Kategorie: Sachbuch (Seite 1 von 9)

Tommaso Campanella: Die Sonnenstadt (1602)

Campanellas Sonnenstadt als Brutstätte sozialistischen Denkens

Der Text „Die Sonnenstadt“ (La città del Sole), oft fälschlich als „Sonnenstaat“ übersetzt, ist das politische Programm eines praktizierenden Sozialrevolutionärs aus dem Jahr 1602, veröffentlicht 1623. Es ist keine satirische Schrift wie die „Utopia“ des Thomas Morus, der seiner Zeit ironisch den Spiegel vorhalten wollte und nicht ernsthaft an die Verwirklichung seiner Ideen dachte. Und es ist auch keine Wissenschaftsvision wie das „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon, wo der Schwerpunkt auf noch zu machenden Erfindungen liegt. Campanella zählt an Techniken und Methoden nur auf, was die Renaissance bereits zu bieten hatte, bis hin zur Idee der Flugmaschinen.

Lupenreiner Sozialismus

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die sozialen Verhältnisse, die in herzlich naiver Weise einen lupenreinen Sozialismus propagieren. Es ist für den modernen Leser ganz und gar erstaunlich, wie exemplarisch die einzelnen Aspekte des Sozialismus in dieser Schrift Punkt für Punkt abgehandelt werden:

Niemand besitzt etwas für sich, alle bekommen das Ihre von den Beamten zugeteilt. Die Menschen seien durch Besitzlosigkeit zum Gemeinsinn befreit. Die Familie ist aufgelöst. Geschlechtsverkehr findet ausschließlich zur Triebbefriedigung und zur Fortpflanzung statt, wobei die Partner von Beamten ausgewählt werden. Die Kinder werden gemeinschaftlich erzogen. Liebe spielt sich nur auf platonischer Ebene ab, Eifersucht gäbe es nicht.

Es gibt keine schweren Verbrechen, da die Menschen zu höchstem Edelsinn befreit seien. Eine Erbsünde, d.h. eine grundsätzliche Verstricktheit des Menschen in das Böse, gäbe es nicht, sondern Fehler und Verbrechen seien immer eine Folge falscher Erziehung, falscher gesellschaftlicher Verhältnisse usw. und damit grundsätzlich beseitigbar.

Die Herrscher gäben ihr Amt freiwillig ab, wenn sich jemand fände, der weiser ist als sie. Die Menschen strebten alle voller Eifer nach Bildung und Pflichterfüllung für die Gemeinschaft. Eigeninitiative ist nicht vorgesehen. Individuelle Begabungen sind darauf angewiesen, von Beamten erkannt und gefördert zu werden.

Kritik

Es ist kein Zufall, dass Campanella Aristoteles grundsätzlich ablehnt und schmäht. Ein realistischer Einwand des Aristoteles, der stellvertretend die ganze Kritik an solchen sozialistischen Blütenträumen repräsentiert, dass nämlich der Eine immer darauf warte, dass ein anderer die Arbeit für ihn tue, wird kurz abgetan. Der Realist Aristoteles wird von Campanella als Pedant verschrieen.

Damit wird auch deutlich, dass Campanellas Naivität nicht verzeihlich ist. Manche meinen ihn entschuldigen zu müssen, weil er ein so früher Denker sei, dass er noch nicht wissen konnte, wie der Sozialismus an der Realität scheitern wird. Doch dies ist unzutreffend. Man hat dies schon immer gewusst und wissen können.

Da ist es auch keine Entschuldigung, dass die spanische oder kirchliche Herrschaft zu seiner Zeit nach einer Revolution schrie. Eine Revolution muss keine sozialistische Revolution sein, wenn sie z.B. humanistisch orientiert ist und Athen und Rom vor Augen hat, was der Zeit Campanellas nicht ferngelegen hätte.

Herkunft der sozialistischen Ideen

Was aber hatte Campanella dann vor Augen, wenn nicht Athen oder Rom? Woher kommen überhaupt seine sozialistischen Ideen? Es wird deutlich in seinen Worten von den vielen Gliedern des einen Gemeinwesens, einem Wort des Apostels Paulus, das das ideale Zusammenwirken aller Gläubigen in der heiligen Gemeinschaft der Kirche beschreibt. Campanellas Sonnenstadt folgt ganz offensichtlich dem christlich-religiösen Ideal der idealen Gemeinschaft der Gläubigen unter einer perfekt funktionierenden Hierarchie! Wahrhaft aufklärerisches Denken sieht anders aus.

Selten hat sich die These, dass der Sozialismus eine säkularisierte Wendung des christlich-religiösen Glaubens ist, so bestätigt gefunden wie hier. Hier bei Campanella sind wir ganz dicht dran an der originalen Brutstätte der sozialistischen Ideen.

PS 29-SEP-2013: Die Rezension macht zu wenig deutlich, dass der sozialistische Charakter auch durch Übernahmen aus Platons Politeia zustande kommt. Damit hat Campanella die liberale Wende Platons in dessen späteren Werk Nomoi ignoriert, es liegt eine typische Fehlinterpretation Platons vor.

Einige bemerkenswerte Einzelaspekte

Völlig befremdlich ist die Ausgestaltung der Strafen in der Sonnenstadt; sie sehen alles andere als zivilisiert aus, sondern erinnern an archaische Stammestraditionen: Es gibt die kollektive Steinigung, Verbrennen, Todesstrafe ohne vorherige Diskussion, für die Wahrheitsfindung nutzlose Mindestanzahlen von Zeugen, und unbeweisbare Anklagen fallen auf den Ankläger zurück. Im Übrigen gilt das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Bei Campanella sieht man sehr eindrücklich, wie Astrologie und Astronomie noch eine gemeinsame Wissenschaft bilden. Neue Erkenntnisse über Himmelsmechanik und Zeichendeutung gehen hier noch Hand in Hand. Gegen Ende schweift der Text sogar vom Thema der Sonnenstadt ab und verliert sich in astrologischen Prophezeiungen über die Zukunft Europas.

Hat die Sonnenstadt etwas mit Platons Atlantis zu tun? Nein.

Der Stadtgrundriss der Sonnenstadt mit ihren sieben Mauerringen auf einem Hügel, die den sieben Planeten zugeordnet sind, gleicht verblüffend der Stadt Ekbatana, wie sie von Herodot beschrieben wird, nicht jedoch Platons Atlantis, das drei Ringe von Wasser und Land um einen Hügel herum aufweist. Der Tempel in der Mitte hat nichts mit Platons Atlantis zu tun, ebenso wenig der Kult der Sonnenstadt. Wasserringe tauchen auch keine auf, lediglich Burggräben, was etwas völlig anderes ist.

Auch sonst weist nichts auf Atlantis: Keine rechteckige Ebene, keine Lage am Rande einer Ebene, kein schwarz-weiß-rotes Gestein, keine zwei Quellen, keine Gründungslegende mit fünf Zwillingspaaren, und auch kein Sittenverfall gefolgt von einem Angriff auf den Rest der Welt. Campanella macht zwar zahlreiche Anleihen bei Platon, jedoch nur bei dessen Staatsutopie Politeia, nicht aber bei dessen Atlantisdialogen. Zumal Atlantis bei Platon ja auch nicht positiv sondern negativ gezeichnet wird.

Eindeutig erkennbar sind Anleihen bei der Utopie des Thomas Morus, vor allem was die Rahmenhandlung betrifft. Dabei ist die Utopie des Thomas Morus selbst wiederum eine Karikatur der britischen Insel, nicht aber der Insel Atlantis. Es wäre also schlicht falsch zu behaupten, Campanella hätte sich zu seiner Sonnenstadt von Platons Atlantis inspirieren lassen. Ein solcher Zusammenhang ist nirgends erkennbar.

Fazit

Für die Aufarbeitung und Präsentation des Textes mit Anmerkungen und Nachwort gibt es vier von fünf Punkten; ein Punkt Abzug für ein zu großes Verständnis für die gefährlichen Ideen Campanellas.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Juli 2010)

Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur – Ein Perspektivenwechsel (2006)

Humanismus als gute Gesprächsbasis – aber welcher Humanismus?

Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von Reden, Aufsätzen und einem Interview von und mit Nida-Rümelin, die im Zeitraum 1999-2006 gehalten bzw. geschrieben worden waren. Dabei kommt es teilweise zu mehrfachen Wiederholungen derselben Thematik, was andererseits auch verschiedene Aspekte derselben Sache eröffnen kann.

Klassischer Humanismus

Zunächst ist es wohltuend, von einem Politiker, der Nida-Rümelin ja als Kulturstaatsminister 2001-2002 war, einige tiefer gründende Worte zu Themen wie Kultur und Bildung zu hören. Für Nida-Rümelin ist Bildung gerade nicht zuerst Berufsausbildung, sondern Menschenbildung, die den Menschen als ganzes entfaltet, und zur Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit erzieht. Damit wird der Mensch kommunikationsfähig, gesellschaftsfähig, und letztlich auch fähig, sich verschiedensten beruflichen Situationen zu stellen, gerade auch in unserer heutigen einen Welt. Nida-Rümelin rückt dafür – auch im Buchtitel – den Humanismus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

An einigen Stellen lässt Nida-Rümelin durchblicken, dass der Humanismus geerdet ist in seiner Tradition von der Antike bis z.B. zu Wilhelm von Humboldt. Damit ist der Humanismus keine beliebige Leerformel. Nida-Rümelin sieht den Humanismus auch zurecht als Widerspruch gegen das allzu Nützliche, gegen ein ökonomisches Diktat, oder gegen die Vereinnahmung durch den zynischen Zeitgeist. Auch sieht sich Nida-Rümelin eher dem Klassischen als dem Romantischen verbunden.

Das ist in der Tat die Grundlage, auf der unsere Gesellschaft eine Zukunft haben kann. Das ist auch die Grundlage, auf der sich die Zukunft von Kultur und Bildung zwischen den verschiedenen politischen Lagern zu diskutieren lohnt. Nida-Rümelin ist natürlich ein Linker, ein SPD-Mitglied. Aber eines, mit dem sich offenbar reden lässt. Das muss man festhalten.

Kritikpunkte

Leider hält Nida-Rümelin die Linie von Rationalität und Tradition nicht konsequent durch. In manchen seiner Texte schwebt der Humanismus als abgehobener Begriff im Raume herum, und wird zu einer Leerformel, mit der sich die Irrtümer des Zeitgeistes verbinden. So plädierte Nida-Rümelin z.B. für die „Vielfalt-Gesellschaft“, in der Religion bzw. Weltanschauung und Nationalkultur eines Menschen nur als irgendwelche Aspekte unter mehreren angesehen werden, die sich beliebig kombinieren und austauschen ließen, so dass daraus eine bunte, vielfältige Gesellschaft entstünde. Bei Nida-Rümelin heißt das „humanistischer Individualismus“. In Wahrheit handelt es sich aber nur um das alte, dumme Multikulti, nur anders verpackt.

Ebenso denkt Nida-Rümelin über einen Mittelweg zwischen Hobbes und Rousseau nach: Zwischen einer Gesellschaft, die durch Zwang von oben zusammenhält, und einer Gesellschaft, die durch Homogenität zusammengehalten wird, glaubt er an ein Modell der Kooperation von Bürgergesellschaft und starken Institutionen des Staates, und einen ethischen Minimalkonsens, der stets neu auszuhandeln sei. Nida-Rümelin übersieht damit völlig, wie stark die Bindekräfte von Traditionen, des Gewachsenen schlechthin, sind, und wie schwer so etwas wieder herzustellen ist, wenn es erst einmal kaputt gemacht wurde. Vielleicht sind Hobbes und Rousseau auch einfach die falschen Gegenpole. Jedenfalls wird weder ein Minimalkonsens, der gerade einmal aus den Menschenrechten besteht, noch ein stets neues Aushandeln je zu einer stabilen Gesellschaft führen. Multikulti funktioniert nur dort, wo es in die klaren Regeln einer Mehrheitsgesellschaft eingebettet ist. Oder anders ausgedrückt: Es funktioniert eigentlich per se überhaupt nicht.

Richtig ist allerdings, dass eine Toleranz aus Indifferenz nicht funktioniert. Toleranz ist nur dort echt, wo sie ganz bewusst Toleranz ausübt gegenüber einer Meinung, die man klar für falsch hält. Toleranz aus Respekt in diesem Sinne ist eine Tautologie. Toleranz ist Respekt vor dem Andersdenkenden, ist Empathie mit den Irrenden.

Auch andere linke Projekte werden von Nida-Rümelin ideologisch gestützt. So z.B. die Ganztagsschule, die angeblich zur Persönlichkeitsbildung beitrage. Oder planwirtschaftliche Elemente wie die Buchpreisbindung. Oder linke Theorien von Gerechtigkeit (John Rawls), denen zufolge Ungleichheit dann gerecht sei, wenn sie den Schwächeren nützt. Da kann man sehr geteilter Meinung sein, ob das den Schwächeren wirklich nützt! Jedenfalls kann man alles übertreiben, und gerade diese positive Diskriminierung scheint heute doch sehr übertrieben zu werden.

Erfrischend unideologisch

Andererseits ist Nida-Rümelin wiederum erfrischend unideologisch. Er wendet sich gegen die anti-humanistischen Impulse im marxistischen und freudianischen Denken: Wer immer nur cui bono? frage, oder immer nur nach psychologisch tieferen Absichten forsche, der verpasse es, den Menschen als Menschen ernst zu nehmen. Nida-Rümelin hatte auch ein richtiges Urteil über den Ostblock, womit er sich keine Freunde machte. Auch möchte Nida-Rümelin Karl Popper rehabilitieren, worin sich Nida-Rümelin mit Thilo Sarrazin trifft, der einstmals zusammen mit Helmut Schmidt Propaganda für Karl Popper in der SPD machte.

Kurz: Man muss nicht alles mögen, was Nida-Rümelin sagt und schreibt, aber man muss Nida-Rümelin als ein faires Gesprächsangebot verstehen, weil tiefere gemeinsame Grundlagen da sind: Der Humanismus. Mit der Idee des Humanismus gibt es eine gemeinsame Basis, auf deren Grundlage man die Zukunft gestalten kann. Linksliberale und Liberalkonservative gemeinsam.

Humanismus ist gewiss ein wichtiger Aspekt der gemeinsamen deutschen Leitkultur. Hier ist nun wiederum allerdings schade, dass Nida-Rümelin diesen Gedanken nicht auch historisch so durchbuchstabiert hat, dass sich humanistisches Denken in allen Kulturen der Welt vorfinden lässt, vom Christentum über den Islam bis hin zum Konfuzianismus.

Einige Randthemen

Sehr wohltuend sind Passagen, in denen Nida-Rümelin den real existierenden Wissenschaftsbetrieb auf die Schippe nimmt. Seiner Meinung nach hätten viele kreative Forscher vergangener Zeiten im heutigen System keine Chance mehr. Wie wahr. – Er wendet sich auch sehr richtig gegen ein Ausspielen der „exakten“ Naturwissenschaften gegen die „Geschwätzwissenschaften“ der Geisteswissenschaften. – Gut beobachtet auch, dass Platon in den Nomoi gegenüber der Politeia umdenkt. – Sloterdijk war wohl anders, als Nida-Rümelin denkt, kein Anti-Humanist. Sarrazin übrigens auch nicht, aber den erwähnt Nida-Rümelin nicht. – Schließlich noch eine Kuriosität: In einem Vortrag von 2001 bezeichnet Nida-Rümelin den historischen deutschen Sonderweg seit 1990 für beendet. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Julia Friedrichs: Gestatten, Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008)

Lesenswert – sympathisch – fordert eigene Meinungsbildung heraus

Ein sehr lesenswertes Buch, weil es Einblick in die Schulen und Universitäten bietet, an denen die Elite von morgen herangebildet wird, und weil man vor allem auch einen Blick auf die jungen Menschen selbst bekommt, die sich als Elite verstehen. Vorurteile werden bestätigt – und widerlegt. Es gibt tatsächlich Leistungseliten – aber es gibt natürlich auch die Geldeliten, die sich einen Schul- oder Uni-Abschluss praktisch kaufen, weil sie es im normalen System nicht schaffen würden. Ein Problem für alle – auch bei gutem Willen – ist natürlich der Verlust der Bodenhaftung.

