Kategorie: Roman (Seite 1 von 11)

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit (1511)

Rundumschlag quer durchs Leben, gelungen und doch irreführend

Erasmus lässt die personifizierte Torheit eine Lobrede auf sich selbst halten. Versteckt hinter der Maske der Torheit und der Ironie kann Erasmus die Fehler der großen und kleinen Leute durchsprechen. Teilweise ist das anregend und witzig und auch für die heutige Zeit oft gut getroffen.

Teilweise ist es aber auch sehr unübersichtlich: Dummheit als Hauptthema einer Arbeit eröffnet ein viel zu weites Feld, als dass noch ein gemeinsames Band hinter allem zum Vorschein käme.

Teilweise ist es auch irreführend. Die Torheit redet teils so überzeugend und doppelt-ironisch, dass der Leser an manchen Stellen wirklich nicht mehr wissen kann, was Erasmus nun selbst ernst meint, und was er nur ironisch meint. Weniger gebildete Leser werden so manchen Rat der Torheit ernst nehmen und ihn entweder als Provokation empfinden oder sogar gutheißen! Das zynische Klischee des Weisen, der am Leben vorbeilebt und von den Frauen verschmäht wird, das Klischee von den Frauen, für die man sich zum lächerlichen Narren machen müsse, um sie zu gewinnen, das Klischee vom erfolgreichen Toren und dem erfolglosen Weisen (leidvolle Erfahrungen von Erasmus?): Sie sind wenig hilfreich und polarisieren die Leser, statt zu differenzieren.

Teilweise ist so manches, was die Torheit als Torheit hinstellt, in Wahrheit gar nicht töricht, wodurch das Werk schiefe und halbwahre Aussagen trifft. Witz, Ironie und Höflichkeit als Dummheiten hinzustellen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde, ist irrig. Ebenso irrig ist es, das „Ich weiß dass ich nichts weiß“ des Sokrates für töricht zu halten.

Gegen Ende des Werkes kommt Erasmus auf die Vernunftlogik des Glaubens zu sprechen, die in den Augen der Nichtgläubigen Torheit ist (Paulus: Wir sind Narren um Christi willen; Gott lässt die Weisheit der Weisen zuschanden werden und offenbart sich in Torheit). Dass die Worte des Paulus nicht vernunftfeindlich gemeint sind, sondern lediglich besagen, dass man mit derselben Vernunft zu anderen Schlüssen kommt, wenn man von anderen Voraussetzungen ausgeht (Jesus lebt, oder eben auch nicht), kommt nicht zum Ausdruck. Die Verwirrung zwischen Torheit und Vernunft ist perfekt.

Der eigentliche Wert des Werkes liegt vermutlich weniger in dieser oder jener Aussage, sondern in der Provokation selbst. Diese ist zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht gelungen. Die Frage ist, ob Erasmus es mit der Provokation nicht übertrieben hat, und wohin die Provokation führen soll, da es doch teilweise an Klarheit mangelt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Werk stark an Wert. Das „Lob der Torheit“ ist ein Querschläger, der schief und krumm in der Landschaft herumsteht, und viel Nebel verbreitet. Auch die heutigen Interpreten sind sich nicht völlig einig darin, was Erasmus eigentlich wollte, jeder sieht es wieder ein wenig anders.

Teilweise ist der Mangel an Klarheit auch dem Umstand geschuldet, dass Erasmus mit diesem Werk die politische Korrektheit seiner Zeit unterlief und unter der Maske der Torheit Dinge aussprach, die man nicht ungestraft sagen konnte. Erasmus soll durch dieses Büchlein das Aufbrechen von Tabus gelungen sein, so dass er als Wegbereiter der Reformation gilt.

Es finden sich interessante Reformgedanken zum Christentum, bis hin zu historisch-kritischen Denkweisen: Zum einen in der Feststellung, dass die Apostel einst kaum über das theologisch spitzfindige Wissen der Theologen aus Erasmus‘ Zeit verfügt haben werden, und was für einen Sinn es dann haben sollte? Zum anderen z.B. in der Feststellung, dass auch der Apostel Paulus die Altarinschrift für den unbekannten Gott in Athen zu seinen Gunsten zurechtbog. Beides erstaunliche Gedanken, die das scholastische Christentum massiv hinterfragen.

Die Anzahl der antiken Anekdoten, die Erasmus einbaut, ist erstaunlich. Die Interpreten sagen, die Torheit würde mit ihnen nur so um sich werfen, weil sie selbst sage, dass die Toren mit Zitaten nur so um sich werfen. Aber gleichzeitig kann Erasmus so seine Belesenheit beweisen, ohne selbst als töricht zu gelten.

