Monat: Januar 2025

Julia Friedrichs: Gestatten, Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008)

Lesenswert – sympathisch – fordert eigene Meinungsbildung heraus

Ein sehr lesenswertes Buch, weil es Einblick in die Schulen und Universitäten bietet, an denen die Elite von morgen herangebildet wird, und weil man vor allem auch einen Blick auf die jungen Menschen selbst bekommt, die sich als Elite verstehen. Vorurteile werden bestätigt – und widerlegt. Es gibt tatsächlich Leistungseliten – aber es gibt natürlich auch die Geldeliten, die sich einen Schul- oder Uni-Abschluss praktisch kaufen, weil sie es im normalen System nicht schaffen würden. Ein Problem für alle – auch bei gutem Willen – ist natürlich der Verlust der Bodenhaftung.

Ein Vorteil aller Eliteschulen ist, dass nicht nur auf Stoffvermittlung, sondern auch auf Persönlichkeitsbildung Wert gelegt wird. Stark auch die Passagen, wo die Autorin überzeugend darlegt, dass die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend nur selten durch Leistung entschieden wird, sondern fast immer durch quasi traditionelle Beziehungen und Stallgeruch (d.h. nicht allein und nicht zuerst durch Geld, sieh an).

Sehr sympathisch lesen sich die Passagen, wo die Autorin den Werdegang der Elite-Schüler mit ihrem eigenen ganz normalen Werdegang an staatlichem Gymnasium und staatlicher Uni vergleicht. Oder wo sie selbstkritisch wird und auch schildert, wie ihre eigenen Sozi-Eltern mit dem Alter plötzlich so manches ganz anders sahen. Oder wo sie zeigt, dass es bei Ökos und Sozen ebenfalls zu Elite-Bildungen kommt.

Dass die Autorin politisch links ist und es auch zeigt, wäre kein Problem, da sie nicht radikal ist, aber manchmal stört es doch. Das Problem ist weniger, was sie sagt, als was sie nicht sagt. Wenn Eliten wirklich Leistungseliten sind, die der Gesellschaft etwas bringen, dann sind sie gut und sinnvoll – aber in dieser Klarheit liest man das in diesem Buch leider nicht. Dass bei Vermischung von guten und schlechten Schülern nicht nur die schlechten Schüler besser, sondern auch die guten Schüler schlechter abschneiden, hätte die Autorin ruhig sagen können. Dass in Deutschland durch eine unkontrollierte Zuwanderung und Multikulti-Illusionen bezüglich der Integration eine enorm angewachsene, bildungsferne Unterschicht entstanden ist, die das staatliche Schulsystem heute ganz anders aussehen lässt als vor 20 Jahren, als die Autorin zur Schule ging, bleibt ebenfalls unausgesprochen, obwohl es gut gepasst hätte, z.B. als die Flucht in private Schulsysteme thematisiert wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im Dezember 2009)

Robert Löhr: Das Erlkönig-Manöver –Historischer Roman (2008)

Gelungene Satire auf Goethe & Co.

Man kann es sich kaum vorstellen, aber Goethe, Schiller, Alexander von Humboldt und Heinrich von Kleist machen sich gemeinsam auf den Weg, um in einer Geheimaktion den französischen Thronfolger aus dem revolutionär-französischen Mainz zu befreien! Lässt man sich erst einmal auf diesen Plot ein, findet man sich in einer anspielungsreichen Satire wieder, in der die genannten Geistesgrößen eine Action-reiche Abenteuergeschichte zu bestehen haben. Der Autor hat es vermocht, typische Züge der Protagonisten auf diese ungewöhnliche Situation umzumünzen. Die Dialoge verwenden reichlich bekanntes Material aus Leben und Werk der Charaktere, allerdings auf urkomische Weise in völlig anderen Situationen. Es empfiehlt sich, einige Werke und vielleicht auch eine Goethe-Biographie gelesen zu haben, denn nur dann kann man alle Anspielungen entschlüsseln. Die Romantik ist mit Bettine und Achim von Arnim ebenfalls mit von der Party. Man liest dieses Buch in einem Zug.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Februar 2013)

Ledio Albani: Haltungen (2021)

Wokismus von Rechtsaußen in 430 Aphorismen

Das Buch „Haltungen“ folgt dem üblichen Schema von aphoristischen Werken: In verschiedenen Kapiteln werden Aphorismen zu verschiedenen Themen präsentiert, darunter Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, Literatur, Tradition, Krieg, Blut, Kunst, Ritual, Götter, Glaube, Wissenschaft, Musik, Gleichheit, Revolution, Untergang. Das Buch ist stilistisch anspruchsvoll gestaltet: Auf einem schwarzen Einband prangt eine einzelne griechische Säule in Weiß. Das Buch liegt gut in der Hand, das Papier ist schwer, die Drucktype gediegen, der Satz edel.