Ein Vorteil aller Eliteschulen ist, dass nicht nur auf Stoffvermittlung, sondern auch auf Persönlichkeitsbildung Wert gelegt wird. Stark auch die Passagen, wo die Autorin überzeugend darlegt, dass die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend nur selten durch Leistung entschieden wird, sondern fast immer durch quasi traditionelle Beziehungen und Stallgeruch (d.h. nicht allein und nicht zuerst durch Geld, sieh an).

Sehr sympathisch lesen sich die Passagen, wo die Autorin den Werdegang der Elite-Schüler mit ihrem eigenen ganz normalen Werdegang an staatlichem Gymnasium und staatlicher Uni vergleicht. Oder wo sie selbstkritisch wird und auch schildert, wie ihre eigenen Sozi-Eltern mit dem Alter plötzlich so manches ganz anders sahen. Oder wo sie zeigt, dass es bei Ökos und Sozen ebenfalls zu Elite-Bildungen kommt.

Dass die Autorin politisch links ist und es auch zeigt, wäre kein Problem, da sie nicht radikal ist, aber manchmal stört es doch. Das Problem ist weniger, was sie sagt, als was sie nicht sagt. Wenn Eliten wirklich Leistungseliten sind, die der Gesellschaft etwas bringen, dann sind sie gut und sinnvoll – aber in dieser Klarheit liest man das in diesem Buch leider nicht. Dass bei Vermischung von guten und schlechten Schülern nicht nur die schlechten Schüler besser, sondern auch die guten Schüler schlechter abschneiden, hätte die Autorin ruhig sagen können. Dass in Deutschland durch eine unkontrollierte Zuwanderung und Multikulti-Illusionen bezüglich der Integration eine enorm angewachsene, bildungsferne Unterschicht entstanden ist, die das staatliche Schulsystem heute ganz anders aussehen lässt als vor 20 Jahren, als die Autorin zur Schule ging, bleibt ebenfalls unausgesprochen, obwohl es gut gepasst hätte, z.B. als die Flucht in private Schulsysteme thematisiert wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im Dezember 2009)

Ledio Albani: Haltungen (2021)

Wokismus von Rechtsaußen in 430 Aphorismen

Das Buch „Haltungen“ folgt dem üblichen Schema von aphoristischen Werken: In verschiedenen Kapiteln werden Aphorismen zu verschiedenen Themen präsentiert, darunter Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, Literatur, Tradition, Krieg, Blut, Kunst, Ritual, Götter, Glaube, Wissenschaft, Musik, Gleichheit, Revolution, Untergang. Das Buch ist stilistisch anspruchsvoll gestaltet: Auf einem schwarzen Einband prangt eine einzelne griechische Säule in Weiß. Das Buch liegt gut in der Hand, das Papier ist schwer, die Drucktype gediegen, der Satz edel.

Die Aphorismen sind sprachlich gut gelungen. Doch leider nur das. Inhaltlich sind sie das Zeugnis einer wenig vernünftigen philosophischen und politischen Grundhaltung. Vernunft und Wahrheit werden mit Skepsis betrachtet und abgelehnt, das Irrationale wird gefeiert. Ebenso wird die Niederlage und das Besiegtsein als der eigentliche Sieg bezeichnet – aber warum für einen Sieg kämpfen, wenn doch angeblich die Niederlage der Sieg ist? Ordnung sei Chaos, und Chaos Ordnung. Es finden sich tausend Selbstwidersprüche. Obwohl ständig gegen Ratio und Logik gewettert wird, werden die Gesetze der Mathematik für unerschütterlich gehalten. Manche Aphorismen zu Suizid oder dem Blut als Quelle von kulturellen Leistungen gehen an die Schmerzgrenze des Erträglichen.

Vielleicht 5% der Aphorismen sind zustimmungsfähig, weitere 10% regen noch ein wertvolles Nachdenken an. Doch der große Rest der Aphorismen ist einfach nur sachlich falsch und moralisch schlecht. Die Falschheit des Geistes, die den Leser aus dieser Aphorismensammlung anweht, zeigt sich u.a. auch in der Meinung über die Antike:

Nr. 352: „Dass die Antiken uns noch etwas zu sagen hätten, behaupten nur die Ahnungslosen und die Untalentierten. Jene, um fremdes Unwissen zu verschleiern, diese, um eigenes Unvermögen aufzudecken.“

Wie kann ein halbwegs gebildeter und vernünftiger Mensch so einen Unsinn verzapfen?! Das ist ein Anschlag auf unsere Kultur, nichts anderes. Das ist nicht Humanismus und nicht Aufklärung, sondern die Verherrlichung der Barbarei. Man fragt sich, was die griechische Säule auf dem Umschlag soll, wenn uns die Antike angeblich nicht zu sagen hätte?! Der Autor führt den Leser konsequent an der Nase herum:

Nr. 127: „Sich in Widersprüchlichkeiten ergehen und nicht mehr zu dem halten, was man noch gestern für wesentlich erachtete, täglich seine Ansichten ändern, seine Vorliebe, seinen Geschmack, seinen Glauben … keinen Charakter haben, das ist es!“

Nr. 429: „Wenn sich meine Merksätze mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrten, so würde sich an ihnen und an dem vorliegenden Band nur Unwesentliches geändert haben.“

Was wir in diesem Buch vor Augen geführt bekommen, ist nichts anderes als Wokismus von Rechtsaußen. Aus derselben Quelle, aus der die linken Woken ihren antihumanistischen Postmodernismus geschöpft haben, aus Nietzsche und Heidegger, schöpft auch der Ungeist dieses Buches. Es ist dieselbe Ablehnung von Vernunft, Realismus und Kultur wie bei den linken Woken. Ein Hang zur Nekrophilie ist nicht übersehbar. Würde man dieses Büchlein, versehen mit einem Regenbogen-Einband, Claudia Roth in die Hand drücken, sie fände vieles darin entzückend.

Zuletzt stimmt auch die Form nicht: Es finden sich überraschend viele Kommafehler, die so manchen Aphorismus zur ungewollten Stilblüte werden lässt. Schwer wiegt auch, dass die Aphorismen leider nicht in Kapitel mit jenen Überschriften eingeteilt sind, die oben genannt wurden: Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, usw. usf. – Nein, dieses Büchlein teilt die Aphorismen lediglich in fünf Kapitel mit höchst nichtssagenden Überschriften ein. Und schließlich hat dieses sich edel gebende Büchlein leider kein Lesebändchen. An sich eine Bagatelle, aber angesichts der Fallhöhe, die das Büchlein ausstrahlen will, ein echtes Versäumnis.

Fazit: Weg damit. Nur ansehen, um auch so etwas einmal gesehen zu haben. Und dann einfach nur weg damit. Möge der Autor, der diesen Text in jungen Jahren verfasst hat, mit zunehmendem Alter zu besseren Gedanken kommen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

Ernst Tremp / Johannes Huber / Karl Schmuki: Stiftsbibliothek St. Gallen – Ein Rundgang durch Geschichte, Räumlichkeiten und Sammlungen (2007)

Gute Einführung in Bedeutung und Sammlung des Klosters St. Gallen

Dieses Buch ist mehr als nur ein Museumsführer, es ist eine gelungene Einführung in die Geschichte des Klosters St. Gallen und insbesondere seiner Bibliothek. Es wird erschöpfend informiert über die Epochen der Klostergeschichte, über die Ausstattung des barocken Bibliothekssaales, und über die Handschriften im Bestand der Klosterbibliothek. Alles ist reich bebildert.

