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Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Dennis E. Taylor: Ich bin viele (2016)

Konsequente Auserzählung einer alten Idee

Der Roman „Ich bin viele“ („We are Legion“) von Dennis E. Taylor ist die erzählerische Ausführung einer alten Idee, nämlich der Besiedelung des Weltraums nicht durch Menschen, sondern durch selbstreplizierende Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Um genau zu sein, wird die Künstliche Intelligenz in diesem Fall auf den Gehirnscan eines echten Menschen zurückgeführt, und diesen Menschen begleiten wir von seinen letzten Lebenstagen über seinen Tod, sein Erwachen als „Replikanten“ und dem Start seiner Sonde von der Erde bis zur Besiedelung des Weltraumes.

Der Roman entfaltet das Thema in Gänze:

  • Erforschung fremder Planetensysteme.
  • Abbau von Rohstoffen und Bau weiterer Sonden mit derselben Künstlichen Intelligenz, die zu weiteren Sternensystemen aufbrechen, um dort wieder Rohstoffe abzubauen und weitere Sonden zu bauen usw.
  • Kampf mit gegnerischen Sonden, die von anderen Staaten ins Weltall geschickt wurden.
  • Entdeckung von primitiven außerirdischen Völkern, die man in der Rolle eines Gottes zur Zivilisation führt.
  • Entdeckung von entwickelten außerirdischen Völkern, die unbekannte und bedrohliche Technologien entwickelt haben.
  • Rettung der Menschheit von der Erde nach einem Atomkrieg und deren Umsiedelung in ein anderes Planetensystem.

Der besondere Charme des Buches liegt in dem Charakter des Protagonisten, Bob, der als Künstliche Intelligenz weiterlebt. Es handelt sich um einen Weltraum-Nerd mit Unternehmergeist, der jede Situation mit Optimismus und einem besonderen Humor meistert. Da jede weitere Kopie von Bob wieder Bob ist, erzählt der Roman die Geschichte aus immer mehr Perspektiven nahtlos weiter, wie wenn jede Kopie immer dieselbe Person wäre.

Bob hat sich in seinem Computer eine virtuelle Welt erschaffen, in der er wieder wie ein Mensch mit Körper und Gefühlen leben kann. Interessant auch das Zusammenspiel der verschiedenen Bobs: Obwohl sie alle Kopien voneinander sind, entwickelt jede Kopie einen anderen Charakter durch Akzentuierung bestimmter Charakterzüge. Jeder neue Bob wählt sich zudem einen charakteristischen Namen. Auf diese Weise lernt sich Bob noch einmal besser selbst kennen.

Immer wieder geht es auch um politische Spielchen und wie lästig diese sind: Seien es die politischen Querelen der verbliebenen Menschen um die besten Plätze in den Aussiedlungssonden, oder seien es die politischen Friktionen unter den Ältesten einer primitiven Zivilisation, die darüber debattieren, ob sie den Weisungen des „großen Baab“, also von Bob, folgen sollen. Es wird dabei keinerlei Verständnis für den guten Sinn von politischen Aushandlungsprozessen geweckt, sondern im Gegenteil darauf abgezielt, die angebliche Unnötigkeit und Schlechtigkeit von Politik zu „entlarven“, angesichts der praktischen Intelligenz von Bob, der am Ende immer Recht hat.

Die zur Anwendung kommende Technologie wird nur recht oberflächlich beschrieben. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Handlung, nicht auf den Hintergründen. Manche beschriebene Technologie dürfte auch utopisch sein. Aber damit wird es nicht übertrieben, so dass es hinreichend glaubwürdig bleibt.

Der Schwerpunkt auf der praktischen Handlung lässt das Buch auch philosophisch recht schwach sein. Philosophische und moralische Probleme werden zwar kurz angerissen, aber dann beiseite geschoben. So denkt Bob z.B. kurz darüber nach, ob er darüber traurig sein sollte, dass der originale Mensch Bob tot ist und er selbst nur eine Maschine, deren Künstliche Intelligenz auf dem Gehirnscan von Bob beruht. Der „Replikant“ Bob ist also gar nicht Bob. Es würde sich auch die Frage stellen, ob Bob als Maschine wirklich genauso wie der Mensch Bob funktionieren kann, und ob die Maschine Bob überhaupt einen freien Willen und ein Bewusstsein haben kann (wie sollte das technisch realisiert sein?), und nicht nur eine Simulation davon. Aber so tief denkt dieses Buch nicht, denn Bob fühlt sich pudelwohl, ist voller Tatendrang und fängt einfach an zu handeln!