Die Aphorismen sind sprachlich gut gelungen. Doch leider nur das. Inhaltlich sind sie das Zeugnis einer wenig vernünftigen philosophischen und politischen Grundhaltung. Vernunft und Wahrheit werden mit Skepsis betrachtet und abgelehnt, das Irrationale wird gefeiert. Ebenso wird die Niederlage und das Besiegtsein als der eigentliche Sieg bezeichnet – aber warum für einen Sieg kämpfen, wenn doch angeblich die Niederlage der Sieg ist? Ordnung sei Chaos, und Chaos Ordnung. Es finden sich tausend Selbstwidersprüche. Obwohl ständig gegen Ratio und Logik gewettert wird, werden die Gesetze der Mathematik für unerschütterlich gehalten. Manche Aphorismen zu Suizid oder dem Blut als Quelle von kulturellen Leistungen gehen an die Schmerzgrenze des Erträglichen.

Vielleicht 5% der Aphorismen sind zustimmungsfähig, weitere 10% regen noch ein wertvolles Nachdenken an. Doch der große Rest der Aphorismen ist einfach nur sachlich falsch und moralisch schlecht. Die Falschheit des Geistes, die den Leser aus dieser Aphorismensammlung anweht, zeigt sich u.a. auch in der Meinung über die Antike:

Nr. 352: „Dass die Antiken uns noch etwas zu sagen hätten, behaupten nur die Ahnungslosen und die Untalentierten. Jene, um fremdes Unwissen zu verschleiern, diese, um eigenes Unvermögen aufzudecken.“

Wie kann ein halbwegs gebildeter und vernünftiger Mensch so einen Unsinn verzapfen?! Das ist ein Anschlag auf unsere Kultur, nichts anderes. Das ist nicht Humanismus und nicht Aufklärung, sondern die Verherrlichung der Barbarei. Man fragt sich, was die griechische Säule auf dem Umschlag soll, wenn uns die Antike angeblich nicht zu sagen hätte?! Der Autor führt den Leser konsequent an der Nase herum:

Nr. 127: „Sich in Widersprüchlichkeiten ergehen und nicht mehr zu dem halten, was man noch gestern für wesentlich erachtete, täglich seine Ansichten ändern, seine Vorliebe, seinen Geschmack, seinen Glauben … keinen Charakter haben, das ist es!“

Nr. 429: „Wenn sich meine Merksätze mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrten, so würde sich an ihnen und an dem vorliegenden Band nur Unwesentliches geändert haben.“

Was wir in diesem Buch vor Augen geführt bekommen, ist nichts anderes als Wokismus von Rechtsaußen. Aus derselben Quelle, aus der die linken Woken ihren antihumanistischen Postmodernismus geschöpft haben, aus Nietzsche und Heidegger, schöpft auch der Ungeist dieses Buches. Es ist dieselbe Ablehnung von Vernunft, Realismus und Kultur wie bei den linken Woken. Ein Hang zur Nekrophilie ist nicht übersehbar. Würde man dieses Büchlein, versehen mit einem Regenbogen-Einband, Claudia Roth in die Hand drücken, sie fände vieles darin entzückend.

Zuletzt stimmt auch die Form nicht: Es finden sich überraschend viele Kommafehler, die so manchen Aphorismus zur ungewollten Stilblüte werden lässt. Schwer wiegt auch, dass die Aphorismen leider nicht in Kapitel mit jenen Überschriften eingeteilt sind, die oben genannt wurden: Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, usw. usf. – Nein, dieses Büchlein teilt die Aphorismen lediglich in fünf Kapitel mit höchst nichtssagenden Überschriften ein. Und schließlich hat dieses sich edel gebende Büchlein leider kein Lesebändchen. An sich eine Bagatelle, aber angesichts der Fallhöhe, die das Büchlein ausstrahlen will, ein echtes Versäumnis.