Fazit

Eine geschickte und wirkmächtige, aber leider auch teils undurchsichtige Provokation, die das mittelalterliche Denken ordentlich durchschüttelte und bis an seine Grenzen in Richtung der Moderne dehnte. Nebenbei auch mancher Ratschlag, manche Einsicht der Lebensklugheit und Menschenkenntnis, die auch heute noch von Wert ist.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Januar 2014)

John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag (1985)

Literarisch mäßiges Jubelbuch der linksliberalen Schickeria

Eine kleine Vorbemerkung um Missverständnisse zu vermeiden: Der Autor dieser Rezension ist cum grano salis für die rechtliche Freigabe der Abtreibung. Und damit zur Sache:

Dies ist ein politischer Roman, der der rechtlichen Freigabe der Abtreibung und der gesellschaftlichen Akzeptanz dafür das Wort reden möchte. Zu diesem Zweck werden dem Leser alle möglichen und unmöglichen Situationen vor Augen geführt, wie es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt, und dass eine Abtreibung sich jeweils als einzig vernünftige Lösung aufdrängt, weil alle Alternativen einfach nur absurd sind. Ständig droht auch der Gang zum Kurpfuscher, wenn kein professioneller Arzt sich der Sache annimmt. Soweit ist das Buch sehr aussagestark. Literarisch bewegt es sich jedoch nur auf mittelmäßigem Niveau, wie es bei politisch motivierten Romanen oft der Fall ist.

Die eigentlichen Probleme dieses Buches liegen aber in dem, was der Autor systematisch unterschlägt, verschweigt und nicht anspricht. Eine ethisch fundierte Aufarbeitung der Problematik findet sich in diesem Buch leider nirgends, obwohl sie gerade für ein Projekt wie dieses dringend angezeigt wäre. Über das hemdsärmelige Niveau des zupackenden Pragmatismus, der auf einen Blick zu sehen vermeint, was das Gute und Richtige ist, kommt das Buch nicht hinaus.

So einfach ist es mit dem Abtreiben aber dann doch wieder nicht, sofern und falls man z.B. davon ausgeht, dass dabei ein mit voller Würde ausgestatteter Mensch getötet wird; falls man wirklich (!) in diesem Bewusstsein lebt, z.B. als religiöser Mensch, wird die Sache ethisch nämlich verdammt schwierig, und eine Abtreibung erscheint dann oft eine ebenso absurde „Lösung“ zu sein wie alle anderen „Lösungen“. Oder aber man ist im Gegenteil überhaupt nicht der Auffassung, dass da ein mit voller Würde ausgestatteter Mensch getötet wird; aber in solche Gedankengänge begibt sich das Buch erst gar nicht hinein. Dieses Buch verhält sich gemäß dem bekannten Argument, dass jede Frau sich eine Abtreibung sehr genau überlege – aber wie eine solche Überlegung im Einzelnen aussieht, das bekommt man dann praktisch nie zu Gesicht, denn die Überlegung läuft (meistens, nicht immer) auf genau dem Niveau ab, das von diesem Buch hier markiert wird, was schade ist.

Zu akzeptieren sind die geschilderten Situationen, die zu ungewollte Schwangerschaften führen (Vernachlässigte Jugendliche, Vergewaltigung, Pubertät, andauerndes Verhältnis mit der Ehefrau eines Kriegsversehrten, Sex ohne Liebe usw. usf.), denn sie sind Teil der Realität. Traurig jedoch, dass dem Autor als einziges Gegenmittel der Gebrauch von Verhütungsmitteln einfällt, speziell von Kondomen, deren Zuverlässigkeit bekanntlich Grenzen kennt. Die Kultivierung der Menschen (damit ist keine katholische Sexualmoral gemeint, sondern die Entwicklung selbstbestimmter Charaktere in geordneten Verhältnissen) wäre von einem kultivierten Autor ebenfalls zu erwähnen gewesen. Nicht, dass das eine Patentlösung wäre, eine solche gibt es nicht, aber die Kultivierung der Menschen ist ein wichtiger Beitrag zur Einhegung des Problems. Spätestens mit Aids hat sich das Buch in diesem Punkt ohnehin völlig überholt, es stammt unmittelbar aus der Zeit vor dem Beginn der öffentlichen Wahrnehmung von Aids.

Nebenbei finden sich kleine politische Seitenhiebe linksliberaler Provenienz. Der eine mogelt sich z.B. um den Wehrdienst herum und gilt als clever und klug, der andere opfert seine Beine im Krieg gegen die Feinde der Demokratie und gilt als naiver Depp. Niveau geht anders, kann man da nur trocken sagen.

Fazit

Alles in allem handelt es sich leider um ein literarisch mäßiges, politisches Jubelbuch der satten, linksliberalen Middle- und Upperclass-Schickeria, die sich hier in ihren Halbwahrheiten selbst feiert, statt Horizont zu gewinnen. Konservative Abtreibungsgegner hingegen werden durch die genannten Schwachstellen abgestoßen und bekommen praktisch keine echte Gelegenheit, Anknüpfungspunkte für ein Nachdenken und Umdenken zu finden. Aber wäre nicht genau das ein Zeichen guter Literatur gewesen?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. August 2012)

Ludwig Lehnen: Hesperische Gedichte (2024)

Meist gelungene dichterische Aufrufung antiker Themen mit einem bedauerlichen Drall in Richtung Wokismus von Rechtsaußen

Die Gedichtsammlung „Hesperische Gedichte“ von Ludwig Lehnen versammelt eine Reihe von Gedichten zu vorwiegend antiken Themen. Ludwig Lehnen sieht sich offenbar in der Tradition von Stefan George. So sehen die Gedichte dann auch aus, im Guten wie im Schlechten.