Hier ist ein wahrer Schatz vorhanden: Viele der Handschriften sind die ältesten ihrer Art und deshalb für die Erforschung der Textgeschichte von großer Wichtigkeit. Die Bedeutung dieser Handschriftensammlung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

  • Älteste Zeugnisse antiker Schriftsteller, z.B. Vergil.
  • Älteste Zeugnisse von Evangelien und der Vulgata.
  • Älteste Zeugnisse der deutschen Sprache.
  • Nibelungenlied und Parzival.
  • Karolingische Gesetze und älteste Musik-Manuskripte.
  • usw.

Einige der ältesten Handschriften mit Werken antiker Schriftsteller wurden hingegen in der Renaissancezeit von italienischen Humanisten „entführt“, ganz so, wie man sich das vorstellt.

Hier in St. Gallen wird die kulturelle Leistung greifbar, die die Klöster in der Welt des Mittelalters durch ihre Bildungs- und Überlieferungsarbeit erbracht haben. Zwar hatte das Christentum seinen Anteil am Niedergang der klassischen Bildung und dem Heraufziehen des Mittelalters, ohne die Klöster jedoch wäre die Wiederentdeckung der Antike und damit die Moderne nicht möglich gewesen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Januar 2020)

Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen – Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart (2012)

Überraschend enttäuschend: Als Skeptiker top, als Denker flop

Kurz vor seinem Tod hat Peter Scholl-Latour dieses Buch veröffentlicht, das in alten und neuen Artikeln alle Konflikte der Welt Revue passieren lässt. Dieses Buch ist Scholl-Latour in konzentrierter Form. Die Lebensleistung von Peter Scholl-Latour ist beeindruckend: Er war immer selbst vor Ort, um sich ein eigenes Bild zu machen, er kannte viele wichtige Leute persönlich, und hatte oft Zugang zu Menschen, an die sonst kein anderer heran kam. Peter Scholl-Latour hatte immer eine eigene Meinung, die oft quer lag zum Mainstream der Mehrheitsmeinung. Vor allem war Scholl-Latour auch ein großer Skeptiker, der häufig richtig damit lag, dass dies oder jenes so nicht funktionieren werde, wie manche es sich wünschten und erhofften.

Überraschenderweise zeigen sich beim genaueren Nachlesen der Meinungen von Scholl-Latour aber auch enttäuschende Schattenseiten, die viele nicht mit der Person Scholl-Latour in Verbindung bringen. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Zum einen eine erstaunlich häufige Übereinstimmung mit dem linksliberalen Mainstream. Zum anderen enttäuschende Lösungsvorschläge: Wo Scholl-Latour nicht skeptisch gegen etwas Stellung bezieht, sondern selbst konstruktive Lösungsvorschläge für etwas unterbreitet, ist der Lösungsvorschlag oft wenig überzeugend.

Generell kann man sagen, dass Scholl-Latour von militärischem Mut und religiös-weltanschaulicher Konsequenz fasziniert zu sein scheint. Wenn er aufgrund dieser Faszination skeptisch ist gegenüber naiven Vorstellungen von säkularen Pazifisten, dann liegt Scholl-Latour häufig richtig. Wenn er aber aufgrund dieser Faszination die Akzeptanz von militärischer Macht in falschen Händen und die Akzeptanz von religiös-weltanschaulichem Fanatismus vorschlägt, dann liegt Scholl-Latour einfach nur falsch. Wo Scholl-Latour fasziniert ist, ist die Schärfe seiner Analyse getrübt.

Einige Beispiele:

  • Europa-Euphorie und ökonomische Unkenntnis: Scholl-Latour sieht die Europäische Union mit Recht auch als ein Projekt der Selbstbehauptung gegenüber anderen Supermächten, aber dass die EU derzeit undemokratisch ist und die Euro-Währung Europa ökonomisch in den Abgrund treibt, will er nicht wahrhaben. Das sind für Scholl-Latour die Bedenken von Kleingeistern. Hier ist Scholl-Latour so fasziniert von der Grundidee, dass er seine Skepsis vergisst.
  • Linksliberale Geschichtsklitterung: Für Scholl-Latour war es eine gute Sache, dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Jahr 1945 einseitig als „Befreiung“ deutete, und damit eine realistische Deutung, nämlich „Befreiung und Erniedrigung zugleich“, vom Tisch wischte. Wie irgendein halbgebildeter Linksliberaler erkennt Scholl-Latour gar nicht, wieviel nationale Identität durch den nationalsozialistischen Missbrauch der Nation und das darauf folgende Vorgehen der Siegermächte verloren ging; eine Identität, die auch ein demokratisches Deutschland dringend brauchen würde. Aber nationale Faszination empfindet Scholl-Latour offenbar nur für Frankreich und Charles de Gaulle, nicht aber für Deutschland.
  • Anti-Amerikanismus: Auch wenn Scholl-Latour es immer wieder bestreitet, für die Amerikaner hat er herzlich wenig übrig. Sein Antiamerikanismus scheint vom französischen Selbstbewusstsein der „Civilisation“ geprägt zu sein: Für Scholl-Latour sind Amerikaner offenbar unzivilisierte Barbaren, die den Faktor Kultur vollkommen übersehen. Es tut weh, wenn Scholl-Latour primitive Gedanken und moderne Mythen nachplappert, wie z.B., dass George W. Bush sich von göttlichen Eingebungen hätte leiten lassen, oder dass er einen „Kreuzzug“ gegen „den Islam“ geführt habe. Die Evangelikalen in den USA werden auf eine Stufe mit den iranischen Islamisten gestellt. Das Verhalten der Amerikaner in fremden Ländern wird immer als kulturell unsensibel beschrieben. Wie wenn ein Kriegseinsatz jemals auf kulturelle Feinheiten Rücksicht genommen hätte. Wie wenn eine allzu große Rücksichtnahme auf kulturelle Besonderheiten nicht gerade einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass westliche Militärmissionen im Ausland sich quälend in die Länge ziehen und manchmal ohne eine echte Besiegung des Gegners enden.
  • Schurken-Verharmlosung: Scholl-Latours Skepsis gegenüber Gegnern des Westens wie China, Russland oder dem Islamismus ist oft zu schwach ausgeprägt. Scholl-Latour ist von manchen Schurken, von ihrer Macht und ihren Erfolgen offenkundig fasziniert! Für Scholl-Latour war z.B. das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens notwendig, um die Ordnung in China zu wahren. Gorbatschow ist für Scholl-Latour nicht der Befreier Europas vom Kommunismus, sondern einfach nur ein Chaos-Stifter. Für manche Schurken findet Scholl-Latour immer Ausreden und gute Gründe für ihr Handeln, während die USA tun können, was sie wollen: Es ist immer falsch. Das kennen wir von anderen Journalisten auch. Scholl-Latour tarnt es nur besser, weil er auf seine Erfahrung pocht.
  • Zynismus. Bei Scholl-Latour haben alle Beteiligten immer nur die schlechtesten Motive, und alle Szenarien wenden sich immer zum worst case. Der Skeptizismus von Scholl-Latour erscheint vor dem Hintergrund der heute vorherrschenden Naivität zwar erfrischend, aber am Ende übertreibt Scholl-Latour maßlos ins andere Extrem. Die Welt wird nicht nur von Bösewichten regiert, sondern auch von Dummköpfen, und manchmal sogar auch von klugen Idealisten. Mit der Frage nach dem materiellen Nutzen allein kann man nicht alles erklären, auch wenn diese Frage häufig sehr hilfreich ist. Und nicht alles wendet sich immer zum Schlechtesten.
  • Klischees von Ländern: Scholl-Latour war zwar immer vor Ort, aber häufig sind seine Vorstellungen von fremden Ländern genauso klischeehaft und statisch wie die von anderen Korrespondenten, nur dass sie quer zu diesen liegen. Insbesondere die Tatsache, dass es auch in islamischen Ländern oft eine moderne Bevölkerungsschicht gibt, wird von Scholl-Latour regelmäßig völlig ausgeblendet. Scholl-Latour meint, in islamischen Ländern seien eben Religion und Stammesstrukturen vorherrschend. So pauschal gesprochen ist das einfach nur falsch, und gerade von einem Kenner erwartet man Differenzierung. Scholl-Latour ist manchmal aber zur Korrektur fähig. Während er früher schrieb, dass die Schiiten im Irak mit dem Iran im Bunde stünden, hat er später begriffen, dass die Schiiten im Irak einen Gottesstaat ablehnen, und zwar von höchster geistlicher Ebene getragen. Dass der freie schiitische Irak damit eine direkte Gefahr für die Staatsideologie des Iran ist, ähnlich wie die bloße Existenz der BRD die DDR infrage stellte, hat er aber leider nicht ausgesprochen. Islam-Reformer kommen bei Scholl-Latour übrigens mit keinem Wort vor. Das würde vermutlich seine Faszination von einem grimmigen Islam stören.
  • Warum die USA den Vietnamkrieg verloren: Noch immer verkündet Peter Scholl-Latour, dass die USA den Vietnamkrieg deshalb verloren, weil Nordvietnam die Taktik des Guerilla-Krieges anwandte. Deshalb meint Scholl-Latour auch, dass die USA nun überall, wo sie auf entschlossene Guerilla-Kämpfer stoßen, nur verlieren könnten. Das ist falsch, und es schmerzt, wenn ein ehemaliger Soldat wie Scholl-Latour so etwas sagt. Die USA haben den Vietnamkrieg deshalb verloren, weil sie in Nordvietnam keinen Krieg führen durften, weil sonst die Chinesen eingegriffen hätten. Auf diese Weise hatten die Nordvietnamesen immer ein sicheres Rückzugs- und Nachschubgebiet. Das war das Geheimnis, nicht die Guerilla-Taktik. Scholl-Latour spricht davon aber nicht.
  • Einen echten inneren Widerspruch trägt Scholl-Latour bezüglich des Katholizismus mit sich herum. Auf der einen Seite meint er, die katholische Kirche hätte bei der lateinischen Messe bleiben sollen. Die Sakramente seien heutzutage völlig verhunzt. Auf der anderen Seite kritisiert er die Ablehnung der sozialistischen Befreiungstheologie, und meint, die Kirche hätte hier Chancen verpasst. Hier kommen zwei Faszinationen von Scholl-Latour miteinander in Konflikt: Auf der einen Seite seine Faszination für katholische Tradition – auf der anderen Seite die Faszination für eine Bewegung wie die Befreiungstheologie, die in seinen Augen wohl eine aufstrebene religiöse Bewegung ist – ein großer Irrtum.
  • Mangel an demokratischer Überzeugung: Scholl-Latour stellt mit Recht fest, dass das westliche Modell die Welt nicht mehr dominiert: China, Russland und die islamische Welt drängen nach vorn. Es ist aber ein großer Irrtum, wenn Scholl-Latour uns einreden will, dass wir diesen Lauf der Welt gefälligst zu akzeptieren hätten. Der Gaullist Scholl-Latour hat kein Problem damit, „starke Männer“ nicht nur als Übergangslösung sondern als seine grundsätzliche Vision für die meisten Weltregionen zu präsentieren. Doch das westliche Modell ist nicht einfach irgendein Modell, sondern für den überzeugten Demokraten das beste Modell von allen für alle. Demokratie ist keine lokale Folklore und keine Mode des Zeitgeistes, sondern die höchste politische Entwicklungsstufe der Menschheit. Natürlich kann man es in unterentwickelten Regionen nur stufenweise einführen, aber das Ziel muss klar sein. Und natürlich müssen die Ausprägungen von Demokratie sich entsprechend den lokalen Gegebenheiten gestalten. Doch Scholl-Latour lässt die Vision ganz fallen. Es ist falsch, dass Scholl-Latour das Vordrängen von Unfreiheit wertfrei hinnimmt. Es ist vor allem auch falsch zu glauben, die Verblendung von Menschen als Maßstab zu nehmen. Erst recht, wenn diese Verblendung daher rührt, dass die Propagandamaschinen der Gegner der Demokratie immer besser funktionieren.
  • Speziell gegenüber dem Islam nimmt Scholl-Latour eine fast schon „gutmenschliche“ Haltung ein. Man müsse den Islam eben akzeptieren wie er ist, und dürfe sich nicht über islamistische Regierungen aufregen, meint Scholl-Latour. Die Aggression, die vom Islamismus ausgeht, ist für Scholl-Latour nur eine Reaktion auf die „Sünden“ des Westens. Wie wenn der Islamismus aufhören würde, aggressiv zu sein, wenn wir im Westen nur unsere „Schuld“ bekennen und Abbitte leisten würden. Hier liegt Scholl-Latour gründlich falsch. Abgesehen davon, dass man „Schuld“ einmal näher spezifizieren sollte. Welche „Schuld“ meint Peter Scholl-Latour? Etwa die „Schuld“, den Tyrannen Saddam Hussein gestürzt zu haben, der Kurden und Schiiten unterdrückte und massakrierte? Oder die „Schuld“, dass Afghanistan von den Taliban befreit wurde und auch Mädchen zur Schule gehen können? Oder die „Schuld“, dass westliche Ölgesellschaften am Golf die gesamte Infrastruktur für Ölbohrungen aufgebaut haben, so dass aus Beduinen ohne Ahnung von Ölbohrtechnik Millionäre geworden sind? Oder die „Schuld“, dass westliche Archäologen die Kulturen von Ägypten und Mesopotamien ausgruben, und so die große Vergangenheit dieser Länder wieder ins Bewusstsein riefen? Gewiss hat die westliche Welt auch Schuld auf sich geladen, aber man sollte das in Relation sehen und bedenken, dass sich jede Schuldfrage nach hundert Jahren nur noch sehr schwer auf die Gegenwart beziehen lässt.
  • Über manche naive Äußerung kann man nur den Kopf schütteln: So nennt Scholl-Latour es z.B. „völligen Unsinn“, wenn man die Hizbollah im Libanon eine verbrecherische Organisation nennt. Auf die Frage, ob Scholl-Latour nicht Angst habe, in den Wirren nach dem Sturz von Gaddafi in Libyen entführt zu werden, sagt er nur: Wer entführt schon einen 87jährigen? Aber jeder weiß, dass Islamisten davor nicht haltmachen würden. Warum weiß es Scholl-Latour nicht?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 16. November 2014)

Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1970)

Den Rationalismus schärfen, festigen und im Niveau heben

Das Buch „Wider den Methodenzwang“ von Paul Feyerabend und seine Kritik am Rationalismus, vor allem an Karl Popper, ist ein wichtiges Werk zur Wissenschaftstheorie. Allerdings nicht deshalb, weil es Feyerabend gelingen würde, den Rationalismus zu widerlegen, sondern deshalb, weil dieses Werk für jeden Rationalisten eine große Hilfe dabei sein kann, die Denkfallen eines allzu einfach gedachten Rationalismus zu überwinden.

Die Kritik

Feyerabend wendet sich gegen die falsche Auffassung, dass man neue Erkenntnisse gewissermaßen zwangsläufig „ausrechnen“ könnte, wenn man nur von den Gegebenheiten ausgehend rational regelgerecht – methodengerecht – weiterdenken würde. Vielmehr sind neue Erkenntnisse gerade dadurch entstanden, dass Forscher die rationalen Regeln ihrer Zeit gebrochen hatten. Rationalität sei gewissermaßen abhängig vom Sprach- und Weltanschauungssystem: Was nach dem alten Paradigma rational war, ist es nach dem neuen nicht mehr, und umgekehrt. Sehr lesenswert Feyerabends Ausführungen zum Welt- und Menschenbild der homerischen Epen. Feyerabend zeigt auch sehr überzeugend, dass die Theorie der Hexenprozesse im Rahmen der damaligen Theologie und Philosophie sehr rational war. Auch heute unterscheide sich die Wissenschaft nach Auffassung von Feyerabend im Kern nicht von der Kirche und habe ihre Dogmen.

