Schlagwort: Sozialismus

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

J.J. Abrams und Doug Dorst: S. – Das Schiff des Theseus, von V.M. Straka (2013)

Wirklich ein intelligentes Buch – mit Potential zum Kultbuch

— — — Was den Leser zunächst erwartet — — —

Der Leser hat mit dem Buch „Das Schiff des Theseus“ ein altes Bibliotheksexemplar dieses Werkes in der Hand. Der Autor nennt sich V. M. Straka. Es handelt sich um eine hochsymbolische Erzählung, die in allegorischer Form die Geschichte der Geheimorganisation S darstellt, und wie die Hauptperson S., die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern kann, zum ausführenden Arm dieser Organisation wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches befinden sich außerdem teils verschlüsselte, teils im offenen Text versteckte Botschaften, die sich der Autor und seine Übersetzerin Kapitel für Kapitel gegenseitig zusandten.

Am Rand der Buchseiten dieses Bibliotheksexemplars befinden sich die Randnotizen der Studentin Jen und des Doktoranden Eric, die gemeinsam das Geheimnis von S ergründen, indem sie sich über diese Randnotizen austauschen. Diese Randnotizen sind nach vier verschiedenen Zeitebenen in vier verschiedenen Farbkombinationen gehalten. Hinzu kommen Einleger von Jen und Eric wie Briefe oder Postkarten, die im Zusammenhang mit den Randnotizen stehen.

Wer dieses Buch lesen will, sollte vor allem Geduld mitbringen. Notizen sind kein Muss, können aber helfen, den Überblick zu behalten (dafür gibt es aber inzwischen auch zahlreiche Internetseiten). Der Aufwand lohnt sich! Selten konnte der Leser eines Buches so unmittelbar erfahrbar an der Geschichte teilhaben.

— — — SPOILER-WARNUNG: Lese-Methode — — —

Um das Buch zu lesen, muss man zunächst das (gedruckte) Buch von vorne bis hinten lesen, und danach jeweils die Randnotizen mit den zugehörigen Einlegern mehrfach, je Zeitebene, von vorne nach hinten. Man kann aber z.B. auch die erste Zeitebene der Randnotizen zusammen bei der Lektüre des gedruckten Buches Kapitel für Kapitel mit erledigen. Es empfiehlt sich, die Information über die Farben der vier Zeitebenen der Randnotizen aus dem Internet zu besorgen, da sie sich dem Leser nur schlecht aus dem Kontext erschließen, zumal sich die verwendeten Farben der Zeitebenen teilweise überschneiden.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, muss der Leser bei der Lektüre dieses Buches so gut wie keine Rätsel lösen. Vielmehr schaut der Leser passiv dabei zu, wie die Protagonisten des Buches die Rätsel lösen. Das Buch ist also im Prinzip wie ein ganz normaler Roman zu lesen, nur dass die Lesereihenfolge der einzelnen Passagen kein einmaliges Durchlesen von vorne nach hinten erfordert, sondern ein mehrfaches Lesen von vorne nach hinten auf den verschiedenen Zeitebenen.

— — — SPOILER-WARNUNG: Inhalte — — —

Die symbolische Erzählung des gedruckten Buches handelt von S., der eines Tages ohne Erinnerung an seine Vergangenheit auf ein Schiff entführt wird. Auf diesem Schiff haben alle Matrosen bis auf einen zugenähte Münder. Das Schiff bringt S. zu verschiedenen Orten, wo er verschiedene Dinge erlebt und verschiedene Aufträge zu erfüllen hat. Das Schiff erneuert sich immer wieder, deshalb die Anspielung auf das „Schiff des Theseus“. (Und wegen Theseus und Ariadne; aber eine Anspielung auf die Rolle des Schiffs des Theseus beim Tod des Sokrates findet sich nicht.) – Der große Gegenspieler von S. ist der Waffenfabrikant Vévoda, der unbotmäßige Arbeiter verschwinden lässt, ein Massaker unter streikenden Arbeitern anrichtet, und eine neue Massenvernichtungswaffe entwickelt hat: Die Schwarzranke, oder Schwarzrebe. Sie tötet mit klebriger Tinte. Ebenso mit klebriger Tinte schreiben die Matrosen im Bauch des Schiffes endlose Texte, die sie bisweilen an Land bringen. S. wird auch zu verschiedenen Mordaufträgen geschickt, und auch Vévoda ermordet Mitglieder der Organisation S.

Diese symbolische Erzählung verschlüsselt eine echte Geheimorganisation von Schriftstellern von Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich mit Vogelnamen tarnen und gegen den Waffenfabrikanten Bouchard zusammengetan haben. Mit ihm befinden sie sich in einem „Krieg der Erzählungen“. Während sie wie Enthüllungsjournalisten arbeiten bzw. Samisdat-Literatur verbreiten, hat Bouchard die Presse in der Hand, die die Menschen mit Tinte in Massen belügt. Die gegenseitigen Morde sind leider nicht symbolisch zu verstehen, sondern real. Bouchard kann auch einige Überläufer gewinnen. Straka und seine Übersetzerin FXC waren die Hauptpersonen von S.

Im Heute von Jen und Eric, 2012, scheint es ruhig um S. geworden zu sein, und nur noch wenige Literaturwissenschaftler wie Eric und sein Doktorvater Moody befassen sich mit V.M. Straka und seinen Werken, um die wahre Geschichte von Straka und der Organisation S zu ergründen. Als Jen und Eric Erfolge bei ihren Recherchen erzielen, werden ihnen plötzlich Steine in den Weg gelegt. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Recherche, Widerstand und Liebe, gedoppelt auf der Zeitebene von Straka und FXC, sowie auf der Zeitebene von Jen und Eric.

Das Buch schlägt u.a. folgende Themen an:

  • Erwachsenwerden, Eltern, Kindheit, Studium, Job, seinen Weg finden, eine Identität bilden, eine Aufgabe finden.
  • Beziehungen aufarbeiten, Liebe finden, Stärken und Schwächen kennen, zusammenwachsen, gemeinsam etwas erschaffen.
  • Wie soll man in Welt etwas bewegen, bzw. kann man überhaupt etwas bewegen?
  • Soll man sein Leben für eine Aufgabe opfern? Oder soll man einfach nur sein Leben genießen? Oder etwas dazwischen?
  • Der Einfluss von Industrielobbies auf das Weltgeschehen, hier speziell die Rüstungsindustrie.
  • Geheimorganisationen als Möglichkeit, das Weltgeschehen zu beeinflussen. (Man denke an: Freimaurer. Ku-Klux-Klan. Terrorgruppen. Kommunistische Partei.)
  • Krieg der Erzählungen, Worte als Waffe.
  • Literarische und philologische Analyse von Texten: Sehr gut.
  • Konstruktion und Dekonstruktion von Identität durch Erzählen.
  • Wahrnehmung von Zeit, das Vergehen des Lebens.