An einer Stelle heißt es: „Ich bin Humanist. Ich glaube nicht an das Jenseits.“ (S. 20) Damit folgt das Buch der begrifflichen Vereinnahmung des Humanismus durch Atheismus bzw. Materialismus. Auch das ist philosophisch schwach, um nicht zu sagen: Völlig falsch.

Fazit: Gut erzählter Pageturner, gute und konsequente Ausführung der Grundidee, aber politisch und philosophisch bedauerlich flach.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Zafer Senocak: Deutschsein – Eine Aufklärungsschrift (2011)

Verklärung statt Aufklärung – Warum Senocak irrt

Der äußere Eindruck von Zafer Senocaks Büchlein „Deutschsein – Eine Aufklärungschrift“ weckt hohe Erwartungen:

  • Aufklärung und Humanismus sollten unsere Leitzivilisation sein, nicht Religionen.
  • An diese Grundlage können alle Kulturen anknüpfen, auch der Islam.
  • Deutschland muss dieses große, von Goethe u.a. geprägte Kulturideal aus der Zeit vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wiederbeleben.
  • Voraussetzung von Integration ist eine gelingende Selbstdefinition der Deutschen, die Formulierung eines „deutschen Traumes“.
  • Das alles betrachtet aus der Perspektive und in der Sprache des Literaten, der ein Gefühl für Zwischentöne und das Menschliche hat.

Wer würde hier nicht zustimmen? Doch Senocak enttäuscht die geweckten Erwartungen auf fast schon brutale Weise! Seine Vorstellungen sehen radikal anders aus und sind alles andere als aufgeklärt. Listen wir einige seiner wunderlichen Thesen auf, und analysieren wir dann, wie Senocak zu diesen seltsamen Ideen gekommen ist. Denn das ist das eigentlich Interessante daran!

  • Integrations- und Islamkritiker sind für Senocak grundsätzlich fundamental-christlich und nationalistisch motivierte, spießige McCarthyisten mit beschränktem Horizont und irrationalen Verlustängsten. Sie seien durchweg „selbsternannte Experten“ und „Feierabendautoren“. Wenn sie mit der Aufklärung argumentieren, ist das für Senocak ein Missbrauch der Aufklärung, hinter dem sich die vorgenannten Motive verbergen würden.
  • Der Islam „an sich“ ist für Senocak überhaupt kein Problem. Der zentrale Grund für Kritik am Islam speziell in Deutschland ist nach Senocak die pure Fremdheit des Islam, nicht jedoch dessen theologisch-moralische Inhalte.
  • Senocak ist Anhänger der Vielfalt-Ideologie, nach der Nation und Religion nur zwei unwesentliche Aspekte in einem viel größeren Spektrum von individuellen Eigenschaften eines Menschen seien. Man dürfe Zuwanderer unter keinen Umständen unter der Perspektive von Kollektividentitäten betrachten. Den Kritikern unterstellt Senocak, sie forderten letztlich die 100prozentige Assimilation der Zuwanderer.
  • Der Begriff „deutsches Volk“ wird von Senocak abgelehnt, weil Deutschsein damit angeblich durch Abstammung definiert würde. Die Deutschen seien aber heute nicht mehr ein Volk, sondern lebten praktisch in einem Vielvölkerstaat wie es die Türkei sei.
  • Senocaks Vision von Integration entspricht der Vision des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan von einer „Integration“ der Zuwanderer als 100prozentigen Türken in die deutsche Gesellschaft. Dass deutsche Staatsbürger sich nicht als Deutsche verstehen, auch und zuerst die türkische Staatsbürgerschaft haben, in Deutschland sendende türkische Medien konsumieren, in türkische Moscheen gehen und ihre Kinder in Deutschland auf türkische Schulen, türkische Universitäten und in türkische Fußballvereine schicken, sieht Senocak als vielfältige und moderne Bereicherung für Deutschland. Dass die Zuwanderer aufgeklärte Menschen seien, genüge zur Integration völlig.
  • Auch die Deutschen lebten in Deutschland nur in ihrer Parallelgesellschaft. Wir Deutschen hätten kein Recht, den Zuwanderern ab der zweiten Generation noch irgendwelche Vorschriften zu machen.

Soweit ein ganz kurzer Abriss. Wie kommt Senocak zu diesen absonderlichen Thesen? Statt an den zahllosen Irrtümern zu verzweifeln muss man auf deren gemeinsame tiefere Ursache sehen. Es muss die „Seele“ von Senocaks Irrtümern aufgefunden werden! Dann entschlüsselt sich alles wie von selbst.

