Kategorie: Roman (Seite 2 von 10)

Nagib Machfus: Die Reise des Ibn Fattuma (1983)

Große Literatur für die Reform von Islam und islamischer Welt

Der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Machfus spielt in seiner kurzen Parabel „Die Reise des Ibn Fattuma“ von 1983 verschiedenste Gesellschaftsmodelle, Religionen, Weltanschauungen und nicht zuletzt Lebensarten und Reformen des Islam durch.

Dies geschieht anhand einer Reise des Ibn Fattuma durch verschiedene Länder namens „Maschrik-Land“, „Haira-Land“, „Halba-Land“, „Aman-Land“, „Ghurub-Land“ und „Gabal-Land“. Diese Länder haben unterschiedliche Gesellschaftsformen, in denen Ibn Fattuma sich jeweils für eine Weile einlebt und anpasst – oder auch nicht. Es handelt sich natürlich um Phantasieländer, doch repräsentieren sie u.a. die orientalische Despotie, die westliche Welt und den Kommunismus. Der Reisende selbst kommt aus dem „Land des Islam“ und vergleicht ständig seine Heimat mit den Sitten und Gebräuchen der besuchten Länder.

In einer wunderschönen, erzählerischen Sprache weitet Nagib Machfus auf diese Weise den Horizont seiner Leser. Sie werden dabei kaum in ihren Urteilen bevormundet. Vielmehr bleibt viel Raum für eigenes Urteilen und Nachdenken.

Eine bemerkenswert reformierte Version des Islam zeichnet Nagib Machfus für das „Halba-Land“, das die westliche Welt repräsentiert: Die Muslime leben individuell, muslimische Frauen sind gleichberechtigt, und die Muslime fügen sich in freiheitlicher Überzeugung in die Gesellschaft ein. Ibn Fattuma kommt das sehr fremd vor, doch er lebt sich ein.

Perfekt ist hingegen keine der gezeichneten Gesellschaften. Am Ende der Reise steht das große Ziel, das ideale „Gabal-Land“, das Land meditativer Einsicht; von dort ist noch nie ein Reisender zurück gekommen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2011)

Andreas Eschbach: Freiheitsgeld (2022)

Roman über die Dystopie einer grün-linken Degrowth-, Vollversorgungs- und Kontroll-Zukunft

Der Roman „Freiheitsgeld“ von Andreas Eschbach beginnt als Krimi, steigert sich dann zum Polit-Thriller und endet als wahrgewordene Verschwörungstheorie. Doch der Reihe nach.

Die Handlung spielt im Jahr 2064 in einem Deutschland, das ganz nach grünen und linken Vorstellungen umgestaltet wurde: Degrowth, bedingungsloses Grundeinkommen und Corona-artiger Kontroll-Staat – natürlich alles zum Wohle der Bürger – sind die Stichworte. Die Menschen leben jetzt alle in Mega-Städten. Freie Natur und Wald kennt man nur noch vom Hörensagen. Um die Städte herum wurden riesige Naturschutzzonen angelegt, die kein Mensch mehr betreten darf. Alle ehemaligen Ortschaften in den Naturschutzzonen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Statt dessen wurden riesige Wälder gepflanzt, um CO2 zu binden. Das Klima ist aber immer noch recht heiß.

Die Menschen des Jahres 2064 leben in kleinen Wohnungen und besitzen keine eigenen Autos mehr. Der Verkehr wird über zahlreiche automatisch und kostenlos fahrende Kleinbusse abgewickelt. Jeder besitzt ein Smartphone, das zugleich sein Geldbeutel ist, denn Bargeld gibt es nicht mehr. Die Menschen werden überall durch Kameras und Transponder überwacht. Der Bürger ist in allen seinen Aktionen und Bewegungen vollkommen durchschaubar und er kann nur über zugelassene Datensysteme Verkehrsmittel benutzen und Waren bezahlen. Upload-Filter kontrollieren das Internet. Die Abhängigkeit vom System ist vollkommen. Aber alle vertrauen dem System.

Jeder Bürger bekommt das sogenannte „Freiheitsgeld“. Es ist ein Basisbetrag, von dem man sein Leben bequem bestreiten kann, ohne große Sprünge zu machen. Man kann sich Geld dazu verdienen, muss aber nicht. Viele Gestalten in diesem Roman liegen deshalb nur noch in der Hängematte des Freiheitsgeldes. Die Gesundheitsversorgung ist ebenfalls kostenlos, aber völlig automatisiert. Es gibt personalisierte Medikamente. Außerdem sind Drogen freigegeben.