Es gibt eine ganze Reihe von Running Gags in diesem Buch, die teils anspielungsreich sind, teils geheimnisvoll bleiben, so z.B.:

  • Immer wieder taucht die Zahl 19 auf.
  • Vögel tauchen immer wieder auf, Chiffren für die S-Mitglieder.
  • Überall findet sich das Symbol „S“, und man weiß nicht, wie es dahin kam.
  • Sola, die Geliebte von S., taucht immer wieder auf, bleibt jedoch unerreichbar.

Das große Fazit am Ende des Buch ist die Erkenntnis, dass die Liebe im Zweifelsfall wichtiger ist als die „Sache“. Einen Beweis für die Identität Strakas haben Eric und Jen bis zum Schluss nicht gefunden, sie arbeiten aber weiter daran. Solange sie sich lieben, ist der Weg das Ziel.

— — — Bewertung — — —

Dieses Buch ist ein Volltreffer! Das originelle Buchkonzept lässt den Leser haptisch an der Story teilhaben, wie es nur ein echtes, gedrucktes Buch bieten kann. Es geht um eine düstere Story und zwei junge Leute, die nicht nur ein vergangenes Geheimnis, sondern auch das Leben und die Liebe erkunden. Der Leser ist in akuter Gefahr, sich in dieser Welt zu verlieren und paranoid zu werden: Dieses Buch hat das Potential zu einem Kultbuch! Die Welt scheidet sich fortan in Menschen, die es gelesen haben, und solche, die es nicht gelesen haben.

Es werden eine Menge Themen auf intelligente Weise bearbeitet. Hier wird Bildung auf interessante und vergnügliche Weise geboten! Und zwar eine Bildung, die den Menschen als ganzes erfasst, in allen Facetten seines Daseins. Eine wahrhaft humanistische Bildung. Unbedingte Leseempfehlung! Jedoch mit einem deutlichen Caveat, siehe die Kritik.

— — — Kritik — — —

Zunächst: Keine nennenswerte Kritik sollte man an dem Umstand üben, dass die Geheimorganisation S offensichtlich eine „linke“ Gruppierung ist. Straka versteht sich zwar nicht als Kommunist (S. 222), hat aber Sympathien für Trotzki (S. 363). Die Stoßrichtung der Organisation ist simpel gegen Kapitalismus und Waffenhandel und für die Arbeiterschaft. Das ist nicht per se kritikwürdig, denn irgendeine Geheimorganisation musste es nun einmal sein, und da ist jede auf ihre Weise einseitig. „S“ könnte man übrigens auch als Chiffre für „Sozialismus“ lesen. So konkret wird das Buch aber an keiner Stelle.

Sehr kritikwürdig ist hingegen der Umstand, dass die „andere“ Seite, der Bösewicht Bouchard, allzu simpel gezeichnet wird. Hier hätte man sich mehr von jener Lebensweisheit gewünscht, dass jede Seite einen Zipfel der Wahrheit in Händen hält. Die Menschlichkeit der „anderen“ Seite bleibt völlig unterbelichtet. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert (Suizid der Ehefrau von Bouchard; Liebe unter Agenten).

Sehr kritikwürdig ist, dass die Geheimorganisation S mordet. Denn immerhin zeigen die Protagonisten Jen und Eric klare Sympathien für Straka und FXC. Das wäre völlig in Ordnung, wenn S wirklich nur einen „Krieg der Erzählungen“ geführt hätte. Ein Kampf mit den Mitteln des Wortes und der Überlegenheit der Intelligenz. Sympathie für diese Methode des Kampfes, und für die Tatsache an sich, dass man für irgendetwas kämpft, ist immer angebracht. Aber S begann auch zu morden. Damit hat S sich nicht nur von den Prinzipien des Humanismus abgewandt, sondern zudem auch die Intelligenz verraten, denn man tötet die Hydra nicht, indem ihr einige Köpfe abschlägt.

Damit weckt dieses Buch Sympathien für eine höchst einseitige „Sache“, und senkt bei den Lesern zugleich die Hemmschwelle, auch Mord als politisches Mittel zu begreifen. Denn eine klare Absage an Straka aufgrund seiner Morde findet sich in diesem Buch nirgends. FXC formuliert sogar den unglaublichen Satz, dass solche Dinge zwar vorgekommen seien, dass sie aber darüber hinweggesehen habe (S. 300). Und die Sympathie von Jen und Eric für FXC und Straka bleibt ungebrochen. – Mit diesem anti-humanistischen mindset sind einst die linksradikalen Massenmörder um Pol Pot von westlichen Universitäten (namentlich Paris) nach Kambodscha aufgebrochen, um dort ihr ideologisches Werk in den Killing Fields zu beginnen. Auch bloße Worte können reale Folgen haben, deshalb klarer Widerspruch!

Ebenfalls kritikwürdig sind einige Passagen, in denen behauptet wird, wir könnten uns selbst völlig frei definieren. Wir seien die Erzählungen, die wir über uns erfinden (S. 430 Brief Jen, S. 452, u.a.). Hierzu gehört auch der völlige Gedächtnisverlust von S. am Anfang der Geschichte, mit dem er zu leben lernt. Dabei handelt es sich offenbar um die im linken Milieu der US-Universitäten verbreitete Ideologie des Poststrukturalismus [Postmoderne; 29.09.2023]. Auch das ist eine Einseitigkeit, die man von zwei Seiten her hätte beleuchten sollen. Den meisten Lesern wird es aber kaum aufgefallen sein.

Die Umsetzung des Buchkonzepts ist teils etwas unglücklich. Die verschiedenen Zeitebenen erschließen sich nicht so einfach, zumal für verschiedene Zeitebenen teilweise dieselbe Farbe verwendet wird. Auch der Code des 10. Kapitels ist nicht wirklich einfach zu knacken. – An einigen Stellen wurde die falsche Schriftfarbe verwendet, so dass es kleine Brüche in der Chronologie der Ereignisse gibt. Insbesondere die Schriftfarben der Postkarten verwirren. – Das alles berührt das Lesevergnügen aber nur am Rande.

