Monat: Dezember 2025

Johanna Alba & Jan Chorin: Halleluja! und: Gloria! (2010/2012)

Band 1: Halleluja! – Ein Papst-Krimi (2010)

Krimi-Sommerkomödie mit viel Ironie, Katastrophen-Katholizismus und italienischem Flair

Diese Krimi-Sommerkomödie fällt durch ihren Plot aus dem Rahmen des Üblichen: Chefermittler ist hier Papst Petrus II. persönlich. Der Papst, das ist in diesem Fall ein freundlicher und lebensnaher Gemeindepfarrer aus dem Viertel Trastevere, wo Rom am römischsten ist, den das Schicksal irgendwie auf den Papstthron bugsiert hat, ohne dass er seinen Charakter als freundlicher Gemeindepfarrer und Genußmensch verloren hätte. Im ewigen Zweikampf mit seiner stockkatholischen Haushälterin schafft er es irgendwie, die Gazetta dello Sport und Cornetti in seine Dienstwohnung zu schmuggeln, wenn er nicht incognito mit der Vespa in Rom unterwegs ist. Unterstützt wird er dabei von seiner vollbusigen Pressesprecherin Giulia und seinem tapferen Sekretär Francesco.

Merkwürdige Dinge geschehen in Rom: Madonnen weinen, Engel stürzen herab, Anschläge auf Kardinäle werden verübt, Madonnenbilder verschwinden, Intrigen werden gesponnen und Geschäfte gemacht. Orte der Handlung sind u.a. diverse römische Bars, Kirchen und Eisdielen, ein Krankenhaus, die Piazza Navona, das Forum Romanum, das Pantheon, die Tiberinsel, ein Heim für Priesterkinder, die Katakomben, ein Geißler-Orden, ein Verein schwuler Katholiken, Palazzi und Edel-Hotels. Es treten auf: Der Kunsthistoriker des Vatikans, ein Ölscheich, der Chef der Vatikanbank, Gott, diverse Baristi, Tifosi, die Squadra Azurra u.v.a.

Die katholische Kirche und ihre spezifischen Probleme werden in diesem Krimi wunderbar ironisch und treffsicher aber niemals gehässig auf die Schippe genommen, am Rande übrigens auch der Islam. Die Story nimmt überraschende Wendungen und Pointe reiht sich an Pointe. Es macht einfach Spaß sich von den Einfällen der Autoren überraschen zu lassen. Da der Papst ein echter Römer ist, bekommt der Leser auch tiefe Einblicke in die Seele römischer Lebensart, von der Fußballbegeisterung über die Bar- und Eisdielen-Kultur bis hin zu typisch römischen Leckerbissen.

Einziger Malus, den man angesichts der Spritzigkeit der Story gerne verzeiht, ist die unkritische Verherrlichung des (nennen wir es mal so) freundlichen Gemeindepfarrer-Katholizismus mit leichtem Hang zum menschenfreundlichen Selbstbetrug, sympathischen Aberglauben und nostalgischen Traditionalismus. Aber vielleicht ist auch das einfach nur typisch italienisch … – Eine echte Empfehlung als leichte Lektüre für den nicht notwendigerweise katholischen Italien- und Rom-Liebhaber!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Band 2: Gloria! – Ein Papst-Krimi (2012)

Play it again, Frank: Der nette Dorfpriester-Papst als Kriminalist

Der zweite Band der Reihe mit dem gemütlichen Papst Petrus II., seiner hübschen Pressesprecherin Giulia und seinem jugendlichen Privatsekretär-Mönch Franceso, die gemeinsam den Vatikan wie eine Dorfpfarrei leiten (genauso derb und leichtfüßig, genauso kitschig und naiv), erweckt noch einmal alle lustigen Klischees des ersten Bandes zum Leben. Der Plot ist ebenfalls ordentlich gelungen. Ganz witzig die Verballhornung von Berlusconi. Die Haushälterin Immaculata läuft diesesmal zur Hochform auf. Und die Verwicklungen des Bösen sind verzwickt.

Trotzdem reicht es nicht an den ersten Band heran. Der Coup mit der Schwulenszene im Vatikan aus dem ersten Band dürfte nicht mehr zu toppen sein. Einmal wegen des gelungenen Überraschungseffekts, dann aber auch, weil der jetzige Papst Franziskus ebenfalls von einer realen Schwulenszene im Vatikan spricht – und auch er ist ein dorfpriesterlicher Typ. Insofern hatte der erste Band fast etwas Prophetisches. Die Story zwischen Giulia und Francesco kam leider nicht wirklich voran.

