Schlagwort: Suizid

Jostein Gaarder: Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht (2018)

Genau richtige Gedanken zu Sterben und Abschiednehmen

Englischlehrer Albert hat eine tödliche Diagnose bekommen, und da Frau und Kinder weggefahren und außer Haus sind, hat er sich in die typisch norwegische Einsamkeit der Familienhütte an einem kleinen, abgelegenen See zurückgezogen. Dort beginnt er seine Gedanken zu ordnen, und vielleicht wird er gleich noch in derselben Nacht seinem Leiden ein Ende setzen, noch ehe er Frau und Kinder damit belasten muss. Das Buch stellt die Wiedergabe der Gedanken Alberts dar, wie er sie in das Hüttenbuch schreibt. Ein Hüttenbuch ist eine weitere typisch norwegische Eigenheit, es handelt sich um eine Art Logbuch für alle Geschehnisse während des Hüttenaufenthaltes.

Drei Themen werden bearbeitet: Im Rückblick auf sein Leben erkennt Albert, wie so vieles in seinem Leben „genau richtig“ war. – Auch im Universum ist vieles „genau richtig“ eingerichtet, und vielleicht verbindet sich ja damit auch eine Hoffnung auf einen Sinn des Lebens.

Das dritte „genau richtige“ Thema hat Albert aber ganz vergessen, und wie Jostein Gaarder es zur Überraschung von Albert und zur Überraschung des Lesers in die Geschichte einführt, ist genial (und wird hier nicht verraten): Es geht um die Einbindung des Menschen in das Gefüge von Familie, Gesellschaft und Menschheit. Man kann sich eben nicht einfach in eine Hütte zurückziehen und alle Verbindungen zu den Mitmenschen ignorieren und die Sache ausschließlich mit sich allein abmachen. Der Mensch hat eine Rolle zu spielen, auch im Sterben und gewissermaßen auch über den Tod hinaus, und diese Rolle ist sinnvoll und verpflichtend.

Ein sehr schönes, geistreiches, kleines, wertvolles Büchlein. Eben genau richtig.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2020)

Leïla Slimani: Dann schlaf auch Du (2016)

Tödlicher Clash einer unentfalteten, verklemmten Nanny mit geistlosen Zeitgeist-Eltern

Der Roman beginnt mit dem Ende: Eine nahezu perfekte Nanny begeht plötzlich erweiterten Suizid mit den ihr anvertrauten Kindern. Wie konnte es dazu kommen?

Der Roman schildert den Weg dorthin, und es zeigt sich, dass diese Nanny aufgrund ihres Werdegangs eine unentfaltete, verklemmte Person ist, die sich in naiven Träumen verliert. Sie kann auf Anfragen der Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, und sie lässt passiv mit sich geschehen, was andere mit ihr tun. Und es wird einiges mit ihr getan: Die Eltern gewöhnen sich schnell an den Rundum-Service, den die Nanny auch als Putzfrau und Köchin bietet, ohne sie dafür angemessen zu bezahlen. Von einer Freundin lässt sich die Nanny mit einem Mann verkuppeln, an dem sie eigentlich nichts findet. Wenn Rechnungen kommen, wenn Kritik von Schulleitern oder ihren Arbeitgebern kommt, wenn in ihrer Wohnung etwas kaputt geht: Die Nanny ist geistig nicht in der Lage, sich konstruktiv mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, und verdrängt sie einfach.

Die Eltern, die die Nanny engagiert haben, nutzen sie aus, und merken es noch nicht einmal. Obwohl sie im linksliberalen Zeitgeist ihres Milieus mitschwimmen, denken und handeln sie immer wieder gegen ihre eigenen Grundsätze. Sie schämen sich zwar jedesmal dafür, aber nur ein klein wenig. Und sie haben keinerlei Gespür für die Probleme der Nanny. Das Leben dieser Eltern hatte sich nämlich relativ problemlos entfaltet, man möchte fast sagen: zu problemlos, und jetzt schwelgen sie in geistloser Selbstverwirklichung im Job und im Konsum, und die Nanny sorgt dafür, dass ihre Kinder dabei nicht „stören“. Das linksliberale Milieu ist voll von solchen geistlosen Erfolgstypen.

