Kategorie: Sachbuch (Seite 1 von 12)

Werner Nell: Atlas der fiktiven Orte – Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen (2011)

Vergnügliche Ortskunde für literarisch Gebildete

Der Atlas der fiktiven Orte ist ein gelungenes Vergnügen für literarisch vielseitig gebildete Menschen. Hier geht es nämlich nicht darum, die aus Esoterik und Pseudowissenschaft sattsam bekannten Kandidaten „verlorener“ Städte möglichst spektakulär abzuhaken. Vielmehr orientiert sich die Auswahl an literarischen und kulturellen Gesichtspunkten, wie man an sonst eher selten genannten Orten wie Ardistan, Entenhausen oder Metropolis sehen kann: Orte, die es in der Tat schon lange verdient haben, näher beleuchtet zu werden. Die Präsentation will dem Leser auf leichte Weise einen Mehrwert an Bildung und Anregung zum Selberlesen bieten. Das wird nicht zuletzt auch dank der Illustrationen erreicht, die teils kreativ sind, teils aber auch eine genaue Nachzeichnung des beschriebenen Ortes versuchen.

Was Atlantis anbelangt ist die Präsentation wenigstens halbwegs erfreulich: Einerseits wird natürlich der literarischen Perspektive der Vorzug gegeben, so dass das Augenmerk eher auf literarische Vorbilder für eine Erfindung gelenkt wird. Hier werden dann natürlich auch spätere Hinzuerfindungen zum Atlantis des Platon aus Esoterik und Pseudowissenschaft erwähnt, die unter literarischen Gesichtspunkten inzwischen ohnehin längst die Oberhand über Platons Original gewonnen haben. Aber immerhin wird dem Leser nicht vorgespiegelt, dass das Thema Atlantis unumstritten und in wissenschaftlichen Kreisen längst geklärt sei. Der Gedanke an einen realen Ort Atlantis wird dennoch ausgeschlossen. Von Forschern wie z.B. Wilhelm Brandenstein, der in der Atlantiserzählung gerade unter literarischer Perspektive einen realen Kern erkennen zu können glaubt, kein Wort; nun ja, das Glas halb voll statt halb leer. Atlantis ist eben keine Literatur, kein Poem, sondern sachlich orientierte Philosophie, und passt damit auch nicht ganz in das Konzept dieses Buches.

Korrigieren wir noch rasch einige Fehler im Detail: Falsch ist u.a. die Angabe, dass die Insel Atlantis ca. 533 x 355 km groß wäre: Dies ist vielmehr die angebliche Größe der Ebene in der Mitte der Insel. Dass Thule oder Vineta Stützpunkte von Atlantis gewesen seien ist pure Fantasy. Die Behauptung, dass Atlantis unterging, bevor der Krieg mit Athen zu Ende war, ist umstritten. Die Angabe, dass die Sonnenstadt des Campanella „in ihrem Aufbau ganz der Form von Atlantis entspricht“, ist grottenfalsch. Die Frage, ob Atlantis für das Utopia des Thomas Morus Pate gestanden hat, ist umstritten; Utopia orientiert sich eher an einer anderen, sehr bekannten Insel im Atlantik: Britannien. Die wissenschaftliche Bedeutung von Rudbecks äußerst innovativer, wenn auch vergeblicher Atlantissuche wird völlig verkannt. Weitere grenzwertige und missverständliche Halbwahrheiten über Atlantis sind enthalten. Literaturangaben oder Internet-Links wie bei anderen besprochenen Orten fehlen leider. Das alles kann jedoch den unentwegten Literaturfreund nicht beirren.

Etwas zu kurz kommt der Vergleich der verschiedenen literarischen Orte bzw. deren entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang. So hätte man z.B. bei Michael Endes Lummerland auf die Untersuchung „Darwins Jim Knopf“ von Julia Voss hinweisen können, in der klar nachgewiesen wird, dass hier die Atlantiserzählung unter einem ganz gewissen Gesichtspunkt Pate gestanden hatte. Überhaupt hätte man die verschiedenen Orte besser chronologisch als alphabetisch geordnet. Das schmälert aber das Vergnügen nicht, der gebildete Leser ist vollauf in der Lage die vorhandenen Lücken selbst zu schließen. Wenn es gar nichts mehr selbst zu denken gäbe, wäre das Buch womöglich langweilig!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juli 2012)

Helmut J. Dahmer: Mit Goethe in Sizilien oder Die Entdeckung des sizilianischen Goethe (2010)

Goethes italienische Verwandlung auf Sizilien neu entdecken und miterleben

Die Grundthese von Helmut J. Dahmers Werk lautet, dass Goethes Abstecher nach Sizilien nicht etwa nur ein Abenteuer am Rande seiner Italienreise war, wie dies häufig dargestellt wird, sondern im Gegenteil ihr Höhe- und Wendepunkt, der Goethes italienische Verwandlung bewirkte. Die Herausarbeitung von Argumenten für diese Auffassung ist dem Autor auch überzeugend gelungen. Am Ende ließ Goethe gewissen Gedanken keine Herrschaft mehr über sich.

