöst, wird aus der Phantasie Wirklichkeit: Die leichtgläubigen Verschwörungstheoretiker nehmen den aus Spaß ersonnenen „großen Plan“ ernst, sehen sich selbst als die Erben der angeblichen templerischen Gruppierungen, und versuchen, das vermeintliche Geheimnis der Karte zu erpressen.

Das Ende des Buches ist enttäuschend: Das große Finale in Paris ist frustrierend, weil nur destruktiv. Das eigentliche Geheimnis enthüllt der Autor erst einige Kapitel später: Dass es keine Geheimnisse gibt, und dass es Momente des Glücks im Leben gibt, die man erst hinterher als solche erkennt. So wahr es auch ist: Für ein Werk dieses Autors und bei diesem Thema hätte man sich etwas mehr erwartet; auch die Erkenntnis, dass das verschwörungstheoretische Denken unausrottbar ist, ist nicht sehr originell.

Zudem gibt es gegen Ende noch ein Kapitel, in dem etwas trocken versucht wird, in aller Kürze eine theoretische Grundlage für die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern nachzureichen (Kapitel 118, S. 795 ff.): (a) Die Verschwörungstheorie als Ersatz für den Glauben an Gott, als Erklärungsmuster. (b) Zentral ist das analogische, zu schnelle Schließen. (c) Je mehr Verschwörungstheoretiker einen Analogieschluss bekräftigt haben, desto leichter wird er geglaubt. (d) Verschwörungstheoretiker wollen überall Pläne und Zusammenhänge sehen und greifen Anregungen begierig auf. (e) Verschwörungstheoretiker kompensieren eigenes Versagen mit der Idee, dass sie Opfer einer großen Verschwörung wären. (f) Je mehr man etwas bestreitet, desto mehr wird es geglaubt. (g) Ein Geheimnis ist nur so lange interessant, wie es geheim ist, also darf es nie enthüllt werden bzw. der Inhalt zählt in Wahrheit gar nicht. – Entgegengehalten werden zwei Neins: (1) Das Bekenntnis der eigenen Unwissenheit. (2) Die Ablehnung, Verschwörungstheoretiker mit einer Erfindung zufrieden zu stellen.

Das Experiment, das der Autor mit diesem Buch versucht, ist interessant, aber letztlich gescheitert: Es ist der Versuch, die Leichtgläubigkeit von Verschwörungstheoretikern literarisch vorzuführen. Das scheitert aus zwei Gründen: (1) Wo das Buch literarisch ist, scheitert es, weil die Wirklichkeit die Satire leider überholt, und weil Argumente gegen Fiktionen auf nicht-fiktionaler Ebene eher überzeugen würden. (2) Wo das Buch sachlich eine theoretische Grundlage geben will, ist es zu trocken für ein literarisches Werk, und zu knapp für ein sachliches Werk. Neben dem erwähnten Theoriekapitel fiel dies auch bei der Besprechung der „Protokolle der Weisen von Zion“ auf: Der Autor will hier so intensiv aufklären, dass es nicht mehr literarisch wirkt. Es mangelt auch an sauberen Definitionen und Abgrenzungen: Insbesondere Pseudowissenschaft kann im Zusammenspiel mit wissenschaftlichen Irrtümern zum Verwechseln nahe an echter Wissenschaft liegen und ist ein Problem für sich, das eigentlich nicht in das Schema dieses Buches passt.

Fazit: Ein interessanter, sympathischer, literarisch anspruchsvoller Versuch, mit vielen gelungenen Stücken und Ideen und getragen von guten Intentionen, aber ein Versuch, der dem Thema aus fundamentalen Gründen nicht gerecht werden konnte.

Das Buch bearbeitet eine ganze Reihe von Nebenthemen:

Das Elend des Verlagswesen im Allgemeinen und das Unwesen der Zuschussverlage im Besonderen. Der Verlag der drei Lektoren ist zweigeteilt: Ein Verlag für die seriösen Werke, und ein Zuschussverlag im selben Haus, an den man die Verschwörungstheoretiker weiter vermittelt. Charakterstudien von Menschen, die teuer dafür bezahlen, dass ihr Buch gedruckt wird.

Die Zeit und der Geist von 1968. Treffen in Studentenkneipen, theoretische Diskussionen, Demonstrationen und Terrorismus. Dann der Wandel der 68er zu Esoterikern und Bürgerlichen, die ihre Ideale verraten bzw. auf esoterischer Ebene fortführen, wo sich deren Irrationalität umso deutlicher entlarvt.