Fazit: Weg damit. Nur ansehen, um auch so etwas einmal gesehen zu haben. Und dann einfach nur weg damit. Möge der Autor, der diesen Text in jungen Jahren verfasst hat, mit zunehmendem Alter zu besseren Gedanken kommen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

Ernst Tremp / Johannes Huber / Karl Schmuki: Stiftsbibliothek St. Gallen – Ein Rundgang durch Geschichte, Räumlichkeiten und Sammlungen (2007)

Gute Einführung in Bedeutung und Sammlung des Klosters St. Gallen

Dieses Buch ist mehr als nur ein Museumsführer, es ist eine gelungene Einführung in die Geschichte des Klosters St. Gallen und insbesondere seiner Bibliothek. Es wird erschöpfend informiert über die Epochen der Klostergeschichte, über die Ausstattung des barocken Bibliothekssaales, und über die Handschriften im Bestand der Klosterbibliothek. Alles ist reich bebildert.

Hier ist ein wahrer Schatz vorhanden: Viele der Handschriften sind die ältesten ihrer Art und deshalb für die Erforschung der Textgeschichte von großer Wichtigkeit. Die Bedeutung dieser Handschriftensammlung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

  • Älteste Zeugnisse antiker Schriftsteller, z.B. Vergil.
  • Älteste Zeugnisse von Evangelien und der Vulgata.
  • Älteste Zeugnisse der deutschen Sprache.
  • Nibelungenlied und Parzival.
  • Karolingische Gesetze und älteste Musik-Manuskripte.
  • usw.

Einige der ältesten Handschriften mit Werken antiker Schriftsteller wurden hingegen in der Renaissancezeit von italienischen Humanisten „entführt“, ganz so, wie man sich das vorstellt.

Hier in St. Gallen wird die kulturelle Leistung greifbar, die die Klöster in der Welt des Mittelalters durch ihre Bildungs- und Überlieferungsarbeit erbracht haben. Zwar hatte das Christentum seinen Anteil am Niedergang der klassischen Bildung und dem Heraufziehen des Mittelalters, ohne die Klöster jedoch wäre die Wiederentdeckung der Antike und damit die Moderne nicht möglich gewesen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Januar 2020)

Jules Verne: Von der Erde zum Mond / Reise um den Mond (1865/70)

Liebenswürdig erzählte Mondreise: Ein echter Jules Verne

Der zweiteilige Roman „Von der Erde zum Mond“ bzw. „Reise um den Mond“ von Jules Verne handelt davon, wie ein amerikanischer Verein von Artilleristen nach dem Ende des Bürgerkrieges seine Kräfte darauf verwendet, eine Aluminiumkugel auf den Mond zu schießen. Ein lebenslustiger Franzose kommt hinzu, und die Kugel wird zu einem wohnlichen Geschoss umgebaut, in dem drei sehr eigenwillige Charaktere die Reise zum Mond antreten. Wegen eines Berechnungsfehlers der Anfangsgeschwindigkeit und wegen der Begegnung mit dem „zweiten Mond“, dessen Existenz damals vermutet wurde, fällt das Geschoss nach einer ausführlich geschilderten Umrundung des Mondes wieder auf die Erde zurück, und alle sind wohlbehalten.

Dieser Roman entfaltet erneut das erzählerische Talent von Jules Verne, und der Leser gibt sich dem Strom der Ereignisse, Gedanken und Informationen gerne hin. Wieder werden die Nationen durch ihre Vertreter liebenswürdig charakterisiert, und wieder wird aus Technik und Naturwissenschaft alles aufgefahren, was man damals über Kanonen, Ballistik, Astronomie und natürlich den Mond wusste. Und das ist nicht wenig. Jules Verne hat seine Hausaufgaben wieder einmal gründlich gemacht und lässt uns alle daran teilhaben. Es ist auch interessant zu sehen wie Jules Verne elegant das Problem umschifft, dass man damals noch nicht wusste, was sich auf der anderen Seite des Mondes verbirgt.