Was hingegen streng verboten ist, ist Schwarzarbeit und das Bezahlen in anderen Währungen. Damit wird verhindert, dass das System des Freiheitsgeldes ausgenutzt wird. Eine kleine Elite von Reichen und Prominenten wohnt in sogenannten „Oasen“, wo alles luxuriös eingerichtet ist und keine Kameras installiert sind. Auch die Polizei darf dort nicht ermitteln.

Andreas Eschbach ist es gelungen, diese seltsame Welt mit zahlreichen liebevoll ausgedachten Details zu beschreiben, die einen immer wieder zum Schmunzeln bringen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil uns manches nur allzu bekannt vorkommt.

– – – – Achtung: Spoiler! – – – –

Im Zentrum des Romans steht Kommissar Ahmad Müller. Sein heiles Weltbild bekommt Risse, als der Altpräsident Havelock und der ehemalige Journalist Leventheim zur selben Zeit ermordet werden: Havelock hatte einst das Freiheitsgeld eingeführt, Leventheim hatte ihn dafür heftig kritisiert. Im Laufe der Recherchen erkennt Ahmad Müller gravierende Nachteile des Freiheitsgeldes, die Havelock und Leventheim der Öffentlichkeit bekannt machen wollten und deshalb sterben mussten:

  • Es ist nicht nur so, dass sich ein allzu großer Teil der Bürger in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt.
  • Es ist auch so, dass die Bürger, die sich Geld dazu verdienen, horrende Steuern auf ihren Zuverdienst bezahlen müssen, um das Freiheitsgeld der anderen zu finanzieren. Das demotiviert zusätzlich, oder führt zu massiver Schwarzarbeit.
  • Durch die Automatisierung mit Robotern und KIs gibt es immer weniger Arbeitsplätze. Nicht alle, die arbeiten wollen, können dies auch. Und da die Arbeitswilligen um diese wenigen Arbeitsplätze konkurrieren, sinken die Löhne.
  • Die eigentlichen Profiteure sind die Besitzer der Roboter und KIs, die im Jahr 2064 den Löwenanteil der zu erledigenden Arbeit ausführen. Die Bezieher des Freiheitsgeldes werden praktisch mit einem Almosen abgespeist und haben keinen Anteil am Produktivvermögen.

Doch alle diese Nachteile reichen nicht aus, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Alle haben sich an die „sichere“ Welt des Freiheitsgeldes und der Überwachung zu ihrer eigenen „Sicherheit“ gewöhnt und können es sich jetzt nicht mehr anders vorstellen.

Es ist aber alles noch schlimmer.

Ahmad Müller entdeckt, dass es hinter den Reichen eine noch kleinere Gruppe von Superreichen gibt. Diese wohnen nicht in den „Oasen“, sondern in gigantischen Residenzen in den Naturschutzzonen. Und sie haben große Pläne: Die Menschheit soll von 10 Milliarden auf 500 Millionen Menschen geschrumpft werden, denn in einer vollautomatisierten Welt braucht man einfach nicht mehr so viele Menschen, und es schont die Umwelt. Das geschieht mithilfe der personalisierten Medikamente, in die insgeheim Empfängnis-verhütende Mittel gepanscht werden. Die Auswahl wird nach dem Verhalten getroffen: Wer sich in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt, darf sich nicht fortpflanzen. Den Leuten erzählt man das Märchen, die Fruchtbarkeit wäre deshalb stark reduziert, weil man in der alten Zeit so viele Hormone in die Umwelt gelangen ließ. Natürlich haben die Superreichen alles direkt oder indirekt in der Hand: Die Medien, die Politik, das Internet, und sämtliche Daten über die Bewegung von Personen oder Geld.

Hinzu kommt, dass die Superreichen beschlossen haben, dass die Welt modern genug ist: Deshalb gibt es schon seit Jahrzehnten keine neuen Erfindungen mehr. Neue Erfindungen bergen nämlich immer Risiken in sich, und Risiken will man auf jeden Fall vermeiden. Schließlich zapfen die Superreichen einigen besonders gesunden Normalbürgern – immerhin gegen Geld – einen speziellen Stoff aus dem Blut ab, mithilfe dessen sie praktisch unsterblich werden, während die Spender unwissentlich mit einem Verlust an Lebenszeit bezahlen. Gegenüber der Normalbevölkerung wird das hohe Alter der Superreichen verborgen gehalten.

Am Ende des Romans dringt Ahmad Müller in die Residenz einer Superreichen in der nahegelegenen Naturschutzzone ein. Es kommt zum Showdown zwischen Ahmad Müller und der Superreichen: Wird Ahmad Müller die Welt retten? Oder sitzen die Superreichen am längeren Hebel?