Hier denkt man an Botho Strauß: „Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde … meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde.“
(Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel 6/1993)

Am Ende kollidieren die Träume der Nanny mit der Wirklichkeit und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman liefert dem Leser kein einfaches Lagebild. Der verunglückte Charakter der Nanny wird nicht auf ein einzelnes, bestimmtes Trauma zurückgeführt, das ihr zugefügt worden wäre. Vielmehr ist ihr ganzer Werdegang verkorkst. Es ist auch keine „soziale“ Frage wie manche meinen. Arm sein und unentfaltet sein ist nicht dasselbe. Man sollte auch nicht meinen, dass die Nanny krank war, denn es gibt keine einzige Andeutung dazu. Sie ist einfach nur verkorkst und verklemmt.

Auch das problematische Verhalten der Eltern kristallisiert sich nicht anhand einer einzelnen Missetat heraus, sondern es sind viele kleine Lebenslügen und Fehleinschätzungen, die ins Verhängnis führen. Insofern gibt der Roman ein sehr realistisches Bild ab, denn die Schicksale der Menschen entscheiden sich selten an einzelnen, ganz großen Ereignissen, sondern an vielen kleinen Dingen im Laufe ihres Werdeganges. Das aber ist gerade das Erschreckende an diesem Roman, dass eine Katastrophe sich aus vielen kleinen Dingen heraus aufbaut: Denn diese harmlos scheinende Wirklichkeit der kleinen Nickeligkeiten und Lebenslügen ist die Wirklichkeit der allermeisten Menschen.

Was hätte man tun sollen?

Die Nanny hätte sich ihrer Lage bewusst werden sollen, und schrittweise einen Weg heraus finden müssen. Einen Job und eine Wohnung hatte sie. Bekannte und eine Freundin, die ihr halfen, hatte sie auch. Sie hätte es schaffen können! Solange sie nicht krank war, und davon ist im Roman mit keiner Silbe die Rede, gibt es da keine Ausreden! – Die Eltern wiederum hätten sich entscheiden müssen: Entweder hätten sie die Nanny wirklich zu einem Teil der Familie machen sollen. Dann hätten sie sie auch psychisch einbinden und ihr geistig helfen sollen, und vor allem auch angemessen bezahlen. Oder die Eltern hätten eine klare Grenze ziehen und den Kontakt auf einen zeitlich und aufgabenmäßig klar begrenzten Job reduzieren müssen, so dass die Nanny von vornherein keine falschen Träume hätte entwickeln können und gewusst hätte: Ihr Glück muss sie woanders suchen.

Fazit: Tolles, nachdenklich machendes Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. November 2019)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow (1879/80)

Dostojewskis größtes Werk: Der Seelenzustand Russlands vor Gericht

Der Roman „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte und zugleich der großartigste Roman von Fjodor Dostojewski, in dem alle Themen seiner früheren Romane wiederkehren und zu neuen Höhen geführt werden.

Ort der Handlung ist eine russische Kleinstadt mit ihren Bewohnern, in denen sich Russland wiederspiegelt. Russland spiegelt sich auch in der Familie Karamasow wieder, die aus dem Vater Fjodor Pawlowitsch, den drei Söhnen Dimitri, Iwan und Alexei, sowie dem unehelichen Sohn Smerdiakov besteht. Die Mütter sind bereits alle verstorben. Im Vater zeigt sich der Verfall der russischen Familie, die ihre Kinder vernachlässigt. Dimitri (Mitja) ist die unverfälschte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit, ein Schuft und ein Ehrenmann zugleich. Iwan ist der Intellektuelle, der von der westlichen Aufklärung zu Materialismus, Sozialismus und Zynismus verführt wurde und über den daraus folgenden Konsequenzen in seiner Seele zerrissen ist und nervlich zu Tode erkrankt. Smerdiakov ist ungeliebt, herabgesetzt, halbgebildet und selbstverliebt, und begeht den Mord an seinem Vater, nachdem er sich von Iwan auf psychologisch subtile Weise dessen unbewusstes Einverständnis besorgt hat. Alexei (Aljoscha) ist schließlich eine sanfte und offenherzige Seele, ein Gottesnarr, der immer nur das Gute will und immer nur die Wahrheit sagt. Von ihm heißt es, er habe sich in einer Fluchtbewegung vor den Schrecken der Aufklärung dem Glauben der russischen Orthodoxie zugewandt. Seine Gefahr sei es deshalb, dem Mystizismus und Chauvinismus (Nationalismus) zu verfallen, was vielleicht noch schlimmer sei als die Irrtümer der westlichen Aufklärung, wie es im Roman heißt.