Geist und Geschmack

Die Gedichte sind sprachlich anspruchsvoll, ebenso die gewählten metrischen Schemata. Aber auch inhaltlich können die Gedichte oft überzeugen. Teilweise sind die Gedichte sehr voraussetzungsreich. Vorkenntnisse in antiker Geschichte und Geisteswelt sind für das Verständnis häufig unerlässlich. Der Dichter weiß jedenfalls, wovon er spricht: Wer von den Bleitäfelchen von Dodona zu dichten weiß, ist tief in die Materie eingedrungen.

Verwirklicht wird immer wieder eine dichterische Aufrufung antiker Sachverhalte und Charaktere und ihrer speziellen Eigenschaften, die teilweise nur implizit, teilweise aber auch explizit auf moderne Zeiten bezogen werden. Am gelungensten sind wohl jene Gedichte, die eine solche Aufrufung ohne allzu viele Anspielungen auf die Gegenwart durchführen. Hier wird ein antikes Thema verlebendigt, ohne es durch eine moderne Perspektive allzu sehr einzuschränken. Die Frage stellt sich dann ganz automatisch und in offener Weise, wo dieses Thema eigentlich in unserer Gegenwart geblieben ist. Solche Gedichte sind geschmack- und geistvoll. Ein Beispiel ist das Gedicht „Dodona“ über das Orakel von Dodona:

Wenn die schwarzen tauben der aphrodite
Nochmals auf den zweigen sich niederlassen
Bei verstreuten tafeln aus blei · die treue
          Hände beschrieben:

Dann gebiert die Nacht wieder Tag: die eiche
Rauscht noch voller fruchtender ströme · urkraft
Dringt hervor und Zeus-Achelóos glänzt und
          Weibliches beugt sich.

Thematisch widmen sich die Gedichte oft der Metaphysik jenseits der materiellen Welt, d.h. dem Göttlichen und Numinosen hinter den Dingen, das die Welt in einem großen Sinnzusammenhang vereinigt. Das gelingt meistens gut. Speziell die unberührte Natur wird als Ort dieses Zaubers gesehen. Angerufen werden immer wieder Ge und Apoll. Ein zweites Thema ist die (angebliche) nordische Herkunft unserer europäischen Kultur und von Apoll, der deshalb auch Baldur-Apoll genannt wird. Ein weiteres Thema ist der Untergang Europas und seiner Kultur.

Ambivalentes

Manche dieser Themen könnten radikal gedeutet werden, doch die Verfremdung im Dichterischen verbietet oft eine solche Überziehung, und das tut diesen Themen gut. Eine Warnung vor und Klage über Überfremdung durch maßlose Einwanderung ist durchaus im Rahmen des Akzeptablen. Auch ein Lobeshymnus auf die Musik von Guillaume de Machaut, ohne zu erwähnen, dass er das antisemitische Klischee der brunnenvergiftenden Juden verbreitete, mag hingehen: Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun. Eine tolerable Kritik an der vermuteten Oberflächlichkeit der amerikanischen Kultur könnte z.B. aus diesen Zeilen sprechen:

Unter der last den blick auf goldne äpfel
Von Hesperien die aus dumpfer einfalt
Der titan hervorzeigt: entwertet liegen
          Mythische gaben.

Kritik könnte hier vor allem daran geübt werden, dass die Gedichte zuwenig Hoffnung machen, zu wenig konstruktiv sind, zu sehr auf Trotz und Vergangenheit ausgerichtet sind. Das Leichte und Spielerische der Antike fehlt: Die Lust zu leben.

Entgleisungen

An einigen Stellen wird allerdings ein allzu rechter Ungeist unabweisbar deutlich. Dort, wo es um Norden und Blut geht, und gegen die Vernunft. Hier muss dann deutliche Kritik einsetzen. Denn dieses Verständnis unserer europäischen Kultur ist sachlich falsch.

Germanisches kriegerblut lebt in mir fort.
Ich will für meine götter kämpfen bis zum schluss.
So wie einst die dorer aus dem norden kamen
… … Die letzten europäer sammeln sich zur schlacht.

Es beginnt schon damit, dass die nordische Herkunft von Apoll uns nur durch die Antikenbegeisterung von Humanismus und Aufklärung bekannt wurde. Mit der Antike wurde auch die Majestät der Vernunft wie auch die antike Mythologie wiederentdeckt, und nur so konnte – über eine historisch-kritische Rekonstruktion – der Bogen von Apoll zurück zu Baldur gespannt werden. Ohne Vernunft, Antike und historische Kritik wüssten wir gar nicht, dass Baldur und Apoll verwandt sind, und wir würden über diese Mythen nur lachen, während wir gleichzeitig an ganz anderen Mythen als der geglaubten Wahrheit festhalten würden, in dumpfer Einfalt.

Es bleibt auch unverständlich, wie jemand, der sich auf Antike und Apoll beruft, Zeilen wie diese schreiben kann:

Damals kam die Zeit der Redegewandten · der eulen-
Klugen · die zeit der vernunft… zwang und gesellschaftsgewalt…
… … Wir mehr kind und tier · wir im fanatischen Ich:
Unsere zeit · die zeit der Assassinen · kehrt wieder:
Ungebundener rausch · selbst sich vergötternd und blind!