Fazit

Andreas Eschbach ist es gelungen, dem Leser eine grün-linke Dystopie lebendig vor Augen zu führen und hat dabei – nicht ohne Augenzwinkern – auch manche allzu steile Verschwörungstheorie mit verarbeitet. Die Lektüre dieses Romans stellt eine gute Impfung gegen die Gutgläubigkeit grün-linker Gutmenschen dar: Was manche naiv als naheliegende und innovative Lösungen für unsere Probleme ansehen, läuft in Wahrheit auf ein einziges Horrorszenario hinaus.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Robert Harris: Konklave (2016)

Ein wirklich ordentlich gemachter Vatikan-Thriller

Der Papst ist überraschend gestorben. Das Konklave wird vorbereitet und beginnt. Die Kardinäle sind unter sich. Ein Favorit nach dem anderen erweist sich als unwürdig. Bis am Ende eine überraschende Wahl erfolgt. Der Leser verfolgt das Geschehen durch die Augen von Kardinal Lomelli mit, dem Dekan des Kardinalkollegiums.

Es ist keine hochliterarische Offenbarung, aber es ist ein wirklich ordentlich gemachter, runder Vatikan-Thriller.

PS 23.09.2024

Der Roman bearbeitet u.a. das LGBT-Thema, und da er zu einer Zeit geschrieben wurde, als dieses Thema noch nicht zum Hype geworden war, wird dieses Thema auf eine glaubwürdige Weise bearbeitet, die man sich gefallen lassen kann. Ob der Film von 2024 diesen Anspruch ebenfalls einlösen kann, wird abzuwarten sein.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Juli 2018)

Jostein Gaarder: Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht (2018)

Genau richtige Gedanken zu Sterben und Abschiednehmen

Englischlehrer Albert hat eine tödliche Diagnose bekommen, und da Frau und Kinder weggefahren und außer Haus sind, hat er sich in die typisch norwegische Einsamkeit der Familienhütte an einem kleinen, abgelegenen See zurückgezogen. Dort beginnt er seine Gedanken zu ordnen, und vielleicht wird er gleich noch in derselben Nacht seinem Leiden ein Ende setzen, noch ehe er Frau und Kinder damit belasten muss. Das Buch stellt die Wiedergabe der Gedanken Alberts dar, wie er sie in das Hüttenbuch schreibt. Ein Hüttenbuch ist eine weitere typisch norwegische Eigenheit, es handelt sich um eine Art Logbuch für alle Geschehnisse während des Hüttenaufenthaltes.

Drei Themen werden bearbeitet: Im Rückblick auf sein Leben erkennt Albert, wie so vieles in seinem Leben „genau richtig“ war. – Auch im Universum ist vieles „genau richtig“ eingerichtet, und vielleicht verbindet sich ja damit auch eine Hoffnung auf einen Sinn des Lebens.

Das dritte „genau richtige“ Thema hat Albert aber ganz vergessen, und wie Jostein Gaarder es zur Überraschung von Albert und zur Überraschung des Lesers in die Geschichte einführt, ist genial (und wird hier nicht verraten): Es geht um die Einbindung des Menschen in das Gefüge von Familie, Gesellschaft und Menschheit. Man kann sich eben nicht einfach in eine Hütte zurückziehen und alle Verbindungen zu den Mitmenschen ignorieren und die Sache ausschließlich mit sich allein abmachen. Der Mensch hat eine Rolle zu spielen, auch im Sterben und gewissermaßen auch über den Tod hinaus, und diese Rolle ist sinnvoll und verpflichtend.

Ein sehr schönes, geistreiches, kleines, wertvolles Büchlein. Eben genau richtig.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2020)

Tim Willocks: The Religion (2006)

Gelungenes Epos über die Belagerung von Malta durch die Türken 1565

Der Roman „The Religion“ / „Das Sakrament“ von Tim Willocks ist ein Werk von epischer Dimension: Völlig zurecht wird von einer maltesischen Iliade gesprochen. Weltgeschichte und Religionsgeschichte greifen hier eng ineinander mit den Biographien der handelnden Personen. Die großen Themen sind Liebe, Glaube und menschliches Schicksal unter den wechselnden Bedingungen der Zeitläufte, die virtuos präsentiert werden.