— — — Anschlussempfehlung — — —

Ein gutes, aber einseitiges Buch darf legitimerweise mit einer ebenso einseitigen, guten Buchempfehlung gekontert, nein besser: ergänzt werden, nämlich mit „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand. Auch in diesem Buch geht es um eine Geheimorganisation, deren Umfang und wahres Ziel sich erst im Laufe einer spannenden Geschichte enthüllt. Auch diese Geheimorganisation verwendet antike Chiffren, doch anders als S mordet diese Geheimorganisation nicht, sondern hat einen genialischen Plan, sich der „anderen“ Seite zu erwehren. Doch die Akteure sind nicht „links“, sondern im Gegenteil Unternehmerpersönlichkeiten (übrigens auch Frauen, während S ziemlich patriarchalisch erscheint), die sich gegen die Zerstörung von Wohlstand und Gerechtigkeit durch linke Akteure zur Wehr setzen! Natürlich: Auch hier liegt die Schwäche des Buches in der Einseitigkeit. Doch wer von S redet, kann zu Atlas nicht schweigen. Die Ähnlichkeiten von S und Atlas sind so groß, dass man sich fragt, ob Abrams und Dorst sich ihre Inspiration für S bei Ayn Rand geholt haben?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21.01.2019)

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

Ulrike Guérot: Begräbnis der Aufklärung? – Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit (2020)

Die Engführung des grün-linken Zeitgeistes endet in antidemokratischem Denken

Ulrike Guérot steht fest auf dem Boden des grün-linken Zeitgeistes. Das ist allgemein bekannt, wird aber auch in diesem Büchlein am Rande immer wieder sehr deutlich: Sie träumt von einer Welt ohne Staaten und Grenzen (S. 68), und wünscht sich die Verbindung von Demokratie und Sozialismus (S. 66 f.). Der Kapitalismus ist das Böse. Die „Zivilgesellschaft“, die sie in linken NGOs realisiert sieht, gefällt ihr sehr (S. 31 f.). Der britische Brexit ist ihrer Meinung nach ein Weg in einen neuen Totalitarismus (S. 25). Demokratie ist für Guérot immer „liberale“ Demokratie (S. 28 f.). Dass in einer Demokratie auch konservative Politiker Mehrheiten erringen können, scheint bei ihr eher nicht vorgesehen zu sein. Guérot glaubt, dass z.B. ein Fleischverbot oder ein Verbot der Weihnachtsbeleuchtung sinnvoll und machbar seien, und auch die Abschaltung der Atomkraftwerke nach Fukushima sei problemlos möglich gewesen, meint sie (S. 29, 47).

Last but not least glaubt sie an die „worst case“ Apokalypse des menschengemachten Klimawandels: Sie glaubt fest daran, dass die ganz große Katastrophe in allernächster Zukunft bevorsteht, wenn die Menschheit nicht dramatisch umsteuert (z.B. S. 26). Das nennt sie die „posthume Kondition“ unserer Zeit.

Demokratie sei das Problem

Davon ausgehend stellt Ulrike Guérot die Frage, ob die „liberale“ Demokratie in der Lage ist, die nötigen vernünftigen Entscheidungen zu treffen, um das Überleben der Menschheit angesichts der Klima-Apokalypse zu treffen (S. 28 f.). Die „liberale“ Demokratie ist für sie grundsätzlich nicht dazu in der Lage, Verbote auszusprechen, weil Liberalität für Guérot automatisch Laschheit bedeutet (S. 37). Zudem sind die Bürger der „liberalen“ Demokratie für Guérot eher dekadente Konsumenten als Bürger, die sich zu keinem vernünftigen, moralischen Ziel mehr aufraffen können (S. 37).

Daran knüpft Ulrike Guérot eine ausführliche Demokratiekritik an: Churchills Diktum, dass die Demokratie die am wenigsten schlechte Staatsform ist, stellt sie infrage (S. 50). In Wahrheit wäre unsere Demokratie eine konstitutionelle Oligarchie (S. 30 f.). Die Gesetzgebung in einer Demokratie wäre immer willkürlich, weil das Wahlvolk nicht wirklich handlungsfähig wäre (S. 33). Bis auf Ausnahmen seien demokratische Beschlüsse immer ungerecht und gegen das Gemeinwohl gerichtet (S. 34). Die beiden Lager Links und Rechts würden sich immer gegenseitig blockieren (S. 34). Ein Volk wisse nicht, was gut für es ist (S. 50). – Es sind die altbekannten Halbwahrheiten des antidemokratischen Denkens.

Welche Alternative zur Demokratie schlägt Guérot vor? Losverfahren und Räterepublik werden als Alternativen geprüft und verworfen (S. 35). Guérot wird nicht völlig deutlich, worauf sie hinaus will, und zündet eine Nebelkerze: Sie problematisiert den Begriff „Souveränität“. Angeblich würde Souveränität auf Herrschaft über andere und auf Zwang hinauslaufen. Echte Freiheit gäbe es aber nur ohne das (S. 33 Fußnote 14, S. 67 f.). Hier träumt wieder einmal jemand von einer paradiesischen Staatsform, in der alle in völliger Freiheit friedlich und vernünftig zusammenleben. Guérot hätte gerne eine Welt ohne Staaten und Grenzen, eine „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“. Wie das gehen soll, verrät sie nicht.

Jedenfalls hat Guérot zu ausführlich über das Unvermögen der Demokratie, Verbote auszusprechen, geklagt, um nicht deutlich werden zu lassen, worum es wirklich geht: Nämlich um genau das, was sie angeblich nicht will: Um die Souveränität, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, Verbote auszusprechen und Zwang gegen Andersdenkende auszuüben. Am Ende träumt sie von einer „(hoffentlich freiwillig hervorgebrachte[n]) Kultur der Selbstbegrenzung“ (S. 68). Mit diesem „hoffentlich freiwillig“ deutet sie erneut an, dass es im Notfall eben auch ohne Freiwilligkeit gehen muss. Ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf Guérots Gesinnung ist der Umstand, dass sie am Anfang noch mit Aufklärung und Vernunft als Zielen und Grundlagen guten und richtigen Lebens argumentiert, doch weiter hinten rutschen Aufklärung und Vernunft zusammen mit der Demokratie auf die Anklagebank („führen Aufklärung und Demokratie … in einen Bürgerkrieg“ S. 36; „Die Aufklärung und mit ihr die liberale Demokratie haben versagt“ S. 50; „Liberaldemokratisch dürfte dies nicht aufzulösen sein“ S. 64; „Wo … die Vernunft als Ausdruck des Kant’schen Gewissens versagt hat“ S. 68).

Auf der anderen Seite erkennt Guérot richtig, dass der Mensch an sich selbst arbeiten muss, und nicht nur an der Technologie (S. 52 f., 65). Aufklärung und Vernunft werden zumindest am Anfang noch als erstrebenswerte Ziele genannt. Später hofft sie auf eine „aufgeklärte oder zumindest abgeklärte Menschheit“ (S. 68). Aber auch Meditation als Schulfach wird von Guérot befürwortet (S. 52). Dass die sieben Todsünden in der Konsumwelt zu Tugenden geworden sind, hält Guérot mit Recht für falsch (S. 48).