Man ist als Leser noch einmal mit Goethe auf der Reise: Von den engen Verhältnissen in Weimar flieht man über die Alpen bis nach Rom und erlebt dabei ganz neu und anders den Stress, dem Goethe dabei ausgesetzt war: Seine weiter schwelende verkorkste Verbindung zu Frau von Stein und ein manisches Pflichtprogramm zur Bewältigung der Kunsteindrücke Italiens. Und dann das innere Ringen um den Aufbruch nach Sizilien … in eine völlig neue und innere Freiheit.

Gnadenlos werden die Dogmen und Klischees der etablierten Goethe-Interpreten aufgespießt und ad absurdum geführt. Bissig und ohne falschen Respekt wird auch Goethe selbst immer wieder mit einem Augenzwinkern auf die Schippe genommen. Die Stimmung des Buches ist aber keinesfalls bösartig, sondern launig und heiter und von einer feinen Ironie getragen.

Immer wieder wird auch der Kontrast von damals zu heute benutzt, um Kontrapunkte zu setzen: Teils wird eine Sprache gewählt, die den Duktus der Goethezeit nachzuahmen versucht, teils fällt der Autor in einen modernen Jargon, der jedes Klischee konterkariert. Vergleiche zu heutigen Zuständen auf Sizilien machen auf heilsame Weise bewusst, dass Goethes Italienische Reise kein Stück Vergangenheitsliteratur ist, sondern klassisch und zeitlos, d.h. stets gegenwärtig. Goethe ist kein abgehobenes Genie, sondern ein gebildeter Mensch wie der Leser auch. Nicht mehr und nicht weniger.

Es wird eine große Fülle an Hintergründen und Kontextwissen zu Goethes Italienischer Reise geboten, seien es unveröffentlichte Briefe von Goethe oder seinen Zeitgenossen, seien es Reisebeschreibungen anderer Italienfahrer, oder sei es Goethes Motivation zur Reise, oder auch seine Rückkehr nach Weimar mit ihren Folgen. Man liest und versteht das ungewöhnliche Selbsterneuerungsunternehmen der Italienischen Reise noch einmal ganz anders, vollständiger, ganzer, aber auch frischer und aus dem Muff der damaligen Zeit in die Gegenwart gehoben.

Helmut J. Dahmers Werk ist zugleich ein ernst zu nehmender Beitrag zur Goetheforschung. Im ganzen Werk sind unauffällig über 600 Belegverweise platziert, die jede Behauptung akribisch untermauern. Der Autor ist ein Kenner der Materie und weiß, wovon er schreibt.

Mit diesem Buch bin ich wahrhaft glücklich geworden, es war eine Lust, es zu lesen. Das Cover sagt alles über die Stimmung, in die das Buch den Leser versetzt: Ein heiterer blauer Himmel, ein besonnter Tempel, ein launiger Titelschriftzug. Es ist gut, dass dieses Buch geschrieben wurde. Es gibt dem Leser die Möglichkeit, den Anspruch auf Selbsterneuerung nun selbst wiederum zu erneuern. In Zukunft wird man Goethes Italienische Reise immer im Doppelpack mit Helmut J. Dahmers Werk lesen müssen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Dezember 2010; Rezension inzwischen auf Amazon verschwunden)

Fritz Vahrenholt / Sebastian Lüning: Unerwünschte Wahrheiten – Was Sie über den Klimawandel wissen sollten (2020)

Warum Klimaskepsis völlig berechtigt ist – ein richtig gutes Buch

Der erste Eindruck beim Auspacken des Buches ist überraschend: Das ist nicht nur sachlich-fachlich ein gutes Buch, sondern allein schon optisch beeindruckend: Das Format ist etwas größer als gewohnt, man hat sozusagen „richtig viel Buch“ in der Hand, und damit ist auch die Gestaltung von Schrift, Kapiteln und den vielen Abbildungen sehr großzügig, schön und angenehm geraten. Ein Buch mit Stil, das man gerne liest, obwohl so viele Zahlen und Tabellen darin sind. Gratulation an Verlag und Autoren allein schon dazu!

Inhaltlich begegnen einem all die Themen und Fragestellungen wieder, die man selbst aus eigener Beobachtung der Debatte bestens kennt. Alles, was man über viele Jahre im eigenen kleinen Archiv abgelegt hat, findet sich hier bestens aufbereitet wieder, und noch so viel mehr. Und es wird nicht nur die Treibhausthese beleuchtet, sondern auch Alternativthesen, die politische Struktur der Wissenschaft, sofern es dann noch Wissenschaft ist, aber auch die Frage nach alternativen Energiequellen und ihren Problemen, und welchen Sinn eine nationale Radikal-Strategie überhaupt haben soll, wenn der Rest der Welt nicht mitzieht. Denn die vorherrschende Klima-Ideologie scheitert nicht nur an der wissenschaftlichen Kernfrage, sondern auch an einer ganzen Reihe weiterer Fragen. Die öffentliche Debatte hat sich längst nach Utopia verabschiedet, und mancher Spruch von „Fridays for Future“ klingt inzwischen regelrecht gefährlich.