Gerüst der Handlung ist die Belagerung von Malta durch die Türken 1565, die von einer ähnlich entscheidenden Bedeutung für die Geschichte Europas war wie die Belagerung von Wien. Mitten im Getümmel steht die Person von Tannhauser, der als Kind von den Türken gekidnappt und zum Janitscharen ausgebildet wurde. Er machte dort Karriere und kehrte später nach Europa zurück. Weil er die Türken kennt, wird er kurz vor der Ankunft der türkischen Invasionsflotte als kriegswichtig auf die Insel gelockt – mithilfe einer Frau.

Islam und Christentum werden von Willocks als gleichermaßen fanatisch dargestellt, womit der Autor zumindest nichts falsch macht. Für die Probleme der Gegenwart kann man daraus kaum hilfreiche Schlüsse ziehen, weil dafür die Frage der weiteren Entwicklung nach 1565 zu stellen wäre – das ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Die Schilderungen des Mordens sind in der Tat sehr realistisch gehalten, doch so muss es wohl sein. Der Ton der damaligen Zeit wird gut getroffen, der historische Anspruch wird erfüllt.

Das englische Hörbuch wird von Simon Vance in bestem Englisch und mit viel Pathos gelesen. Der Schwierigkeitsgrad ist Mittel, die Zahl der Vokabeln recht hoch, doch trägt die epische Breite der Geschichte den Leser wie auf einer breiten Woge über jede Verständnisklippe hinweg und viele Worte verstehen sich mit der Zeit von selbst. Bei den Grausamkeiten der Schlachtbeschreibungen will man es ohnehin nicht so genau wissen …

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Geschrieben August 2011)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Hans Magnus Enzensberger: Z – Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (2014)

Enzensbergers Lebensweisheiten und Zeitgeistkritik in nuce

In einem Park taucht immer wieder Herr Z auf und beginnt Gespräche mit zufällig Anwesenden. Es entwickelt sich eine lose Runde. Das Buch soll einige dieser Gespräche aus der Erinnerung von Anwesenden wiedergeben.

In 259 nummerierten kurzen Abschnitten werden die verschiedensten Themen angeschnitten. Grundthema sind Lebensweisheiten und Kritik am Zeitgeist. Enzensberger in nuce, und vermutlich auch ein wenig zum Abschied, denn am Ende verabschiedet sich Herr Z und ward nicht mehr gesehen.

Sehr empfehlenswert. Man kann es von Anfang bis Ende durchlesen. Man kann aber auch eine beliebige Seite aufschlagen und zu lesen anfangen. Und man wird das Büchlein immer wieder zur Hand nehmen. Gewissermaßen eine kleine Mao-Bibel des Z’schen Denkens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2021)

Leïla Slimani: Dann schlaf auch Du (2016)

Tödlicher Clash einer unentfalteten, verklemmten Nanny mit geistlosen Zeitgeist-Eltern

Der Roman beginnt mit dem Ende: Eine nahezu perfekte Nanny begeht plötzlich erweiterten Suizid mit den ihr anvertrauten Kindern. Wie konnte es dazu kommen?

Der Roman schildert den Weg dorthin, und es zeigt sich, dass diese Nanny aufgrund ihres Werdegangs eine unentfaltete, verklemmte Person ist, die sich in naiven Träumen verliert. Sie kann auf Anfragen der Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, und sie lässt passiv mit sich geschehen, was andere mit ihr tun. Und es wird einiges mit ihr getan: Die Eltern gewöhnen sich schnell an den Rundum-Service, den die Nanny auch als Putzfrau und Köchin bietet, ohne sie dafür angemessen zu bezahlen. Von einer Freundin lässt sich die Nanny mit einem Mann verkuppeln, an dem sie eigentlich nichts findet. Wenn Rechnungen kommen, wenn Kritik von Schulleitern oder ihren Arbeitgebern kommt, wenn in ihrer Wohnung etwas kaputt geht: Die Nanny ist geistig nicht in der Lage, sich konstruktiv mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, und verdrängt sie einfach.

Die Eltern, die die Nanny engagiert haben, nutzen sie aus, und merken es noch nicht einmal. Obwohl sie im linksliberalen Zeitgeist ihres Milieus mitschwimmen, denken und handeln sie immer wieder gegen ihre eigenen Grundsätze. Sie schämen sich zwar jedesmal dafür, aber nur ein klein wenig. Und sie haben keinerlei Gespür für die Probleme der Nanny. Das Leben dieser Eltern hatte sich nämlich relativ problemlos entfaltet, man möchte fast sagen: zu problemlos, und jetzt schwelgen sie in geistloser Selbstverwirklichung im Job und im Konsum, und die Nanny sorgt dafür, dass ihre Kinder dabei nicht „stören“. Das linksliberale Milieu ist voll von solchen geistlosen Erfolgstypen.