Kurz: Guérot lässt der Menschheit zwar die Chance, es freiwillig, vernünftig und demokratisch zu schaffen, aber sie ist offenbar bereit, Aufklärung und Demokratie zu opfern, falls die Dinge sich nicht so entwickeln, wie sie sich das vorstellt.

Typisch antidemokratisches Denken

Das Denken von Ulrike Guérot ist ein exemplarischer Fall von antidemokratischem Denken: Man versteift sich fanatisch auf irgendein Problem als der ganz großen Katastrophe – Klima, Demographie, Integration, Euro-Krise, was immer – und sieht, dass die Demokratie das Problem anscheinend nicht zu lösen vermag. Daraus schließt man messerscharf, dass die Demokratie nicht die beste Staatsform sein kann, und beginnt an eine andere Staatsform zu glauben, von der man sich einredet, dass es in ihr besser zugehen würde.

Dieses Denken beruht auf grundlegenden Denkfehlern:

(1) Oft ist der fanatisch aufgeblasene Problemfall nicht ganz so dramatisch, wie man sich einbildet. Statt die Demokratie zu hinterfragen, sollte man besser seine Annahmen hinterfragen. Beim Klima ist es gewiss nicht so dramatisch, wie behauptet wird. Das ist leicht zu sehen. Ulrike Guérot ist viel zu sehr dem grün-linken Zeitgeist und seinen Hysterien verhaftet.

(2) Es ist ein Irrglaube, eine andere Staatsform sei besser. Auch wenn es tatsächlich gelingen sollte, ein Problem durch die Abschaffung der Demokratie zu lösen, würde man sich dafür zahlreiche andere Probleme einhandeln, die nicht weniger schwer wiegen.

(3) Die Korrekturfähigkeit von Demokratie wird oft unterschätzt. Demokratie kann zwar träge sein und Probleme lange ignorieren. Aber spätestens wenn Probleme akut werden, wacht die Demokratie auf. Das ist oft leider spät, aber besser spät als nie. Andere Systeme wachen womöglich selbst dann nicht auf. Es ist jedenfalls vollkommen falsch zu glauben, Demokratie sei zu Verboten und moralischem Handeln nicht fähig. Eine Demokratie ist zu schlichtweg allem fähig, wenn nur die Stimmung im Volk entsprechend ist. Guérot selbst zählt ja viele historische Beispiele auf, in denen sich Demokratien als handlungsfähig erwiesen haben (S. 41). Dass Guérot es als etwas völlig neues und mit der Demokratie unvereinbares anpreist, dass sich die Menschen vom „anything goes“ verabschieden müssen, ist Unsinn (S. 64).

Kurz: Churchill behält Recht. Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen, die jemals ausprobiert worden sind. Man muss einen Blick für das Machbare, das Realistische und das Wünschenswerte haben. Ulrike Guérot hat diesen Blick nicht. Demokratie ist höchstens dann nicht machbar, wenn zu viele Bürger keine Demokraten sind, oder sich die Bürger in unversöhnliche Lager aufspalten.

Zweites großes Thema: Verstrickung in der digitalen Welt

Das zweite große Thema, das Guérot in diesem Büchlein bearbeitet und ebenfalls zur „posthumen Kondition“ rechnet, ist die zunehmende Verstrickung des Menschen in die digitale Welt: Wir werden immer abhängiger von Computern und Netzen. Wir überlassen den Algorithmen immer mehr Entscheidungen. Wir verlernen, ohne sie zu leben. Wir machen keine echten Erfahrungen mehr. Das Irrationale sei das Menschliche.

Das alles sind reale Probleme, aber Ulrike Guérot überzieht auch diese Probleme ins Maßlose: Denn natürlich machen wir immer noch Erfahrungen. Natürlich gibt es auch Anfänge einer Gesetzgebung zur Regulierung des Netzes. Es ist auch ganz falsch zu glauben, dass Algorithmen rational, perfekt und unmenschlich seien, sondern dahinter stehen immer Menschen, mit höchst menschlichen, irrationalen, kommerziellen und politischen Interessen. Die Digitalisierung ist mitnichten das Ende der Geschichte, als das sie Guérot beschwört.

Es ist auch befremdlich, dass Guérot sich statt der Nationalstaaten die „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“ wünscht (S. 68), während sie gleichzeitig beklagt, dass der Einzelne in der durchalgorithmisierten Welt keinen Einfluss mehr habe. Denn die Orte, an denen der Einzelne Einfluss nehmen kann, sind natürlich vor allem die gewohnten Demokratien der menschlich gewachsenen Nationalstaaten, während eine anonyme, internationale „selbststeuerungsfähige Organisation“ sich eher nach jenem unbeeinflussbaren Moloch anhört, den Guérot fürchtet.

Schwaches Denken

Ulrike Guérot ist zum Opfer ihres eigenen ungenauen Denkens geworden, das sich die Argumente zur Erreichung vorgefasster Ergebnisse zurechtbiegt. Es finden sich in ihrem Text viele falsche und schräge Argumente, die noch nicht genannt wurden. Einige davon wollen wir hier aufzählen.

Wenn man Politiker per Los statt per Wahl bestimmt, würde die Repräsentation wegfallen, meint Guérot (S. 35). Das stimmt natürlich nicht. Die Repräsentanten würden dann nur auf eine andere Weise bestimmt, es wären aber immer noch Repräsentanten. – Wie viele, so glaubt auch Guérot, dass Links und Rechts heute verwechselbar geworden sind (S. 37). Das ist keineswegs so. Vielmehr wird das normale demokratische Wechselspiel von Rechts gegen Links aus verschiedenen Gründen behindert. Insbesondere dadurch, dass allzu viele Menschen zu der undemokratischen Überzeugung gelangt sind, man dürfe konservative Positionen aus dem erlaubten Spektrum der „liberalen“ Demokratie ausschließen. – Es ist auch völlig übertrieben, dass die Bürger heute willenlose Konsumenten seien (S. 39 f.). Ganz so schlimm ist es nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch unverschämt, wenn im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution in der DDR die Banane als Symbol der wahren Motivation der Menschen beschworen wird (S. 40). Hier zeigt sich wieder, dass Ulrike Guérot eine in der Wolle gefärbte Linke ist, die bis heute innerlich nicht verwunden hat, dass die Menschen den real existierenden Sozialismus nicht mittragen wollten. – Guérot meint, das Projekt der ersten Aufklärung sei das Begreifen gewesen, dass es keinen Gott gibt (S. 61). Das ist Unsinn. Die Aufklärer glaubten bis auf wenige Ausnahmen alle an einen Gott. Nur radikale Materialisten und Linke nicht. Dies ist ein weiterer Fingerzeig auf das denkerische Milieu von Guérot. – Völlig falsch ist auch ein Seitenhieb gegen Donald Trump: Dieser hätte das atomare Armdrücken mit Nordkorea wieder aufgenommen, meint Guérot (S. 64). In Wahrheit hat Trump Nordkorea an den Verhandlungstisch gebracht. Wie viele, so begreift auch Guérot nicht, dass das notorische Verbreiten von hysterisch aufgeblasenen Unwahrheiten über den politischen Gegner nicht zur eigenen Glaubwürdigkeit beiträgt. Aber auch das ist nichts neues. Das war schon bei Ronald Reagan so.