Wir stehen hier vor einem Widerspruch in sich. Es ist die Aufrufung des ewigen Irrtums von allzu rechten Denkern, dass die Vernunft eine falsche Schlange sei, die zu linker Unterjochung führen würde. Doch in Wahrheit ist die Vernunft eine urmenschliche Naturkraft, die in uns allen angelegt ist. Sie beschützt uns vor linken Dummheiten und führt uns auf den rechten Weg. Ein moderner Konservativismus kann nur vernünftig gedacht werden. Der ungebundene Rausch der Assassinen gehört nicht zu unserer Kultur.

Auch eine Reminiszenz an Julius Evola über das „Reiten auf dem Tiger“ bleibt unverständlich, denn Julius Evola war zwar nicht der schlimmste unter den rechtsradikalen Denkern, doch zweifelsohne sehr verwirrt. Kritik an einer Moderne, die alles Alte abräumt, könnte man auch intelligenter üben. Eine Moderne, die alles Alte abräumt, ist nämlich – sieh an! – gar nicht wirklich „modern“, da sie schlicht unvernünftig handelt. Kein vernünftiger Mensch würde alles Alte einfach abräumen wollen. Eine solche „Moderne“ ist in Wahrheit eine völlig unmoderne Romantik des Gegenwärtigen und eine abergläubische Vergötterung des Irrationalen, Todestrieb inclusive.

Die Gedichtsammlung nennt sich „hesperische Gedichte“, doch Hesperien kommt nur ein einziges Mal vor, als Inbegriff dumpfer Einfalt, siehe oben. Ansonsten ist einige Male von Europa die Rede, vor allem aber von dessen Untergang. Offenbar wird „Hesperien“ in diesen Gedichten als negativer Begriff verwendet. Also nicht als positiver Zielbegriff wie im „Hesperialismus“ von David Engels. Hesperien, der Westen, das Westliche, wird als eine dumpfe Einfalt gezeichnet, die in den Untergang führt. Wieder sehen wir einen allzu rechten Kulturpessimismus, der nicht versteht, dass eine Kultur der Vernunft Kraft und Leben und Wahrheit bedeutet, und nicht Untergang.

Aber auch die Aufrufung der schwarzen Tauben von Dodona erzeugen einen inneren Widerspruch in dieser Gedichtsammlung. Denn wie wir von Herodot wissen, symbolisieren die schwarzen Tauben von Dodona eine Einwanderung aus Nahost nach Europa, genauer: Die Einwanderung eines Kultes. Diese sehr mythisch anmutende Geschichte wurde von Professor Heinz-Günter Nesselrath sehr überzeugend historisch-kritisch rekonstruiert (Heinz-Günther Nesselrath, Dodona, Siwa und Herodot – ein Testfall für den Vater der Geschichte, in: Museum Helveticum Vol. 56 (1999) Heft 1; S. 1-14). Es ist ein Triumph der Philologie und der Geschichtswissenschaft, und damit von Humanismus und Aufklärung, mithin der Vernunft, die Verhältnisse in Zeiten zu rekonstruieren, als der Nahe Osten weiter entwickelt war als Europa, und Europa sich gerne von der Kultur des Nahen Ostens befruchten ließ. Soviel Weite des historischen Horizontes fehlt in dieser Gedichtsammlung leider.

Wokismus von Rechtsaußen

Mit „dem Schwarzwälder“ wird Heidegger beschworen, diese dünkle Figur, dieser Vordenker der schrecklichen Postmoderne und des grässlichen Wokismus. In einer Klage über den Raubbau an der Natur kommen wir zum Tiefpunkt der Gedichtsammlung. Das Schlimmste ist nicht, dass hier über einen Raubbau an der Natur geklagt wird, wie es vielleicht in den 1980er Jahren berechtigt war, heute aber nicht mehr. Nein. Es ist nicht diese frappierende Ähnlichkeit zum linksgrün versifften Zeitgeist. Das Schlimmste ist dieses:

Heiliger als der mensch ohne natur ist natur
          Ohne dies mördergeschlecht

Es handelt sich um lupenreinen Extinktionalismus! Also der Gipfelpunkt allen postmodernen und woken Denkens: Der Mensch selbst wird zum Problem erklärt („Mördergeschlecht“), und die Beseitigung des Menschen wird im Zweifelsfall für erstrebenswert erachtet. Das ist nun wahrlich Antihumanismus in Reinform. Das Böse selbst. Man kann es nicht anders sagen.

Philosophisch ist die Aufgabe der menschlichen Perspektive völliger Unsinn und gefährlich. Der Mensch kann sich nicht aus seiner eigenen Perspektive lösen. Eine Landschaft wird immer nur durch das Auge des Betrachters schön. Ohne das Auge des Betrachters ist niemand da, der eine Landschaft schön finden könnte. Der Mensch kann sich nicht selbst aus dieser Rechnung herausnehmen. Diese Welt hat entweder einen Sinn mit und für den Menschen, oder sie hat eben keinen Sinn für den Menschen. Wozu sollte ein Mensch Rücksicht auf die Natur nehmen, wenn er selbst aus dem Spiel herausgenommen wird? Ohne den Menschen ist die Natur eine öde Gegebenheit ohne Sinn und Schönheit.