Hier denkt man an Botho Strauß: „Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde … meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde.“
(Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel 6/1993)

Am Ende kollidieren die Träume der Nanny mit der Wirklichkeit und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman liefert dem Leser kein einfaches Lagebild. Der verunglückte Charakter der Nanny wird nicht auf ein einzelnes, bestimmtes Trauma zurückgeführt, das ihr zugefügt worden wäre. Vielmehr ist ihr ganzer Werdegang verkorkst. Es ist auch keine „soziale“ Frage wie manche meinen. Arm sein und unentfaltet sein ist nicht dasselbe. Man sollte auch nicht meinen, dass die Nanny krank war, denn es gibt keine einzige Andeutung dazu. Sie ist einfach nur verkorkst und verklemmt.

Auch das problematische Verhalten der Eltern kristallisiert sich nicht anhand einer einzelnen Missetat heraus, sondern es sind viele kleine Lebenslügen und Fehleinschätzungen, die ins Verhängnis führen. Insofern gibt der Roman ein sehr realistisches Bild ab, denn die Schicksale der Menschen entscheiden sich selten an einzelnen, ganz großen Ereignissen, sondern an vielen kleinen Dingen im Laufe ihres Werdeganges. Das aber ist gerade das Erschreckende an diesem Roman, dass eine Katastrophe sich aus vielen kleinen Dingen heraus aufbaut: Denn diese harmlos scheinende Wirklichkeit der kleinen Nickeligkeiten und Lebenslügen ist die Wirklichkeit der allermeisten Menschen.

Was hätte man tun sollen?

Die Nanny hätte sich ihrer Lage bewusst werden sollen, und schrittweise einen Weg heraus finden müssen. Einen Job und eine Wohnung hatte sie. Bekannte und eine Freundin, die ihr halfen, hatte sie auch. Sie hätte es schaffen können! Solange sie nicht krank war, und davon ist im Roman mit keiner Silbe die Rede, gibt es da keine Ausreden! – Die Eltern wiederum hätten sich entscheiden müssen: Entweder hätten sie die Nanny wirklich zu einem Teil der Familie machen sollen. Dann hätten sie sie auch psychisch einbinden und ihr geistig helfen sollen, und vor allem auch angemessen bezahlen. Oder die Eltern hätten eine klare Grenze ziehen und den Kontakt auf einen zeitlich und aufgabenmäßig klar begrenzten Job reduzieren müssen, so dass die Nanny von vornherein keine falschen Träume hätte entwickeln können und gewusst hätte: Ihr Glück muss sie woanders suchen.

Fazit: Tolles, nachdenklich machendes Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. November 2019)

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz (1973)

Ein weises Buch von geradezu mythischer Kraft

Dieses Buch ist ganz anders als andere Bücher von Astrid Lindgren. Weniger lustig. Ernster. Trauriger. Aber auch tröstend. Und unsagbar weise. Zudem Hoffnung und ein gewisses Urvertrauen gebend.

Das Buch erzählt die Geschichte von Krümel, dem kleinen Bruder von Jonathan, der an einer Krankheit jung sterben muss. Zuvor erzählt ihm Jonathan davon, dass man nach dem Tod nach Nangijala gelangt, dem Land der Abenteuer, Sagen und Lagerfeuer. Durch ein Unglück stirbt Jonathan noch vor seinem kleinen Bruder, und beide treffen sich bald im Kirschtal in Nangijala wieder. Doch das Paradies, das sie dort erwartet, entpuppt sich als eine Welt mit Problemen, und ein Abenteuer auf Leben und Tod beginnt. Am Ende stehen beide Brüder wieder vor dem Tod, und Jonathan erzählt von Nangilima, dem Land, in das sie als nächstes kommen werden.

Diese Geschichte erscheint märchenhaft, sie wird aber in einer so einfachen, elementaren und bildkräftigen Weise erzählt, und spricht so elementare Themen an, dass dieses Buch bei aufnahmefähigen Naturen eine geradezu mythische Kraft entfalten kann: Ein Gewinnen von Erkenntnissen über die Welt und sich selbst, was Realismus und den „kleinen“ Mut fördert, und eine Hoffnung und ein Urvertrauen, dass es Unglück, Versagen, Verlust, Scheitern und Tod geben kann, dass dies aber dennoch nicht das Ende sein muss – durch mythischen Mitvollzug und Aufgehen in der Geschichte.

Auch ich habe es nach Jahrzehnten noch einmal als Erwachsener gelesen, wie so viele hier, und war gerührt und überrascht, wieviel darin steckt, wieviel man daraus mitgenommen hatte. Ein erstaunliches Phänomen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juli 2018)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

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