Schlagwort: unmoralisch

Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben (1966)

Ungewollte Satire: Egomanischer Womanizer verwechselt Erotik mit Liebe

In seinem halbautobiographischen Roman „Wie ich lernte, die Frauen zu lieben“ (Originaltitel: „In Praise of Older Women“) beschreibt Stephen Vizinczey, wie ein Jugendlicher die „Geheimnisse“ der „Liebe“ lernt und dann als Erwachsener reihenweise Frauen von verschiedenstem Charakter „liebt“. Dabei wird in Tat und Theorie der „Liebe“ so dick aufgetragen, dass man manchmal meint, es handele sich um eine Satire. Doch es ist keine Satire, der satirische Effekt schwingt ungewollt mit und wird nirgends vom Autor aufgegriffen und zu echter Satire gemacht. Das Buch wird auch nicht als Satire verstanden. Es gilt als „Meisterwerk“ und „moderner Klassiker“, gewann Preise und wurde verfilmt, und ist bis heute ein internationaler Bestseller. Ein gewisser Arno Widmann nannte es laut Cover sogar „eines der weisesten Bücher der Weltliteratur“. Nun ja. Damit ist es eine ungewollte Satire auf einen egomanischen Womanizer, der sich für aufgeklärt, frauenfreundlich und erfahren in der „Liebe“ hält, ohne zu erkennen, wie er an der Liebe und den Menschen vorbei lebt.

Nur Erotik statt Liebe

Der Autor (oder sein Protagonist Andras Vajda) verwechselt systematisch Liebe mit Erotik. Nichts gegen erotische Anziehung! Und nichts gegen die Gabe, „mit Frauen umgehen“ zu können. Und auch keine grundsätzlichen Bedenken gegen Sex ohne formale eheliche Bande. – Aber eine erotische Zuneigung ist nun einmal noch keine Liebe, auch wenn das Wort „Liebe“ ständig dafür benutzt wird. Eine erotische Beziehung ist, wie das Buch korrekt wiedergibt, eine oft recht kurze und erstaunlich umstandslos wieder beendete Beziehung. Die Beziehungen in diesem Buch werden denn auch auf einer rein emotionalen Ebene geschlossen, eben der erotischen Ebene. Wie das Buch korrekt wiedergibt, ist die Entscheidung für oder wider eine solche Beziehung oft schon gefallen, bevor das erste Wort zwischen den Partnern gesprochen ist. Mehrfach heißt es, der Protagonist habe spontan „beschlossen“, mit einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, zu schlafen. Sieht so Liebe aus? Es ist fast schon zum Lachen, wenn es heißt, der Protagonist habe die „Liebe“ im Bett gelernt (S. 236), und zum selben Ereignis: „Mit ihr war die Liebe eine Vereinigung, keine Selbstbefriedigung zweier Fremder im selben Bett“ (S. 97). Die Frau, in deren Bett der Protagonist die „Liebe“ als „Vereinigung“ lernte, war eine verheiratete Nachbarin, deutlich älter als er, sie machte sich nichts daraus, dass der Protagonist zwischendurch auch ihre Cousine flachlegte, und irgendwann später beendete sie die Beziehung abrupt und geschäftsmäßig, als sie einen anderen Liebhaber gefunden hatte. Später dann trifft der Protagonist auf eine frigide Frau, die sich über die Sexbesessenheit der Männer beklagt – und prompt ist der Protagonist ernsthaft gekränkt, als ihm bescheinigt wird, er sei nicht sexbesessen (S. 240 f.).