Alles in allem ist es dann aber auch mal genug mit dem allzu unwirklichen und naiven Setting dieser Reihe. Es gibt skurrile Plots, die funktionieren wegen des Überraschungseffekts einmal, aber nicht zweimal.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. September 2013)

Mario Rausch: 500 Jahre Hellas – Von Homer bis Sokrates (2025)

Sehr ordentliche Einführung in das klassische Griechenland

Mit „500 Jahre Hellas“ hat Mario Rausch eine niveauvolle aber kurzweilige Einführung in die Welt des klassischen Griechenlands geschrieben. Es werden die üblichen Themen abgehandelt wie z.B. die Perserkriege, das Orakel von Delphi, die Olympischen Spiele, die Demokratie, die Religion, die Philosophie, Athen und Sparta, der Peloponnesische Krieg, oder der Prozess des Sokrates. Die Kapitel sind angenehm kurz aber doch sehr informativ.

Zu jedem Thema werden wissenschaftliche Quellen aus Archäologie und Klassischer Philologie genannt, und alle Aussagen werden unter dem Gesichtspunkt des Standes der Wissenschaft differenziert vorgetragen. Deshalb könnte dieses Buch auch als Einführung für angehende Studenten der Altertumswissenschaften dienen. Teilweise werden auch seltene oder originelle Gedanken eingeflochten, so z.B. das Schweigen des Sokrates in seinem Prozess über sein Verhältnis zur Tyrannenherrschaft, oder der Umstand, dass auch Sparta viele Künstler hervorbrachte.

Die Darstellung ist dabei wohltuend frei von allzu offensichtlichen politischen Präferenzen des Autors, die heute so manche historische Darstellung unglaubwürdig machen, weil eine sekundäre Absicht erkennbar ist. Auf diese Weise kann sich der Zauber der griechischen Welt und des griechischen Geistes aus der Sache selbst heraus entfalten und seine Wirkung auf den Leser ausüben. Werke mit einem ähnlichen Ansatz sind „The Greek Way“ von Edith Hamilton oder „Die alten Griechen“ von Konrad Adam, wobei „The Greek Way“ in seiner Qualität – bei aller Kritik – unerreicht ist.

Es fehlt ein Kapitel, das die Wirkungsgeschichte bis in unsere Tage aufzeigt. Ein Fehler fiel auf, der in einem Werk mit beinahe wissenschaftlichem Anspruch nicht hätte auftreten dürfen: Es wird berichtet, wie die alten Texte ihren Weg über die Araber nach Europa zurückfanden. Doch das ist nicht einmal eine halbe Wahrheit. Die meisten antiken Texte kamen über Byzanz nach Europa, ohne Vermittlung der Araber. Das hätte gesagt werden müssen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

David Garnett: Dame zu Fuchs (1922)

Skurril aber sehr schön – Liebe überwindet alle eigenen und fremden Vorurteile

Eines Tages verwandelt sich Mrs Tebrick in eine Füchsin. So skurril, so real. Und sie beginnt, mehr und mehr ihren tierischen Instinkten zu folgen. Mehr noch als die Füchsin steht aber Mr Tebrick im Mittelpunkt dieses literarischen Kleinods: Wie wird er sich zu seiner geliebten Frau verhalten? Wie weit wird er in seinem Verständnis für ihre immer tierischer werdende Natur gehen? Wird er sich den Erwartungen seiner Mitmenschen beugen? Wird er sie am Ende verlassen?

Es ist rührend, die inneren Kämpfe von Mr Tebrick mitzuverfolgen. Am Ende von vielen durchgefochtenen inneren Schlachten steht ein moralischer Sieg, ein Triumph der Menschlichkeit – aber auch ein tragischer Schluss.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Mai 2019)

Peter Kingsley: Ancient Philosophy, Mystery, and Magic – Empedocles and Pythagorean Tradition (1997)

The flow of magical tradition via the Pythagoreans and Empedocles into Near East

This book is very, very worth reading despite certain shortcomings. It starts with realizing that Empedocles was rather a magician and healer than a teacher and philosopher in our modern, rational understanding. Empedocles was deeply rooted in the Pythagorean tradition with all its partly forgotten mystery and magic, and deeply rooted in the mythologies and geo-mythological circumstances of Sicily and the Phlegraean Fields. Orphic poems (Zopyrus, Philolaus, Archytas) and gold plates are closely related to Pythagoreanism. This bigger picture sheds quite a different light than usually known on the achievements of Empedocles and his role in the development of philosophy.