Ein romantisches Bild der Türkei

Die tiefere Ursache und der Schlüssel für Senocaks Irrtümer ist ein völlig falsches Bild von der Türkei, das schwärmerisch und romantisch die türkische Staatsideologie verklärt. Für Senocak verkörpert die Türkei das Ideal eines aufgeklärten, demokratischen Vielvölkerstaates; formale Modernisierungsdefizite erwähnt Senocak jedenfalls mit keinem Wort. Atatürks Reformen seien „eine der großen Kulturrevolutionen der Menschheit“ gewesen. Atatürk habe laut Senocak die Parole ausgegeben: „Es gibt viele Kulturen, aber nur eine Zivilisation.“ Diese türkische Staatsideologie, dass in der Türkei viele Völker und Religionen gleichberechtigt zusammenleben würden, hört man in der Tat gerade auch von gebildeten Türken immer wieder einmal. Deshalb ist für Senocak auch das Wort von der „Leitkultur“ ein Anschlag auf die Freiheit, denn auch in der Türkei gäbe es schließlich keine Leitkultur, sondern nur die eine „Zivilisation“ über den verschiedenen „Kulturen“. Exakt dasselbe fordert Senocak nun für Deutschland.

Es ist klar, dass Senocak auf der Grundlage dieses weltfremden Idealbildes auch noch dem harmlosesten Integrationskritiker eine bösartige, antiaufklärerische Motivation unterstellen muss. Senocak ist also der Auffassung, dass es eine „reine“, kulturfreie Aufgeklärtheit gäbe, und dass diese vollauf genüge, um in einem aufgeklärten Land völlig integriert zu sein. Senocak unterstützt damit praktisch vollkommen die Aufforderung von Erdogan an die Türken in Deutschland, sich als 100prozentige Türken zu „integrieren“.

Senocak übersieht natürlich völlig, dass in der Türkei eine massive nationaltürkische und staatsislamische Leitkultur am Werke ist, unter der ethnische und religiöse Minderheiten schlicht nichts zu lachen haben. Da helfen auch keine Märchen von angeblich kurdischen Ministerpräsidenten und dergleichen. Immerhin gibt Senocak wenigstens soviel zu, dass die Landbevölkerung in der Türkei dem Ideal nicht entspreche. Er gibt auch zu, dass die türkischen Zuwanderer in Deutschland überwiegend dieser Landbevölkerung enstammen, womit er sich sehr stark selbst widerspricht. Aber es seien nach Senocak die Deutschen, die den Zuwanderern Kollektividentitäten überstülpten! An einer Stelle unterliegt Senocak peinlicherweise dem typisch türkischen Abwehrreflex, als er eine ultraorthodoxe Familie aus der Türkei nicht als Türken, sondern als Kurden ansprechen möchte – wie denn: Sind Kurden für Senocak nicht auch zivilisierte, gleichberechtigte türkische Staatsbürger? Senocak widerspricht sich hier zumindest atmosphärisch massiv selbst, und das ist bei einem Schriftsteller ein schwerer Vorwurf.

Aufklärung und Nationalkultur

Senocak übersieht, dass Aufklärung immer in real existierenden Kulturen entsteht. Eine aufgeklärte Integration muss deshalb mindestens die Übernahme der nationalen Inkulturationsgeschichte der Aufklärung umfassen. In Deutschland gehören dazu z.B. Immanuel Kant oder 1848. Selbst in den USA, die vielleicht noch am ehesten dem Ideal von Senocak entspricht, ist die Zivilisation stark mit der Kultur der White Anglo-Saxon Protestants verwoben bzw. es hat sich eine Metakultur von Traditionen herausgebildet, die die Zivilisation für alle Amerikaner gemeinsam kulturell erdet. Eine kulturfreie Zivilisation gibt es nicht und kann es auch gar nicht geben, nirgendwo auf der Welt.

Doch Senocak ist radikaler Idealist: Dass Mesut Özil als deutscher Staatsbürger und Repräsentant Deutschlands bei internationalen Wettbewerben die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt, was uns Deutsche sehr verletzt, ist für Senocak völlig in Ordnung, denn diese Hymne ist für ihn kein Teil der „reinen“ Aufklärung, der „Zivilisation“, wie er es nennt. Die deutsche Hymne ist für Senocak nur Folklore der deutschen Kultur, die heute nur noch eine Parallelkultur unter vielen in Deutschland sei. Die deutsche Aufklärungsnationalkultur zählt für Senocak definitiv nicht zu den Erfordernissen der Integration in Deutschland! Analog könnte man sich auch einen „aufgeklärten“ Franzosen vorstellen, für den Voltaire und Marseillaise nicht zu seiner Kultur gehören. Eine Farce!