Besonders wohltuend ist die Sachlichkeit der Darlegung. Hier werden die Akzente richtig gesetzt, hier werden die Abwägungen richtig getroffen. Es kommt kein falscher Zungenschlag hinein, es wird kein Radikalismus mit Radikalismus beantwortet. Vahrenholt und Lüning sind mit ihrem Blog „Kalte Sonne“ die lebenden Beweise dafür, dass man weder „rechts“ noch gekauft sein muss, um der vorherrschenden Klima-Ideologie zu widersprechen. Menschlichkeit und Vernunft genügen völlig. – Das böse Gegenbeispiel ist natürlich der Verein EIKE, der personell immer noch mit dem bräunlichen Sumpf der siechen Gauland-AfD verbandelt ist. EIKE liefert den Vertretern der vorherrschenden Klima-Ideologie eine Steilvorlage dafür, Kritik mühelos abzubügeln. EIKE kann man nur den antitotalitären Grundkonsens aller Demokraten empfehlen, also einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit AfD und Linke.

Was Vahrenholt und Lüning hier vorlegen, verdient allemal, in den Medien sachlich verhandelt zu werden. Das sind keine Verschwörungstheorien und es ist keine gekaufte Wissenschaft. An der Frage, inwieweit die vorgelegten Debattenbeiträge von Politik und Medien aufgegriffen werden, entscheidet sich tatsächlich die Frage, ob diese Beiträge „unerwünscht“ sind, wie der Titel schon sagt, bzw. inwieweit Staat und Gesellschaft bei uns noch zu einer demokratischen Debatte fähig sind. In Inhalt, Augenmaß und Stil ein starkes Buch, ein gutes Buch, ein wichtiges Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2020)

Erasmus von Rotterdam: Vertrauliche Gespräche (1518)

Dokument der humanistischen Wende und Ratgeber zur Lebensklugkeit

Erasmus von Rotterdam war einer der bekanntesten Humanisten, die die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit mit einleiteten. In den Colloquia familiaria inszeniert Erasmus verschiedene typische Dialoge zu diversen Themen wie Reliquienverehrung, Ablasshandel, Ehe, Frauen, Gasthäuser, Borniertheit, Armenfürsorge, Krieg, Gewinn- und Spielsucht (Alchemie), soziales Wohlverhalten, Gesundheit, gelungenes Leben. Teilweise sind die Dialoge recht witzig und hintersinnig, teilweise sind sie etwas altbacken und plump.

Das Interessante daran ist einerseits die Freiheit und Vernünftigkeit, mit der Erasmus in Anbetracht seines Zeitalters über diese Themen schreibt, und die Durchdringung seines christlichen Denkens mit dem Bildungsgut der Antike: Man bekommt so ein besseres Gefühl für diese Zeit.

Andererseits kann man das Buch auch heute noch als kleinen Ratgeber für die Lebensklugheit verwenden: Zum einen, weil es teilweise immer noch erstaunlich modern ist. Zum anderen, weil die Verfremdung durch den zeitlichen Abstand von 500 Jahren den Leser zu eigenem Nachdenken anregt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Dezember 2013)

Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knobloch, Dieter Lelgemann: Germania und die Insel Thule – Die Entschlüsselung von Ptolemaios‘ „Atlas der Oikumene“ (2010)

Ein Lehrstück für die Interpretation antiker Texte

Mit „Germania und die Insel Thule“ hat das Berliner Team von Wissenschaftlern eine grundlegende wissenschaftliche Arbeit vorgelegt, die die von Ptolemaios überlieferten Koordinaten auf moderne Koordinaten umlegt.

Dabei mussten sie berücksichtigen: Die systematische Verschiebung von ganzen Ortsgruppen, weil der Ort, an dem sich die Koordinaten der anderen Orte orientieren, falsch bestimmt wurde. – Abschreibefehler über die Jahrhunderte. – Übertragungsfehler von germanischen Ortsnamen ins Lateinische, und von dort ins Griechische. – Art und Qualität der Quellen, aus denen Ptolemaios seine Kenntnisse schöpfte. – Antikes Messwesen und typische Messfehler. – Typische Irrtümer, denen Ptolemaios bei Schlussfolgerungen unterlegen sein könnte. – Entlarvung fälschlicher Benennungen von Orten in der Neuzeit nach verfehlten Lokalisierungen der Orte nach Ptolemaios. – Archäologische Kenntnisse über Orte und Wege in Germanien. – usw. usf.

Kurz: Für überlieferte Ortsangaben, die hinten und vorne nicht zur Wirklichkeit zu passen scheinen, die oft nach purer Phantasie aussehen, mussten die Autoren eine komplexe Abbildung auf die wirkliche Welt entwickeln, die jeden Ort im hier und jetzt lokalisierte und gut begründete, warum dieser Ort gemeint war. Wer nach Atlantis suchen wollte stünde vor keinen anderen Problemen und hätte keine andere Aufgabe zu lösen als eben diese.

Das Buch skizziert den angewendeten Algorithmus, führt ihn jedoch nicht bis ins letzte Detail aus, was schade ist. Es wird deutlich, dass am Ende doch keine rein algorithmische Mechanik angewandt wurde, sondern auch sehr viel gesunder Menschenverstand eingeflossen sein muss, um die einzelnen Orte zu lokalisieren. Dieses Vorgehen hätte präziser dargestellt sein können. Bei der Identifizierung der Insel Thule hätte man deutlicher machen sollen, dass kaum eine einzelne kleine Insel gemeint sein konnte, sondern nur Skandinavien als Ganzes. Die Aufschlüsselung und Interpretation der Quellen zu Thule ist aber ebenfalls überzeugend gelungen.