Moralisch verwirrt

Es ist leider nicht mehr zum lachen, wenn es ausgerechnet in bezug auf die Verkuppelung von US-Soldaten mit Flüchtlingsfrauen, die sich aus purer Not selbst prostituieren mussten, heißt: „Meine erste Erkenntis dank dieser abenteuerlichen Beschäftigung war, dass die meisten moralischen Ansichten über Sex keinerlei Bezug zur Wirklichkeit hatten.“ (S. 34) Ausgerechnet eine Notsituation dafür zu benutzen, die Maßstäbe der Moral zu bestimmen, ist höchst irrig – und geschmacklos. Warum eine dieser Flüchtlingsfrauen es strikt ablehnte, dass sich ihre 18jährige Tochter ebenfalls prostituierte, kann der Protagonist mit seiner beschränkten Weltsicht jedenfalls nicht erklären. Auch bietet er keine Erklärung dafür an, warum eine seiner Liebhaberinnen meinte: „wenn … meine Töchter von uns erfahren, bringe ich Dich um!“ (S. 296). Warum sollten denn die Töchter nichts von ihnen erfahren, wenn es doch moralisch unbedenklich ist? Auch bleibt völlig unverständlich, warum der Protagonist es für „sexistisch“ hält, wenn Medizinstudenten ihren Kommilitoninnen anbieten, sie von der „Krankheit der Jungfräulichkeit“ zu kurieren; völlig isoliert vom Rest des Buches wird plötzlich von – sic! – „Rücksicht“ auf Gefühle und – sic! – „moralische Prinzipien“ gesprochen. (S. 165 f.). Für eine solche Aussage bietet das Buch keine Grundlage, der Protagonist kommt hier in erhebliche Selbstwidersprüche. Auch liest man nichts darüber, warum die verschiedenen Freundinnen, die der Protagonist gleichzeitig hat, besser nichts voneinander erfahren dürfen (S. 288 ff.). Der Protagonist des Buches verschwendet keinen Gedanken daran, ob es klug und gut ist, in eine intakte Ehe einzubrechen; oder die verheiratete Mutter von Kindern zu „vögeln“; oder zwischendurch eben schnell die Cousine der derzeitigen Liebhaberin. Dass die Beziehungen zwischen Liebenden, zwischen Eltern und Kindern, auch zwischen Cousinen einen höheren Wert darstellen könnten, den für das kurze Vergnügen einer erotischen Beziehung zu opfern unklug und maßlos sein könnte, ist ein Gedanke, der in diesem Buch nicht vorkommt. Dass leichthin verletzte Gefühle auf dem Gebiet von Liebe und Sexualität zu ungeahnten Gefühlsdramen bis hin zu Mord und Totschlag führen könnten, ist dem Protagonisten fremd. Kurz, der Protagonist des Buches ist moralisch verwirrt.

Extremurteil über konservatives Denken

Dennoch ist der Protagonist unerschüttert in seinem Vorurteil über Konservative, und findet Bestätigung in der einzig konservativen Person, die ihm begegnet: Der tatsächlich dummen Cousine einer Liebhaberin, die sich ihm emotional überwunden hingibt, obwohl sie ihn auf rationaler Ebene für unmoralisch hält. Aber man hat nicht deshalb Recht, weil ein Vertreter der Gegenmeinung dümmer ist als man selbst. Schließlich begeht der Protagonist Ehebruch mit einer Frau, die emotional stark hin und her schwankt, ob sie dies zum ersten Mal in ihrem Leben tun sollte, und erklärt hinterher eiskalt zu ihren Bedenken: „Verstehe. Du glaubst zwar nicht mehr an Sünde, aber der Gedanke daran macht dir trotzdem zu schaffen, sozusagen aus Gewohnheit.“ (S. 284) – Wie wenn Moral und Gewissen restlos verschwinden würden und keine Begründung mehr hätten, wenn der christliche Glaube geschwunden ist! Um so zu denken muss man schon sehr dumm sein. Eine innere, wahrhaft liebende Beziehung zwischen Partnern, aufgrund von geteilten Lebenserfahrungen, Interessen, Weltanschauungen, gemeinsamen Kindern, politischen Zielen oder was immer sonst einen Menschen tief im Inneren antreibt, gibt es nach Meinung des Protagonisten offenbar nicht, sondern ist seiner Meinung nach wohl eine Illusion von Stockkonservativen, die er einfach für dumm und unaufgeklärt hält, wie die besagte Cousine. Einzig zugute halten möchte man dem Protagonisten, dass Konservative damals noch „strenger“ und eine Ehe damals noch „fesselnder“ war als heute, aber viel Verständnis und Nachsicht lässt sich aus diesen Umständen für die grundlegenden Irrtümer nicht ableiten.