Man fragt sich auch, wie man einen metaphysischen Sinnzusammenhang der Welt in der Gestalt Apolls beschwören, doch gleichzeitig den Menschen, einen nicht unwesentlichen Teil der sinnhaften Weltwirklichkeit, als „Mördergeschlecht“ abqualifizieren kann? Und wie man eine sinnhafte Natur ohne den Menschen denken kann? Bei Platon und Aristoteles geht es noch darum, dass der Mensch Gott ähnlich werden möge, weil das seine Bestimmung ist, hier jedoch ist der Mensch plötzlich der letzte Dreck. Man kann nicht beides haben. Der Sachverhalt führt zu einem deutlichen Punktabzug für dieses Buch.

Formales

Es stört, dass manche Gedichte eine Überschrift haben, manche jedoch nicht. Teilweise weiß man deshalb nicht, ob ein überschriftloses Gedicht als Fortsetzung des vorangegangenen Gedichtes gemeint ist, oder als eigenständiges Gedicht gelten soll. Besser wäre es gewesen, jedem Gedicht einen Titel zu geben. Teilweise hätte man sich eine größere Schrifttype gewünscht. Ein Lesebändchen wäre dem Niveau des Buches angemessen gewesen.

Fazit

Meist gelungene dichterische Aufrufung antiker Themen mit einem bedauerlichen Drall in Richtung Wokismus von Rechtsaußen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Robert Löhr: Das Erlkönig-Manöver –Historischer Roman (2008)

Gelungene Satire auf Goethe & Co.

Man kann es sich kaum vorstellen, aber Goethe, Schiller, Alexander von Humboldt und Heinrich von Kleist machen sich gemeinsam auf den Weg, um in einer Geheimaktion den französischen Thronfolger aus dem revolutionär-französischen Mainz zu befreien! Lässt man sich erst einmal auf diesen Plot ein, findet man sich in einer anspielungsreichen Satire wieder, in der die genannten Geistesgrößen eine Action-reiche Abenteuergeschichte zu bestehen haben. Der Autor hat es vermocht, typische Züge der Protagonisten auf diese ungewöhnliche Situation umzumünzen. Die Dialoge verwenden reichlich bekanntes Material aus Leben und Werk der Charaktere, allerdings auf urkomische Weise in völlig anderen Situationen. Es empfiehlt sich, einige Werke und vielleicht auch eine Goethe-Biographie gelesen zu haben, denn nur dann kann man alle Anspielungen entschlüsseln. Die Romantik ist mit Bettine und Achim von Arnim ebenfalls mit von der Party. Man liest dieses Buch in einem Zug.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Februar 2013)

Jules Verne: Von der Erde zum Mond / Reise um den Mond (1865/70)

Liebenswürdig erzählte Mondreise: Ein echter Jules Verne

Der zweiteilige Roman „Von der Erde zum Mond“ bzw. „Reise um den Mond“ von Jules Verne handelt davon, wie ein amerikanischer Verein von Artilleristen nach dem Ende des Bürgerkrieges seine Kräfte darauf verwendet, eine Aluminiumkugel auf den Mond zu schießen. Ein lebenslustiger Franzose kommt hinzu, und die Kugel wird zu einem wohnlichen Geschoss umgebaut, in dem drei sehr eigenwillige Charaktere die Reise zum Mond antreten. Wegen eines Berechnungsfehlers der Anfangsgeschwindigkeit und wegen der Begegnung mit dem „zweiten Mond“, dessen Existenz damals vermutet wurde, fällt das Geschoss nach einer ausführlich geschilderten Umrundung des Mondes wieder auf die Erde zurück, und alle sind wohlbehalten.

Dieser Roman entfaltet erneut das erzählerische Talent von Jules Verne, und der Leser gibt sich dem Strom der Ereignisse, Gedanken und Informationen gerne hin. Wieder werden die Nationen durch ihre Vertreter liebenswürdig charakterisiert, und wieder wird aus Technik und Naturwissenschaft alles aufgefahren, was man damals über Kanonen, Ballistik, Astronomie und natürlich den Mond wusste. Und das ist nicht wenig. Jules Verne hat seine Hausaufgaben wieder einmal gründlich gemacht und lässt uns alle daran teilhaben. Es ist auch interessant zu sehen wie Jules Verne elegant das Problem umschifft, dass man damals noch nicht wusste, was sich auf der anderen Seite des Mondes verbirgt.

Der Leser staunt, wieviel Jules Verne von der ziemlich genau einhundert Jahre später tatsächlich stattfindenden Mondfahrt bereits vorweggenommen hat. Selbst der Ort des Abschusses ist mit Florida so gewählt, wie es später tatsächlich geschah. Aber auch andere Details kommen einem seltsam bekannt vor. Selbst der Pragmatismus und die Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner werden treffend dargestellt.