Fazit

Das Buch ist bedeutend unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen ist es ein Lehrstück über die Interpretation antiker Texte; in diesem Fall besonders reizvoll, da auch die Mathematik mit hineinspielt. Zum anderen lässt sich vermuten, dass die sichere Lokalisierung so vieler Orte im germanischem Raum die römisch-germanische Archäologie revolutionieren wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Januar 2011)

Jared Diamond: Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (2005)

Völlig am Thema vorbei!

Der Titel „Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ weckt Hoffnung auf Antworten zu Fragen wie z.B.: Warum ging das römische Reich unter und wurde von der dunklen Zeit des Mittelalters abgelöst? Warum ging die antike Religion zugrunde und warum wurden die Menschen plötzlich Christen? Warum scheiterte in der Antike die Demokratie so endgültig und wurde durch 2000 Jahre Monarchie abgelöst? Wird der Westen als Kultur überleben oder wird der Islam die Errungenschaften der Aufklärung wieder zurückdrehen? Wird Deutschland als transkulturell integrierte Nation überleben, oder gehen wir in einem desintegrierten Völkergemisch auf, das im Bürgerkrieg endet?

Aber nichts davon in diesem Buch!

Dieses Buch lenkt den Blick nur auf ökologische und ökonomische Aspekte. Umweltkatastrophen werden als Untergangsszenarien an die Wand gemalt. Dies ist ein Buch für Multikulti-Fanatiker, die die islamistische Unterdrückung der Frau als kulturelle Eigenart „tolerieren“ und nur einen Blick dafür haben, wie man die Energie noch teurer machen kann, denn man muss ja den Planeten retten. Wen kümmert da schon der Niedergang der Aufklärung in der deutschen Gesellschaft?

Ergo null Punkte.

Wer wissen will, was man gegen den Niedergang unserer Gesellschaft tun könnte, der sollte besser das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates lesen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Juli 2008)

Hans-Olaf Henkel: Die Abwracker – Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen (2009)

Hinter der Finanzkrise steckt der Neosozialismus!

Hans-Olaf Henkel hat als gut vernetzter Industrieller den Beginn der Finanzkrise 2008 hautnah miterlebt. Hier berichtet er, wie sich die Dinge aus seiner Sicht entwickelten, und wie er die Lage einschätzt. Der Leser lernt hier ganz andere Einblicke und Sichtweisen kennen, als sie gemeinhin verbreitet werden. Da Henkel auch in den USA lebte, kann er auch von dort aus unmittelbar eigenem Erleben berichten.

Einsicht Nr. 1 ist, dass der Hauptschuldige an der Finanzkrise von 2008 nicht etwa der „Kapitalismus“ oder „Gier“ waren, sondern im Gegenteil der von Henkel so genannte „Neosozialismus“ der Politiker. Die Politiker hatten die Blasen, die 2008 platzten, selbst durch unrealistische Gesetze verursacht, mit denen sie sich beim Wahlvolk beliebt machen wollten. Hinzu kommt, dass ausgerechnet die deutschen Staatsbanken am tiefsten in den faulen US-Papieren investiert waren – auf Anraten von Finanzminister Steinbrück (SPD) unter Einsatz staatlich garantierter Kredite.

Auch wenn Henkel übersehen hat, dass die Fördergesetze in den USA nur einen Teil der Immobilienblase direkt verursachten, so ist doch richtig, dass sie der Trigger zum allgemeinen Kredit-Run waren, weil alle mitziehen mussten, um am Markt zu bleiben. Vom Schattenbankensystem sagt Henkel leider nichts. Generell liegt Henkel aber richtig damit, dass die Risikobewertungssysteme der Banken systematisch falsch waren, und damit maßgeblich zum Crash beitrugen, ob nun Schattenbank oder nicht. Der Fehler war, dass sie die Abhängigkeiten von Risiken außer Acht ließen. Die Risiken verschiedener Kreditobjekte wurden gegeneinander verrechnet, doch mit der Möglichkeit, dass ganze Märkte einbrechen, rechnete keiner.

Henkel prägt für das naiv-soziale Verhalten der Politiker den Wählern gegenüber einen neuen Begriff, nämlich „Neosozialismus“. Paradoxerweise jammern jedoch alle, dass wir in „schlimmen“ „neoliberalen“ bzw. „kapitalistischen“ Zeiten leben würden … das ist kaum der Fall. Dass z.B. das Ziel von 25% Rendite von Deutsche-Bank-Chef Ackermann auf das Eigenkapital und nicht auf die Gesamtbilanz bezogen war, hört man in allgemeinen Medien nicht.

Aber auch die Wirtschaft bleibt von Kritik nicht verschont. Henkel nennt u.a. Namen für eine Hall of Shame von Unternehmensvorständen, die sich als Abwracker betätigt hatten.