Aber auch diverse Konventionen und Gebräuche gehören unverzichtbar zu einer aufgeklärten Nationalkultur, allen voran die Sprache als wichtigste Konvention zur Verständigung, oder z.B. die deutsche Ordnungsliebe. Es ist ein Gebot der Vernunft und des Anstandes, mithin also ein Gebot der Aufklärung, sich den guten Gepflogenheiten des Zuwanderungslandes in maßvoller Weise anzupassen. Das kann man auch guten Gewissens abverlangen. Maßlos, wer da wie Senocak unterstellt, Muslime müssten Schweinefleisch essen, um als integriert zu gelten. Senocak beklagt auf der anderen Seite, dass man das positive Deutschlandbild der Zuwanderer nicht aufgreift: Aber dieses positive Deutschlandbild der Zuwanderer hat eben oft Dinge wie die Ordnungsliebe im Sinn, wie Senocak selbst von seinem Vater berichtet, also „kulturelle“ Dinge, und nicht nur die „reine“ Aufklärung. Auch hier kommt sich Senocak also mit seiner eigenen Argumentation ins Gehege.

Senocak redet von „Vielfalt“ und „Bikulturalität“ als Ideal, gibt aber gleichzeitig zu, dass viele Türken in Deutschland im Grunde sehr monokulturell orientiert sind und seinem Vielfalt-Bild in keiner Weise entsprechen. Senocak rechtfertigt diese Monokulturalität aber, denn er hält eine Übernahme deutscher Kultur für die Integration in keiner Weise für erforderlich; zwar hat Senocak nichts dagegen, wenn Zuwanderer sich freiwillig anpassen, aber abverlangen dürfe man den Zuwanderern nur eine kulturunabhängige Aufgeklärtheit. Peinlich, dass sich Senocak gleichzeitig darüber beklagt, dass er von Deutschen immer als deutsch-türkischer Schriftsteller, und nicht als deutscher Schriftsteller wahrgenommen werde – hat er wirklich das Recht, sich vor dem Hintergrund seiner verquasten Pseudo-Integrationsideologie darüber noch zu beklagen?

Verschweigen von Andersdenkenden

Senocak verschweigt konsequent längst entwickelte alternative Konzepte wie z.B. die „Transkulturalität“ im Sinne von Seyran Ates: Zuwanderer können und sollen nach Ates ihre Herkunftskultur durchaus bewahren und pflegen, aber sie müssen zusätzlich und vor allem die deutsche Kultur hinzugewinnen. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, so wie man auch mehrere Sprachen gleichzeitig beherrschen kann. Nur wo es harte Widersprüche gibt, ist die Herkunftskultur aufzugeben. Staatsbürgerschaft kann es nur eine geben: Die des Zuwanderungslandes. Solche maßvollen, vernünftigen, wahrhaft aufgeklärten Überlegungen existieren in Senocaks Buch nicht.

Senocak hält die doppelte Staatsbürgerschaft für Deutsch-Türken für eine Riesenchance für Deutschland. Wer die doppelte Staatsbürgerschaft ablehne, denke in den Kategorien eines autoritären, vormodernen Staates. Dass ein moderner Staat eine Solidargemeinschaft ist, in der es auch Pflichten gibt und Loyalitäten notwendig sind, und dass sich nur im Kommunikationsraum des Nationalstaates mit einem Staatsvolk, dass sich zu verpflichten weiß, Demokratie effektiv verwirklichen lässt, und dass dem eine massiv ausgeweitete doppelte Staatsbürgerschaft völlig entgegen steht, sieht Senocak nicht; dass dies Erfordernisse der Aufklärung sind, diskutiert er nicht. Das Empfinden des Schriftstellers Zafer Senocak für das Beziehungsverhältnis von Kultur und Aufklärung ist taub und blind.

Senocak ignoriert auch konsequent, dass die Deutschen niemals gefragt worden sind, ob und auf welche Weise sie Zuwanderung haben wollen, beklagt aber ständig deren fehlende Bereitschaft zur Akzeptanz des „Fremden“, und betont, dass die Deutschen sich die Zuwanderer selbst ausgesucht hätten. Auch müssten die Deutschen lernen, sich in ihr eigenes Land zu integrieren. Wenn es um Deutsche geht, spricht Senocak von der kulturellen Auflösung in „Vielfalt“, wenn es hingegen um Zuwanderer geht, spricht Senocak von deren Recht, ihre Herkunftskulturen auf deutschem Boden hemmungslos auszuleben, solange sie nur „aufgeklärt“ sind.

