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Michel Houellebecq: Unterwerfung (2015)

Linksliberale Sinnentleertheit wird „demokratische“ Islamisierung akzeptieren

Houllebecq ist ein Meister des zynischen Realismus. Der Held der Geschichte ist ein politisch unbedarfter linksliberaler Literaturwissenschaftler ohne Sinn und Ziel im Leben, außer Fressen und Ficken. Auch seine eigene Literaturwissenschaft gibt ihm keinen Sinn. Als Single kennt er kein Familienglück, sondern lebt ein äußert reduziertes Leben aus Mikrowelle und Youporn. Hin und wieder angelt er sich eine seiner Studentinnen oder bestellt sich den Escort-Service.

Parallel dazu wird beschrieben, wie die politische Linke aus Angst davor, fremdenfeindlich zu wirken, mit den mittlerweile als Partei organisierten Islamisten paktiert. Auf diese Weise kommt ein traditionalistischer, verfassungsfeindlicher Islam an die Macht, und beginnt das Land Stück für Stück umzubauen. Zuerst sind die Bildungseinrichtungen dran. Alles läuft ohne Härten ab, jeder wird mit Geldern aus Saudi-Arabien fürstlich bezahlt oder erhält ebenso fürstliche Vorruhestandsbezüge. Die identitäre Bewegung startet einen Bürgerkrieg, es gibt einige Tote, doch wird sie damit keinen Erfolg haben.

Während auf der großen politischen Bühne das Dogma der Fremdenfreundlichkeit jeden Widerstand gegen die Islamisierung lähmt, sind die kleinen Akteure gezwungen, im vorgegebenen politischen Rahmen eine Entscheidung zu treffen, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele treten auch zum Islam über, weil sie persönliche Vorteile davon haben: Saudische Geldgeber finanzieren Wohnen und üppige Gehälter an islamisierten Unis, zudem werden den alternden linksliberalen Professoren junge Studentinnen als Ehefrauen vermittelt, die sie sexuell und sozial versorgen.

Überhaupt zeigt sich die Widerstandskraft linksliberal denkender Menschen gegen einen philosophisch argumentierenden Islam als erstaunlich gering. Denn linksliberale Menschen haben heute kein Weltbild mehr, von dem sie überzeugt sind, und auch kein Ethos, für das sie Opfer bringen würden – heutige Linke leben nach einem sehr primitiven Weltbild: Links ist, was Fressen und Ficken garantiert.

Das Buch ist literarisch kein Hit, aber sein zynischer Realismus ist äußerst treffend und eine Warnung: Die politische Linke ist tatsächlich auf dem Weg, über ihrer Fremdenfreundlichkeit und ihre platte politische Ideologie Demokratie und Menschenrechte zu verraten. Der traditionalistische, verfassungsfeindliche Islam ist tatsächlich auf dem Weg, nicht durch Gewalt, sondern durch geistige Eroberung und durch den Marsch durch die Institutionen Positionen zu erobern, und so unsere freiheitliche, säkulare Gesellschaft schrittweise auszuhöhlen. Noch geschieht dies im Kleinen, doch das Schweigen von Medien und „aufgeklärten“ Politikern ist schon heute oft erschreckend. Und es nimmt zu. Schon bald wird es Vorteile bringen, Muslim zu sein, so wie es in Bayern Vorteile bringt, in der CSU zu sein.

Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung ist die bildungslose, satte Sinnentleertheit der linksliberalen Menschen, die nichts mehr wollen, nichts mehr erstreben, und sich für nichts mehr zu schade sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon Mai 2015 in einer zensierten Fassung; diese ist inzwischen verschwunden.)

Charles Dickens: David Copperfield (1849/50)

Heiter-ironischer Entwicklungsroman von herausragender Bedeutung

Mit „David Copperfield“ hat Charles Dickens einen heiter-ironisch gestimmten Entwicklungsroman geschrieben, der ein wahres Lesevergnügen ist und der auf viele spätere Autoren Einfluss ausgeübt hat.

Heiter-ironisch soll heißen: Der angeschlagene Ton macht von Anfang an klar, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Der Protagonist blickt wohlwollend und weise auf die Höhen und Tiefen seines Lebens zurück. Teilweise nimmt der Roman den Charakter eines Schelmenromans an. Aber auch traurige, erschreckende, unglückliche und schmerzvolle Ereignisse kommen vor, deren Schrecklichkeit durch den Grundton gemildert und im Hinblick auf das erwartbare gute Ende aufgehoben ist.

Entwicklungsroman soll heißen: Es wird das Leben von David Copperfield von seiner Kindheit bis ins mittlere Alter erzählt. Dabei werden verschiedene Themen behandelt, darunter: Die Ausgeliefertheit des Kindes an die Erwachsenenwelt. Die Unsicherheiten und Tölpelhaftigkeiten und Unbeholfenheiten eines Kindes und jungen Mannes. Böse Stiefeltern und gute Tanten. Spießige, unironische Menschen. Schule im Kasernenhofstil. Freundschaften und Enttäuschungen. Berufswahl und Berufsweg. Liebschaften und Ehen. Wiederholt das Thema Einsamkeit, Sinnverlorenheit und Unbehaustheit.

Die jeweiligen Stationen sind in vielen Aspekten so exemplarisch und archetypisch erzählt, dass sich wohl jeder Leser ein wenig in ihnen wiederfinden kann. Dickens kann die psychologische Lage jeder Situationen gut darstellen. Eine ganze Reihe von Lebenseinsichten werden in der Handlung demonstriert und dann auch explizit formuliert: Etwa, dass ein Ehepartner Anteil an den Gedanken des anderen Ehepartners nehmen sollte. Oder dass Nachlässigkeit und allzu große Gutmütigkeit eine Verführung der Mitmenschen zum Ausnutzen derselben sind. Oder dass, wer an sich selbst glaubt, sich für gewöhnlich nicht selbst lobt.

Der Roman hilft dem Leser dabei, das Leben unter der Perspektive eines heiteren Grundtons zu sehen, und Menschlichkeit und Herzlichkeit zu bewahren. Es lässt sich vorstellen, dass dieses Buch für denkende junge Menschen ein guter Begleiter, Seelentröster und Ratgeber sein könnte.