Am Ende des Buches unterbreitet Henkel einige konkrete Vorschläge, wie man der Probleme Herr werden könnte. Der wichtigste davon wird wohl der Wunsch nach einer besseren ökonomischen Bildung der Menschen sein. Denn nur auf dieser Grundlage kann man die Probleme und die notwendigen Lösungen überhaupt verstehen und entsprechende politische Mehrheiten finden. Daran mangelt es heute erheblich. Zur Behebung dieses Mangels trägt das Buch einiges bei.

Bewertung: 5 von 5 Sterne.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2015)

Peter Meier-Hüsing: Nazis in Tibet – Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer (2017)

Interessantes Thema durch Schnitzer des Lektorats getrübt

Die Tibet-Expedition von Ernst Schäfer geistert schon lange durch die Literatur, bleibt aber meistens wenig greifbar, und jeder projiziert in das Thema hinein, was er möchte. Deshalb ist es erfreulich, dass dieses Thema jetzt aufgegriffen und analysiert wurde. Der Autor hat dazu viel Material zusammengetragen und offenbar auch Originalschauplätze besucht und mit Zeitzeugen gesprochen, die teilweise erst vor relativ kurzer Zeit verstorben sind. Es wird also durchaus was geboten in diesem Buch.

Die Expedition wurde zwar von Heinrich Himmler mit gewissen okkulten Phantasien verbunden, doch der Expeditionsleiter Ernst Schäfer konnte sich dessen erwehren, so dass die Expedition wenigstens halbwegs wissenschaftlich war. Das schloss natürlich den Rassismus des Nationalsozialismus mit ein, der damals als Wissenschaft galt, aber das ist eben pseudowissenschaftlich, und nicht okkult, und insofern unspektakulär. Ebenfalls ein Malus dieser Expedition ist sicher der Opportunismus des Expeditionsleiters Ernst Schäfer, der sich dem Nationalsozialismus politisch offenbar allzu bereitwillig angebiedert hat. Das zeigt dieses Buch auch sehr gut.

Tibet selbst zeigt sich in diesem Buch ebenfalls von einer anderen Seite, als gedacht: Es wurde also viel getrunken, damals, in Tibet ….. und womöglich ist die Kritik der Expeditionsteilnehmer an der mittelalterlichen Mönchsherrschaft nicht völlig falsch. Das diplomatische Gerangel mit den Briten um den Einlass nach Tibet ist recht gut nachgezeichnet.

Sehr zu loben sind insbesondere auch die Kapitel über den weiteren Werdegang der Expeditionsteilnehmer während des Krieges und natürlich danach. Die Verstrickung in Schuld und der Umgang damit ist immer ein lehrreiches Thema über Fehlentscheidungen und den wahren Charakter von Menschen. Erst in diesen Kapiteln wird besonders deutlich, dass die ideologische Verstrickung eben kein harmloser Opportunismus war, so dass die Schuld eher abstrakt blieb, sondern dass die Ideologie sehr direkt mit dem Tod von Menschen in Zusammenhang gebracht werden kann.

Fehler

Der Autor des Buches ist eher Journalist als Wissenschaftler, doch der Theiss-Verlag erhebt einen wissenschaftlichen Anspruch: Deshalb seien die folgenden Fehler weniger dem Autor, sondern vor allem dem Lektorat des Verlags angelastet.

Obwohl der Autor letztlich klar herausarbeitet, dass die Expedition eben nichts mit okkultem Gedankengut zu tun hatte (z.B. S. 266), ist das Buch voller widersprüchlicher Aussagen zu diesem Thema. Man hat den Eindruck, dass der Verlag für dieses Buch ganz bewusst mit dem okkulten Thema gespielt hat, um Käufer zu finden.

Der Leser bekommt jedenfalls kein völlig klares Bild vom Zusammenhang von Nationalsozialismus und Okkultismus. Das Anfangskapitel vermittelt sogar die ewig falsche Legende von einer engen Verknüpfung von Nationalsozialismus und Okkultismus. Da wird die falsche These vom starken Einfluss der Ariosophie auf Hitler in dessen Wiener Zeit aufgewärmt. Doch Hitler war schon vor Wien stark durch die Schönerer-Bewegung geprägt und wurde durch die Ariosophie gewiss nicht stark beeinflusst. Liebenfels war eben nicht der Mann, der Hitler die Ideen gab. Und dass Hitler ein Gastredner bei der Thule-Gesellschaft war, lese ich hier zum ersten Mal (und selbst wenn: die Thule-Gesellschaft war ihrerseits nicht sonderlich okkult, und Gastredner treten oft bei Organisationen auf, denen sie sich nicht näher verbunden fühlen). Rosenberg war ebenfalls kein Mitglied der Thule-Gesellschaft, das kann man heute sogar bei Wikipedia nachlesen.

Eine intensive Lektüre von Goodrick-Clarke hätte eine Menge der falschen Informationen, die hier gegeben werden, zerstreuen können. Auf S. 267 lesen wir dann mit Klarheit, dass es Unsinn ist, den führenden Nationalsozialisten eine okkulte Lehre zu unterstellen. Ein gutes Lektorat hätte diese Klarheit schon früher im Buch hergestellt und solche populären pseudowissenschaftlichen Ansichten nicht durchgehen lassen. Oder hat das Lektorat diesen Mix erst mit angerührt, um den Verkauf zu steigern?!