Islam und Aufklärung

Auch beim Thema Islam liegt der Schlüssel zu Senocaks Irrtümern in dessen Türkeibild: Der Islam ist nach Senocak in der Türkei offenbar vorbildlich reformiert worden. Senocak macht an seinen Familienerfahrungen die Aussage fest: „Ich stehe in der Tradition eines türkischen Islam, der wie selbstverständlich aufgeklärt und europäisch ist.“ Der Islam „an sich“ ist für Senocak kein Problem. Was in Pakistan und andernorts geschieht, sind für Senocak Entartungen des Islam aufgrund sozialer Schieflagen. Wenn man den Islam sich in offenen Gesellschaften entfalten lasse, dann würde er sich schon öffnen, meint Senocak zuversichtlich.

Es ist klar, dass Senocak auf dieser kruden Grundlage auch den harmlosesten Islamkritiker als christentümelnden Aufklärungsmissbräuchler ansehen muss. Senocak macht natürlich den Riesenfehler, seinen Familienislam mit „dem Islam“ zu verwechseln. „Der Islam“ ist der historisch gewachsene, traditionelle Konsens der mit Autorität versehenen Religionsgelehrten weltweit, wie er in deren Religionsgutachten (Fatwas) formuliert wird, und dieser Islam sieht leider ganz anders aus als der schöne Islam von Senocaks Familie. Dass gewisse Koranverse „Makulatur“ sind, wie Senocak sagt, ist leider alles andere als islamischer Weltkonsens. Auch unter türkischen Muslimen dürfte Senocaks Idee von Koranversen, die „Makulatur“ sind, kaum eine Mehrheit finden. Senocaks Bild von der Türkei und den Türken erweist sich einmal mehr als Illusion.

Senocak hat eine völlig falsche Vorstellung von der „Reform“ des Islam in der Türkei: Unter Atatürk wurde der Islam keineswegs „reformiert“; das hätte nämlich bedeutet, dass von staatlichem Einfluss unabhängige und mit der nötigen Autorität versehene Religionsgelehrte (Theologen, Muftis, Ulema usw.) ausgehend von der islamischen Lehrtradition den Islam organisch und begründet weiterentwickeln und „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren – und dass sie die veränderten Standpunkte in Fatwas offiziell festhalten und auf diese Weise einen neuen theologischen Konsens begründen. Das ist aber nicht geschehen.

In Wahrheit wurde der Islam in der Türkei durch den Staat ganz einfach reglementiert und beschnitten. Von der türkischen Religionsbehörde hört man, dass sie den Imamen die Predigten wörtlich vorschreibt oder diverse Hadithe „streicht“. Das wäre so, wie wenn Bundeskanzlerin Merkel für alle deutschen Bibelausgaben die Streichung der potentiell antisemitischen Passagen aus dem Johannes-Evangelium anordnen würde! Dass das keine glaubwürdige und dauerhafte „Reform“ sein kann, weiß jeder. Heilige Texte kann man nicht „streichen“ oder unterdrücken, man kann sie nur „in dem Lichte vertiefter Einsichten“ neu interpretieren.

Eine solche kulturelle Unterdrückung kann immer nur für eine bestimmte Zeit Bestand haben, dann bricht das Verdrängte wieder auf. Genau das geschieht jetzt unter Erdogan. Ausgerechnet in Erdogan aber sieht Senocak die endgültige Versöhnung von Islam und Moderne. Ein bedauerlicher Irrtum. Die Versöhnung von Islam und Moderne ist im Prinzip möglich, da hat Senocak Recht, aber in hinreichendem Maße realisiert ist sie nicht. Die „Schule von Ankara“ wäre hier sicher als ein Hoffnungsträger zu nennen, auch wenn sie bis jetzt nur in ihrem akademischen Elfenbeinturm existiert.

Senocak erwähnt die „Schule von Ankara“ übrigens mit keinem Wort, was doch sehr verwundert. Vielleicht deshalb, weil der türkische Islam nach der Lesart von Senocak eine Reform gar nicht mehr nötig hat? Sind echte Reformbewegungen wie die „Schule von Ankara“ gar am Ende ein Dorn im Auge von Senocak, weil ihre Existenz nämlich aufzeigt, wie unaufgeklärt der Islam an sich noch ist, auch der türkische Staatsislam? Oder weil der wichtigste Vertreter der „Schule von Ankara“, Yasar Nuri Öztürk, ein scharfer Kritiker von Erdogans politischem Islam ist, den Senocak für die Versöhnung von Islam und Moderne hält? [PS 25.07.2023: Yasar Nuri Öztürk ist nicht der „Schule von Ankara“ zuzurechnen.]