Partisanen und Mitläufer der Faschisten in Italien am Ende des Zweiten Weltkrieges: Der Autor zeigt menschliches Verständnis für Mitläufer, was ein Klischee durchbricht, schweigt aber über die Verbrechen der Partisanen.

Atlantis wird zwar etwa dreimal kurz erwähnt, ist für den Autor aber praktisch immer nur eines von vielen Elementen in längeren Aufzählungen verschwörungstheoretischer Ideen. Dass Atlantis ursprünglich von Platon erwähnt wurde und dort einen seriösen Zweck hatte (ob erfunden oder nicht), bleibt im Gegensatz zu anderen Verschwörungstheorien unaufgeklärt. Ein möglicher Ort für das untergegangene Atlantis wird nicht angegeben. Die Seite 581 geht noch am ausführlichsten auf Atlantis ein: Dort ist Atlantis kein Ursprungs- sondern eher ein Durchgangsort der Menschheit, ein Glied in der esoterisch-pseudo-wissenschaftlichen Kette von Pangäa, Mu, Atlantis, Ägypten und den Kelten. Diese Darstellung von Atlantis entspricht dem Ansatz dieses Buches: Esoterische Verschwörungstheorien stehen im Mittelpunkt, das Problem der Pseudowissenschaft und wissenschaftlicher Irrtümer hingegen bleibt weitgehend unbeleuchtet.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 08. September 2012)

Thomas Mann: Der Zauberberg (1924)

Aufforderung zur politisch-weltanschaulichen Selbstprüfung mit Neigung zu Liebe und Liberalismus

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erscheint zunächst als Bildungsroman im klassischen Sinn, doch entpuppt er sich im Laufe der Handlung immer mehr als eine Aufforderung des Autors an seine Zeitgenossen, ihre politisch-weltanschaulichen Ansichten zu überprüfen.

Inhalt

Hauptperson ist der junge Hans Castorp, der einen jugendlich-unreifen „Herrn Jedermann“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg repräsentiert. Unverkennbar sind Züge Kaiser Wilhelms II. eingearbeitet. Gewisse nekrophile Züge aufgrund von Naivität und Nostalgie sind ebenfalls vorhanden. Dieser Hans Castorp reist zu Besuch in ein Tuberkulose-Sanatorium nach Davos, bleibt dann aber wegen vermeintlicher Krankheit volle sieben Jahre dort.

Hans Castorp durchläuft in diesen sieben Jahren nur wenige eindeutige Entwicklungsschritte seiner Persönlichkeit; in der ersten Hälfte des Buches dominiert die Begegnung mit Madame Chauchat, der Hans Castorp als erster Frau in seinem Leben seine Liebe gesteht. Er entwickelt Eigeninitiative und besucht Sterbende. In der zweiten Hälfte des Werkes geht er unerlaubterweise Skifahren und findet in dem berühmten Schneetraum für sich die Formel, dass der Tod zum Leben gehört, und Leben und Liebe über den Tod zu stellen sind. Diese Entscheidung wird im Rahmen einer Séance noch einmal deutlich erneuert und bekräftigt. Schließlich übt Hans Castorp eine gewisse Autorität auf die übrigen Bewohner des Sanatoriums aus.

In der Hauptsache werden im Laufe der Handlung verschiedene Charaktere vorgestellt, die als Lehrer und Vorbilder Einfluss auf die Hauptperson auszuüben versuchen. Dabei handelt es sich zunächst um den klassischen Liberalen Settembrini, der Rationalität, Demokratie, Marktwirtschaft und einen etwas naiven Fortschrittsglauben vertritt, und um Naphta, einen zum Katholizismus konvertierten Juden, der als Jesuit und Fortschrittsskeptiker die geschlossenen Weltbilder der Religion oder des Kommunismus lobt. Es ist recht interessant zu lesen, wie Naphta die Positionen Settembrinis geschickt zu unterlaufen versucht. Man könnte Naphta auch als einen Vertreter des Absoluten, Settembrini als einen Vertreter des Relativen sehen – deren Standpunkte bei tieferem Denken vielleicht zusammen fallen würden. Man könnte sie grob als konservativ vs. progressiv sehen (sofern man den Kommunismus nicht als progressiv in die Rechnung nimmt), oder als „links“ gegen „rechts“ (wobei sehr die Frage wäre, wer von beiden hier eigentlich was wäre!). Das ungewöhnliche Duell der beiden am Ende des Buches bringt deren Positionen in ungeahnter Weise auf die Spitze.