Skurrilität als Nebenthema: Im Laufe seines Lebens begegnet David Copperfield einer ganzen Reihe von äußerst skurrilen Typen. Diese sind sehr liebevoll gestaltet und erhöhen das Vergnügen an diesem Roman erheblich. Man erkennt hier auch ein wenig das Thema des englischen Exzentrikers.

Sozialkritik als Nebenthema: Schul- und Gefängniswesen werden heftig kritisiert. Auch die Pädagogik, die Charaktere wie den schmierigen Uriah Heep hervorbringt, wird aufs Korn genommen. Gerichts- und Parlamentswesen werden nicht verschont. Diese Kritik taucht aber nur am Rande auf. Eine kleine antisemitische Spitze zu Wechselgeschäften ist enthalten. Und dann ist da noch „der Türke“ als Urbild eines Menschen, dem das Wohl seiner Familie egal ist. Solche Stereotypen schrieb man damals sorglos.

Die Romanhandlung ist bei Lichte besehen ein wenig unglaubwürdig. Einerseits ereignen sich doch recht viele Unglücksfälle, andererseits findet der Protagonist immer wieder Menschen, die ihm aus der Patsche helfen. David Copperfield wirkt dadurch manchmal (nicht immer) ein wenig wie ein Passepartout, ein Stehaufmännchen, bei dem Schmerz und Leid keine Spuren hinterlassen. Am Ende rundet sich alles, und alle Fäden kommen zu einem guten und gerechten Ende. Die Wirklichkeit sieht leider oft anders aus. Daraus eine Kritik an diesem Roman zu machen, wäre allerdings ein Missverständnis: Der Roman scheint auch mit der Absicht geschrieben worden zu sein, seine Leser aufzumuntern, damit sie trotz Widrigkeiten nicht am Leben verzweifeln. Diesen Zweck hat der Autor bestens erfüllt.

Da es ein sehr guter Roman ist, blieb er nicht ohne Folgen. Man teilt die englische Literaturgeschichte gemeinhin in die Zeit vor Dickens und die Zeit nach Dickens ein. Der Einfluss von „David Copperfield“ reicht von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, in dem Skurrilität und Sprachspiele („begin at the beginning“) auf die Spitze getrieben wird, bis zu Joanne K. Rowlings Harry Potter, wo zahlreiche Anleihen bei „David Copperfield“ in Stil und Thematik nachweisbar sind. Aber auch weltweit haben sich Autoren beeindrucken und beeinflussen lassen, so z.B. Tolstoj.

Fazit

Ein Klassiker wie er sein soll: Immer noch ein sehr großes Lesevergnügen, immer noch sehr lehrreich, und man erkennt, welche Spuren er hinterlassen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)

Michael Köhlmeier: Wenn ich Wir sage (2019)

Kein gebildeter Essay sondern irrationale Orgie des utopischen linken Zeitgeistes

Zu Anfang gewinnt der Leser den Eindruck eines wunderbar gebildeten Essays: Köhlmeier kreist mit spielerischer Leichtigkeit um die beiden Geistesgrößen Ralph Waldo Emerson und Montaigne, und macht sich angenehm eigenwillige und durchaus originelle Gedanken zu Platon, Homer, Thomas Mann und Isaiah Berlin. Alles beginnt mit der Einsicht, dass auch in engeren Beziehungen wie Familie und Freundschaft nicht nur reine Zuneigung herrscht, sondern oft auch Motive wie z.B. Überlegenheit, Abhängigkeit und Wettkampf eine Rolle spielen.

Doch bereits bei folgenden groben Fehlern und Irrtümern beginnt man zu stutzen: Von Sokrates und den platonischen Dialogen heißt es, Sokrates wisse immer alles schon im Voraus, und seine Dialoge seien angeblich kein fairer Austausch von Argumenten. Sokrates sei doktrinär, und die Platonischen Mythen seien Erfindungen in diesem Sinne. (S. 28, 30) Hat Köhlmeier dieselben Dialoge gelesen wie wir? Hat er noch nie etwas davon gehört, dass manche Dialoge Platons in einer Aporie enden? Bei einem derart zynischen Sokrates- bzw. Platonbild muss man sich fragen, wieviel Köhlmeier von Philosophie verstanden haben kann? – Ärgerlich ist die offenbar wohlwollend gemeinte Erwähnung, dass die Religionsgemeinschaft der Unitarier sich für immer mehr Glaubensrichtungen öffnete, am Ende auch für Atheisten (S. 20). Ärgerlich deshalb, weil dieser Vorgang natürlich nicht bedeutet, dass die Unitarier tolerant geworden wären, sondern einfach nur bedeutet, dass die Unitarier ihre eigenen Überzeugungen aufgegeben haben. Wie naiv muss man sein, um an eine Weltverbrüderung durch die Selbstaufgabe der eigenen Überzeugungen zu glauben? Wie naiv muss man sein, die gegenseitige Tolerierung von gegensätzlichen Weltanschauungen durch deren Verwischung und Selbstaufgabe erreichen zu wollen? Was bei Köhlmeier hingegen fehlt, ist der Gedanke, dass die verschiedenen Weltanschauungen in einem klassisch verstandenen Humanismus (Vernunft, historische Kritik, Wesen des Menschen) eine Brücke zueinander haben könnten. – Dann vergleicht Köhlmeier das Stockholm-Syndrom mit dem Phänomen, dass manche Menschen ihren Daseinszweck in einer Feindbeziehung finden, d.h. ohne ihren Feind würde ihr Leben plötzlich sinnlos (S. 33). Das ist aber etwas ganz anderes als das Stockholm-Syndrom und deshalb ein ziemlich schiefer Vergleich. – Zu dem Umstand, dass Montaigne Latein lernte, fällt Köhlmeier nur ein, dass ihm das damals Türen geöffnet haben mag, auch zu Bibliotheken, und dass der lateinische Wortschatz zum Philosophieren besser geeignet war als das damalige Französisch (S. 56). Aber damit verkennt er den zentralen Wert des Lateinlernens: Die vertikale Horizonterweiterung hinein in die Tiefe der Geschichte! Am Verlauf der Geschichte der antiken Welt kann man viele Einsichten über die Welt der Gegenwart gewinnen. Und natürlich bekommt man einen unverfälschten Zugang zum Denken der antiken Philosophen, fernab von allen modischen Verfälschungen des Denkens der Gegenwart. Für Köhlmeier ist Latein aber offenbar nur ein höchst gegenwärtiges, schnödes Werkzeug, ja sogar ein Status Symbol, ein Türöffner zur Gesellschaft. – Bei Thomas Manns Zauberberg konzentriert sich Köhlmeier ganz auf den Gegensatz von Naphta und Settembrini, während er über Peeperkorn kein Wort verliert (S. 23, 25). Naphta ist für Köhlmeier der Repräsentant des verführerischen Charismas, der Inbegriff des Gefährlichen. Damit hat Köhlmeier den ganzen Roman missverstanden, denn es ist Peeperkorn, der der charismatische, gefährliche Typ ist. Mit Naphta hingegen kann man noch reden, und dies geschieht im Roman auch ausgiebig. Immerhin: Mit diesem völligen Missverstehen von Thomas Manns Zauberberg ist Köhlmeier nicht allein. – Schließlich wird auch die eingangs erwähnte Fragestellung nicht gut aufgelöst: Nur wer von der naiven Idee herkommt, dass das Gute in purer Selbstlosigkeit bestünde, wird von der Erkenntnis erschüttert, dass auch engere Beziehungen nicht nur reine Liebe sind. Köhlmeier leistet aber keine philosophisch akzeptable Lösung des Problems, weil er bei dem naiven Maßstab des selbstlos Guten verharrt, und damit das wahre Wesen des Menschen dauerhaft verkennt, in dem die Brücke zum Mitmenschen paradoxerweise gerade über den Egoismus geschlagen wird. Köhlmeier kommt zwar auf das Mitleid, das diese Brücke schlägt, erkennt aber dessen Bedeutung nicht, sondern sieht darin nur etwas mehr als ein „Minimalprogramm“ von Humanität (S. 38 f.). – Und gleich setzt Köhlmeier einen weiteren, entlarvenden Irrtum oben drauf: Die Aufforderung Jesu, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“, funktioniere noch weniger als das Mitleid, weil es schwierig sei, sich selbst zu lieben (S. 39): Aber nur diese Selbstliebe ist im Mitleid die Brücke zum Mitmenschen! Köhlmeier hat das ganze Konzept der Philosophie vom Mitleid von A bis Z nicht verstanden. Er hat Jesu Aufforderung der Nächstenliebe nicht verstanden. Er hat Platon nicht verstanden. Er hat den Bildungswert von Latein nicht verstanden. Und noch vieles andere hat Köhlmeier nicht verstanden, was zum Grundbestand eines klassisch humanistisch gebildeten Menschen unbedingt dazugehören würde.