Sehr blauäugig ist Ulrike Guérot in Bezug auf die Bewegungen „Fridays for Future“ und Extinction Rebellion (S. 65 f.): Es ist zwar richtig, dass diese Bewegungen ein Ziel jenseits des Konsum haben, aber das allein genügt nicht. Denn das Ziel wird durch pseudowissenschaftlichen Fanatismus definiert. Andersdenkende werden nur noch als Radikale wahrgenommen. „Follow the Science“ ist hier längst zu einem Demokratie-zerstörerischen Slogan geworden, der mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat. Und es gibt eine verborgene Agenda: Es finden sich in diesen Bewegungen, die keinesfalls Graswurzelbewegungen von Jugendlichen sind, altbekannte antikapitalistische und linksradikale Motivationen wieder, die die wahren Antriebe sind. So geht es diesen Bewegungen immer nur ums Abschalten und Dichtmachen und Blockieren. Um den Aufbau einer ökonomisch tragfähigen Energie-Infrastruktur nach durchdachten Gesamtplänen geht es hingegen sichtlich nicht.

Guérot versucht ihre Argumentation durch mehrere Verweise auf Hannah Arendt abzusichern, um ihnen den Anstrich der Klugheit und der Legitimität zu verschaffen. Doch die meisten Zitate sind rein beschreibend, nicht unterstützend (S. 44, 67, 69). An einer Stelle wird die Aussage von Hannah Arendt jedoch klar überzogen: Guérot behauptet, dass Hannah Arendt in letzter Konsequenz für eine Räterepublik gewesen wäre (S. 33 Fußnote 14). Das ist zumindest übertrieben. Die angeführte Quelle berichtet u.a. von Hannah Arendts Bewunderung für die Verfassung der USA, in der der Anspruch auf Souveränität eliminiert sei. „Souveränität“ wird hier im Sinne von unkontrollierter Herrschaft verwendet. Das ist etwas ganz anderes, als Ulrike Guérot in diesem Büchlein unter dem Stichwort „Souveränität“ bespricht, denn die US-Verfassung gehört für Guérot offensichtlich zu den demokratischen Verfassungen, die sie kritisiert.

Last but not least hat Ulrike Guérot die zutreffende Beobachtung gemacht, dass die Rechtspopulisten heute zu den wenigen gehören, die tatsächlich bereit sind, für ihre Überzeugungen einen Preis zu bezahlen. Gerade sie handeln also nicht wie verdummte Konsumenten. Ein Beispiel ist für sie der Brexit. (S. 42) – Leider denkt Guérot an dieser Stelle nicht weiter, weshalb sie nicht erkennt, dass diese Rechtspopulisten zumindest einen Zipfel der Wahrheit in der Hand halten, für den Guérot aber völlig blind ist. Der Brexit war tatsächlich notwendig, um die Demokratie in Großbritannien vor dem unbelehrbaren Brüsseler Moloch zu retten. Und der Widerstand gegen die Klimahysterie ist ebenfalls nicht nur ein dummes Blaffen von verwöhnten Konsumenten, sondern die warnende Stimme von wissenden Menschen:

  • Was Ihr da sagt stimmt nicht!
  • Was Ihr da wollt, funktioniert nicht!
  • Auf diesem Weg macht Ihr die Demokratie kaputt!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2022)

Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow (1879/80)

Dostojewskis größtes Werk: Der Seelenzustand Russlands vor Gericht

Der Roman „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte und zugleich der großartigste Roman von Fjodor Dostojewski, in dem alle Themen seiner früheren Romane wiederkehren und zu neuen Höhen geführt werden.

Ort der Handlung ist eine russische Kleinstadt mit ihren Bewohnern, in denen sich Russland wiederspiegelt. Russland spiegelt sich auch in der Familie Karamasow wieder, die aus dem Vater Fjodor Pawlowitsch, den drei Söhnen Dimitri, Iwan und Alexei, sowie dem unehelichen Sohn Smerdiakov besteht. Die Mütter sind bereits alle verstorben. Im Vater zeigt sich der Verfall der russischen Familie, die ihre Kinder vernachlässigt. Dimitri (Mitja) ist die unverfälschte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit, ein Schuft und ein Ehrenmann zugleich. Iwan ist der Intellektuelle, der von der westlichen Aufklärung zu Materialismus, Sozialismus und Zynismus verführt wurde und über den daraus folgenden Konsequenzen in seiner Seele zerrissen ist und nervlich zu Tode erkrankt. Smerdiakov ist ungeliebt, herabgesetzt, halbgebildet und selbstverliebt, und begeht den Mord an seinem Vater, nachdem er sich von Iwan auf psychologisch subtile Weise dessen unbewusstes Einverständnis besorgt hat. Alexei (Aljoscha) ist schließlich eine sanfte und offenherzige Seele, ein Gottesnarr, der immer nur das Gute will und immer nur die Wahrheit sagt. Von ihm heißt es, er habe sich in einer Fluchtbewegung vor den Schrecken der Aufklärung dem Glauben der russischen Orthodoxie zugewandt. Seine Gefahr sei es deshalb, dem Mystizismus und Chauvinismus (Nationalismus) zu verfallen, was vielleicht noch schlimmer sei als die Irrtümer der westlichen Aufklärung, wie es im Roman heißt.

Dennoch ist Aljoscha die heilste Seele von allen. Von seinem geliebten Staretz, der zu Beginn der Handlung verstirbt, wird Aljoscha angewiesen, nicht Mönch zu werden, sondern in der Welt zu leben. Den ganzen Roman über eilt Aljoscha von Ort zu Ort, um sich mit diesem oder jenem zu treffen und etwas zu besprechen. Immer hat er noch etwas zu erledigen und muss schnell weiter. Es ist offensichtlich, dass Aljoscha die Rolle eines Vermittlers und Heilers einnimmt, an dessen Wesen Russland genesen soll. Deshalb umgibt sich Aljoscha auch mit Kindern, die eine große Rolle in diesem Roman spielen. Die Kinder sind die Zukunft, und die Erinnerung an schöne Erlebnisse in der Kindheit sind ein Mittel zur Rettung vor dem Bösen, das ist ganz klar die Botschaft. Nicht umsonst wird Aljoscha schon im Vorwort als der eigentliche Held des Romans angekündigt, gerade weil er in seiner Naivität etwas sonderlich ist, und obwohl der heilende Effekt seines Wirkens unbestimmt erscheint.