Als gelungene Überraschung präsentiert Thomas Mann als dritten Charakter Mynheer Peeperkorn, der überhaupt keinen rational fassbaren Standpunkt vertritt, sondern ganz aus seinem Gefühl heraus lebt. Er nimmt alle Menschen um ihn herum durch sein Charisma für sich ein, redet aber praktisch ohne Inhalt und Zusammenhang. Er ist ist einerseits ganz Gentleman, andererseits übt er auch unausgesprochenen Zwang auf die ihm ergebene Gesellschaft aus, unter anderem auch durch seine Freigiebigkeit. Und er hat keine Hemmungen gegen inhumane Gefühlsregungen. Das Gespräch von Settembrini und Naphta verstummt in seiner Gegenwart – sie denken, aber er lenkt, und kümmert sich nicht um Gründe, Argumente und Bedenken. In moderner Sprache ist Mynheer Peeperkorn gut in der inhaltsleeren, einwickelnden Sprache der „Sozialen Kompetenz“. Und in der Tat: Er ist ein erfolgreicher Manager. Auch seine Freundin, Madame Chauchat, ist anti-rational: Sie mag Settembrini nicht. Was die Persönlichkeit anbetrifft, kann Hans Castorp von Mynheer Peeperkorn zwar eine Menge lernen, aber wo Mynheer Peeperkorn ist, da leiden die beiden alten Freunde von Hans Castorp, Settembrini und Naphta.

Hans Castorp entscheidet sich weder für noch gegen eine der drei Positionen, sondern zeigt sich allen drei gegenüber offen, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Am Ende des Romans findet er in dem Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ sein Credo beschlossen: Leben und Tod gehören zusammen, das Leben steht über dem Tod. Dann entschwindet Hans Castorp in den Wirren des Ersten Weltkrieges, und der Leser bleibt mit der Frage zurück, was der Roman ihm sagen will, ähnlich dem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, an dessen Ende das Publikum aufgefordert wird, sich selbst eine Lösung für die gezeigten Probleme zu suchen.

Aussage

Es gibt genügend Fingerzeige und Tendenzen, die die Aussage des Romans erschließen. Ganz offensichtlich will Thomas Mann mit diesem Roman (1924) eine Mitteilung an die deutsche Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg machen, die in der Person von Hans Castorp repräsentiert wird. Thomas Mann verlangt, dass die Untertanen von einst erwachsen werden, dass sie in ihrer Persönlichkeit reifen. Er zeigt, dass in dem Widerstreit der verschiedenen politisch-weltanschaulichen Richtungen ein Wert an sich liegt, und dass es eine Gefahr ist, dass ein Mynheer Peeperkorn kommen könnte, der diesen nützlichen Streit beendet und offene Rationalität durch zwingendes Gefühl ersetzt: Ein Tyrann, der weder Rechts noch Links ist, dem sich die Deutschen unterwerfen. Was Naphta und Settembrini anbetrifft, neigt Thomas Mann ganz eindeutig eher zu Settembrini, denn dieser wird wesentlich sympathischer gezeichnet. Er ist nicht auf kalte Weise rational, sondern hat ganz offensichtlich auch ein gutes Herz. Er wird als erster eingeführt, er hat nie aufgehört, an Hans Castorp zu glauben, und er ist der einzige der drei Charaktere, der am Ende noch lebt und Hans Castorp ins Leben verabschiedet.

Literarisches

Der Zauberberg liest sich wesentlich flüssiger als Buddenbrooks, und es ist eindeutig das bedeutendere Werk Thomas Manns. Angeblich hat Thomas Mann den Nobelpreis in Wahrheit für den Zauberberg erhalten, und nur wegen des Einspruchs eines Jury-Mitgliedes verlieh man den Preis offiziell für den Buddenbrooks.

Thomas Mann hat dieses Werk ursprünglich als Kurzgeschichte geplant, und wie man es von vielen Kurzgeschichten her kennt, hat jedes Wort eine Bedeutung, und alles steht mit allem in einem symbolischen Zusammenhang. Weil diese Kurzgeschichte nun aber 1000 Seiten umfasst, ist die Zahl der Anspielungen schier unausschöpflich. Man wird vermutlich auch bei einem dritten und vierten Lesen nicht alles entschlüsseln können. Es gibt viele Anspielungen auf Goethes Faust. Aber auch auf die Völker Europas und ihre Charaktere und Besonderheiten. Die Rolle der Musik. Oder der Gegensatz von Bergwelt und Flachland (nicht zufällig kommt Mynheer Peeperkorn aus dem flachesten aller Flachländer). Jede Kleinigkeit bekommt in diesem Roman eine symbolische Bedeutung, selbst so unbedeutende Dinge wie die Betätigung eines Lichtschalters oder die Wahl des Picknickplatzes. Es ist wirklich unglaublich.