Köhlmeiers Überlegungen kulminieren in folgendem Gedanken: Im engeren Kreise, in Familie, Freundschaft und Heimat, gäbe es ein glaubwürdiges „Wir“, auch wenn es bisweilen schwierig sei. Das „Wir“ jedoch, das die Nation repräsentiert, sei grundsätzlich verlogen, mythisch und auf die Zerstörung des Glückes der Menschen aus (S. 75-85). Köhlmeier unterscheidet dabei nicht zwischen normalem Nationalbewusstsein und Nationalismus: Für ihn ist bereits der Patriotismus eine Lüge, und eine Nation könne gar nicht anders, als sich über ihre Feinde zu definieren. Als Kronzeuge dient ihm dazu Isaiah Berlin (S. 71-75).

Hier ist Köhlmeier entschieden zu widersprechen: Auch eine Nation kann ein legitimes und notwendiges „Wir“ sein, das aus einer gemeinsam erlebten Geschichte erwachsen ist. Die Nation ist zudem der einzige Organisationsrahmen, innerhalb dessen sich Demokratie entfalten kann, denn nur die Nation stellt den dafür nötigen Diskursraum sowie die historisch gewachsene Solidarität der Bürger untereinander zur Verfügung. Die Idee Köhlmeiers, dass Heimat „einschließe“, Nation jedoch „ausschließe“, ist irrationaler Blödsinn. Gerade die innige Kultur der Heimat grenzt Neuankömmlinge gnadenlos aus, man denke nur an den Dialekt. Und wenn Köhlmeier meint, wer eine Nation liebe, der könne genauso gut die Verkehrsschilder lieben, die von Nation zu Nation unterschiedlich sind (S. 81), dann ist ihm zu entgegnen: Ja, die Verkehrsschilder gehören auch dazu! Wer über eine Grenze von Nation zu Nation fährt, bemerkt sofort tausend kleine Unterschiede, die zusammen eine ganz andere Atmosphäre erzeugen, die eben typisch ist für die jeweilige Nation. Von den Verkehrsschildern, über die Werbeplakate bis hin zum Zuschnitt von Feldern und Wäldern: Alles zeugt von einem anderen inneren Zusammenhang, der über Jahrhunderte gewachsen ist, seinen ganz eigenen Charme hat, und sich bis in tiefste Tiefen fortsetzt, denn auch Politik, Literatur und Kunst funktionieren in jeder Nation wieder ganz anders.

Man fragt sich auch, wie Köhlmeier z.B. über den Zusammenschluss der Nationen in Europa denkt? Ist Europa für ihn auch nur eine einzige Lüge? Und völlig verrückt, was Köhlmeier dann vom Weltbürgertum sagt: Dieses sei seiner Meinung nach kein „Wir“ (S. 49). Die Menschheit also kein „Wir“? Gibt es wirklich nichts, was uns Menschen als Menschen verbindet, was wir gemeinsam haben, und was uns überhaupt erst zu dem macht, was wir sind, nämlich Menschen? Spätestens hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus. Tatsächlich sieht er sich außerstande, überhaupt irgendetwas Verbindendes anzuerkennen, selbst innerhalb einer Nation. Über den Verschiedenheiten von Religionen, Interessen und Herkunftsländern gäbe es schlicht nichts Verbindendes (S. 82 f.). Da fragt man sich, wie Köhlmeier sich eigentlich die Integration von Zuwanderern vorstellt? Sollten sie nicht wenigstens die Landessprache ihrer neuen Heimat lernen? Was Köhlmeier hier präsentiert, ist die ganze Unmenschlichkeit der Multikulti-Ideologie in ihrer reinsten, gefährlichsten Form.

