Lehrreicher Vatikan-Thriller mit deutlichen Schwächen
Der Roman „Das geheime Evangelium“ (Original: The Fifth Gospel) ist ein Vatikan-Thriller. Der Leiter einer geheimnisvollen Ausstellung zum Grabtuch von Turin in den Vatikanischen Museen wurde wenige Tage vor deren Eröffnung ermordet und eine Schautafel im letzten Raum der Ausstellung ist verschwunden. Der Protagonist des Romans ist der Bruder des Angeklagten, der nun im Vatikan von Pontius zu Pilatus läuft, um die Hintergründe der Tat zu erforschen und die Unschuld seines Bruders zu beweisen. In Rückblenden spielt aber auch das Mordopfer eine wichtige Rolle: Es wird vor Augen geführt, wie dem Ausstellungsleiter, einem rein wissenschaftlich orientierten Menschen, die Bedeutung des Grabtuches immer klarer wurde, bis er – für ihn selbst überraschend und schockierend – vor einer schwierigen Gewissensentscheidung stand.
Im Zentrum der Geschichte steht das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche und wie man diese beiden Kirchen wieder miteinander versöhnen könnte, gespiegelt in den beiden Brüdern, von denen der eine römisch-katholisch ist, der andere römisch-orthodox. Eine große Rolle spielt das Grabtuch von Turin und die Frage, ob es doch echt sein könnte. In diesem Zusammenhang ist das Diatesseron des Tatian von Bedeutung, eine Zusammenschrift der vier Evangelien, um aus vier sich teilweise widersprechenden Evangelien eines zu machen (Evangelienharmonie).
Der Leser lernt eine Menge über das Verhältnis der vier Evangelien zueinander, und wie diese Evangelien historisch-kritisch gedeutet werden. Das Diatesseron selbst liefert dazu eigentlich gar keine Enthüllungen, dient aber als Vehikel dieser Erklärungen. Auch die Geschichte des Grabtuches wird natürlich intensiv behandelt. Ebenso lernt der Leser viel über die Einrichtungen des Vatikan und deren innere Machtmechanik kennen: Von den Wohnblocks der wenigen Vatikan-Bürger über das Vatikan-eigene Hotel Casa Sanctae Martae, die Garage und den vatikanischen Fahrdienst, die Schweizergarde, die Gendarmerie, die Vatikanische Geheimbibliothek, den Regierungspalast, die Casina Pius IV., den Petersdom, den Papstpalast, und natürlich auch die vatikanische Gerichtsbarkeit, die immer noch nach dem Modus der Inquisition funktioniert.
Kritik
Besonders störend ist, dass der Autor ziemlich viel Herzschmerz und Schmalz in seinen Roman verwoben hat: In Bezug auf den fünfjährigen Sohn des Protagonisten (der als römisch-orthodoxer Priester heiraten durfte). In Bezug auf die Ehefrau des Protagonisten, die nach Jahren der Abwesenheit ausgerechnet jetzt wieder zurückkehrt. Und in Bezug auf die Versöhnung der katholischen mit der orthodoxen Kirche, die über viele Seiten hinweg in ziemlich unglaubwürdiger Weise als spontane, gefühlsgetriebene Handlung von Papst und Patriarchen dargestellt wird. Am ehesten scheint mir der Schmalz noch in Bezug auf den Onkel funktioniert zu haben, für den seine Neffen seine ganze Familie sind.
Ebenfalls schade ist, dass der Leser relativ wenig über das Selbstverständnis der Orthodoxen erfährt, obwohl sich der Roman doch um das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche dreht. Man erfährt z.B. praktisch nichts über die Rolle von Klöstern in der Orthodoxie oder deren Staat-Kirche-Verhältnis.
Gewöhnungsbedürftig ist die Erzählperspektive: Der Erzähler schaut gewissermaßen in das Hirn des Protagonisten und beschreibt fortwährend dessen Gedanken und Gefühlsregungen. Auch die Dramaturgie des Romans ist fragwürdig: Es geht nur in ganz kleinen Schritten voran, so dass sich die Handlung wie Kaugummi zieht. Mehr als einmal hat der Leser das Gefühl, dass die Protagonisten eine Schlussfolgerung reichlich spät ziehen, d.h. der Fortgang der Handlung ist nicht glaubwürdig. So z.B., als in eine Wohnung eingebrochen wurde, ohne die Tür aufzubrechen, doch erst viel später kommt der Protagonist auf die Idee, nach dem Zweitschlüssel unter der Fußmatte zu sehen.
Fazit: Eine gute Grundidee lehrreich ausgeführt, aber mit deutlichen Schwächen.
Bewertung: 3 von 5 Sternen.