Der Leser staunt, wieviel Jules Verne von der ziemlich genau einhundert Jahre später tatsächlich stattfindenden Mondfahrt bereits vorweggenommen hat. Selbst der Ort des Abschusses ist mit Florida so gewählt, wie es später tatsächlich geschah. Aber auch andere Details kommen einem seltsam bekannt vor. Selbst der Pragmatismus und die Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner werden treffend dargestellt.

Der Roman ist halb als eine Satire auf den amerikanischen Charakter angelegt und vermittelt keine tiefere Botschaft. Auch die Handlung ist nicht sonderlich spannend: Denn im ersten Teil geht es um die planmäßige Errichtung der Abschusskanone, während im zweiten Teil die Mondreisenden weitgehend passiv den Ereignissen ausgeliefert sind. Dennoch lohnt die Lektüre. Zum einen wegen des liebenswürdigen Erzählstils. Zum anderen aber wegen der technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die man damals schon hatte, und die den Leser mitdenken lassen, was und warum etwas passiert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. April 2023)

Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen – Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart (2012)

Überraschend enttäuschend: Als Skeptiker top, als Denker flop

Kurz vor seinem Tod hat Peter Scholl-Latour dieses Buch veröffentlicht, das in alten und neuen Artikeln alle Konflikte der Welt Revue passieren lässt. Dieses Buch ist Scholl-Latour in konzentrierter Form. Die Lebensleistung von Peter Scholl-Latour ist beeindruckend: Er war immer selbst vor Ort, um sich ein eigenes Bild zu machen, er kannte viele wichtige Leute persönlich, und hatte oft Zugang zu Menschen, an die sonst kein anderer heran kam. Peter Scholl-Latour hatte immer eine eigene Meinung, die oft quer lag zum Mainstream der Mehrheitsmeinung. Vor allem war Scholl-Latour auch ein großer Skeptiker, der häufig richtig damit lag, dass dies oder jenes so nicht funktionieren werde, wie manche es sich wünschten und erhofften.

Überraschenderweise zeigen sich beim genaueren Nachlesen der Meinungen von Scholl-Latour aber auch enttäuschende Schattenseiten, die viele nicht mit der Person Scholl-Latour in Verbindung bringen. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Zum einen eine erstaunlich häufige Übereinstimmung mit dem linksliberalen Mainstream. Zum anderen enttäuschende Lösungsvorschläge: Wo Scholl-Latour nicht skeptisch gegen etwas Stellung bezieht, sondern selbst konstruktive Lösungsvorschläge für etwas unterbreitet, ist der Lösungsvorschlag oft wenig überzeugend.

Generell kann man sagen, dass Scholl-Latour von militärischem Mut und religiös-weltanschaulicher Konsequenz fasziniert zu sein scheint. Wenn er aufgrund dieser Faszination skeptisch ist gegenüber naiven Vorstellungen von säkularen Pazifisten, dann liegt Scholl-Latour häufig richtig. Wenn er aber aufgrund dieser Faszination die Akzeptanz von militärischer Macht in falschen Händen und die Akzeptanz von religiös-weltanschaulichem Fanatismus vorschlägt, dann liegt Scholl-Latour einfach nur falsch. Wo Scholl-Latour fasziniert ist, ist die Schärfe seiner Analyse getrübt.

Einige Beispiele:

  • Europa-Euphorie und ökonomische Unkenntnis: Scholl-Latour sieht die Europäische Union mit Recht auch als ein Projekt der Selbstbehauptung gegenüber anderen Supermächten, aber dass die EU derzeit undemokratisch ist und die Euro-Währung Europa ökonomisch in den Abgrund treibt, will er nicht wahrhaben. Das sind für Scholl-Latour die Bedenken von Kleingeistern. Hier ist Scholl-Latour so fasziniert von der Grundidee, dass er seine Skepsis vergisst.
  • Linksliberale Geschichtsklitterung: Für Scholl-Latour war es eine gute Sache, dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Jahr 1945 einseitig als „Befreiung“ deutete, und damit eine realistische Deutung, nämlich „Befreiung und Erniedrigung zugleich“, vom Tisch wischte. Wie irgendein halbgebildeter Linksliberaler erkennt Scholl-Latour gar nicht, wieviel nationale Identität durch den nationalsozialistischen Missbrauch der Nation und das darauf folgende Vorgehen der Siegermächte verloren ging; eine Identität, die auch ein demokratisches Deutschland dringend brauchen würde. Aber nationale Faszination empfindet Scholl-Latour offenbar nur für Frankreich und Charles de Gaulle, nicht aber für Deutschland.
  • Anti-Amerikanismus: Auch wenn Scholl-Latour es immer wieder bestreitet, für die Amerikaner hat er herzlich wenig übrig. Sein Antiamerikanismus scheint vom französischen Selbstbewusstsein der „Civilisation“ geprägt zu sein: Für Scholl-Latour sind Amerikaner offenbar unzivilisierte Barbaren, die den Faktor Kultur vollkommen übersehen. Es tut weh, wenn Scholl-Latour primitive Gedanken und moderne Mythen nachplappert, wie z.B., dass George W. Bush sich von göttlichen Eingebungen hätte leiten lassen, oder dass er einen „Kreuzzug“ gegen „den Islam“ geführt habe. Die Evangelikalen in den USA werden auf eine Stufe mit den iranischen Islamisten gestellt. Das Verhalten der Amerikaner in fremden Ländern wird immer als kulturell unsensibel beschrieben. Wie wenn ein Kriegseinsatz jemals auf kulturelle Feinheiten Rücksicht genommen hätte. Wie wenn eine allzu große Rücksichtnahme auf kulturelle Besonderheiten nicht gerade einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass westliche Militärmissionen im Ausland sich quälend in die Länge ziehen und manchmal ohne eine echte Besiegung des Gegners enden.
  • Schurken-Verharmlosung: Scholl-Latours Skepsis gegenüber Gegnern des Westens wie China, Russland oder dem Islamismus ist oft zu schwach ausgeprägt. Scholl-Latour ist von manchen Schurken, von ihrer Macht und ihren Erfolgen offenkundig fasziniert! Für Scholl-Latour war z.B. das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens notwendig, um die Ordnung in China zu wahren. Gorbatschow ist für Scholl-Latour nicht der Befreier Europas vom Kommunismus, sondern einfach nur ein Chaos-Stifter. Für manche Schurken findet Scholl-Latour immer Ausreden und gute Gründe für ihr Handeln, während die USA tun können, was sie wollen: Es ist immer falsch. Das kennen wir von anderen Journalisten auch. Scholl-Latour tarnt es nur besser, weil er auf seine Erfahrung pocht.
  • Zynismus. Bei Scholl-Latour haben alle Beteiligten immer nur die schlechtesten Motive, und alle Szenarien wenden sich immer zum worst case. Der Skeptizismus von Scholl-Latour erscheint vor dem Hintergrund der heute vorherrschenden Naivität zwar erfrischend, aber am Ende übertreibt Scholl-Latour maßlos ins andere Extrem. Die Welt wird nicht nur von Bösewichten regiert, sondern auch von Dummköpfen, und manchmal sogar auch von klugen Idealisten. Mit der Frage nach dem materiellen Nutzen allein kann man nicht alles erklären, auch wenn diese Frage häufig sehr hilfreich ist. Und nicht alles wendet sich immer zum Schlechtesten.
  • Klischees von Ländern: Scholl-Latour war zwar immer vor Ort, aber häufig sind seine Vorstellungen von fremden Ländern genauso klischeehaft und statisch wie die von anderen Korrespondenten, nur dass sie quer zu diesen liegen. Insbesondere die Tatsache, dass es auch in islamischen Ländern oft eine moderne Bevölkerungsschicht gibt, wird von Scholl-Latour regelmäßig völlig ausgeblendet. Scholl-Latour meint, in islamischen Ländern seien eben Religion und Stammesstrukturen vorherrschend. So pauschal gesprochen ist das einfach nur falsch, und gerade von einem Kenner erwartet man Differenzierung. Scholl-Latour ist manchmal aber zur Korrektur fähig. Während er früher schrieb, dass die Schiiten im Irak mit dem Iran im Bunde stünden, hat er später begriffen, dass die Schiiten im Irak einen Gottesstaat ablehnen, und zwar von höchster geistlicher Ebene getragen. Dass der freie schiitische Irak damit eine direkte Gefahr für die Staatsideologie des Iran ist, ähnlich wie die bloße Existenz der BRD die DDR infrage stellte, hat er aber leider nicht ausgesprochen. Islam-Reformer kommen bei Scholl-Latour übrigens mit keinem Wort vor. Das würde vermutlich seine Faszination von einem grimmigen Islam stören.