Richtig ist aber, dass Heinrich Himmler einen Hang zum Okkulten hatte. Damit war er aber in der Führungsriege des Nationalsozialismus ziemlich allein. Und Himmler hielt seine okkulten Vorstellungen vorwiegend privat. Auch im Ahnenerbe, das ihm direkt unterstand, wurden Forschungsaufträge mit okkultem Inhalt nicht offiziell deklariert. Die okkulten Absichten Himmlers blieben inoffiziell und wurden allein durch persönliche Beziehungen transportiert (z.B. zu Edmund Kiß oder Herman Wirth).

Bei Ernst Schäfer kam er damit aber nicht an, wie das Buch an manchen Stellen richtig zeigt (an manchen Stellen leider nicht). Richtig ist, dass Schäfer ein skrupelloser Opportunist und mehr als nur ein „Mitläufer“ war, aber er teilte die okkulten Ideen von Himmler eben nicht, wie das Buch selbst klarstellt (S. 55). Schäfer wehrte sich auch erfolgreich gegen das Ansinnen von Himmler, den Atlantissucher Edmund Kiß oder Welteislehreanhänger mit auf die Expedition zu nehmen (S. 60). Auch bei der Finanzierung des Unternehmens achtete Schäfer darauf, nicht nur vom Ahnenerbe der SS abhängig zu sein. Obwohl Ahnenerbe-Geschäftsführer Sievers von der Expedition abriet, weil ihm Schäfer zu unabhängig war, entschied sich Himmler doch für die Expedition (S. 60).

Richtig ist ebenfalls, dass die Expedition u.a. auch Rasseforschung betrieb. Das geschah aber im Rahmen der damals üblichen und öffentlichen NS-Rassetheorien, und nicht mit einem okkulten Hintergedanken oder einem „Atlantis-Glauben“. Diese Hintergedanken blieben in Himmlers Kopf, sie gingen nicht mit auf die Expedition. Der mitreisende Rasseforscher Beger soll sogar unzufrieden mit der Expeditionsleitung durch Schäfer gewesen sein, und nach der Expedition entwarf Beger eine Expedition nach seinen eigenen Wünschen (S. 161).

Sehr positiv zu vermerken ist die historische Rekonstruktion des rassistisch motivierten Tibet-Interesses über Blumenbach und den Wagner-Schwiegersohn Chamberlain. Doch es fehlen natürlich die französischen Naturforscher wie Bailly, Buffon und Delisle de Sales, die die Menschheit von Norden und den höchsten Bergen in Innerasien her entstehen ließen, oder Burnouf, und natürlich Richard Wagner selbst! Und wie diese Vorstellungen über Gleizès und Richard Wagner dann zu Chamberlain, Schönerer und Hitler kamen.

Die Tibet-Zusammenhänge von Bailly, Buffon, Delisle de Sales, Blumenbach, Burnouf, Gleizès, Richard Wagner und Chamberlain werden z.B. in dem Buch „Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis“, 2016, von Thorwald C. Franke, behandelt. Auch hier das Ergebnis: Von Heinrich Himmler abgesehen war da „nur“ Pseudowissenschaft, aber nichts Okkultes, und der ganze Hype um die Nazi-Esoterik ist maßlos übertrieben. Der Nationalsozialismus war eben ein Hitlerismus, und kein Himmlerismus, das wird gerne übersehen.

Leider arbeitet das Buch den Unterschied zwischen Pseudowissenschaft und Okkultismus nicht klar heraus. Das hätte ganz an den Anfang gehört. Es ist übrigens durchaus nicht so, wie das Buch meint, dass Hitler an Tibet kein Interesse gehabt hätte. Hitler hatte durchaus ein gewisses Interesse an Tibet. Aber eben ein pseudowissenschaftliches Interesse im Sinne seines Idols Richard Wagner, kein okkultes Interesse. Allerdings gilt auch, dass Hitler die Herkunft der „arischen Rasse“ stets für unwichtig hielt. Für ihn war vor allem wichtig, dass es sie überhaupt gab. Das hatte er mit Chamberlain gemeinsam.

Ein weiteres Problem dieses Buches sind vielfache chronologische Sprünge vor und zurück in der Zeit. Hinzu kommen zahlreiche Tippfehler, und auch nicht wenige sprachliche Schiefheiten. Hier hat wirklich das Lektorat versagt. Schließlich hat das Buch eine Neigung dazu, den Geist der damaligen Zeit aus einer etwas selbstgerechten Haltung der Moderne zu beurteilen. Dadurch kommt manchmal ein fieser Ton in die Darstellung, der stört, selbst wenn der verurteilende Blick berechtigt ist, wie sich teilweise zeigt.