By deciphering the four gods related by Empedocles to his famous four elements, Kingsley unfolds a rich picture of connections and associations in all directions. The streams of fire and water under the earth of Sicily, and the mythological meanings of „craters“ of all sorts, may well indicate that the gods of fire and water are Hades and Persephone, whereas Zeus corresponds to air and Hera to earth. Both are couples by the way, and Kingsley’s view is indeed more convincing than the traditional interpretation of Hades as air (who can believe this?), and Zeus as fire (because of the sun). From Western Greece, the idea that the hell is a burning fire made its career into the Near Eastern religions. And by „planetarizing“ of the traditional view of certain „layers“ of earth and fire under our feet, Philolaus created under Homeric and Babylonian influence the idea of a central fire, thus deviating from geocentrism. Philolaus‘ view became lost again in some later Pythagorean thinkers, and Plato.

As Kingsley demonstrates, Plato has taken over certain Pythagorean and / or Orphic myths and presented them in the framework of his own philosophy. The Phaidon myth reflects quite obviously the geomythology of Sicily and the Phlegraean Fields. Plato did not just invent his myths, as many believe today, and informed his readers correctly about his sources. Plato and Aristotle are depicted as the „protestants of Pythagoreanism“, i.e. skeptic and rational. Even only to get a better understanding of Plato and his context makes this book worth reading.

Via Hellenistic Egypt, the ideas of Empedocles found their way into Near Eastern mythology in form of magical, hermetical, and alchemical texts, and finally made their way into Islamic philosophy and Sufism. It is true that Islamic philosophy sees magical aspects of Empedocles which have been forgotten or misunderstood by the rational Aristotelean tradition in the West, and it is nicely demonstrated how a thin line of Western thinkers reconstructed this lost tradition by contact to the East.

What is more, some Sicilian and Pythagorean ideas came originally from Babylon and were transported by Greek colonists from Anatolia settling in Western Greece. And Pythagoras allegedly studied in Egypt. Also the use of gold plates came from Egyptian traditions, with the Carthaginians, as Kingsley claims. And behind all, there are traces to Asiatic shamanism.

This is only a short outlook on few of the many details and insights this book offers to its readers. The number of substantial and evidence-based statements is high, as well as the number of valuable stimuli, from which you could start research in many directions. You really delve into the atmosphere of the mysterious world of Empedocles and the Pythagoreans in Western Greece, and start to create a first understanding of a lot of connections in the history of ideas of which you even did not know that they could exist.

Criticism

You cannot buy everything what Kingsley writes. Clearly, Kingsley has a point, more than only one point. He is clearly more right than wrong. Especially in the field of Empedocles, Sicily, the Pythagoreans, and their time. The more he steps into the world of magic and away from Sicily, the more speculative and intransparent the picture becomes. But if only 50% of Kingsley’s claims will survive the scrutiny, it will nevertheless be a great book. So, read it!

After realising, that Pythagoreanism is no unique dogmatic teaching, it becomes a big problem where to draw the line between a „real“ Pythagorean, and someone who is only „influenced“ by Pythagoreanism, and by related mystery movements such as Orphism, gold plates, Heraclean cults, hermetism, alchemism, etc. Kingsley demonstrates the problem but does not present a solution. The lines are often too blurred.

Kingsley does not only describe a magical world view but also seems to have a tendency to side with it against rationality. This is not acceptable. It is true that Empedocles was no „pure“ philosopher, or not a „rational philosopher“ at all in his own eyes, yet it is wrong to deny a process of rationalization. It is not necessary that Empedocles as a link in the chain of rationalization was aware of being such a link. Despite the author’s dissent, there was indeed an evolution of rationality. It is natural, that when rationality starts its way in a world of myth, it overcomes myth only step by step, and still works with myth, in an eternal process of progress. Even today, our thought is not fully free from myth, and it never can be. Of course, the boundaries of myth have been pushed far to the horizon, in our days, but myth is still there.