Der Roman ist halb als eine Satire auf den amerikanischen Charakter angelegt und vermittelt keine tiefere Botschaft. Auch die Handlung ist nicht sonderlich spannend: Denn im ersten Teil geht es um die planmäßige Errichtung der Abschusskanone, während im zweiten Teil die Mondreisenden weitgehend passiv den Ereignissen ausgeliefert sind. Dennoch lohnt die Lektüre. Zum einen wegen des liebenswürdigen Erzählstils. Zum anderen aber wegen der technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die man damals schon hatte, und die den Leser mitdenken lassen, was und warum etwas passiert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. April 2023)

Ian Caldwell: Das geheime Evangelium (2015)

Lehrreicher Vatikan-Thriller mit deutlichen Schwächen

Der Roman „Das geheime Evangelium“ (Original: The Fifth Gospel) ist ein Vatikan-Thriller. Der Leiter einer geheimnisvollen Ausstellung zum Grabtuch von Turin in den Vatikanischen Museen wurde wenige Tage vor deren Eröffnung ermordet und eine Schautafel im letzten Raum der Ausstellung ist verschwunden. Der Protagonist des Romans ist der Bruder des Angeklagten, der nun im Vatikan von Pontius zu Pilatus läuft, um die Hintergründe der Tat zu erforschen und die Unschuld seines Bruders zu beweisen. In Rückblenden spielt aber auch das Mordopfer eine wichtige Rolle: Es wird vor Augen geführt, wie dem Ausstellungsleiter, einem rein wissenschaftlich orientierten Menschen, die Bedeutung des Grabtuches immer klarer wurde, bis er – für ihn selbst überraschend und schockierend – vor einer schwierigen Gewissensentscheidung stand.

Im Zentrum der Geschichte steht das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche und wie man diese beiden Kirchen wieder miteinander versöhnen könnte, gespiegelt in den beiden Brüdern, von denen der eine römisch-katholisch ist, der andere römisch-orthodox. Eine große Rolle spielt das Grabtuch von Turin und die Frage, ob es doch echt sein könnte. In diesem Zusammenhang ist das Diatesseron des Tatian von Bedeutung, eine Zusammenschrift der vier Evangelien, um aus vier sich teilweise widersprechenden Evangelien eines zu machen (Evangelienharmonie).

Der Leser lernt eine Menge über das Verhältnis der vier Evangelien zueinander, und wie diese Evangelien historisch-kritisch gedeutet werden. Das Diatesseron selbst liefert dazu eigentlich gar keine Enthüllungen, dient aber als Vehikel dieser Erklärungen. Auch die Geschichte des Grabtuches wird natürlich intensiv behandelt. Ebenso lernt der Leser viel über die Einrichtungen des Vatikan und deren innere Machtmechanik kennen: Von den Wohnblocks der wenigen Vatikan-Bürger über das Vatikan-eigene Hotel Casa Sanctae Martae, die Garage und den vatikanischen Fahrdienst, die Schweizergarde, die Gendarmerie, die Vatikanische Geheimbibliothek, den Regierungspalast, die Casina Pius IV., den Petersdom, den Papstpalast, und natürlich auch die vatikanische Gerichtsbarkeit, die immer noch nach dem Modus der Inquisition funktioniert.

Kritik

Besonders störend ist, dass der Autor ziemlich viel Herzschmerz und Schmalz in seinen Roman verwoben hat: In Bezug auf den fünfjährigen Sohn des Protagonisten (der als römisch-orthodoxer Priester heiraten durfte). In Bezug auf die Ehefrau des Protagonisten, die nach Jahren der Abwesenheit ausgerechnet jetzt wieder zurückkehrt. Und in Bezug auf die Versöhnung der katholischen mit der orthodoxen Kirche, die über viele Seiten hinweg in ziemlich unglaubwürdiger Weise als spontane, gefühlsgetriebene Handlung von Papst und Patriarchen dargestellt wird. Am ehesten scheint mir der Schmalz noch in Bezug auf den Onkel funktioniert zu haben, für den seine Neffen seine ganze Familie sind.

Ebenfalls schade ist, dass der Leser relativ wenig über das Selbstverständnis der Orthodoxen erfährt, obwohl sich der Roman doch um das Verhältnis der katholischen zur orthodoxen Kirche dreht. Man erfährt z.B. praktisch nichts über die Rolle von Klöstern in der Orthodoxie oder deren Staat-Kirche-Verhältnis.

Gewöhnungsbedürftig ist die Erzählperspektive: Der Erzähler schaut gewissermaßen in das Hirn des Protagonisten und beschreibt fortwährend dessen Gedanken und Gefühlsregungen. Auch die Dramaturgie des Romans ist fragwürdig: Es geht nur in ganz kleinen Schritten voran, so dass sich die Handlung wie Kaugummi zieht. Mehr als einmal hat der Leser das Gefühl, dass die Protagonisten eine Schlussfolgerung reichlich spät ziehen, d.h. der Fortgang der Handlung ist nicht glaubwürdig. So z.B., als in eine Wohnung eingebrochen wurde, ohne die Tür aufzubrechen, doch erst viel später kommt der Protagonist auf die Idee, nach dem Zweitschlüssel unter der Fußmatte zu sehen.

Fazit: Eine gute Grundidee lehrreich ausgeführt, aber mit deutlichen Schwächen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste (1940)

Großartige Parabel auf ein leer vertanes Leben auf dem Abstellgleis

Der junge Oberleutnant Drogo wird auf die einsam gelegene Festung Bastiani am Rande der Tatarenwüste abkommandiert. Eigentlich will er dort nicht lange bleiben, aber dann verlängert er seinen Aufenthalt immer wieder …..