Nach einer sehr langen Vorbereitung kommt es in diesem sehr langen Roman schließlich zu einem Mord und zu einem Gerichtsprozess gegen den Angeklagten Dimitri: Es ist klar, dass hier Russland vor Gericht steht. Die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger sind präzise Analysen der russischen Seele der damaligen Zeit anhand der Brüder Karamasow. Der Angeklagte steht unschuldig vor Gericht, und wird zu Unrecht verurteilt, doch das Urteil des Autors fällt milde aus: Trotz mancher Schuld und einigen Ungestüms hat kein Mord stattgefunden.

Im Rahmen dieser weit gespannten Handlung finden sich zahllose größere und kleinere Szenen, die diesen Roman zu einem Füllhorn an Gedanken machen, an denen man sich ein Leben lang abarbeiten kann, so z.B.:

  • Der Staretz, das Klosterleben, das einfache russische Volk. Die russische Orthodoxie als solche: Die Kirche muss zum Staat werden, nicht der Staat zur Kirche. Die Idee, dass die Rettung des Christentums aus dem Osten kommt. Der Katholizismus, in dem der römische Staat weiterlebt und die Kirche in sich abgetötet hat, sei hingegen schuld an der westlichen Aufklärung, die von Dostojewski kurzerhand mit Materialismus und Sozialismus in eins gesetzt wird.
  • Die Rede des Staretz über seinen kranken Bruder, und dass alle Menschen Schuld aneinander haben. Dazu die Geschichten von dem seltsamen Duell und von dem Fremden, der seine Schuld offenbaren muss, um davon frei zu werden. Dass alle Menschen Schuld aneinander haben, erkennt später auch Dimitri voller Reue. Ein Grundthema bei Dostojewski.
  • In Smerdiakov kehrt die Figur des Raskolnikov wieder: Er mordet aus zynischem Kalkül, kann aber mit seiner Tat nicht leben. Reue verspürt er dabei keineswegs und begeht Suizid, ohne seine Schuld zu bekennen.
  • Im Stabskapitän und dessen sterbenden Sohn Iljuscha wird das völlige Scheitern, die völlige soziale Erniedrigung und die völlige Hoffnungslosigkeit gezeigt. Sehr berührend. Und doch lässt Dostojewski aus dem vergeblichen Aufstand des kleinen Iljuscha am Ende die Gemeinschaft von Aljoscha mit den Kindern erwachsen.
  • Kolja Krassotkin ist der Prototyp des „verdorbenen“ Jugendlichen, d.h. eines altklugen, ideologisch früh verblendeten, hochnäsigen, gnadenlosen Menschen, der alle rücksichtslos quält und nur an sich denkt. Mathematik und Naturwissenschaften findet er sinnvoll, das Studium der Weltgeschichte und der klassischen Sprachen hält er hingegen für überflüssig (ist aber gut in Latein!): Sehr bezeichnend. Er ist Sozialist und wäre sicherlich ein gnadenloser Funktionär geworden, wenn er nicht durch Aljoscha pädagogisch gerettet worden wäre.
  • Miussoff ist ein selbstgefälliger, egoistischer Liberaler, Rakitin ein weiterer zynischer Sozialist.
  • Erkenntnis: „Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit“. Und: „…nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“
  • Lise, Gruschenka: Liebenswerte Frauen, die plötzlich aus einer Laune heraus auf böse „umschalten“.
  • Der „russische Candide“: Iwan rechnet in seiner „Empörung“ mit den sinnlosen Verbrechen ab, die in der russischen Gesellschaft an unschuldigen Kindern geschehen, die darüber vergeblich im Glauben Schutz suchen.
  • Iwans Poem „Der Großinquisitor“. Eine Polemik gegen die katholische Art des Christentums, aus dem Dostojewski die westliche Aufklärung mit Materialismus und Sozialismus entspringen sah. Aber nicht nur das.
  • Der Alptraum Iwans: Die Aufdeckung seiner Seele durch den Teufel, den seine seelische Krankheit als Abspaltung seiner selbst ins Zimmer projiziert.
  • Viele offenherzige Reden, in denen Menschen ihr Herz ausschütten, wie Marmeladow in „Schuld und Sühne“. Unübertroffen Frau Chochlakowa, die ständig neben sich steht und so manche Wahrheit über das Verhältnis von Männern und Frauen zu verkünden hat.
  • Es gibt auch einiges zu lachen in diesem Roman.
  • Wiederholt wird Schiller zitiert, ganze Passagen aus: Die Räuber. Das Eleusische Fest. Ode an die Freude.
  • Einige Seitenhiebe gegen die Deutschen und ihre Kultur: Die Deutschen seien autoritätshörig, aber gut in Wissenschaften. Deutsche Kleidung habe ein schmutziges Aussehen. Der deutsche Witz ist kartoffelig und fröhlich-selbstzufrieden.
  • Thomas Mann hat sich für seine Romane, speziell für den „Zauberberg“ offensichtlich bei Dostojewski bedient: Parallelen sind u.a. ein Duellant, der nicht schießen will, oder Träume, die Erkenntnis bringen, oder eine Romanfigur als Repräsentant eines Landes und seiner Seele.

Fazit

In seinem geistigen Kampf gegen den Materialismus ist Dostojewski in diesem Roman noch einmal zur Hochform aufgelaufen und hat zugleich ein wenig Optimismus für die Zukunft gewagt. Die Analysen und Warnungen Dostojewskis sind natürlich richtig und haben sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur vielfach bewahrheitet. Auch heute ist die Gefahr keineswegs gebannt, weshalb der Roman auch für unsere Zeit gültige Wahrheiten und Warnungen zu bieten hat.

Allerdings hat Dostojewski für unsere Zeit – und wohl auch schon für seine Zeit – zu wenige konstruktive Vorschläge zu machen. Ein Zurück zur christlichen Religion und speziell zur russischen Orthodoxie ist weder intellektuell redlich vertretbar noch sind die Probleme des organisierten Christentums übersehbar, und das nicht nur bei der von Dostojewski so schwer kritisierten katholischen Kirche. – Der Gedanke, dass alle voreinander schuldig sind, ist zwar richtig, aber für sich allein genommen nicht zielführend sondern nur erdrückend. Hier ist Albert Schweitzer mit seiner Maxime „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ vielleicht zielführender. – Schließlich ist die Sicht auf die Aufklärung zu einseitig. Ja, die Aufklärung hat auch Materialismus und Sozialismus hervorgebracht. Sie hat aber noch viel mehr hervorgebracht. Die geistige Bewegung der Aufklärung kann nicht über einen Kamm geschoren werden.