  • Warum die USA den Vietnamkrieg verloren: Noch immer verkündet Peter Scholl-Latour, dass die USA den Vietnamkrieg deshalb verloren, weil Nordvietnam die Taktik des Guerilla-Krieges anwandte. Deshalb meint Scholl-Latour auch, dass die USA nun überall, wo sie auf entschlossene Guerilla-Kämpfer stoßen, nur verlieren könnten. Das ist falsch, und es schmerzt, wenn ein ehemaliger Soldat wie Scholl-Latour so etwas sagt. Die USA haben den Vietnamkrieg deshalb verloren, weil sie in Nordvietnam keinen Krieg führen durften, weil sonst die Chinesen eingegriffen hätten. Auf diese Weise hatten die Nordvietnamesen immer ein sicheres Rückzugs- und Nachschubgebiet. Das war das Geheimnis, nicht die Guerilla-Taktik. Scholl-Latour spricht davon aber nicht.
  • Einen echten inneren Widerspruch trägt Scholl-Latour bezüglich des Katholizismus mit sich herum. Auf der einen Seite meint er, die katholische Kirche hätte bei der lateinischen Messe bleiben sollen. Die Sakramente seien heutzutage völlig verhunzt. Auf der anderen Seite kritisiert er die Ablehnung der sozialistischen Befreiungstheologie, und meint, die Kirche hätte hier Chancen verpasst. Hier kommen zwei Faszinationen von Scholl-Latour miteinander in Konflikt: Auf der einen Seite seine Faszination für katholische Tradition – auf der anderen Seite die Faszination für eine Bewegung wie die Befreiungstheologie, die in seinen Augen wohl eine aufstrebene religiöse Bewegung ist – ein großer Irrtum.
  • Mangel an demokratischer Überzeugung: Scholl-Latour stellt mit Recht fest, dass das westliche Modell die Welt nicht mehr dominiert: China, Russland und die islamische Welt drängen nach vorn. Es ist aber ein großer Irrtum, wenn Scholl-Latour uns einreden will, dass wir diesen Lauf der Welt gefälligst zu akzeptieren hätten. Der Gaullist Scholl-Latour hat kein Problem damit, „starke Männer“ nicht nur als Übergangslösung sondern als seine grundsätzliche Vision für die meisten Weltregionen zu präsentieren. Doch das westliche Modell ist nicht einfach irgendein Modell, sondern für den überzeugten Demokraten das beste Modell von allen für alle. Demokratie ist keine lokale Folklore und keine Mode des Zeitgeistes, sondern die höchste politische Entwicklungsstufe der Menschheit. Natürlich kann man es in unterentwickelten Regionen nur stufenweise einführen, aber das Ziel muss klar sein. Und natürlich müssen die Ausprägungen von Demokratie sich entsprechend den lokalen Gegebenheiten gestalten. Doch Scholl-Latour lässt die Vision ganz fallen. Es ist falsch, dass Scholl-Latour das Vordrängen von Unfreiheit wertfrei hinnimmt. Es ist vor allem auch falsch zu glauben, die Verblendung von Menschen als Maßstab zu nehmen. Erst recht, wenn diese Verblendung daher rührt, dass die Propagandamaschinen der Gegner der Demokratie immer besser funktionieren.
  • Speziell gegenüber dem Islam nimmt Scholl-Latour eine fast schon „gutmenschliche“ Haltung ein. Man müsse den Islam eben akzeptieren wie er ist, und dürfe sich nicht über islamistische Regierungen aufregen, meint Scholl-Latour. Die Aggression, die vom Islamismus ausgeht, ist für Scholl-Latour nur eine Reaktion auf die „Sünden“ des Westens. Wie wenn der Islamismus aufhören würde, aggressiv zu sein, wenn wir im Westen nur unsere „Schuld“ bekennen und Abbitte leisten würden. Hier liegt Scholl-Latour gründlich falsch. Abgesehen davon, dass man „Schuld“ einmal näher spezifizieren sollte. Welche „Schuld“ meint Peter Scholl-Latour? Etwa die „Schuld“, den Tyrannen Saddam Hussein gestürzt zu haben, der Kurden und Schiiten unterdrückte und massakrierte? Oder die „Schuld“, dass Afghanistan von den Taliban befreit wurde und auch Mädchen zur Schule gehen können? Oder die „Schuld“, dass westliche Ölgesellschaften am Golf die gesamte Infrastruktur für Ölbohrungen aufgebaut haben, so dass aus Beduinen ohne Ahnung von Ölbohrtechnik Millionäre geworden sind? Oder die „Schuld“, dass westliche Archäologen die Kulturen von Ägypten und Mesopotamien ausgruben, und so die große Vergangenheit dieser Länder wieder ins Bewusstsein riefen? Gewiss hat die westliche Welt auch Schuld auf sich geladen, aber man sollte das in Relation sehen und bedenken, dass sich jede Schuldfrage nach hundert Jahren nur noch sehr schwer auf die Gegenwart beziehen lässt.
  • Über manche naive Äußerung kann man nur den Kopf schütteln: So nennt Scholl-Latour es z.B. „völligen Unsinn“, wenn man die Hizbollah im Libanon eine verbrecherische Organisation nennt. Auf die Frage, ob Scholl-Latour nicht Angst habe, in den Wirren nach dem Sturz von Gaddafi in Libyen entführt zu werden, sagt er nur: Wer entführt schon einen 87jährigen? Aber jeder weiß, dass Islamisten davor nicht haltmachen würden. Warum weiß es Scholl-Latour nicht?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 16. November 2014)