Zudem hat Köhlmeier Isaiah Berlin falsch gedeutet. Überall kann man nachlesen, dass Isaiah Berlin sehr wohl zwischen Nation und Nationalismus unterschied, auch wenn er den Unterschied an manchen Stellen durch eine ungeschickte Wortwahl verwischte. Dies kann schon durch ein wenig Googlen gefunden werden, also hätte auch Köhlmeier dies wissen können.

Köhlmeier ist nichts anderes als politisch radikal. Seine Vorstellungen sind nicht nur unrealistisch, sondern sie brandmarken auch ganz normale Bürger, die ihr Land, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Kultur lieben, als böse Nationalisten. Genau diese unduldsame Haltung gegenüber völlig normalen Einstellungen ist es, die die Wähler scharenweise von den bisherigen Parteien weg und hin zur rechtsradikalen AfD treibt. Es sind Menschen wie Köhlmeier, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass unsere Demokratie zerfällt. Der Radikalismus der einen Seite füttert den Radikalismus der anderen Seite. Nicht zufällig findet sich in diesem Büchlein mindestens eine bösartige politische Verleumdung. Dem Vorsitzenden einer nicht genannten Partei (offensichtlich Strache von der FPÖ) wird unterstellt, er habe befunden, dass man den Nächsten lieben, den Übernächsten aber hassen solle (S. 82). Doch es ist nicht wahr. So sagte Strache in einem Interview z.B.: „… die Nächstenliebe beginnt ja beim Nächsten, der Familie und der eigenen Bevölkerung, und nicht beim Übernächsten. Und wenn dann noch Geld übrig bleibt, kann man gerne auch andere unterstützen.“ Es gibt genügend sachliche Kritik, die man an der FPÖ und Strache üben könnte, aber es ist definitiv falsch und schlicht unwahr, dass Strache zum „Hass“ auf den „Übernächsten“ aufgerufen hätte. Wer das behauptet, redet selbst voller Hass.

Woher kommt der Hass? Köhlmeier spricht sich zwar für die rationale Kühle der Aufklärung aus (S. 49), ist aber selbst ein ausgesprochener Gefühlsmensch. Damit trägt er einen veritablen Selbstwiderspruch mit sich herum. Dieses ganze Büchlein ist eine Ansammlung von emotionalen Assoziationen, weniger von rationalen Argumentationen. Sich selbst stellt Köhlmeier in diesem Büchlein ausführlich als Musiker dar, und wie Musik auf höchst unrationale aber ihm zugleich höchst erwünschte Weise ein „Wir“ konstitutieren kann (S. 66-69). Sehr nahe an die Irrationalität von Köhlmeier kommt man, wo er einen Gegensatz zwischen Wahrheit und Mensch aufmacht! (S. 30) Auch hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus: Denn wer die Wahrheit und ihre freimachende Wirkung nicht liebt und diese Wahrheitsliebe nicht als etwas Urmenschliches begreift, sondern die freundliche Lüge bevorzugt, nur weil sich jemand durch die Wahrheit verletzt fühlen könnte, der hat Humanismus und Aufklärung aufgegeben. Angeblich unter Berufung auf Montaigne meint Köhlmeier, man brauche sich weder Platon noch Aristoteles „aufzuladen“, man solle die Welt lieber betasten und sinnlich begreifen (S. 57). Irgendwie fühlt man sich hier an Hitlers „Mein Kampf“ erinnert, wo ebenfalls einer fehlgeleiteten Vorliebe für das Praktische das Wort geredet und Intellektualität verpönt wird.

Köhlmeier zeigt sich nicht etwa als individueller Geist, sondern als ein dem Zeitgeist höriger Mensch. Früher einmal waren Linke noch halbwegs vernünftig. Noch in den 1990er Jahren verkündete Johannes Rau, einer der Altväter der SPD, in Wahlkampfveranstaltungen stolz: „Ich bin ein Patriot!“ Doch heute sind die Linken zum nationalen Selbsthass übergegangen, und verkünden eine Utopie von „no borders no nations – refugees welcome!“ Und Köhlmeier ist da einfach nur ein Kind seiner Zeit, das munter nachplappert.

Halten wir aber zwei Sachen fest, die Köhlmeier richtig gesagt hat:

  • Mitleid ist eine wichtige Basis für Humanität.
  • Romantische Irrationalität ist eine Ursache für Nationalismus.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. Februar 2020)

Peter Hacks: Der Bär auf dem Försterball (1966)

Zeitlose Parodie auf das menschliche Sozialverhalten

Eine köstliche Kurzgeschichte, die sehr viel mehr ist als nur ein Kinderbuch. Mit wenigen, wohlgesetzten Worten wird folgende Geschichte erzählt: Der Bär möchte verkleidet als Förster zu einem Maskenball von Bären, doch er begegnet einem Förster, der ihn für einen Förster hält, sogar für den Oberförster, weil er so tief brummt, und sie gehen gemeinsam zum Försterball. Der Bär übernimmt sofort die Führungsrolle der Festgesellschaft, indem er am dicksten aufträgt: Er säuft am meisten, hat die meisten Haare im Gesicht und schlägt seinen Kameraden am kräftigsten auf die Schulter. Die Förster sind blind für ihren Irrtum und gehen am Ende soweit, dass sie einen jungen, schwächlichen Kollegen für den Bären halten. Für den Bären ist es der reine Spaß, wie er die Förster an der Nase herumführen kann. Er geht sogar soweit, sich offen zu erkennen zu geben. Wie es nach dieser Offenbarung weitergegangen wäre, bleibt jedoch offen, denn in diesem Moment wird der Bär von seiner Ehefrau nachhause geholt.

Peter Hacks führt in dieser Parodie das Phänomen vor Augen, wie eine Gesellschaft, oder eine Organisation, sich einem Anführer unterwirft, selbst wenn er ihr größter Widersacher ist, solange er nur am dicksten aufträgt. Es ist also eine Studie in Sozialverhalten. Dieses können wir überall in der Gesellschaft im Kleinen wie im Großen bestätigt sehen. Dick auftragen verschafft Aufmerksamkeit und Respekt, unabhängig von Kompetenz und moralischer Qualität. Und das Böse kann sich oft genug ganz offen und frech zeigen, ohne als das benannt zu werden, was es ist, gerade weil es offen und frech daherkommt und auf diese Weise soziale Ausrichtung stiftet.