Fazit

Man bekommt eine Menge Material geboten, das interessant und lesenswert ist. Ein richtiges und wichtiges Buch. Man muss sich aber leider teilweise selbst seine Gedanken machen, wie sich alles zusammenpuzzelt. Von einem Verlag wie Theiss hätte man ein besseres Lektorat erwarten können.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. September 2017)

Manfred K.H. Eggert: Archäologie – Grundzüge einer historischen Kulturwissenschaft (2006)

Einblicke in die Abgründe des real existierenden Wissenschaftsbetriebes

Dieses Buch beschreibt die verschiedenen archäologischen Fächer in Deutschland, ihr Selbstverständnis, ihren theoretischen Unterbau, und Versuche der Konsolidierung eines Begriffs von Archäologie im Allgemeinen, auch unter dem neumodischen angelsächsischen Begriff der „cultural studies“

Es ist ein teils erschreckender Einblick in den real existierenden Wissenschaftsbetrieb: Die verschiedenen archäologischen Fächer sind nicht etwa planvoll entworfen und voneinander abgegrenzt worden, sondern sie sind historisch gewachsen (oder: gewuchert), und überschneiden sich deshalb vielfach gegenseitig. Jedes Fach versucht krampfhaft, ein ganz eigenes Verständnis von Archäologie zu entwickeln, und die Grenzen des eigenen Fachs gegen andere Fächer zu verteidigen. Das führt zu elenden Theoriedebatten: Etwa die Frage, ob nun schriftliche Quellen auch dazu gehören, und wenn ja wie. Oder die Frage, wie man provinzialrömische Archäologie von der christlichen Archäologie abgrenzen soll, oder auch von der ägyptologischen Archäologie (wobei sich die Ägyptologie in Deutschland wiederum eher philologisch als archäologisch versteht). Die klassische Archäologie schleppt immer noch einen Rucksack der Kunstgeschichte mit sich herum. Und alle Archäologien wollen sich unbedingt als vollwertige Wissenschaften begreifen, die vollständige Theorien entwickeln, und wollen es nicht wahrhaben, dass sie nur Zuarbeiter für eine umfassendere Beschreibung und Deutung der Geschichte sind. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie schwierig es sein muss, Erkenntnisse durchzusetzen, die nur fächerübergreifend zwischen den verschiedenen Archäologien, und darüber hinaus, gewonnen werden können. Das Abteilungs-Hickhack in einem Großunternehmen dürfte dem nicht unähnlich sein.

Das Buch ist auch deshalb ein wenig schwierig zu lesen, weil der Autor nicht etwa eine eigene Konzeption von Archäologie aus einem Guss präsentiert, sondern weil der Autor nur beschreiben will, welche verschiedenen theoretischen Ansätze es in der Welt der Wissenschaft gibt. Diese sind aber viele, sie sind äußerst unrund, und sie überschneiden sich bzw. widersprechen sich gegenseitig vielfach. Dennoch ist die Darstellung zu loben: Wer diesen Augiasstall auskehren will, der muss erst einmal Bestandsaufnahme machen.

Zuzustimmen ist, dass man die Einzelfächer nicht einfach in ein Gesamtfach auflösen kann, weil sonst die Bearbeitung der einzelnen Gebiete rasch aus dem Blick geraten kann.

Es stören die vielen texthaltigen Fußnoten, die zum Glück als echte Fußnoten immer auf derselben Seite abgedruckt sind. Texthaltige Fußnoten sind immer ein Zeichen davon, dass der Autor seinen Text nicht ausgegoren hat. Text gehört in den Text, nicht in Fußnoten. Man sollte die Fußnoten bei diesem Buch besser immer mitlesen.

Was fehlt: Geschichtsforschung wird immer aus der Gegenwart heraus betrieben, und wirkt an der Identitätsfindung der Gegenwart mit. Das hat der Autor richtig bemerkt, aber eher am Rande. Gleichzeitig wehrt er sich zurecht gegen Irrwege wie die nationalistische Archäologie eines Kossinna. Wie man nun aber Geschichtsforschung ganz bewusst zur Identitätsfindung der Gegenwart betreiben kann (und sollte!), ohne dabei auf Irrwege wie Kossinna zu kommen, dazu sagt der Autor nichts. Immerhin bemerkt der Autor richtig an, wenn auch wieder nur am Rande, dass es nicht nur den nationalistischen Irrweg von Kossina gibt, sondern z.B. auch Versuche der Europäischen Union, durch eine verfälschende Geschichtsdeutung der Bronzezeit eine irrige Identität für die Gegenwart zu konstruieren. Ein anderes, hier ungenanntes Beispiel wäre die Deutung von Troja als einem „anatolischen“ Kulturkreis, und von Homer als „Anatolier“, um eine „europäische“ Identität für die Türkei zu konstruieren. Das war das Werk von Manfred Korfmann, wie Frank Kolb in seinem Buch „Tatort Troja“ herausgearbeitet hat.

Damit sind wir schon beim Thema „cultural studies“ angelangt. Im angelsächsischen Raum soll sich Archäologie mehr als umfassende Kulturwissenschaft verstehen, und in diese Richtung will der Autor marschieren. Dabei scheint er auch dem damit verbundenen Kulturrelativismus gegenüber zumindest aufgeschlossen zu sein. Wie sehr, das ist die große Frage, die der Autor nicht klar bzw. widersprüchlich beantwortet, und das ist immer schlecht. Denn Kulturrelativismus und „cultural studies“ deuten in Richtung einer ideologischen Verblendung, wie der Autor sie selbst in Sachen Kossinna oder Europa beschrieben hat. Statt einer konstruierten Identität nun plötzlich gar keine Identität mehr? Es wird nicht funktionieren. Und Demokratie und Menschenrechte sind nicht verhandelbar, egal was früher war oder woanders gerade ist.