Dino Buzzati hat mit der „Tatarenwüste“ die Lebensgeschichte eines Menschen geschrieben, der vom Schicksal auf ein Abstellgleis geschoben wird und es sich dort allzu leicht gemütlich macht – und auf diese Weise am wahren Leben vorbei lebt.

Immer wieder macht er sich neue falsche Hoffnungen und erfindet Ausreden und irrige Vertröstungen, um ein Leben im Stillstand zu rechtfertigen. Es fehlt ihm vielleicht auch der Mut, und er ist zu bequem. Aber auch seine Mitmenschen helfen tatkräftig dabei mit, ihn aufs Abstellgleis zu schieben. Und er lässt es gutmütig mit sich machen. Wirkliche Freunde scheint er nicht zu haben, die ihn ins wirkliche Leben zurückholen könnten.

Es ist ein sehr trauriges Buch, in dem jeder Leser die ein oder andere Facette seines Lebens wiederfinden wird. Wir alle haben schon auf die ein oder andere Weise mehr oder weniger lange in eine „Tatarenwüste“ geblickt. Was für die meisten von uns nur eine Facette des Lebens war, wurde hier zum Inhalt eines ganzen Lebens. Ein Leben kann auch grässlich schiefgehen, und Dino Buzzati führt es uns exemplarisch vor Augen. Eine gute Warnung.

Dino Buzzati hatte dieses Buch schon 1940 herausgebracht, es feierte aber nach 1945 Erfolge. Nach den langen Jahren des Krieges und der Diktatur, in denen man vieles aufschob, konnte das Leben endlich wieder losgehen. Insofern könnte man das Buch als Aufbruchsignal werten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2019)

Jules Verne: Das Karpathenschloss (1892)

Provinzposse in Transsylvanien um Technik und Aberglauben

Thema dieses Romans ist die Wirkung von moderner Technik auf Menschen, die sie nicht kennen. Da sind zum einen die Bewohner eines rumänischen Dorfes, die bemerken, dass sich in dem nahe gelegenen, verlassenen Schloss plötzlich merkwürdige Dinge tun, die sie sich nicht erklären können. Aber auch ein durchaus aufgeklärter Graf, der hinzukommt, wird am Ende durch die moderne Technik getäuscht. Hineinverwoben ist eine tragische Geschichte um Liebe, Tod und Musik.

Die Geschichte selbst ist nicht sonderlich interessant und eher operettenhaft, man muss sich auf die farbige Schilderung der Dorfbewohner einlassen können und am Erzählen selbst gefallen finden, um dieses Buch zu lieben. Dann ist es aber ein schönes Stück Literatur.

Am Rande interessant ist, dass Vampire so gut wie nicht vorkommen. Jules Verne schrieb diesen Roman offenbar noch vor dem Hype um Dracula (1897). Außerdem interessant ist die Rolle der Juden in Rumänien, wie Jules Verne sie sieht: Sie treten entweder als fahrende Händler auf, die um Preise schachern, oder als Geldverleiher, die Wucherzinsen nehmen und auf diese Weise irgendwann ganz Rumänien in ihrem Besitz haben werden, so Jules Verne. Man könnte von einem „ökonomischen Antisemitismus“ sprechen; ein kultureller oder gar rassistischer Antisemitismus ist nicht zu sehen. Ganz am Rande werden auch Zigeuner als besonders abergläubische Menschen gezeichnet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2015)

Johan Bargum: Nachsommer (1993)

Trost- und Lachbuch für vielgeplagte „stille“ Brüder

Das Buch erzählt von einem ungleichen Brüderpaar, das sich nach langer Zeit am Sterbebett der Mutter wiedertrifft. Einer der Brüder ist eher „still“ und zurückhaltend, der andere aggressiv und rücksichtslos. Der eine unbeholfen und scheinbar ein Versager, der andere ein „Macher“ und scheinbar ein Erfolgsmensch. Der eine lebt dauerhaft einsam, der andere hat Familie. In Retrospektive wird das Verhältnis der beiden nachgezeichnet, sowie das Verhältnis zur Mutter, zum Stiefvater („Onkel“), und zur Ehefrau und den Kindern des einen Bruders.

Johan Bargum schafft es, in knappen Worten kurze Episoden zu Papier zu bringen, die den Charakter der beiden Brüder subtil und präzise auf den Punkt bringen. Bargum muss so eine Situation selbst erlebt oder sehr genau beobachtet haben, denn er kann auch die untergründigen Beweggründe der Beteiligten bestens nachzeichnen. Angefangen von der unfasslichen Ignoranz des „Macher“-Bruders und seines Kotzbrocken-Sohnes in ihrer ganzen lächerlichen Tragikomik, über die erlernte Hilflosigkeit des systematisch entmutigten „stillen“ Bruders, bis hin zur Mutter, die über sich selbst keine Klarheit erlangen zu können scheint und unwahrhaftig bis zur Heuchelei ist: Während sie den „Macher“-Bruder offiziell hasst, zieht sie ihn in Wahrheit dem „stillen“ Bruder immer wieder vor, angefangen vom ewig einseitig geäußerten „Schieb die Schuld nicht auf Deinen Bruder!“ bis hin zu dem Umstand, dass er selbst noch beim Erbe benachteiligt wird.