Wenn Senocak über den Streit um Moscheebauten schreibt, befremdet seine sture Islamophilie besonders. Welche Moschee in Deutschland vertritt denn einen reformierten Islam wie den von Senocak? Bei Menschenrechtsfragen wie z.B. nach der Gleichberechtigung von Mann und Frau flüchten die Moscheegemeinden sich entweder in verquaste Formulierungen, oder aber sie behaupten einfach, dass sie für Menschenrechte wären, ohne eine nachvollziehbare und von Religionsgelehrten in Fatwas offiziell vertretene theologische Begründung dafür angeben zu können. In keiner Moscheegemeinde werden Koranverse als „Makulatur“ bezeichnet. Auch hier lebt Senocak offenbar in einer Traumwelt.

Verbrechen wie Ehrenmorde möchte Senocak als kriminell motivierte Einzelfälle bestraft wissen. Mit dem Islam hätten sie direkt nichts zu tun, der Problem-Islam sei eine Randerscheinung von einzelnen Extremisten. Wie Senocak schon die Kurden von den Türken getrennt sehen möchte, so möchte er im Zusammenhang mit dem Islam auch die Türken und Araber getrennt sehen. Auch damit verrät sich Senocak einmal mehr und widerspricht sich selbst in allem. Denn hat Senocak nicht selbst gesagt, man dürfe solche Kollektivzuschreibungen nicht vornehmen? Und sind die Araber für die Definition von Islam eine derart unwichtige Gruppe, dass man sie ausklammern dürfte?

Fast schon zum Lachen ist die völlig weltfremde Auffassung von Senocak, dass das islamische Andalusien in Deutschland praktisch totgeschwiegen würde; dabei kommt es uns schon zu den Ohren raus! Den islamischen Philosophen Averroes führt Senocak an und dass die islamische Blütezeit sich auf die antike Kultur gründe. Dass aber Averroes niemals Akzeptanz bei islamischen Religionsgelehrten fand, verschweigt Senocak, und dass diese Blütezeit lange vorbei ist, gibt Senocak selbst zu: Die islamische Kultur habe ihre Neugier und ihre Skepsis längst eingebüßt, schreibt er. Wieder entlarvt sich Senocak selbst als großer Verharmloser, der im Grunde weiß, dass er verharmlost.

Warum Senocak die Islam-Rede von Bundespräsident Wulff lobt, bleibt völlig unklar, denn wie Henryk M. Broder im Berliner Tagesspiegel richtig kommentierte, verschweigt diese Rede ja gerade Aufklärung und Humanismus, und tut so, als ob Deutschland eine Ansammlung von Religionsgemeinschaften sei. Während sich Senocak mit Recht darüber echauffiert, dass die deutsche Islamkonferenz jeden Menschen aus einem islamischen Land als Muslim vereinnahmt, schweigt er völlig von den deutschen islamischen Verbänden, die dort mit am Tisch sitzen und die deutschen Moscheen tragen. Sie kommen in seinem Büchlein schlicht nicht vor. Wie wenn es sie nicht gäbe. Wie wenn sie bei Integrationsfragen keine Rolle spielten. Wie wenn sie einen problemlosen Islam vertreten würden, über den nicht weiter geredet werden müsste.

Linkes und Aufklärung

Eine weitere tiefere Ursache für die fundamentalen Irrtümer von Senocak könnte in dessen Verwurzelung in linken Ideologien liegen. Er führt wiederholt die Frankfurter Schule an und hat sich auch deren sprachliche Diktion zu eigen gemacht, wie der Leser anhand folgenden Satzes schnell bemerken wird: „Stattdessen spricht man nur über andere, die man vom Hörensagen kennt, viel zu oft in einer Form, in der man schon einmal über andere gesprochen hatte, bevor man dazu überging, sie zu liquidieren.“ Aus diesen Worten spricht präzise der Ungeist der Frankfurter Schule, der alles Spießige nicht als etwas typisch Menschliches, sondern als etwas typisch Deutsches interpretiert, das zudem immer und unweigerlich in Auschwitz enden muss. Konsequent vergleicht Senocak die Integration von Muslimen mit der schlussendlich gescheiterten Integration von Juden bis 1933.