Die rationalistische Lehre von der Falsifikation von Thesen würde zu Dogmen führen, wenn eine Falsifikation schwierig ist, auch wenn vieles für andere Thesen spräche, die genauso wenig falsifizierbar seien, aber das Pech haben, nicht etabliert zu sein oder nicht dieselbe Zeit zur Entwicklung eingeräumt bekommen zu haben. Manche Auffassung hat sich dadurch durchgesetzt, dass die Forscher bewusst mogelten und geschickt darin waren, eine gute Propaganda für ihre neuen Thesen zu machen. Hier verweist Feyerabend z.B. auf Galileo Galilei. Nicht alles neue ist auch besser. Feyerabend lobt hier die Traditionelle Chinesische Medizin gegenüber der Schulmedizin.

Die Kritik der Kritik

Viele der Kritiken Feyerabends sind berechtigt und geben wertvolle Hinweise darauf, wie Wissenschaft funktionieren sollte – und wie nicht. Im Kern jedoch scheint Feyerabend seine Kritik auf einem falschen Verständnis von Rationalismus aufgebaut zu haben.

Was die Regelüberschreitung und die Begrenzung durch Sprache und Weltanschauung anbelangt, so ist es der Standpunkt des Rationalismus im Sinne Poppers, dass neue Thesen mithilfe von Phantasie geboren werden. Darin, in der Phantasie, ist jede mögliche Überschreitung von Regeln praktisch bereits enthalten. Dass die Vernunft in sich eine gewisse abstrakte, kulturunabhängige Regelhaftigkeit hat, hätte man bei Feyerabend gerne gelesen („Dass da eins zum anderen passt“ könnte man als die innerste Regel der Rationalität formulieren), doch Feyerabend schweigt dazu. Die Auffassung, es gäbe nicht die eine Vernunft, ist falsch; was verschieden ist, sind die Ausgangspunkte, auf die man sie anwendet, die Vernunft ist aber immer dieselbe.

Feyerabend tut so, als glaubten Rationalisten, dass sie völlig rationale Wesen seien. Nicht dass sie Vernunft hätten, sondern dass sie Vernunft seien. Doch das ist falsch. Der Mensch ist keine Vernunft, er hat Vernunft; und er kann sie gebrauchen oder auch nicht. Und er kann sie nur auf dieses anwenden oder nur auf jenes oder auch auf alles. Vor allem aber hat der Mensch auch noch andere Fähigkeiten, z.B. Phantasie. Der Mensch sollte eben versuchen, diese andere Dimension und die Vernunft in Einklang zu bringen. Es ist das alte Ideal des Weisen. Aus diesem steten Wechselspiel erwächst dann ein Erkenntnisfortschritt.

Bei Feyerabend hat man öfter den unabweisbaren Eindruck, er plädiere für völlige Irrationalität, für haltlose Anarchie. Doch wenn Phantasie und Kreativität, die auch vorübergehend gegen vermeintlich rationale Sichtweisen verstoßen dürfen, nicht immer wieder mit der Vernunft eingefangen und zu einem neuen rationalen System konsolidiert werden, kommt dabei auf Dauer keine Erkenntnis, sondern Chaos heraus. Erst das ständige, nie endende Wechselspiel beider Seiten, das Bemühen, beidem gerecht zu werden, macht die Erkenntnis aus und hält den Prozess lebendig.

Auch ist der Rationalismus nicht auf eine simple Scheidung der Erkenntnis in Wissen und Unwissen festgelegt. Vielmehr zeigt sich gute, rationale Wissenschaft häufig gerade daran, wie sie mit verschiedenen Graden von Ungewissheit umgeht und vernünftige Abwägungen trifft, indem sie einzelne Unwägbarkeiten gegeneinander abgleicht und zu einem plausiblen, wahrscheinlichen Gesamtbild integriert. Richtig ist allerdings auch, dass es viele „rationale“ Menschen gibt, die nur „hartes Wissen“ gelten lassen wollen, und damit in die Irre laufen, denn je sicherer das Wissen, desto seltener ist es.

Wenn Feyerabend kritisiert, dass sich die Wissenschaft gerne Dogmen schafft und alternative Thesen nicht in angemessener Weise würdigt, kritisiert er eher den real existierenden Wissenschaftsbetrieb als die Idee der Wissenschaft. Natürlich ist es richtig, dass eine Theorie nicht deshalb besser ist, weil sie etabliert ist, weil sie zuerst da war oder weil sie die größere Zahl an Fürsprechern hat, die gar nicht daran denken, ernsthaft nach einer Falsifikation zu suchen, weil eine Falsifikation ihren Status gefährden würde. Und natürlich ist es völlig richtig, dass man einer alternativen Theorie auch Zeit zur Entwicklung geben muss: Man muss eine Hypothese, die man zunächst nicht belegen kann und die wackeliger aussieht als andere Thesen, auch eine Zeitlang in der Schwebe halten und an ihr arbeiten und mit ihr spielen können. Aus diesen Überlegungen kann man Maßnahmen zur Ausbildung von Wissenschaftlern und zur Organisation des real existierenden Wissenschaftsbetriebes ableiten, damit die nötige Weite des Geistes (oder wenigstens Toleranz) herrscht. Eine Kritik am Rationalismus ist das jedoch nicht.

Die Kritik Feyerabends am real existierenden Wissenschaftsbetrieb ist im Übrigen zu hart und gerät teilweise rabulistisch. Die Gleichsetzung mit der Kirche ist doch stark übertrieben. Es gibt zwar auch in der Wissenschaft Phasen der Erstarrung und der Wissenschaftsgläubigkeit, aber diese Phasen sind meist auf eine Generation beschränkt, was eine grundsätzliche Reformfähigkeit belegt. Die Kirche jedoch kann ihre Dogmen über Jahrhunderte durchhalten, wenn die Umstände ihr kein Um- und Weiterdenken aufzwingen. Feyerabends Einschätzung des Prozesses von Galilei, dass nämlich die Kirche im damaligen Rahmen durchaus rational und richtig urteilte, während Galileo noch zu schwache Argumente hatte, mag zwar in Ordnung sein, aber Feyerabend hätte klarer hinzufügen sollen, dass es unabhängig von der Frage der Richtigkeit des Urteils ein Problem ist, wenn sich die Kirche ein solches Urteil anmaßt und Denkverbote erlässt.

Sehr unappetittlich ist es, dass Paul Feyerabend sein 1970 veröffentlichtes Buch mit längeren Zitaten von Lenin beginnt. Auch Engels, Ilja Ehrenburg und Mao kommen zu Wort. Es ist grausig, diese naive Unbefangenheit gegenüber mehr oder weniger verbrecherischen Charakteren zu sehen, die offenbar aus einer linksideologischen Verblendung Feyerabends herrührt: Hegel und Marcuse werden auch zitiert. Hier zeigt sich, dass Paul Feyerabend nicht immer erfolgreich darin gewesen sein kann, enge Denksysteme zu überwinden, sonst hätte er wenigstens eine menschenfreundliche Distanz gewahrt. Zudem handelt es sich um Zitate, die man in dieser Form und mit diesem Sinn sicher auch und besser bei anderen und gewiss größeren Persönlichkeiten gefunden hätte. In der bei Linken üblichen Weise unausgegoren ist auch Feyerabends Idee einer Instanz, die nach den sozialen Folgen von Wahrheit fragt; von der Liebe zur Wahrheit oder von einer Sensibilität gegen subtile Zensurmechanismen zeugt dies leider nicht. Wenn man die Unbekümmertheit von Feyerabends Linksdrall betrachtet, bekommt seine heillose Relativierung der Vernunft einen gefährlichen Zug; hatte nicht auch Lenin ein weltverneinendes Faible für Dada, eine Grundverzweiflung an Ordnung und Sinn? Aus dem Urgrund der Seele erwächst unvermutet das Böse.