Da sich der Autor durch die Widmung dieses Buches an Manfred Korfmann mit einem bekannten Konstrukteur von irriger Identität eng verbunden hat, stellt sich ernsthaft die Frage, inwieweit man dem Autor trauen kann. Man kann nicht gegen die Konstruktion von irrigen Identitäten angehen, aber sein Buch dann Manfred Korfmann widmen, ohne zwei bis drei Takte dazu zu sagen, wie das zu verstehen ist. Der Autor hat viel Richtiges und Wichtiges gesagt, was sich zu lesen lohnt. Aber eine letzte Klarheit, wohin er gerne in Sachen „cultural studies“ gehen würde, fehlt dann doch. Dennoch ist das Buch wichtig. Die Diskussion um das Selbstverständnis wissenschaftlicher Fächer ist eben nie abgeschlossen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. August 2017)

Israel Finkelstein / Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel (2001)

Sehr, sehr grundlegendes Allgemeinwissen für jedermann

Ich zähle „Keine Posaunen vor Jericho“ (Englisch: „The Bible Unearthed“) von Finkelstein und Silberman zu den 20 wichtigsten Sachbüchern, die man gelesen haben sollte. Warum? Weil darin sehr grundlegendes Wissen über unsere Weltwirklichkeit mithilfe der historisch-kritischen Methode vermittelt wird.

Das Buch legt verständlich aber fundiert den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, was der reale Hintergrund für die Entstehung des grundlegenden Teiles der Bibel war: Es handelt sich weniger um Berichte von realen Ereignissen, als vielmehr um Texte, die in theopolitischer Absicht komponiert wurden, zusammengesetzt aus Historie, Mythen, Legenden, Wunschdenken und Zielvorstellungen, geschrieben zur Erreichung eines bestimmten Zwecks in einer konkreten Situation in der damaligen Gegenwart.

Was profitiert man davon?

Zunächst wird man von der Illusion befreit, die biblischen Geschichten seien wörtlich wahr. Dies ist für das persönliche Weltbild wichtig, da diese Geschichten immer noch in Kindergarten, Schule und Literatur erzählt werden, wie wenn sie historisch wahr seien.

Auch wenn man nie selbst an diese Geschichten glaubte, kann man mithilfe dieses Wissens die christlich-jüdisch-islamisch geprägten Kulturen besser verstehen. Und diese Kulturen prägen die gesamte Welt.

Man erwirbt sich die grundlegende Kompetenz, auch bei anderen Texten historisch-kritisch zu hinterfragen, ob sie denn wahr sein könnten und was die wahre Absicht ihrer Verfasser war. Das einmal kennengelernte Prinzip kann auf jeden anderen Text übertragen werden: Auf das Neue Testament, auf den Koran, auf antike Philosophen und Historiker, bis hin zu modernen Texten und Filmen und ihren Hintergründen.

Man bekommt auch ein Verständnis dafür, dass eine Entmythologisierung nicht unbedingt die Entwertung eines Mythos nach sich ziehen muss. Was nicht wörtlich wahr ist kann dennoch im übertragenen Sinn von Bedeutung sein. Und manchmal entpuppt sich ein Mythos auch als historische Wahrheit. Eine blindwütige Bilderstürmerei ist nicht angesagt.

Einladung an gläubige Leser

Gläubige Leser sollten dieses Buch nicht zuerst als Angriff auf ihren Glauben lesen. Die Erkenntnis, dass ein heiliger Text nicht wörtlich wahr ist, entwertet diesen noch lange nicht als Grundlage für eine Religion. Natürlich bringt dieses Buch Erschütterungen für den Glauben mit sich, aber Erschütterungen können auch heilsam sein! Jedenfalls lehren alle Religionen das Vertrauen in die Vernunft, und dieses Vertrauen sollte man aufbringen. Gläubige Leser sollten sich insbesondere auch nicht gezwungen fühlen, gleich für alles eine Erklärung zu haben, sei es pro oder contra. Vernunft braucht Zeit. Man kann die Erkenntnisse dieses Buches auch erst einmal distanziert zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gedanklich spielen. Nach einer Weile wird sich dann ganz zwanglos herauskristallisieren, was sich bewährt, und wo umgedacht werden muss, und wie dieses Umdenken zu einem neuen Ganzen führt. Ganz falsch wäre es sicher, die Ideen dieses Buches bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man gegen die Religion gehandelt, weil man nicht auf die Vernunft vertraute.

Vierteilige TV Doku

Zum Buch gibt es eine sehr gut gemachte vierteilige TV-Doku von 4 x 50 Minuten, die die Inhalte des Buches gut und umfassend präsentiert und mit Bildern von Ausgrabungen, Papyri, Keilschrifttexten usw. unterlegt, sowie Interviews mit an der Forschung beteiligten Wissenschaftlern zeigt. Sie wird unter verschiedenen Titeln auf DVD vertrieben, z.B. „Die Enthüllung der Bibel“ oder „Was die Bibel verschweigt“. Empfehlung!

Auf Englisch aktuell auf Youtube z.B. unter „The Bible Unearthed (Full Version)“ zu finden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2011)

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