Dennoch ist Aljoscha die heilste Seele von allen. Von seinem geliebten Staretz, der zu Beginn der Handlung verstirbt, wird Aljoscha angewiesen, nicht Mönch zu werden, sondern in der Welt zu leben. Den ganzen Roman über eilt Aljoscha von Ort zu Ort, um sich mit diesem oder jenem zu treffen und etwas zu besprechen. Immer hat er noch etwas zu erledigen und muss schnell weiter. Es ist offensichtlich, dass Aljoscha die Rolle eines Vermittlers und Heilers einnimmt, an dessen Wesen Russland genesen soll. Deshalb umgibt sich Aljoscha auch mit Kindern, die eine große Rolle in diesem Roman spielen. Die Kinder sind die Zukunft, und die Erinnerung an schöne Erlebnisse in der Kindheit sind ein Mittel zur Rettung vor dem Bösen, das ist ganz klar die Botschaft. Nicht umsonst wird Aljoscha schon im Vorwort als der eigentliche Held des Romans angekündigt, gerade weil er in seiner Naivität etwas sonderlich ist, und obwohl der heilende Effekt seines Wirkens unbestimmt erscheint.

Nach einer sehr langen Vorbereitung kommt es in diesem sehr langen Roman schließlich zu einem Mord und zu einem Gerichtsprozess gegen den Angeklagten Dimitri: Es ist klar, dass hier Russland vor Gericht steht. Die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger sind präzise Analysen der russischen Seele der damaligen Zeit anhand der Brüder Karamasow. Der Angeklagte steht unschuldig vor Gericht, und wird zu Unrecht verurteilt, doch das Urteil des Autors fällt milde aus: Trotz mancher Schuld und einigen Ungestüms hat kein Mord stattgefunden.

Im Rahmen dieser weit gespannten Handlung finden sich zahllose größere und kleinere Szenen, die diesen Roman zu einem Füllhorn an Gedanken machen, an denen man sich ein Leben lang abarbeiten kann, so z.B.:

  • Der Staretz, das Klosterleben, das einfache russische Volk. Die russische Orthodoxie als solche: Die Kirche muss zum Staat werden, nicht der Staat zur Kirche. Die Idee, dass die Rettung des Christentums aus dem Osten kommt. Der Katholizismus, in dem der römische Staat weiterlebt und die Kirche in sich abgetötet hat, sei hingegen schuld an der westlichen Aufklärung, die von Dostojewski kurzerhand mit Materialismus und Sozialismus in eins gesetzt wird.
  • Die Rede des Staretz über seinen kranken Bruder, und dass alle Menschen Schuld aneinander haben. Dazu die Geschichten von dem seltsamen Duell und von dem Fremden, der seine Schuld offenbaren muss, um davon frei zu werden. Dass alle Menschen Schuld aneinander haben, erkennt später auch Dimitri voller Reue. Ein Grundthema bei Dostojewski.
  • In Smerdiakov kehrt die Figur des Raskolnikov wieder: Er mordet aus zynischem Kalkül, kann aber mit seiner Tat nicht leben. Reue verspürt er dabei keineswegs und begeht Suizid, ohne seine Schuld zu bekennen.
  • Im Stabskapitän und dessen sterbenden Sohn Iljuscha wird das völlige Scheitern, die völlige soziale Erniedrigung und die völlige Hoffnungslosigkeit gezeigt. Sehr berührend. Und doch lässt Dostojewski aus dem vergeblichen Aufstand des kleinen Iljuscha am Ende die Gemeinschaft von Aljoscha mit den Kindern erwachsen.
  • Kolja Krassotkin ist der Prototyp des „verdorbenen“ Jugendlichen, d.h. eines altklugen, ideologisch früh verblendeten, hochnäsigen, gnadenlosen Menschen, der alle rücksichtslos quält und nur an sich denkt. Mathematik und Naturwissenschaften findet er sinnvoll, das Studium der Weltgeschichte und der klassischen Sprachen hält er hingegen für überflüssig (ist aber gut in Latein!): Sehr bezeichnend. Er ist Sozialist und wäre sicherlich ein gnadenloser Funktionär geworden, wenn er nicht durch Aljoscha pädagogisch gerettet worden wäre.
  • Miussoff ist ein selbstgefälliger, egoistischer Liberaler, Rakitin ein weiterer zynischer Sozialist.
  • Erkenntnis: „Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit“. Und: „…nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“
  • Lise, Gruschenka: Liebenswerte Frauen, die plötzlich aus einer Laune heraus auf böse „umschalten“.
  • Der „russische Candide“: Iwan rechnet in seiner „Empörung“ mit den sinnlosen Verbrechen ab, die in der russischen Gesellschaft an unschuldigen Kindern geschehen, die darüber vergeblich im Glauben Schutz suchen.
  • Iwans Poem „Der Großinquisitor“. Eine Polemik gegen die katholische Art des Christentums, aus dem Dostojewski die westliche Aufklärung mit Materialismus und Sozialismus entspringen sah. Aber nicht nur das.
  • Der Alptraum Iwans: Die Aufdeckung seiner Seele durch den Teufel, den seine seelische Krankheit als Abspaltung seiner selbst ins Zimmer projiziert.
  • Viele offenherzige Reden, in denen Menschen ihr Herz ausschütten, wie Marmeladow in „Schuld und Sühne“. Unübertroffen Frau Chochlakowa, die ständig neben sich steht und so manche Wahrheit über das Verhältnis von Männern und Frauen zu verkünden hat.
  • Es gibt auch einiges zu lachen in diesem Roman.
  • Wiederholt wird Schiller zitiert, ganze Passagen aus: Die Räuber. Das Eleusische Fest. Ode an die Freude.
  • Einige Seitenhiebe gegen die Deutschen und ihre Kultur: Die Deutschen seien autoritätshörig, aber gut in Wissenschaften. Deutsche Kleidung habe ein schmutziges Aussehen. Der deutsche Witz ist kartoffelig und fröhlich-selbstzufrieden.
  • Thomas Mann hat sich für seine Romane, speziell für den „Zauberberg“ offensichtlich bei Dostojewski bedient: Parallelen sind u.a. ein Duellant, der nicht schießen will, oder Träume, die Erkenntnis bringen, oder eine Romanfigur als Repräsentant eines Landes und seiner Seele.

Fazit

In seinem geistigen Kampf gegen den Materialismus ist Dostojewski in diesem Roman noch einmal zur Hochform aufgelaufen und hat zugleich ein wenig Optimismus für die Zukunft gewagt. Die Analysen und Warnungen Dostojewskis sind natürlich richtig und haben sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur vielfach bewahrheitet. Auch heute ist die Gefahr keineswegs gebannt, weshalb der Roman auch für unsere Zeit gültige Wahrheiten und Warnungen zu bieten hat.

Allerdings hat Dostojewski für unsere Zeit – und wohl auch schon für seine Zeit – zu wenige konstruktive Vorschläge zu machen. Ein Zurück zur christlichen Religion und speziell zur russischen Orthodoxie ist weder intellektuell redlich vertretbar noch sind die Probleme des organisierten Christentums übersehbar, und das nicht nur bei der von Dostojewski so schwer kritisierten katholischen Kirche. – Der Gedanke, dass alle voreinander schuldig sind, ist zwar richtig, aber für sich allein genommen nicht zielführend sondern nur erdrückend. Hier ist Albert Schweitzer mit seiner Maxime „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ vielleicht zielführender. – Schließlich ist die Sicht auf die Aufklärung zu einseitig. Ja, die Aufklärung hat auch Materialismus und Sozialismus hervorgebracht. Sie hat aber noch viel mehr hervorgebracht. Die geistige Bewegung der Aufklärung kann nicht über einen Kamm geschoren werden.

Immerhin finden sich folgende konkrete Punkte: Zum einen die klassische Bildung, konkret werden Schiller, das Studium der Geschichte und der klassischen Sprachen genannt, aber immer wieder auch russische Klassiker. Zum anderen die Familie als Ort der gegenseitigen sittlichen Bildung von Mann, Frau und Kindern in Liebe. Und vielleicht könnte man Dostojewski mit der Aufklärung versöhnen, wenn man sie als nahtlose Fortsetzung des klassischen Humanismus deuten würde? Auf dieser Grundlage ließe sich dann leichter unterscheiden, welche Aspekte der Aufklärung humanistisch sind, und welche nicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2021)