Oberflächlicher Charakter

Der ganze Lebenssinn wird in diesem Buch auf einen guten Fick mit wem auch immer reduziert. Sogar die Selbstbefriedigung wird präzise deshalb gegeißelt, weil man statt dessen doch lieber mit irgend einer Frau geschlafen hätte, welche ist dabei nicht so wichtig. Der Protagonist kommt nicht auf die Idee, eine Liebesbeziehung anzustreben, in der er sich selbst als diejenige Person angenommen fühlen kann, die er ganz allein ist. Der tiefere Grund dafür könnte sein, dass der Protagonist ein 08/15-Mensch ist, ein austauschbarer, oberflächlicher Charakter, der sich natürlich leicht damit tut, sich mit anderen austauschbaren Charakteren auszutauschen (oder mit tieferen Charakteren, falls diese vorübergehend keine Tiefe wünschen). Ein austauschbarer Charakter also, der gar keine tiefere Beziehung zu einem anderen Menschen aufbauen kann, weil er keine eigene Tiefe hat, und der auch kein Bedürfnis nach einem „inneren Kreis“ von Vertrautheit hat, weil er in seiner Austauschbarkeit und Oberflächlichkeit kein Bedürfnis nach Schutz von etwas Eigenem vor dem öffentlichen Schwachsinn hat. Der öffentliche Schwachsinn gilt einem solchen Menschen vielmehr als das Richtige, Normale und Gute; das ist seine Ebene, auf der er sich mit anderen trifft. Und hier hat auch das Leitthema des Buches seinen Platz: Die Erfahrung des Protagonisten, dass er mit gleichaltrigen jungen Mädchen nichts anfangen konnte, weil diese zickig sind, weshalb er auf ältere Frauen auswich. Kann man nicht wenigstens das nachempfinden? Nein. Denn auch unter den Gleichaltrigen gibt es immer Einzelne, die schon als junge Menschen vernünftig sind – aber das sind eben die mit Charakter. Dass die oberflächlichen Zicken erst im mittleren Alter genießbar werden, das will man gerne glauben, aber damit verrät sich der Protagonist in seiner Oberflächlichkeit einmal mehr selbst. Die Maxime der Philosophie, sich selbst zu erkennen, verwirft er denn auch, weil er darüber nur gemeiner und dümmer werden würde, wie er selbst sagt (S. 236). Vielleicht wird er dadurch aber gar nicht gemeiner und dümmer, sondern erkennt nur, dass er eben dieses ist?

Ungarn

Nebenbei wird auch noch ein wenig über die Geschichte Ungarns und das Schicksal der Flüchtlinge von 1956 erzählt. Das ist fast noch das wertvollste an diesem Buch, aber es ist nicht eben viel.

Fazit

Für viele Menschen, die sich für gebildet und aufgeklärt halten, ohne dass sie es sind, scheint dieses Buch ein Ideal von sexueller Freizügigkeit zu repräsentieren; in Wahrheit ist es jedoch eine ungewollte Satire auf maßlose sexuelle Enthemmung. Leider sind die meisten Menschen entweder maßlos enthemmt oder maßlos verklemmt, und feiern damit in ihren jeweiligen Milieus Erfolge – nur wenige sind klug und maßvoll, und müssen damit auf der Hut sein, um nicht unter die Räder der kleinen und großen Meinungsführer zu geraten, die es überall gibt. Kurz: Ein schlechtes Buch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon mit einigen sprachlichen Glättungen am 18. März 2013)

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)