Immerhin finden sich folgende konkrete Punkte: Zum einen die klassische Bildung, konkret werden Schiller, das Studium der Geschichte und der klassischen Sprachen genannt, aber immer wieder auch russische Klassiker. Zum anderen die Familie als Ort der gegenseitigen sittlichen Bildung von Mann, Frau und Kindern in Liebe. Und vielleicht könnte man Dostojewski mit der Aufklärung versöhnen, wenn man sie als nahtlose Fortsetzung des klassischen Humanismus deuten würde? Auf dieser Grundlage ließe sich dann leichter unterscheiden, welche Aspekte der Aufklärung humanistisch sind, und welche nicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2021)

Fjodor Dostojewski: Schuld und Sühne (1866)

Dostojewski nimmt das Großexperiment des Kommunismus literarisch vorweg!

In „Schuld und Sühne“ legt Dostojewski eine literarische Verarbeitung der „neuen Ideen“ vor, die offenbar zu seiner Zeit in Russland unter den jungen Menschen in Umlauf waren. Alle diese Ideen laufen mehr oder weniger darauf hinaus, dass die traditionelle christliche Moral abgelehnt und durch irgendeine Form von nützlichem Egoismus ersetzt wird. Das Buch ist eine einzige Warnung vor Rationalität ohne Liebe, mithin vor ideologischer Verblendung.

Unter den „neuen Ideen“ ist z.B. die „britische Nationalökonomie“, derzufolge der Egoismus des Einzelnen die Gesellschaft wie durch eine unsichtbare Hand als ganzes voranbringt. Dann wird der Sozialismus genannt, der die Gesellschaft grundlegend verändern will. Der Sozialismus glaube, dass die gesellschaftlichen Umstände an allen Verbrechen schuld seien. Ebenfalls prominent und etwas spöttisch erwähnt wird der Frühsozialist Fourier, der eine Welt anstrebte, in der Arbeit nicht mehr als Mühe sondern als Lust angesehen wird, und die Idee von Kommunen, in denen die „freie Liebe“ gelebt wird. Auch Charles Darwin und einige heute kaum noch bekannte Namen werden kurz angesprochen. Der wiederholt genannte Gipfelpunkt dieser Beispiele ist aber die Person von Napoleon, der auf der einen Seite große Verbrechen beging, um seine Karriere voranzubringen und seine Reformen durchzusetzen, der aber dennoch als großer Mann verehrt wird.

Dostojewski führt dem Leser nun einen jungen, im Grunde guten und klugen Menschen vor, nämlich den Studenten Raskolnikov, dessen Geist sich von der Liebe entfernt und sich in rein theoretischem Denken in diesen „neuen Ideen“ verfangen hat. Raskolnikov treibt die „neuen Ideen“ auf ihre Spitze, indem er glaubt, es gäbe Menschen, die dazu berechtigt seien, „Hindernisse“ aus dem Weg zu räumen, um Karriere zu machen und dadurch die Welt zum Besseren zu verändern. Alle anderen Menschen, die sich an die traditionelle Moral hielten, seien dagegen wie „Läuse“ und schwach, und dürften bei Bedarf aus dem Weg geräumt werden.

Deshalb ermordet Raskolnikov eine alte Pfandleiherin und deren Schwester.

Bei alledem ist das ganze Buch über weite Strecken schier unerträglich zu lesen. Schon bis zur Ausführung der Tat ist es ein ständiges ideologisches Hadern und ein Hin und Her. Man möchte als Leser dem jungen Mann zurufen: „Get real!“, „Komm mal wieder runter auf den Teppich!“ Oder: „Lass die Kirche gefälligst im Dorf!“ – Die Tat selbst ist natürlich ebenfalls nur schwer erträglich. – Danach entspinnt sich erst recht eine geradezu hysterisch hin- und herspringende Handlung: Raskolnikovs Nerven versagen unter der psychischen Last der Tat (nicht zu verwechseln mit Schuld!) und vor der Furcht vor Entdeckung. Sein Verhalten entwickelt sich sprunghaft, widersprüchlich, fast wahnsinnig. Er hadert auch mit der eigenen Deutung seiner Tat, und schließlich beginnt ein psychologisches Katz- und Mausspiel mit dem Kriminalisten Porfirij, der erstaunlich gut in die Seele Raskolnikovs zu blicken weiß, und ihn schließlich zum Geständnis treibt.

Dostojewski hat dabei einige falsche Fährten ausgelegt, warum Raskolnikov das Verbrechen begangen haben könnte. Da ist z.B. das – wiederum bis zur Unerträglichkeit ausgewalzte – soziale Elend der Familie des alkoholsüchtigen Beamten Marmeladov, insbesondere von dessen Tochter Sonja, die sich prostituiert, um die Familie durchzubringen. Und da ist die soziale Not von Raskolnikov selbst – die aber gar keine echte soziale Not ist, wie sich zeigt. Das Buch erklärt die genauen Hintergründe der Tat auch nicht von vornherein, weswegen der Leser erst nach und nach erfährt, wie sich alles genau verhält.

In einer Aussprache mit Sonja enthüllt Raskolnikov – wohl auch vor sich selbst – warum er die Tat wirklich begangen hat. Es sind zunächst tatsächlich diese „neuen Ideen“, vor allem auch das Vorbild des Napoleon, die ihn davon überzeugt haben, dass er richtig handelte und ohne Schuld ist. Aber dann ist da noch eine weitere, tiefer liegende Motivation: Es ging noch nicht einmal so sehr darum, seine Karriere zu befördern und später Wohltaten zu tun. Im Tiefsten wollte Raskolnikov sich selbst beweisen, dass er zu jenen „besseren“ Menschen gehört, die das Recht haben so zu handeln, und nicht zu den schwachen „Läusen“, indem er sich einer solchen Tat fähig zeigte! Hinter der Maske des Wohltäters steht also der Hochmut und die Meinung, er sei etwas besseres. Dies wird nur ein einziges Mal im Roman enthüllt.