Bemerkenswert sind die immer wiederkehrenden Betrachtungen zum Thema Zeit. Thomas Mann experimentiert literarisch mit verschiedenen Zeiterfahrungen und Zeitbetrachtungen, und nimmt den Leser in diese mit hinein.

Nationalsozialismus

In bezug auf den späteren Nationalsozialismus eröffnet das Werk eine völlig neue Sicht, und man kann sagen, dass es für das Jahr 1924 ein wahrhaft prophetisches Werk ist. Hitler sitzt 1924 gerade im Gefängnis und schreibt an „Mein Kampf“; von seinem späteren Format ist praktisch noch nichts zu sehen. Hitler wird natürlich in der Person von Mynheer Peeperkorn vorausgesehen. Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg wird klar: Alle Interpretationsversuche, Hitler politisch nach Kategorien wie „rechts“ oder „links“ interpretieren zu wollen, müssen fehlschlagen. Wie Mynheer Peeperkorn war Hitler nämlich weder-noch, sondern lebte hauptsächlich anti-rational aus seinem Gefühl heraus. Aus dem vermeintlichen Gefühl seines vermuteten „arischen Blutes“ heraus, könnte man sagen. Hitler sah den Vorzug der „arischen Rasse“ nicht so sehr in einer höheren Intelligenz (wie viele heute fälschlich meinen!), sondern vor allem in dem „richtigen“ Gefühl bzw. Charakter: „Arier“ sind mutig, treu, ehrlich usw., während Slaven, Juden usw. feige, treulos und Hitlers Meinung nach vielleicht gerade wegen ihrer Intelligenz (!) „verschlagen“ seien. Intelligenz-Tests waren für Hitler „jüdische Tests“, ihn interessierte Intelligenz, Rationalität und Bildung nicht nur nicht, er lehnte sie ab!

In einem bekannten Zitat Hitlers kommt die Nähe von Hitler und Peeperkorn besonders zum Ausdruck: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. … Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. … Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. … Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. … Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.“ – Für Hitler zählt der Trieb, das Gefühl, das Leben aus dem Gefühl, das richtige Gefühl, und in keiner Weise Wissen, Intelligenz, Rationalität, Intellektualität, Bildung. Und so wie Hitler das „herrliche Raubtier“ sehen will, so möchte auch Mynheer Peeperkorn im Zauberberg gerne sehen, wie ein herrlicher Adler seine Krallen in ein Beutetier schlägt, wie es seiner Natur entspricht.

Mithilfe des Zauberberges erkennt man nun klarer: Es ist kein Zufall, dass es niemals eine ausformulierte Ideologie des Nationalsozialismus gab. Es kann auch gar keine geben. Vielmehr versprach Hitler wie Mynheer Peeperkorn allen alles, „rechts“ wie „links“ wurden gleichermaßen bedient, was schon der Name „Nationalsozialismus“ andeutet. Zudem wurde mit sozialen Gaben nicht gespart, wie wir heute wissen, woran auch Peeperkorn es nicht fehlen ließ. Das Chaos in der NS-Regierung rührte nicht nur von verqueren Charakteren und Machtkalkül her, sondern auch ganz einfach daher, dass es von Anfang an keinen Plan gab, was „Nationalsozialismus“ eigentlich sein sollte, so dass jeder darin etwas anderes erblickte. Selbst der Plan zur Ermordung der Juden existierte zum Zeitpunkt der Machtergreifung noch nicht, sondern entwickelte sich erst im Laufe der folgenden Jahre. Die Ermordung der Juden kann zudem nur sehr begrenzt rational erklärt werden; es handelt sich vielmehr ganz offensichtlich um eine irrationale Entscheidung, wie so vieles am Nationalsozialismus. Ein anderes Beispiel: Bis heute debattiert man, ob Hitler an Gott glaubte oder nicht, weil widersprüchliche Aussagen dazu von ihm existieren. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man begreift, dass Hitler kein rational wohlgeordnetes Weltbild hatte, sondern es jeweils aus dem Gefühl heraus entschied, was er gerade glaubte.

Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist es ein Grundirrtum, den Nationalsozialismus mit dem Links-Rechts-Schema erklären zu wollen, und es ist ein noch größerer Irrtum, den Nationalsozialismus einseitig der „rechten“ (oder auch der „linken“) Seite zuschlagen zu wollen. Der Nationalsozialismus im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist nicht diese oder jene erfolgreiche oder irrige Variante von Zivilisation, wie man es von „rechts“ und „links“ sagen könnte, er ist vielmehr der Bruch mit der Zivilisation selbst: Der Streit von Settembrini und Naphta kommt zum Schweigen unter der Wucht von Mynheer Peeperkorn. Auch das Wort „Wucht“, das für die Propaganda von Goebbels eine zentrale Rolle spielte, wird bei Thomas Mann mehrfach im Zusammenhang mit Mynheer Peeperkorn verwendet. Die Voraussicht auf die kommende Gefahr, die Thomas Mann hier 1924 zeigte, ist in der Tat erstaunlich. Interessant allerdings auch, dass das Buch das Kommende nicht verhindern konnte, obwohl es rechtzeitig Aufmerksamkeit bei vielen fand. Die süße Versuchung durch das Gefühl scheint oft stärker zu sein als die Rationalität, wie der Roman selbst sagt.

Man beachte: Die Exzesse des real existierenden Kommunismus können nicht damit entschuldigt werden, dass sie „rationaler“ als die Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen wären. Die Irrationalität lauert hier nur an einer anderen Stelle, in einer anderen Weise. Mordtaten sind stets irrational und ein Zivilisationsbruch, sonst wären es keine Mordtaten. In der Aufteilung von politischen Positionen auf die Charaktere überzeugt Thomas Mann gerade dann nicht ganz, wenn man an den Kommunismus denkt. Weil Thomas Mann ein Dichter und kein Philosoph war, ist mit solchen Schwächen zu rechnen. Hier gilt das Wort Goethes: Literatur kann begleiten, nicht jedoch leiten.

Gegen heutigen Unsinn

Leider sind die genannten Einsichten über den Nationalsozialismus heute verschüttet. Der Nationalsozialismus gilt zur Zeit einseitig als rechtsradikale Ideologie. Die „linken“ Aspekte des Nationalsozialismus werden oft bewusst „übersehen“ oder heruntergespielt. Die Interpretation der damaligen Ereignisse wird heute höchst simpel betrieben, wie wenn „die“ Deutschen oder „die“ Konservativen damals Hitler gewählt hätten, und das mit dem erklärten Ziel, die Juden zu ermorden – was für ein Unsinn! Zudem ist heute ein Leben „aus dem Gefühl heraus“ durchaus in Mode, Rationalität gilt heute gerne als „kalt“ – viele wissen gar nicht, wie nahe sie mit dieser Haltung an Hitler sind. Manche sehen heute in Naphta eine Vorwarnung vor Hitler, doch das ist großer Unsinn.

Unsinn ist es auch, den Zauberberg mit dem Wissen von heute interpretieren zu wollen. Dass gegen Ende des Buches ein Antisemit auftaucht, bedeutet nicht, dass Thomas Mann gerade dies als große Gefahr erkannt hätte; es ist nur eine der Gefahren im Jahr 1924. Dass Thomas Mann in der Beschreibung von Naphta gewisse Vorurteile gegenüber Juden aufgreift, bedeutet nicht, dass Thomas Mann Antisemit gewesen wäre; vor dem Nationalsozialismus bedeutete das Aufgreifen eines Vorurteiles gegenüber Juden etwas anderes als danach. Es ist bedauerlich, dass heute viele solche Zusammenhänge nicht erkennen können oder erkennen wollen. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ist heute von großer Simplizität geprägt, die von politisch interessierter Seite betrieben und ausgeschlachtet wird. Gerade zur Durchbrechung dieser Simplizität kann der Zauberberg einen Beitrag leisten.

Im Zauberberg liegt zudem ein Werk aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus vor, das den Deutschen einen besseren Weg aufzeigt, einen Weg, den Deutschland hätte gehen sollen, aber nicht gegangen ist. Wer die Zukunft Deutschlands nicht primitiv und einzig auf die Negation des Nationalsozialismus aufbauen möchte, sondern nach konstruktiven Werten sucht, die vor dem Nationalsozialismus da waren aber durch diesen verschüttet wurden, der wird hier fündig werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 09. Juni 2013)

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