And it was good that this evolution of rationality happened. Progress in rationality is indeed progress. We clearly have to make this value judgement. Therefore, it was no progress and not good that after Plato and Aristotle Neoplatonists and irrational „thinkers“ like Numenius took over. It does not help that Neoplatonists had a better understanding of some aspects of Empedocles than Aristotle had, and that they partially got this knowledge from a line of tradition parallel to the known rational tradition. One and the same semi-rational attitude means progress when rationality is on the rise, and regression when rationality is stepping back. Although Empedocles may have been equally semi-rational as was Numenius, it is not the same, and Numenius‘ antics were not good.

That late Pythagoreans, Plato, and Aristotle rationalized ancient myths in a wrong way is not the fault of rationality, as Kingsley repeatedly claims, but of a lack of information. Kingsley’s book itself is an example how you can depict things better in a rational way. Plato and Aristotle do not have to step aside with their rationality.

Strange enough, Kingsley, who accuses Plato and Aristotle of having misinterpreted Empedocles because of their rationality, himself misinterprets Plato, obviously because he is at odds with rationality: It is clearly wrong that the line between logos and mythos is blurred in Plato’s dialogues. Contrary to this erroneous opinion, held by many contemporary scholars, logos and mythos are very sharply separated in Plato’s works. They are combined but never mixed. And how can Kingsley who clearly realized that Plato did not just invent his myths, draw an analogy of the creator of the universe and Plato as the creator of myths, and cite Luc Brisson? It would have been helpful to outline the difference between mythos and myth, but Kingsly does not discuss this basic problem. Furthermore, it does not help that Kingsley sees irony everywhere in Plato’s works where there is none. So many mistakes in interpreting Plato are built upon the „feeling“ of irony. Kingsley really could have done better. Does Kingsley have a pathological strive for the irrational? In these passages about Plato’s myths, Kingsley’s book is a superfluous repetition of academic postmodern commonplace errors.

Furthermore, the author is too skeptical towards established science. Of course, academics have made and still make many things wrong. But they are more open for alternative ideas than many think. The author should have tried to build some golden bridges to come together. But maybe the stubborness of established academia is felt more deeply if you depend on it to make a living?

Partly, the style of writing as a story of discovery became boring after a while. A more straightforward and ordered presentation of the material sometimes would have been more helpful. But in any case, you have to make your own notes when reading such a book. Do not read this book without!

Finally, I clearly do not like the bad image of Cicero depicted by Kingsley. Plato, Aristotle, and Cicero have to be praised in the first place, whereas the irrational radicalism of „thinkers“ such as Numenius has to be put under scrutiny.

Bewertung: 4 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. November 2017)

Uwe Tellkamp: Die Carus-Sachen (2017)

Mini-Tellkamp für Dresden-Liebhaber

In diesem kleinen Bändchen entführt uns Tellkamp in die Welt und die Geschichte des früheren und gegenwärtigen Bildungsbürgertums in Dresden. Aber auch zu einer schweren Geburt auf dem Land.

Fabian erinnert sich, wie sein Vater von Carl Gustav Carus begeistert war, einem Dresdner Universalgelehrten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Vater zeigt dem Sohn verschiedene Orte in Dresden, an denen Carus oder seine Bekannten, darunter auch Ludwig Tieck, lebten und arbeiteten. Aber auch in der Gegenwart gibt es einen Kreis von teils eigenwilligen Carus-Liebhabern, zu denen der Vater gehört, und von denen manche Anekdote zu erzählen ist. Das Bildungsbürgertum der Vergangenheit pflanzt sich buchstäblich in den Ablegern einer Sisalagave, die einst Carus gehört haben soll, in die Gegenwart fort, die nun bei den Carus-Liebhabern der Gegenwart zu finden sind.

Carl Gustav Carus soll ein Romantiker gewesen sein, und damit meint Tellkamp einen Forscher, der noch den Blick für das Ganze und nicht nur seine Teile hatte. Auch Goethe habe in diesem Sinne zur Romantik gehört. Der Begriff „Romantik“ ist hier etwas problematisch, die Sache aber ganz gut getroffen. Auch die Natur der Skizze wird thematisiert. Deshalb sind dem Büchlein zahlreiche Skizzen Dresdens beigefügt. Diese sind nur mäßig schön, werden aber den Liebhaber begeistern.