Es ist fast schon eine Satire über allzumenschliche Verhältnisse. Eine Satire, die von der Realität bisweilen überholt wird. Wer selbst in einer ähnlichen Situation lebt, wird sie wiedererkennen, und darin Trost und Ermutigung finden. Wer einer solchen Situation entronnen ist, wird herzlich darüber lachen können. Zeile für Zeile, Wort für Wort wird ein Volltreffer nach dem anderen gelandet. Der faule Zauber der ignoranten „Macher“ und der unklaren Unwahrhaftigen, hier wird er entlarvt. Das Büchlein ist kurz, aber sehr dicht und sehr reich. Es ist ein Plädoyer für rationale Klarheit und unverfälschte Menschenfreundlichkeit ex negativo.

Kritik ist an der Darstellung der Begebenheiten rund um die Ehefrau des „Macher“-Bruders, Klara, angebracht. Es ist unglaubwürdig, dass sie aus Unsicherheit über ihre Beziehung zum „Macher“-Bruder spontan mit dem „stillen“ Bruder ins Bett geht. So sind die Ehefrauen von „Machern“ nicht. Und es ist ebenso unglaubwürdig, dass der „stille“ Bruder dies geschehen lässt, ohne dass sie sich von ihrer Beziehung zum „Macher“-Bruder losgesagt hätte. So sind „stille“ Brüder nicht. Treffender wäre es gewesen, wenn der „Macher“-Bruder dem „stillen“ Bruder die Freundin ausgespannt hätte.

Auch das Ende des Buches, wo sich Klara wieder dem „stillen“ Bruder zuneigt, ist unglaubwürdig. So läuft es in Wirklichkeit nicht. Solche „Macher“-Menschen haben einen inneren Abwehrmechanismus gegen alles, was sie zum Nachdenken und zum Zweifeln bringen könnte. Deshalb kann es auch kein Umdenken geben. Nachdenken und Zweifeln gilt ihnen schon als verdächtig, als seelische Krankheit, als Aussatz der Aussätzigen, dem man sich am besten gar nicht erst aussetzt. Wegschauen ist in diesen Kreisen Trumpf. Solche Menschen huldigen der Oberflächlichkeit und dem Aufgehen in einem Mainstream-Denken als dem wahren Glück. Sie verwechseln Vernunft mit „common sense“ und sind notorisch gut drauf. Probleme umgeht man, indem man sie einfach nicht hat (weil man vom Glück und den Umständen begünstigt wird, womöglich auf Kosten anderer, worüber man aber nicht nachdenkt), oder indem man ihre Wahrnehmung aktiv unterdrückt, bis es zu spät ist (und dann sind andere schuld, oder man spricht cool von „Pech“, obwohl man selbst schuld ist, was man aber niemals zugeben würde, nicht einmal vor sich selbst).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2018)

Tibor Rode: Das Rad der Ewigkeit (2013)

Gelungene historische Schnitzeljagd mit noch ungehobenem Potential

Der Hintergrund dieses Historienromans ist in der Tat spannend und gut ausgesucht: Es geht um den Erfinder Orffyreus, der im 17. Jahrhunderts angeblich ein Perpetuum Mobile erfunden haben soll, und damit die damalige Fachwelt um Newton und Leibniz in Aufruhr versetzte. In Deutschland sind diese Geschehnisse weitgehend vergessen, in England jedoch sollen sie auch heute noch bekannt sein. In der Tat sind diese Geschehnisse es wert, beleuchtet zu werden.

Das schafft dieser Roman ganz ausgezeichnet, indem er auch den historischen Bergpark in Kassel mit seinem berühmten Herkules auf glaubwürdige Weise damit in Verbindung setzt, denn Orffyreus lebte damals in Kassel: So muss gute Literatur mit Geschichte umgehen: Nicht verfälschen, sondern so ergänzen, dass das bestmögliche dabei herauskommt.

Rund um diese historischen Geschehnisse entfaltet der Roman eine historische Schnitzeljagd in der Gegenwart, die von verschiedenen, teils jahrhundertealten Interessengruppen getrieben wird. Dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte von Orffyreus Stück für Stück enthüllt, Gegenwart und Vergangenheit verzahnen und kommentieren sich … – perfekt!

Der Roman ist ein Debut und leidet deshalb an einigen wenigen Stellen unter gewissen erzählerischen und sprachlichen Schwächen, die aber angesichts der Gesamtleistung nicht weiter ins Gewicht fallen. Schon schwerer wiegt der allzu offene Schluss des Romans: Zwar sind die beiden Hauptpersonen den „Bösewichtern“ zunächst glücklich entkommen und auch sehr reich geworden, aber die „Bösewichter“ sind immer noch in der Welt und werden sie weiter jagen, davon muss der Leser ausgehen. Eine Lösung ist das nicht.

Auch die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart passte nicht immer. Teilweise liefen die beiden Handlungsstränge unverbunden nebeneinander her. Deshalb ein Punkt Abzug. Bei Behebung solcher Schwächen ist von diesem Autor aber noch einiges zu erhoffen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Februar 2014)

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