Fazit

Ein wichtiges Buch für alle Rationalisten, um ihren Rationalismus zu schärfen, zu festigen und im Niveau zu heben: Vernunft ist nicht alles, aber ohne Vernunft ist alles nichts. Letztlich ist es trotz vieler richtiger Einzeleinsichten ein aufs Ganze gesehen irriges Buch.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2012)

Boualem Sansal: Allahs Narren – Wie der Islamismus die Welt erobert (2013)

Enttäuschende Ratlosigkeit eines linken Intellektuellen

Boualem Sansal lebt selbst in einem islamischen Land und hat die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hautnah miterlebt. All das verarbeitet er in Romanen von internationalem Rang. Wenn jemand wie Boualem Sansal ein Buch über den Islamismus schreibt, dann erwartet man sich davon Antworten, die man anderswo nicht findet.

Doch Boualem Sansal enttäuscht diese Erwartung. Im Grunde beschreibt er nur das, was viele andere Sachbücher ebenfalls zu bieten haben: Dass bereits der traditionelle Islam ein Problem ist. Dass es [angeblich] nie eine Aufklärung in der islamischen Welt gab. Dass der Islamismus aus dem traditionellen Islam und aus Abwehr gegen den übermächtigen Westen und aus anderen Gründen erwächst. Dass der Großmufti von Jerusalem mit Hitler kooperierte, und dass dieser Großmufti den Gründer der Muslimbrüder inspirierte. Dass die Muslimbrüder die Spinne im Netz des Islamismus sind. Dass die Araber untereinander in viele kleine ethnische und sprachliche Gruppen zerfallen, die sich alle gegenseitig feindlich gesinnt sind. Wo Araber regieren, geht die Zivilisation zugrunde, schrieb schon Ibn Khaldun, und Boualem Sansal zitiert ihn praktisch unwidersprochen. Im Grunde bestätigt Boualem Sansal sogar manches Vorurteil, was man für gewöhnlich nur von Islamhassern hört.

Völlig enttäuschend ist, dass Boualem Sansal praktisch keine Lösungen anbietet. Boualem Sansal starrt nur wie das Kaninchen auf die Schlange. Und das war’s. Die Hauptbotschaft des Buches lautet: Mit dem „Arabischen Frühling“ hat der Islamismus in der arabischen Welt endgültig zu regieren begonnen. Der französische Titel des Buches lautet denn auch: „Gouverner au nom d’Allah“: Regieren im Namen Allahs.

Zwei Ratschläge kann man aber doch aus Sansals Buch herauslesen

  1. Die westliche Welt soll aufpassen, dass sie nicht selbst vom Islamismus unterwandert wird. Boualem Sansal beschreibt sehr eindrücklich, wie Algerien zunächst ein linkes Land war, von sozialistischen Idealen beherrscht. Als die ersten Prediger ankamen, nannte man sie nur „Allahs Narren“ und nahm sie gar nicht ernst. Bis dann eines Tages der äußerst blutige algerische Bürgerkrieg gegen die „Islamische Heilsfront“ FIS ausbrach. Dies ist eine klare Warnung an den Westen. Hierher gehört auch die klare Feststellung von Boualem Sansal, dass die politische Korrektheit die westliche Welt daran hindert, sich angemessen mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Hier muss man Boualem Sansal allerdings wiederum kritisieren, dass er hier fast wie ein primitiver Islamhasser einfach gegen die politische Korrektheit anredet, ohne eine bessere Alternative anzubieten. Für die notwendige Gratwanderung, den Islam zu kritisieren, ohne islamfeindlich zu sein, bietet Boualem Sansal keine Ideen an.

  1. Ohne dass klar wird, wie das mit seinem negativen Bild von Islam zusammenpasst, schreibt Boualem Sansal, dass der Islam einstmals eine ehrwürdige Religion gewesen sei, unter der die Zivilisation blühte. Auch der Mythos von Al-Andalus wird von ihm beschworen.

Man sollte doch meinen, dass diese vergangenen Zeiten ein reaktivierbares Muster geprägt haben, nach dem man den Islam auch auf menschenfreundliche Weise interpretieren könnte? Man sollte doch meinen, dass diese vergangene Zeiten eine klare Auskunft darüber geben könnten, was dem Islam heute fehlt, was er einstmals angeblich durchaus hatte? Aber Boualem Sansal stellt diese Fragen gar nicht erst und liefert deshalb auch keine Antwort.

Kein dritter Weg

Völlig enttäuschend und erschreckend ist, dass Boualem Sansal Ansätze zu Reformen im Islam kaum erwähnt. Er nennt nur wenige Denker, wie Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-97) und Muhammad Abduh (1849-1905) und Mohamed Arkoun (1928-2010). Heutige Reformbewegungen nennt Boualem Sansal nicht. Eine Bewegung wie die „Schule von Ankara“ nennt er genausowenig wie die Verbände für einen liberalen Islam in der westlichen Welt. Auch Ibn Ruschd (Averroes) oder die Mutaziliten kommen bei ihm nicht vor, und das wäre doch das Mindeste gewesen, um aufzuzeigen, dass Reformen wenigstens theoretisch möglich sind. Auch die historisch-kritische Erforschung der Ursprünge des Islam, aus der heraus der Funke zur Reform springen kann (und eines Tages auch springen wird, weil Wahrheit immer durchsickert), bleibt bei Boualem Sansal ungenannt (hier ist nicht von jenen die Rede, die Mohammed für nicht existent erklären, sondern von jenen, die den originalen Mohammed hinter den später verfassten und veränderten Texten herausarbeiten). Nun gut: Denker wie Abdelwahab Meddeb und Malek Chebel werden immerhin erwähnt.

Aber einen Gedanken wie den von Malek Chebel, dass der Westen den Muslimen zu Hilfe kommen muss, um den Islam zu reformieren, weil die Muslime es selbst nicht schaffen, findet man bei Boualem Sansal nicht.

Fazit

Die Analyse, die Boualem Sansal hier vorlegt, ist oberflächlich, eine Problemlösung kaum existent. Mehr als eine berechtigte Warnung ist es nicht. Man könnte auch sagen, Boualem Sansal schließt sich (leider) der etwas zu einfachen Analyse der Islamhasser an, ist dann aber als Linker nicht in der Lage, wie diese den Schluss zu einer robusten Gegenwehr zu ziehen, sondern starrt wie das Kaninchen auf die Schlange. Damit werden sich die Islamhasser einmal mehr bestätigt sehen.

Dass weder die Islamhasser noch die gelähmten Linken Recht haben, sondern dass es dritte Wege gibt, kommt bei Boualem Sansal nicht heraus. Für einen Schriftsteller, der Gehör findet, ist das fast schon sträflich.

PS: Boualem Sansal unterstellt George W. Bush, er habe nach der These vom „Clash of Civilizations“ von Huntington gehandelt. Das ist doppelt falsch. Erstens ist Huntington selbst nicht der Auffassung, dass man die Kulturen gegeneinander ausspielen sollte, sondern er meint, dass dies geschehen würde, auch ohne das man das will. Zweitens ist die Unterstellung an Bush, er habe gewissermaßen einen Kreuzzug des Christentums gegen den Islam geführt, einfach nur dumm und primitiv. George W. Bush hat vielmehr als erster Schluss mit dem Prinzip gemacht, dass der Westen im Nahen Osten immer nur auf Dikatoren setzt, um die Region in Ruhe zu halten. George W. Bush hat die These aufgestellt, dass auch islamisch geprägte Staaten zur Demokratie fähig sind. Man mag von Bush halten was man will, aber die primitive Kritik von Boualem Sansal ist Unfug. Bereits die naiven Ausführungen von Boualem Sansal in seiner Preisrede in der Frankfurter Paulskirche über den Palästina-Konflikt hatten angedeutet, dass Boualem Sansal kein politischer Kopf ist.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. September 2014)

Burckhardt Gorissen: Ich war Freimaurer (2009)

Überraschend interessanter Erfahrungsbericht, aber ungewollte Ironie

Entgegen dem ersten Anschein ist dieses Buch tatsächlich ein sehr interessanter und geradezu exemplarischer Erfahrungsbericht, der dem geistig unabhängigen Leser viel zu bieten hat. Das muss erklärt werden.