Es ist deshalb auch kein Schuldbewusstsein, dass Raskolnikov am Ende zum Geständnis bringt, sondern ganz andere Dinge:

  • Es ist seine Enttäuschung darüber, dass seine Nerven die Tat nicht kalt aushielten, und er deshalb wohl doch nicht zu den „besseren“ Menschen gehört, sondern zu den schwachen „Läusen“.
  • Es ist seine Erfahrung, dass seine Tat und seine Anschauungen ihn radikal von allen Menschen entfremden, weil sie seine gefühllose Argumentation nicht akzeptieren können. Das gilt für seine Schwester und Mutter ebenso wie für seine späteren Mithäftlinge. Deshalb wohl auch der Name „Raskolnikov“, das ungefähr „Abspalter“ bedeutet.
  • Es ist sein Mitleid mit Schwester und Mutter, denen er durch seine Tat große Schmerzen zugefügt hat.
  • Schließlich seine Entlarvung durch den Kriminalisten Porfirij, der ihm Strafmilderung in Aussicht stellt, wenn er freiwillig gesteht. Die Strafe selbst erscheint Raskolnikov aber albern und unnütz.

Erst in den allerletzten Zeilen dieses gewaltigen Werkes bekommt dessen Titel seine Rechtfertigung: Denn bis kurz vor Schluss ist von Schuld und Sühne bei Raskolnikov nichts zu sehen. Erst ganz am Ende bricht sich die Liebe von Sonja ihre Bahn zu Raskolnikov, der sich aus dem lieblosen Theoretisieren zu befreien beginnt und Gefühle entwickelt. Es war die Liebe, die ihm fehlte. Und erst die Liebe und das Fühlen machen das Mitgefühl mit dem Opfer möglich, das damit keine schwache „Laus“ mehr ist, das die Voraussetzung von Schuldbewusstsein ist, das wiederum die Voraussetzung von Sühne ist. Das wird zwar nirgends explizit so gesagt, aber dieser Zusammenhang liegt auf der Hand, und nur so kann es zu jener inneren Verwandlung kommen, die am Ende angekündigt wird.

Anderes

Das Buch ist wie gesagt auf weite Strecken hin schier unerträglich, was natürlich an einer literarisch meisterhaften Verarbeitung eines in der Tat unerträglichen Themas liegt. Das allein ist lesenswert. Es finden sich aber auch große Reden, Dialoge und Szenen, in denen sich die verschiedenen Charaktere produzieren, und auch noch ganz andere Themen, die meisterhaft gestaltet werden.

Nebenthemen des Buches sind:

  • Armut und soziales Elend im damaligen St. Petersburg.
  • Damaliges Sexual- und Eheleben. Die Abhängigkeit der Frauen. Luschin. Svidrigailov.
  • Familie und Freundschaft.
  • Liebende und vernünftige Menschen: Rasumichin, Dunja, Porfirij.
  • Wie üblich in russischer Literatur ein wenig christliche Eschatologie.
  • Am Rande: St. Petersburg. Russland. Die kürzliche Aufhebung der Leibeigenschaft.

Kommunismus

Das erstaunlichste an diesem Roman ist aber, dass Dostojewski damit im Grunde die historische Entwicklung Russlands vorweggenommen hat. Denn die „neuen Ideen“ des Raskolnikov mündeten nur wenige Jahrzehnte nach Erscheinen des Romans (1866) im Großexperiment des Kommunismus. Der Kommunismus ist nichts anderes als die Realisierung der Theorie von Raskolnikov: Um die Menschheit voranzubringen, ist es der Avantgarde der Arbeiterklasse, also den „besseren“ Menschen, erlaubt, „Hindernisse“ aus dem Weg zu räumen. Und so ermordete Lenin zigtausendfach und hunderttausendfach Adlige, Priester und andere Widersacher, und Stalin steigerte das Morden in die Millionenzahl, und das alles zum Wohle der Menschheit.

Psychologisch äußerst feinsinnig hat Dostojewski erkannt, dass im Tiefsten dieser selbsternannten Wohltäter der Menschheit die Lieblosigkeit und der Hochmut sitzen: Sie wollen gar nicht zuerst das Wohl der Menschheit, sondern zuerst wollen sie sich selbst beweisen, dass sie etwas „besseres“ sind, und dass die anderen schwach und „Läuse“ sind.

Dostojewski gehörte einst selbst einem frühsozialistischen Zirkel an, der sich an Fourier orientierte. Er wurde 1849 verhaftet und nach einer Scheinhinrichtung zu Zwangsarbeit verurteilt. Dostojewski erzählt also von einer Geisteshaltung, die er selbst durchlitten und später ganz offensichtlich überwunden hat.

Unter dem Gesichtspunkt der Geistesgeschichte ist es von großem Interesse, dass die Untaten Napoleons bei Dostojewski eine große Rolle spielen. Könnte es sein, dass es einen historischen Konnex gibt zwischen den Verbrechen Napoleons und den Verbrechen der Kommunisten in Russland?

Seltsame Missverständnisse

Es muss auch gefragt werden, ob dieses Werk von Dostojewski bei manchen Lesern möglicherweise einen gegenteiligen Effekt erzielte: Dass manche Leser dieses Buch nicht als Warnung vor einer Rationalität ohne Liebe, mithin vor ideologischer Verblendung lasen, sondern im Gegenteil in Raskolnikovs Tat eine Heldentat sahen? Dass manche Leser durch dieses Buch überhaupt erst auf dumme Gedanken gebracht wurden, und insbesondere die dramatische Wende, die sich erst in den allerletzten Zeilen des Buches ereignet, schlicht übersahen? Ein Charakter des Buches heißt „Luschin“, der „Zinnerne“. Es erinnert an „Lenin“ oder „Stalin“, der „Stählerne“. Auch weitere Bezüge lassen sich finden. Es wäre interessant zu untersuchen, ob nicht nur Marx und Engels, sondern auch Dostojewski unfreiwillig einer der Taufpaten der mörderischen Ideologie des Kommunismus in Russland war.

Interessanterweise verfehlen die meisten Inhaltsangaben und Rezensionen den Inhalt von „Schuld und Sühne“. Sie glauben, die nervliche Überlastung von Raskolnikov rühre von Schuldgefühlen her, und dass die den ganzen Roman hindurch ausgebreitete nervliche Überlastung zugleich auch die Sühnestrafe sei. Immerhin lautet so ja der Titel des Buches: Schuld und Sühne. Aber von Schuld und Sühne ist bis auf die allerletzten Zeilen nichts in diesem Buch zu sehen. – Offenbar haben nicht wenige Leser Schwierigkeiten, die Radikalität des Plots wirklich zu begreifen. Oder sie lesen das Buch unter der Perspektive irgendeiner vorgefassten Weltanschauung oder Ideologie, in die sie dann den Plot des Buches zu pressen versuchen, bis hin zur Verkehrung der Absicht Dostojewskis in ihr Gegenteil. Dostojewski hat offenbar ein Buch geschrieben, das für viele nur schwer zu verstehen ist. Für die Menschheit lässt das nichts gutes hoffen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 08. August 2018)