Das Büchlein soll eine kleine Fortsetzung eines vorangegangenen Werkes sein. Für sich allein stehend ist es eine nette Kuriosität, das das Spektrum des Tellkamp-Universums in nuce aufspannt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. März 2019)

Werner Nell: Atlas der fiktiven Orte – Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen (2011)

Vergnügliche Ortskunde für literarisch Gebildete

Der Atlas der fiktiven Orte ist ein gelungenes Vergnügen für literarisch vielseitig gebildete Menschen. Hier geht es nämlich nicht darum, die aus Esoterik und Pseudowissenschaft sattsam bekannten Kandidaten „verlorener“ Städte möglichst spektakulär abzuhaken. Vielmehr orientiert sich die Auswahl an literarischen und kulturellen Gesichtspunkten, wie man an sonst eher selten genannten Orten wie Ardistan, Entenhausen oder Metropolis sehen kann: Orte, die es in der Tat schon lange verdient haben, näher beleuchtet zu werden. Die Präsentation will dem Leser auf leichte Weise einen Mehrwert an Bildung und Anregung zum Selberlesen bieten. Das wird nicht zuletzt auch dank der Illustrationen erreicht, die teils kreativ sind, teils aber auch eine genaue Nachzeichnung des beschriebenen Ortes versuchen.

Was Atlantis anbelangt ist die Präsentation wenigstens halbwegs erfreulich: Einerseits wird natürlich der literarischen Perspektive der Vorzug gegeben, so dass das Augenmerk eher auf literarische Vorbilder für eine Erfindung gelenkt wird. Hier werden dann natürlich auch spätere Hinzuerfindungen zum Atlantis des Platon aus Esoterik und Pseudowissenschaft erwähnt, die unter literarischen Gesichtspunkten inzwischen ohnehin längst die Oberhand über Platons Original gewonnen haben. Aber immerhin wird dem Leser nicht vorgespiegelt, dass das Thema Atlantis unumstritten und in wissenschaftlichen Kreisen längst geklärt sei. Der Gedanke an einen realen Ort Atlantis wird dennoch ausgeschlossen. Von Forschern wie z.B. Wilhelm Brandenstein, der in der Atlantiserzählung gerade unter literarischer Perspektive einen realen Kern erkennen zu können glaubt, kein Wort; nun ja, das Glas halb voll statt halb leer. Atlantis ist eben keine Literatur, kein Poem, sondern sachlich orientierte Philosophie, und passt damit auch nicht ganz in das Konzept dieses Buches.

Korrigieren wir noch rasch einige Fehler im Detail: Falsch ist u.a. die Angabe, dass die Insel Atlantis ca. 533 x 355 km groß wäre: Dies ist vielmehr die angebliche Größe der Ebene in der Mitte der Insel. Dass Thule oder Vineta Stützpunkte von Atlantis gewesen seien ist pure Fantasy. Die Behauptung, dass Atlantis unterging, bevor der Krieg mit Athen zu Ende war, ist umstritten. Die Angabe, dass die Sonnenstadt des Campanella „in ihrem Aufbau ganz der Form von Atlantis entspricht“, ist grottenfalsch. Die Frage, ob Atlantis für das Utopia des Thomas Morus Pate gestanden hat, ist umstritten; Utopia orientiert sich eher an einer anderen, sehr bekannten Insel im Atlantik: Britannien. Die wissenschaftliche Bedeutung von Rudbecks äußerst innovativer, wenn auch vergeblicher Atlantissuche wird völlig verkannt. Weitere grenzwertige und missverständliche Halbwahrheiten über Atlantis sind enthalten. Literaturangaben oder Internet-Links wie bei anderen besprochenen Orten fehlen leider. Das alles kann jedoch den unentwegten Literaturfreund nicht beirren.

Etwas zu kurz kommt der Vergleich der verschiedenen literarischen Orte bzw. deren entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang. So hätte man z.B. bei Michael Endes Lummerland auf die Untersuchung „Darwins Jim Knopf“ von Julia Voss hinweisen können, in der klar nachgewiesen wird, dass hier die Atlantiserzählung unter einem ganz gewissen Gesichtspunkt Pate gestanden hatte. Überhaupt hätte man die verschiedenen Orte besser chronologisch als alphabetisch geordnet. Das schmälert aber das Vergnügen nicht, der gebildete Leser ist vollauf in der Lage die vorhandenen Lücken selbst zu schließen. Wenn es gar nichts mehr selbst zu denken gäbe, wäre das Buch womöglich langweilig!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juli 2012)