Es gibt auch eine Deutung, dass der Bär gar nicht bemerkt habe, dass er auf dem Försterball ist, sondern denkt, er wäre auf einem Maskenball mit lauter Bären. Dem ist zu widersprechen. Erstens wären auf einem Maskenball verschiedene Masken anwesend. Zweitens gibt der Bär klare Kriterien an, woran ein Bär zu erkennen ist, und er weist darauf hin, dass der junge Kollege kein Bär ist, so dass ziemlich klar ist, dass der Bär wusste, dass er nicht unter Bären ist. Zu keinem Zeitpunkt ruft der Bär verwundert aus, dass die Förster keine Krallen usw. haben, so wie die Förster es am Ende bei ihm tun. Und nur wenn der Bär sich im Klaren darüber war, dass er nicht unter Bären ist, kommt auch die Deutung zum tragen, dass Frechheit siegt. Der Bär, „schon in der besten Laune“, hatte einfach die Gelegenheit ergriffen und frech die Scharade mitgemacht, die ihm in der Zufallsbegegnung mit dem Förster angeboten wurde.

Das Insel-Buch ist neu illustriert von Reinhard Michl. Die neuen Illustrationen sind gut gelungen und „erwachsener“, und bringen den Schalk des Bären gut zum Ausdruck. aber auch die alten Illustrationen hatten in ihrer genialen Einfachheit ihren Reiz und Wert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland (2014)

Zeitgeist gut aufgespießt – aber kein Tiefgang und keine Lösungen

Thilo Sarrazin beschreibt in seinem dritten Buch „Tugendterror“, welche Irrtümer unseren Zeitgeist beherrschen, und dass ihr Kern ein Gleichheitswahn ist. Zudem beschreibt er die sozialen und psychologischen Mechanismen, wie es dazu kommen kann, dass sich eine Meinung in einer an sich freien Gesellschaft so etabliert, dass Widerspruch nicht mehr geduldet wird.

Hauptkritikpunkt 1: Thilo Sarrazin bleibt zu sehr an der Oberfläche

Thilo Sarrazin beschreibt zwar die Mechanismen, wie sich Irrtümer und Ideologien in einer an sich freien Gesellschaft zu herrschenden Meinungen entwickeln können, aber Thilo Sarrazin sagt fast nichts dazu, dass diese Meinungsausbreitung auch von diversen Akteuren gewollt und gesteuert sein könnte. Natürlich nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, dass es „eine geheime Zentrale“ gäbe, sondern im Sinne eines kritischen Realismus, dass es eben eine ganze Reihe von gar nicht so geheimen „Zentralen“ gibt, die an einer bestimmen Meinungsbildung interessiert sind.

Das fängt mit den Medien und deren Struktur an. Zur Organisation der öffentlich-rechtlichen Medien und den Besitzverhältnissen bei privaten Medien (Springer, Bertelsmann, DuMont, SPD, Linke, Kirchen, früher auch Leo Kirch) sagt Thilo Sarrazin nichts. Ebenso sagt er wenig zur Durchdringung der Gesellschaft mit Parteifunktionären auch in unpolitischen Bereichen. Die Sozialindustrie von Gewerkschaften bis Kirchen wäre auch zu nennen, ebenso die Industrie. Wir wissen z.B. auch durch offengelegte Dokumente der DDR-Stasi, dass die Geheimdienste dieser Welt durchaus auf die öffentliche Meinung in offenen Gesellschaften Einfluss nehmen.

Schließlich spielen geschichtliche Entwicklungen wie z.B. der verlorene zweite Weltkrieg, die Neuordnung durch die Besatzungsmächte, der Kalte Krieg, und noch tiefer reichende Entwicklungen eine Rolle, z.B. waren schon die Nationalsozialisten recht „grün“, hier gibt es also Kontinuitäten.

Hauptkritikpunkt 2: Thilo Sarrazin nennt keine Lösungsvorschläge

Man vermisst Lösungsvorschläge, wie die Medien (öffentlich-rechtlich und privat) gesetzlich organisiert sein sollten, damit die Manipulateure dieser Welt es schwerer haben. – Und man vermisst ein Kapitel mit Ratschlägen, wie man sich angesichts der allgemeinen Manipulation als normaler Bürger eine tragfähige Meinung bilden kann. Dazu gehört sicher eine gute Allgemeinbildung, die Erarbeitung von Themen anhand von Büchern statt nur aus Zeitungen und Fernsehen, und das regelmäßige Querlesen von politisch gegensätzlich orientierte Medien bzw. Autoren. Aber dazu sagt Sarrazin nichts. Bei Lösungsvorschlägen war Sarrazin schon immer etwas schwächer als bei der Analyse, aber in diesem Buch fehlen Lösungsvorschläge praktisch ganz.

Sonstiges

Thilo Sarrazin hat in diesem Buch etwas mehr Ironie gezeigt als in den vorangegangenen Büchern, wo er sich nur wenige trockene Kommentare erlaubte. Das ist teilweise sehr vergnüglich! Dafür erfährt man in diesem Buch im Gegensatz zu seinen früheren Büchern leider wenig neues, wenn man sich mit dem Thema schon länger auseinandersetzt.

Im Abschnitt zum Islam fiel auf, dass Sarrazin Reformbemühungen von Muslimen mit keinem Wort erwähnt. In seinem ersten Buch hatte er das noch getan, was sehr fair war (S. 268). Natürlich hat Sarrazin Recht, dass der islamische Mainstream auf dem falschen Weg ist, aber um Pauschalurteile zu vermeiden und das Spektrum von Lösungsansätzen möglichst breit aufzufächern, hätten Reformbemühungen eine erneute Erwähnung verdient gehabt.

Fazit

Gute, brauchbare, nützliche Lektüre, aber zu oberflächlich, und praktisch keine Lösungsvorschläge. Im Vergleich zur Qualität der beiden vorangegangenen Bücher ein spürbarer Abfall.

PS 12.05.2024

In diesem Buch klärt Thilo Sarrazin auch eine üble Nachrede auf, die heute weit verbreitet ist. Es kursiert ein Video, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten zieht (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat.