Senocak erwähnt auch mit keinem Wort jene linke Geistesströmung in Deutschland, die nur scheinbar zuwanderungsfreundlich ist, in Wahrheit aber die Zuwanderung dazu instrumentalisiert, einerseits Zuwanderer als linke Wähler ins Land zu holen und andererseits das deutsche Wesen zu „verdünnen“. Aus deutschem Selbsthass blockiert diese Sorte Linke die Integration wo immer es geht, während bürgerliche Kräfte sich schwer tun, Gegenpositionen zu behaupten, ohne als Nazis verschrieen zu werden. In einer Untersuchung über deutsche Identität und Integration hätte das nicht fehlen dürfen, denn schießlich rührt ein ganz wesentlicher Teil des ganzen Schlamassels von diesem Grund her. Aber Senocak wühlt lieber in den romantischen Untiefen der deutschen Seele als linke Lebenslügen zu entlarven, wie es z.B. Seyran Ates tut.

Die durch Auschwitz gebrochene Identität der Deutschen könnte nach Senocak vielleicht am Ende sogar eine bessere Grundlage für Integration sein als die ungebrochenen Nationalidentitäten von Frankreich oder England. Das erinnert an Joschka Fischer, der die deutsche Nation in Auschwitz begründet sehen möchte. Hier ahnt man einmal mehr, was Senocak unter einem „deutschen Traum“ verstehen könnte.

Senocak sieht in Deutschland „zu viele Türsteher, aber nur wenige Empfangsdamen“ – von der übermäßig entwickelten Integrationsindustrie jedoch schweigt er. Sie kommt bei ihm nicht vor. An keiner Stelle seines Buches.

Lesung

Zur offiziellen Buchpräsentation am Abend des 17.03.2011 in der Alten Nikolaischule in Leipzig: Die Atmosphäre auf der Autorenlesung war vom Geist einer linksliberalen Schickeria geprägt. Senocak riss z.B. den allzu billigen Witz von den Bayern, die selbst nicht richtig Deutsch könnten. Den EU-Beitritt der Türkei sieht Senocak als große Chance für Deutschland. Dass sich dann viele Türken auf den Weg nach Deutschland machen würden, hält Senocak für ein Hirngespinst. Thilo Sarrazin galt auf dieser Lesung als eine Witzfigur, deren äußerst bedenkenswerte Thesen in keiner Weise ernst genommen wurden – dies ist selbst wiederum eine Haltung, die man kaum ernst nehmen kann.

Die Moderatorin sprach das Wort „Migrationshintergrund“ mit betonter Verlegenheit aus: Wie schlimm dieses Wort doch sei, aber sie müsse es doch in den Mund nehmen. Sie echauffierte sich auch, wie schlimm es sei, dass wir Deutschen immer noch nicht gelernt hätten, wie die Namen unserer türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgesprochen werden; über die Unmöglichkeit, sämtliche Schriftsysteme dieser Welt zu beherrschen, sprach sie nicht. Die Grenze des Zumutbaren ist ja bereits bei den Aussprachen der Zeichensysteme der direkten Nachbarländer Deutschlands, Tschechien, Dänemark, Niederlande, Luxemburg, Belgien, Frankreich, Polen usw. überschritten.

Ich weiß bis heute nicht, wie sich der Name „Zafer Senocak“ mit Cedille am großen S ausspricht, denn der anwesende Vertreter der Körber-Stiftung und die Moderatorin sprachen den Namen an diesem Abend … unterschiedlich aus! Da Zafer Senocak ein Deutscher ist, sollte er seinen Namen vielleicht einmal mit Buchstaben schreiben, die auf einer deutschen Tastatur auffindbar sind, ich vermute: „Safer Schenodschak“. Wladimir Kaminer hat auch keine kyrillischen Buchstaben in die deutsche Sprache eingeführt, als er seinen Namen eindeutschen ließ (er hatte mit der deutschen Schreibung seines Namens bekanntlich ganz andere Probleme!).

Zafer Senocaks Buch ist im Verlag der Körber-Stiftung erschienen. Die Körber-Stiftung initiierte u.a. auch das „Netzwerk türkeistämmiger MandatsträgerInnen“ in deutschen Parlamenten.

Fazit

Zafer Senocak hat auf der Grundlage eines schwärmerisch-romantischen Traumbildes von türkischer Staatsideologie und türkischem Islam und auf der Grundlage einer linksradikalen Ideologie von einer kulturfreien Pseudo-Aufklärung, die er „Zivilisation“ nennt, ein Machwerk randvoll mit Irrtümern veröffentlicht. Die Befolgung seiner Vision würde die – ja! – Zivilisation, d.h. die aufgeklärte deutsche Kultur in Deutschland zerstören, dem unaufgeklärten Islam breiten Raum geben und das unaufgeklärte national-islamische Türkentum in Deutschland massiv unterstützen.