Zur Freimaurerei

Während die meisten Bücher die Freimaurerei entweder lehrbuchmäßig („wie aus dem Katechismus“) oder aber verschwörungstheoretisch darstellen, hat dieses Buch etwas ganz anderes und viel besseres zu bieten: Die praktische Erkenntnis, dass auch Freimaurer nur mit Wasser kochen! Bei sehr vielen Anekdoten kann man nur mit dem Kopf nicken und zustimmen: Ja, so läuft es in menschlichen Gemeinschaften nun einmal ab. Man erkennt, dass auch in der Freimaurerei Vereinsmeierei, Spießertum, Gerangel um Pöstchen und Ehrungen, dogmatische Meinungsverschiedenheiten, Intrigen, persönliche Animositäten, usw. usf. den hehren Anspruch von Wahrheit und Weltanschauung völlig und restlos untergraben. Ein hehrer Anspruch übrigens, der umso unkonkreter erscheint, je näher man ihm inhaltlich kommen will. Die Lehre bleibt abstrakt, und entschwindet in Diffusität, je länger man darüber nachdenkt, und je höher man im Grad aufsteigt.

Was man auch in keinem Lehrbuch über Freimaurer geboten bekommt, ist eine Darstellung der Rituale aus erster Hand, wie sie heute wirklich gestaltet sind. Offenbar kennen Freimaurer auch fragwürdige Liturgiereformen und eigenwillige Umsetzungen in die Praxis. Beruhigend auch die Mitteilung, dass die Freimaurer-Logen heute nur noch ein Zerrbild ihrer großen Vergangenheit sind: Während die Logen hoffnungslos überaltern und mit mittelmäßigen Charakteren gefüllt sind, treffen sich die wirklich einflussreichen Persönlichkeiten bei Lions, Rotary oder in völlig namenlosen, echt geheimen Zirkeln.

Völlig sachlich werden auch die theoretischen Selbstwidersprüche der freimaurerischen Lehre erkannt und benannt: Dass die Freimaurerei eben auch ihre Dogmen hat. Dass Menschen verschiedener Weltanschauung sich eben nicht so einfach auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner vereinen lassen (es sei denn, ihre verschiedenen Weltanschauungen sind zur Hülle verkommen). Dass die Freimaurerei zwar keine Weltanschauung sein will, de facto aber doch die wahre Weltanschauung der meisten ihrer Mitglieder ist, während die je eigene Weltanschauung (katholisch, buddhistisch, agnostisch, was immer) zu einer Hülle verkommt, deren Inhalt mit freimaurerischen Ideen gefüllt wird.

Man erfährt auch: Dass Freimaurer gegen ihre „traditionellen“ Gegner sehr intolerant sein können. Dass Freimaurer wegen ihrer oft etwas simpel gestrickten Ideale an manchen historischen Verbrechen beteiligt waren, was aber nicht aufgearbeitet wird. Auch wird der Humbug mit den „Alten Regeln“ aufgespießt, nach denen in der Loge über Politik und Religion nicht geredet werden dürfte: Wozu soll man dann Menschen verschiedener Weltanschauungen zusammen bringen, wenn sie sich dann genau über diese Verschiedenheiten nicht austauschen dürfen? Wo soll da das Verbindende entstehen? Und wenn wirklich nicht über Politik geredet würde, warum haben dann so viele Freimaurer in der Politik mitgemischt? Natürlich wird über Politik und Religion geredet, über was denn sonst …

Sehr treffend kritisiert der Autor einen linksliberalen Multikulti-Zeitgeist, der von den Logen befördert wird: Wenn z.B. der berühmte katholische Dogmatik-Professor Vorgrimler (!) in einer Weise auftritt, wie man es nicht für möglich hält! Es ist so selbstentlarvend … man muss es selbst gelesen haben. Was der Kundige bisher nur ahnte, wird hier in einer banalen Weise offenbar, dass man sich auf die Schenkel klopft. Ähnlich ist es mit dem Auftritt von Hans Küng.

Die ungewollt ironische Wendung

Über all diesen richtigen Erkenntnissen schwenkt der Autor … schrittweise zum katholischen Glauben über! Ausgerechnet! Das ist nicht ohne Ironie: Denn alles, was man der Freimaurerei an Vorwürfen machen kann, trifft auf die katholische Kirche ganz genauso zu. Auch dort gerät die edle Frage nach der Wahrheit unter die Räder des Allzumenschlichen, auch dort Forkelkämpfe ums Dogma und Vereinsmeierei, auch dort Rituale und Lehren, die sich umso mehr in Fragezeichen hüllen, je mehr man theologisch und historisch davon weiß. Die Freimaurer betonen den Verstand, die Christen das Gefühl (Liebe, Trost usw.), und beide sind damit einseitig.

Die katholische Lehre hat gegenüber der Freimaurerei sicher den Vorsprung, dass sie eine größere Tradition und eine größere Stringenz suggerieren kann – aber eben nur suggerieren kann. Und dieser Suggestion, die nicht anders funktioniert als die von ihm selbst so treffend analysierte freimaurerische Suggestion, erliegt der Autor nach und nach: Er verklärt die liebevolle Gemeinschaft in der Kirche und das jugendfrische Erlebnis des Weltjugendtages in Köln, während er gleichzeitig ungerechte Pauschalurteile über Aufklärer und die Geschichte der Aufklärung fällt. Wo er doch selbst wiederum den Freimaurern vorwirft, zu pauschal über die Kirche zu urteilen. Der Autor übersieht völlig, dass die von ihm selbst vorgeführten Herren Vorgrimler und Küng Realitäten der von ihm so gepriesenen katholischen Kirche sind. Auch der Christengott „offenbart“ sich nur im Menschen, und der Mensch ist überall derselbe, vor allem, wenn er sich vergemeinschaftet.

Wenn der Autor diese Übertragungsleistung erbracht hätte: Dass alles, was er bei den Freimaurern erlebt hat, praktisch bei jeder weltanschaulichen Vereinigung anzutreffen sein muss, weil der Mensch nun einmal ein Mensch ist, dann wäre das Buch perfekt gewesen. Andererseits hat man so ein Buch mit einer interessanten Doppelfunktion in der Hand: Zum einen ein exemplarisches Hinterfragen einer Weltanschauungsgemeinschaft, und gleichzeitig eine exemplarische Verblendung über das wahre Wesen einer Weltanschauungsgemeinschaft. Es ist wirklich sehr lehrreich!

Vor einem Vorwurf muss man den Autor in Schutz nehmen: Er ist kein „Hardcore-Katholik“ und er verbreitet auch keine „ultrakonservativen“ Lehren im Stil von Opus Dei oder den Piusbrüdern. Der hier bekundete Glaube ist ganz normales katholisches Christentum. Man muss fair bleiben und den Realitäten ins Auge sehen.

Fazit

Dieses Buch transportiert – ungewollt! – in hervorragender Weise eine klare und wahre Erkenntnis: Die edle Suche nach der Wahrheit, die Pflege der eigenen Weltanschauung, kann niemals in einem Verein geschehen, sondern ist immer ein äußerst individueller Vorgang, der höchstens im Austausch mit Freunden und Büchern funktioniert. Man kann sich wegen eines Hobbies oder zur Durchsetzung von Interessen zu einem Verein zusammenschließen, aber in Sachen Weltanschauung führt dies zwangsläufig immer in die Irre, und nur ein Mangel an Erfahrung, Bildung oder eine Verblendung führen auf diesen Weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. August 2012)

« Ältere Beiträge