Diese angebliche Aussage passt auch gar nicht zu den tatsächlichen Aussagen in Sarrazins erstem Buch Deutschland schafft sich ab: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe. Dieses Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen) kommentiert Thilo Sarrazin nun wie folgt:

„Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Bewertung: 4 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2014)

Andreas Eschbach: Die Haarteppichknüpfer (1995)

Religion, Tradition, Macht, Lüge und Sinn im Leben der Menschen

Der Roman „Die Haarteppichknüpfer“ ist eine zunächst lose erscheinende Aneinanderreihung von Einzelepisoden aus der Welt der Haarteppichknüpfer. Diese leben in einer vergessenen Region des Universums und führen ein mittelalterliches Leben mit einem strengen Patriarchat. Dazu gehört auch ein religiöser Kaiserkult, der jeden Ketzer tötet, und vor allem ein lebenslanges Knüpfen von Teppichen aus Menschenhaaren, die über fahrende Händler in Raumhafenstädte gelangen, von wo sie an einen unbekannten Ort im Universum verschifft werden.

Jeweils am Ende der ersten Episoden kommen die Protagonisten überraschend und rücksichtslos zu Tode (ähnlich wie in Game of Thrones), so dass zunächst keine durchgängige Geschichte erzählt zu werden scheint, doch allmählich fügt sich doch eine zusammenhängende Erzählung über die rauhe Welt der Haarteppichknüpfer zusammen. Schließlich wird die Geschichte auch im Wechsel mit Episoden aus der Sicht der Rebellen erzählt, die mittlerweile den Kaiser gestürzt haben und das Geheimnis der Haarteppiche zu ergründen versuchen.

Der Roman schlägt mehrere große Themen an: Zunächst der Missbrauch von Religion und Tradition zur Unterjochung von Menschen in einem ganz klassischen Sinne. – Dann aber auch in der Person des Kaisers das Thema der Sinnlosigkeit eines materiell vollendeten Daseins Der Kaiser hat buchstäblich alles erreicht: Er ist unermesslich reich, unermesslich mächtig, und durch medizinischen Fortschritt auch unsterblich. Er kann alles und hat alles. Alles dreht sich um ihn, und das Universum in seiner Unendlichkeit ist seine Spielwiese, um seine Macht auszuprobieren. Doch der Kaiser muss erkennen, dass all das nur ganz eitel und ohne Sinn ist, und so zettelt er selbst eine Rebellion an, um sich stürzen zu lassen und dabei den Tod zu finden, gewissermaßen als die letzte noch nicht von ihm ausprobierte Spielart seiner Machtausübung sowie als klassischer Suizid aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der Welt.

Nebenthemen sind Liebe, Musik, Bürokratie, Eltern und Kinder, brain in the tank, Gehorsam und Emanzipation, die Versuchung der Macht für die Rebellen, sowie die Unendlichkeit der möglichen Geschichten im Universum. Diese wird angedeutet in den unendlichen Weiten des Universums und des kaiserlichen Reiches, in dem vieltausendjährigen Alter des Kaisers, der zahllose Dinge erlebt haben muss, und schließlich vor allem in der Unermesslichkeit des Archivs im kaiserlichen Palast. Es erinnert an die „Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges.

Kritik

Literarisch geht der Roman nicht völlig auf. Es gibt ein paar Handlungsfäden, die am Ende nicht wieder aufgegriffen und deshalb zu keinem Abschluss gebracht werden, z.B. der geflohene Schüler des Dreiflötenmeisters.

Das schwerste Versäumnis des Romans liegt in der Unterlassung der Problematisierung des Endes des Kaiserkultes und der Tradition der Haarteppichknüpfer. Natürlich handelte es sich dabei um Betrug durch die Macht. Doch es war mehr als das: Es gab der Gesellschaft Ordnung und Sinn. Wenn man die Tradition ersatzlos fortnimmt, gehen Ordnung und Sinn verloren. Diese Sinnlosigkeit führt der Roman selbst anhand der Person des Kaisers eindrücklich vor Augen. Doch der Roman überträgt das Drama des Kaisers nicht auf die Menschen und übergeht diese Problematik völlig. Es werden Rebellen gezeigt, die die Menschen von ihren Irrtümern befreien, und verbohrte Haarteppichknüpfer, die irgendwann einsehen müssen, dass es keinen Sinn mehr hat, Haarteppiche zu knüpfen. Das war’s.

Die Überwindung falscher Traditionen und die Entmachtung der Traditionalisten ist aber bestenfalls die halbe Miete. Die Notwendigkeit der Gewinnung von Ordnung und Sinn durch andere, tunlichst wahre Anschauungen, bleibt völlig undiskutiert. Es bleibt deshalb der Eindruck, dass der Autor selbst an keinen Sinn glaubt. Der Leser bleibt deshalb etwas ratlos wie ein desillusionierter Haarteppichknüpfer zurück: Wie geht es denn nun weiter in diesem Universum? Doch dazu sagt der Roman nichts.

Fazit

Andreas Eschbach hat mit den „Haarteppichknüpfern“ ein faszinierendes Universum voller verblüffender Einfälle erschaffen, das geeignet ist, einige wesentliche Themen des menschlichen Daseins zu reflektieren. Leider ist er dabei zu sehr an der Oberfläche geblieben.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Paul Auster: Die New-York-Trilogie – Stadt aus Glas, Schlagschatten, Hinter verschlossenen Türen (1985/86/86)

Paul Auster ist ein Anfänger auf literarischem Gebiet, nicht unbegabt, aber ein Anfänger

Einige Sequenzen sind literarisch gelungen, aber viele sind langweilig und geschmacklos. Es kommen viele Selbstbespiegelungen einer kranken Seele vor, aber keine Ideen zur Heilung und Ordnung der Dinge.