Senocak ist ganz offensichtlich Teil jenes irren Völkchens geworden, das man Deutsche nennt, das seit jeher Träume und fixe Ideen ungeachtet der Realität bis zum Exzess durchexerziert. Senocak ist in diesem Sinne ein allzu deutscher Deutscher, weniger Deutschsein wäre bei ihm mehr gewesen. Die individuelle Integrationsgeschichte seiner Familie über mehrere Generationen hinweg, die Senocak nebenbei auch noch erzählt, ist übrigens wesentlich „kultureller“, als man angesichts der puristischen Ideen von Senocak meinen könnte, und verdient Respekt.

Senocak unterschlägt konsequent seine ideologische Konkurrenz, so z.B. das Konzept der „Transkulturalität“ von Seyran Ates oder die „Schule von Ankara“. Senocak unterschlägt ebenso konsequent die real existierenden deutschen Islamverbände, die real existierende deutsche Integrationsindustrie und den real existierenden linken deutschen Selbsthass.

Es besteht die Gefahr, dass die aufklärungsfeindlichen, romantischen Träumereien von Zafer Senocak im Sinne des eingangs dargelegten guten äußeren Eindruckes seines Büchleins in der Öffentlichkeit unter dem Stichwort „Aufklärung“ diskutiert werden. So wird ja auch die Vielfalt-Ideologie unter dem Stichwort „Integration“ angepriesen, obwohl sie genau das Gegenteil von Integration anstrebt.

Dem Leser sei als alternative Lektüre folgendes Buch empfohlen: Seyran Ates: „Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“.

Hinweis: Auch Seyran Ates mit Cedille am kleinen s würde gut daran tun, sich kurzerhand deutsch zu schreiben: „Atesch“. Würde diese Eindeutschung der Schreibung denn so weh tun? Sie ändert die Aussprache ja nicht, sondern im Gegenteil, sie schützt die Aussprache vor Veränderung – sonst heißen die Nachfahren eines Tages „Ates“ ohne Cedille am kleinen s! Und wie gesagt: Wir können unmöglich sämtliche Zeichensysteme der Welt bei uns einführen, selbst bei bestem Willen nicht. [PS 25.07.2023: Grundsätzlich ist und bleibt die Schreibung des eigenen Namens natürlich auch eine sehr persönliche Sache. Wir können hier nur zuraten.]

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 25. März 2011)

Jules Verne: Die Geheimnisvolle Insel (1874)

Oller Schinken? Weit gefehlt: Wunderbare Erzählung!

Die „ollen Schinken“ von Jules Verne werden plötzlich wieder lesbar, wenn man sie als Hörbuch genießt: So manche Länge fällt gar nicht mehr als solche auf, weil der Hörer sich in eine genießende, passive Haltung begibt. Vermutlich las man Bücher früher so, wie man sie heute hört?

Jedenfalls ist Jules Vernes „Geheimnisvolle Insel“ eine wunderbare Erzählung, die Jules Verne Schritt um Schritt vor den Augen des Lesers entfaltet. Ganz unterschiedliche Charaktere fliehen gemeinsam aus Gefangenschaft und landen auf einer einsamen Insel, wo sie sich zurecht finden müssen. Dabei spielt jeder Charakter seine Stärken aus. Nebenbei ist dieses Werk auch ein Loblied auf die Zivilisation, deren Aufbau aus einfachsten Verhältnissen hier exemplarisch beschrieben wird. Robinson Crusoe ist nichts dagegen. Der Ingenieur als Führungsfigur wird geradezu als Ikone der Wissenschaft verherrlicht. Der Aufbau der Zivilsation macht so manche Länge des Werkes aus, die im Hör-Modus aber kurzweilig bleibt: Es ist in Wahrheit richtig interessant!

Die einsame Insel hält außerdem ein Geheimnis vor, das die Gefährten erst nach und nach kennenlernen. Der Leser rätselt mit ihnen mit.

Was dieses Werk so angenehm macht, ist vielleicht auch der Umstand, dass es ein Werk aus einer besseren Zeit ist, aus einer besseren Welt: Man glaubte noch an Nation und Menschheit gleichermaßen, an Zivilisation und Wissenschaft, an Menschlichkeit und Wehrhaftigkeit. Die Welt, die sich auf der geheimnisvollen Insel entfaltet, ist eine Welt, die in Ordnung ist. Unsere Gegenwart sollte sich davon eine dicke Scheibe abschneiden.

Als Hörbuch gehört. Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 22. März 2016)