Ian Caldwell: Das geheime Evangelium (2015)

Lehrreicher Vatikan-Thriller mit deutlichen Schwächen

Der Roman „Das geheime Evangelium“ (Original: The Fifth Gospel) ist ein Vatikan-Thriller. Der Leiter einer geheimnisvollen Ausstellung zum Grabtuch von Turin in den Vatikanischen Museen wurde wenige Tage vor deren Eröffnung ermordet und eine Schautafel im letzten Raum der Ausstellung ist verschwunden. Der Protagonist des Romans ist der Bruder des Angeklagten, der nun im Vatikan von Pontius zu Pilatus läuft, um die Hintergründe der Tat zu erforschen und die Unschuld seines Bruders zu beweisen. In Rückblenden spielt aber auch das Mordopfer eine wichtige Rolle: Es wird vor Augen geführt, wie dem Ausstellungsleiter, einem rein wissenschaftlich orientierten Menschen, die Bedeutung des Grabtuches immer klarer wurde, bis er – für ihn selbst überraschend und schockierend – vor einer schwierigen Gewissensentscheidung stand.

Im Zentrum der Geschichte steht das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche und wie man diese beiden Kirchen wieder miteinander versöhnen könnte, gespiegelt in den beiden Brüdern, von denen der eine römisch-katholisch ist, der andere römisch-orthodox. Eine große Rolle spielt das Grabtuch von Turin und die Frage, ob es doch echt sein könnte. In diesem Zusammenhang ist das Diatesseron des Tatian von Bedeutung, eine Zusammenschrift der vier Evangelien, um aus vier sich teilweise widersprechenden Evangelien eines zu machen (Evangelienharmonie).

Der Leser lernt eine Menge über das Verhältnis der vier Evangelien zueinander, und wie diese Evangelien historisch-kritisch gedeutet werden. Das Diatesseron selbst liefert dazu eigentlich gar keine Enthüllungen, dient aber als Vehikel dieser Erklärungen. Auch die Geschichte des Grabtuches wird natürlich intensiv behandelt. Ebenso lernt der Leser viel über die Einrichtungen des Vatikan und deren innere Machtmechanik kennen: Von den Wohnblocks der wenigen Vatikan-Bürger über das Vatikan-eigene Hotel Casa Sanctae Martae, die Garage und den vatikanischen Fahrdienst, die Schweizergarde, die Gendarmerie, die Vatikanische Geheimbibliothek, den Regierungspalast, die Casina Pius IV., den Petersdom, den Papstpalast, und natürlich auch die vatikanische Gerichtsbarkeit, die immer noch nach dem Modus der Inquisition funktioniert.