Die Gesamtkomposition ist auch nicht schlüssig. Ständig werden Handlungs- und Denkstränge eröffnet, die dann bis zum Ende nicht wieder aufgegriffen werden. Der Verlauf der Handlung und das Verhalten der Personen ist oft schlecht motiviert. Die sogenannten Doppelbödigkeiten und Überraschungen, die bei Paul Auster gepriesen werden, sind in Wahrheit platte Enttäuschungen: Es wird ein Thema eröffnet, und dann kommt nichts. Man könnte meinen, der Autor habe den Text geschrieben, um seine Leser an der Nase herumzuführen. Als bewusst eingesetzte Technik sind solche Enttäuschungen nicht interpretierbar, denn eine bewusste Enttäuschung wäre explizit und erkennbar erfolgt; die bloße Enttäuschung hätte dann sozusagen der Überraschung und Deutbarkeit Platz gemacht. Dem ist aber nicht so.

Fazit

Paul Austers Werk scheint das eines literarischen Anfängers zu sein, nicht unbegabt, entwicklungsfähig, aber eben noch lange nicht an dem Ziel angelangt, eine literarisch durchgängig gute und zusammenhängende Arbeit abzuliefern. Es ist schade, dass so etwas als literarische Sensation verkauft wird.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. Mai 2007)

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese (2015)

Literarisch Gelungenes inmitten einer billigen Computerspiel-Atmosphäre

Der Roman „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro spielt im England des Frühmittelalters, als die Britannier und Sachsen die Insel gemeinsam bewohnten. Es beginnt mit einem alten Ehepaar, das offenbar an Demenz leidet und deshalb vieles vergessen hat. Mit Mühe klauben sie ihre letzten Erinnerungen zusammen und machen sich auf die Reise zu ihrem Sohn, der sich um sie kümmern soll. Die Begebenheiten rund um das alte Ehepaar sind literarisch anspruchsvoll und teilweise hochsymbolisch. Der Umgang mit der verlorenen Erinnerung bzw. mit wieder auftauchenden, schmerzlichen oder gefährlichen Erinnerungen ist literarisch gut gestaltet. Auch die Symbolik des Fährmanns am Ende der Reise vermag zu überzeugen.

Doch im Vordergrund des Romans steht ein Abenteuer, das literarisch vollkommen anspruchslos erzählt wird. Die Handlung geht voran von Ort zu Ort und von Szene zu Szene wie in einem Dungeons & Dragons Computerspiel. Im Fokus steht immer der Fortgang des Abenteuers. Mal bekommt man neue Hinweise, die zur nächsten Station führen. Mal trifft man neue Gefährten. Mal erhält man nützliche Artefakte. Das alles wird sehr kontextfrei erzählt. Von einem Roman über das englische Frühmittelalter hätte man sich einige Hintergrundinformationen erwartet. Doch ohne jede Erklärung wird unvermittelt von Pikten oder Britanniern erzählt, von verfallenen Römerstraßen oder neu ankommenden Sachsen. Und mit Gawain ist noch ein alter Ritter von König Artus‘ Tafelrunde in die Handlung eingebaut worden. Dessen Aufgabe wird wiederholt als „Queste“ bezeichnet, ein Wort, das es im Deutschen so nur in der Sprache der Computerspiele gibt, wo es achtlos aus dem Englischen übernommen wurde.

Genau diese Atmosphäre des Romans herrscht auch in einem Computerspiel vor, in dem man ein Abenteuer von Szene zu Szene durchspielen muss. Auch dort ist der Fokus vollkommen auf dem Abenteuer. Kontextinformation wird so gut wie keine gegeben, denn ein Computerspiel ist kein Buch. Bekannte literarische Charaktere wie z.B. Gawain werden häufig unpassend, weil ahistorisch und ohne weitere Erklärung, in die Handlung eingebunden. Gawain erinnert streckenweise an Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Und schließlich kippt die Handlung ins Esoterische. Kobolde, Mischwesen und eine eigene Spezies von Menschenfressern kommen vor. Und am Ende ein Drache. Die Kobolde mögen symbolisch sein, die Menschenfresser, das Mischwesen und der Drache sind es nicht.

– – – Spoilerwarnung – – –

Der Kern des Plots ist dieser: Einst hatte der britannische König Artus den Sachsen versprochen, ihre Frauen und Kinder in jedem Fall zu schonen. Doch irgendwann brach er dieses Versprechen und richtete ein Gemetzel unter der sächsischen Zivilbevölkerung an. Damit verriet er auch jene, die dieses Versprechen in seinem Namen verbreitet hatten. Um Britannier und Sachsen zu befrieden, brachte der Zauberer Merlin mithilfe des Atems eines Drachens ein großes Vergessen über das Land. Nicht nur die beiden Alten, sondern alle Menschen in diesem Roman haben mit einer gewissen Vergesslichkeit zu kämpfen. Das Ende des Drachens ist auch das Ende des Vergessens: Die Erinnerung, der lang begrabene Riese, wird wieder erwachen, und mit ihm Rache, Mord und Totschlag.

Fazit

Die literarische Gestaltung eines alten Ehepaares, das an Demenz leidet, wie sie um ihre Erinnerung kämpfen und mit schmerzlichen und gefährlichen Erinnerungen umgehen, ist gut gelungen. Aber das alles ist in ein Abenteuer eingebunden, das nur und ausschließlich als Abenteuer funktioniert, und nicht mehr ist als ein lediglich spannendes Jugendbuch. Karl May hat mehr zu bieten. Das verwundert, da der Autor Kazuo Ishiguro doch 2017 den Literaturnobelpreis bekommen hat.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Julian Nida Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (2020)

Gelungene Werbeschrift in Sachen KI: Digitaler Humanismus statt Silicon-Valley-Ideologie

Dieses Büchlein behandelt in zwanzig kurzen Kapiteln die wesentlichen philosophischen und ethischen Fragestellungen rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Es ist für ein breites Publikum geschrieben und vermeidet deshalb konsequent trockene, abstrakte Ausführungen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Szene aus einem bekannten Hollywood-Film als Aufhänger und macht daran die Problematik und die richtige Antwort auf diese Problematik klar. Dieses Verfahren ist sehr gut gelungen: Der Leser gleitet leicht und unbeschwert von einer bekannten Filmszene in eine niveauvolle Argumentation hinüber, ohne dass es langweilig oder kompliziert würde. Nebenbei lernt man auch einige neue Aspekte der besprochenen Filme kennen, die einem bislang noch gar nicht aufgefallen waren.