Kritik

Besonders störend ist, dass der Autor ziemlich viel Herzschmerz und Schmalz in seinen Roman verwoben hat: In Bezug auf den fünfjährigen Sohn des Protagonisten (der als römisch-orthodoxer Priester heiraten durfte). In Bezug auf die Ehefrau des Protagonisten, die nach Jahren der Abwesenheit ausgerechnet jetzt wieder zurückkehrt. Und in Bezug auf die Versöhnung der katholischen mit der orthodoxen Kirche, die über viele Seiten hinweg in ziemlich unglaubwürdiger Weise als spontane, gefühlsgetriebene Handlung von Papst und Patriarchen dargestellt wird. Am ehesten scheint mir der Schmalz noch in Bezug auf den Onkel funktioniert zu haben, für den seine Neffen seine ganze Familie sind.

Ebenfalls schade ist, dass der Leser relativ wenig über das Selbstverständnis der Orthodoxen erfährt, obwohl sich der Roman doch um das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche dreht. Man erfährt z.B. praktisch nichts über die Rolle von Klöstern in der Orthodoxie oder deren Staat-Kirche-Verhältnis.

Gewöhnungsbedürftig ist die Erzählperspektive: Der Erzähler schaut gewissermaßen in das Hirn des Protagonisten und beschreibt fortwährend dessen Gedanken und Gefühlsregungen. Auch die Dramaturgie des Romans ist fragwürdig: Es geht nur in ganz kleinen Schritten voran, so dass sich die Handlung wie Kaugummi zieht. Mehr als einmal hat der Leser das Gefühl, dass die Protagonisten eine Schlussfolgerung reichlich spät ziehen, d.h. der Fortgang der Handlung ist nicht glaubwürdig. So z.B., als in eine Wohnung eingebrochen wurde, ohne die Tür aufzubrechen, doch erst viel später kommt der Protagonist auf die Idee, nach dem Zweitschlüssel unter der Fußmatte zu sehen.

Fazit: Eine gute Grundidee lehrreich ausgeführt, aber mit deutlichen Schwächen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste (1940)

Großartige Parabel auf ein leer vertanes Leben auf dem Abstellgleis

Der junge Oberleutnant Drogo wird auf die einsam gelegene Festung Bastiani am Rande der Tatarenwüste abkommandiert. Eigentlich will er dort nicht lange bleiben, aber dann verlängert er seinen Aufenthalt immer wieder …..

Dino Buzzati hat mit der „Tatarenwüste“ die Lebensgeschichte eines Menschen geschrieben, der vom Schicksal auf ein Abstellgleis geschoben wird und es sich dort allzu leicht gemütlich macht – und auf diese Weise am wahren Leben vorbei lebt.

Immer wieder macht er sich neue falsche Hoffnungen und erfindet Ausreden und irrige Vertröstungen, um ein Leben im Stillstand zu rechtfertigen. Es fehlt ihm vielleicht auch der Mut, und er ist zu bequem. Aber auch seine Mitmenschen helfen tatkräftig dabei mit, ihn aufs Abstellgleis zu schieben. Und er lässt es gutmütig mit sich machen. Wirkliche Freunde scheint er nicht zu haben, die ihn ins wirkliche Leben zurückholen könnten.

Es ist ein sehr trauriges Buch, in dem jeder Leser die ein oder andere Facette seines Lebens wiederfinden wird. Wir alle haben schon auf die ein oder andere Weise mehr oder weniger lange in eine „Tatarenwüste“ geblickt. Was für die meisten von uns nur eine Facette des Lebens war, wurde hier zum Inhalt eines ganzen Lebens. Ein Leben kann auch grässlich schiefgehen, und Dino Buzzati führt es uns exemplarisch vor Augen. Eine gute Warnung.

Dino Buzzati hatte dieses Buch schon 1940 herausgebracht, es feierte aber nach 1945 Erfolge. Nach den langen Jahren des Krieges und der Diktatur, in denen man vieles aufschob, konnte das Leben endlich wieder losgehen. Insofern könnte man das Buch als Aufbruchsignal werten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2019)