Diese Filme sind u.a.: Blade Runner, Matrix, Star Wars, I Robot, Wall-E, Der Rasenmähermann, RoboCop, Ghost in the Shell, Iron Man, Ex Machina, Metropolis. Ganz kurz werden auch einige literarische Werke genannt, die das Thema berühren, so z.B. E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Mary Shelleys Frankenstein oder der Golem von Gustav Meyrink.

Kernthesen

Die Kernthese des Buches ist: Der richtige Umgang mit Künstlicher Intelligenz besteht in einem „Digitalen Humanismus“ und nicht in der aktuellen Ideologie von führenden Protagonisten des kalifornischen Silicon Valley. Diese „Silicon-Valley-Ideologie“ ist durch eine ganze Reihe von philosophischen Irrtümern gekennzeichnet, die typisch amerikanisch sind: Einerseits ein übertriebener Pragmatismus und Machbarkeitsglaube, andererseits ein puritanischer Reinheits- und Erlösungsgedanke: Dieser lädt Technik mit Metaphysik auf, gewissermaßen als Ersatzreligion. Dadurch geraten wesentliche Aspekte des Humanismus unter die Räder, was fatal ist: Der Digitale Humanismus hält dagegen, indem er den klassischen Humanismus auf die Welt der Künstlichen Intelligenz anwendet und die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie aufzeigt.

Der Irrtum der „starken KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich ein Bewusstsein und menschliches Fühlen und Denken entwickeln könnte. Doch das ist auf der Grundlage deterministischer Computer-Systeme nicht möglich. Wer an eine „starke KI“ glaubt, müsste im Umkehrschluss glauben, dass auch der Mensch nur eine Maschine ist. Damit wird aber der Mensch entmenschlicht: Er wird nicht mehr als freies und vernünftiges Wesen betrachtet, dessen Autonomie zu respektieren ist.

Auch der Transhumanismus ist ein fundamentaler Irrtum. Es wird eine klare Absage an die Idee der sogenannten „Emergenz“ erteilt: Man kann auf einer deterministischen, physikalischen Basis keine höhere Schicht einer echten menschlichen Freiheit aufbauen. Der Mensch ist keine Maschine und kann sich nicht zu einer Maschine oder in eine Maschine transformieren. Die dem Transhumanismus zugrunde liegende Psychologie ist narzisstisch und regressiv. Letztlich ist es eine Art von kindischer Flucht vor der Realität, ein quasi-religiöser Eskapismus vor den Beschränkungen der conditio humana.

Der Irrtum der „schwachen KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz zwar kein echtes menschliches Bewusstsein entwickeln, aber doch jede menschliche Regung beliebig gut simulieren kann. Doch erstens sind die heutigen Simulationen immer noch himmelweit von der menschlichen Realität entfernt, und zweitens ist auch eine täuschend echte Simulation nur eine Simulation, und keine Realität.

Die Irrtümer rund um das Delegieren von ethischen Entscheidungen an eine Künstliche Intelligenz sind vielfältig: Zunächst sind nicht alle Parameter bekannt, die eine ethische Situation bestimmen, was das Berechnen einer ethischen Entscheidung erheblich erschwert. Eine Berechnung der Zukunft ist zudem aus Gründen der Komplexität nicht möglich. Hinzu kommt das ethische Verrechnungsverbot: Man kann z.B. nicht einfach ein Menschenleben gegen ein anderes verrechnen. Die „separateness of persons“ (John Rawls) muss beachtet werden. Auch Kants Kategorischer Imperativ taugt nicht als absolutes Kriterium. Eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten kann ebenfalls nicht zu einer allgemeinen Ethik erhoben werden. Schließlich gibt es das liberale Paradoxon, das der Philosoph Amartya Sen entdeckt hat: Es ist unumgänglich, ein Stück ökonomische Optimierung zu opfern, um echte, menschliche Freiheit zu gewinnen.

Es gibt einen Grund, warum die Normen des demokratischen Rechtsstaates nicht konsequentialistisch formuliert sind (auf Folgen hin), sondern deontologisch (nach Pflichten).

Die Autoren verweisen auch auf ethische Fehlanreize, die entstehen können, wenn immer mehr Akteure eines Geschehens (z.B. im Straßenverkehr) nach den völlig gleichen ethischen Maximen handeln. Es könnte z.B. dazu kommen, dass Autos bewusst unsicher konstruiert werden, damit im Falle eines Unfalls die Gegenseite lieber ein anderes Auto als das eigene rammt.

Nebenthesen

Die Autoren wenden sich gegen die postmoderne These, dass es keine Wahrheit gäbe und diese beliebig konstruiert werden könnte. Wer das nicht auseinanderhalten könne, habe eine Psychose.

In der Kommunikation geht es nicht ohne Wahrhaftigkeit, denn Kommunikation ist nur in vertrauensvollen Beziehungen sinnvoll möglich.

Die Idee der Liquid Democracy, also einer Art Computer-Demokratie, in der alle Bürger jede Einzelfrage direkt per Knopfdruck entscheiden, ist aus prinzipiellen Gründen nicht realisierbar. Dem stehen u.a. das Condorcet-Paradoxon und das Arrow-Theorem entgegen.

Ein Grundeinkommen ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, auch wenn es „sozial“ klingt. Zudem lehrt die Erfahrung mit historischen Innovationen, dass die Arbeit nicht ausgeht, sie wird nur anders organisiert.

Der Mensch sollte eine breite, humanistische Bildung haben: Dazu gehört u.a. auch „Orientierungswissen“ und eine Persönlichkeitsbildung, die auf einer Entwicklung beruht, sowie – in einer Gesellschaft, die zusammenhalten soll – ein Bildungskanon. Bloße Vielwisserei und Fachwissen sind völlig unzureichend.

Kritik

Durch den Werbecharakter dieses Büchleins ist manches philosophische Argument vielleicht doch etwas zu oberflächlich geraten. Insbesondere zur „schwachen KI“ wird immer wieder derselbe Fehler begangen, nämlich davon auszugehen, dass KI weit davon entfernt sei, menschliches Verhalten zu simulieren. Doch das ist zumindest teilweise falsch. Spätestens mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, wo es nicht mehr ganz so einfach ist, die Maschine vom Menschen zu unterscheiden.

Ethische Argumente, die fehlen, sind z.B. diese: Ein Algorithmus kann zwar nicht autonom entscheiden wie ein Mensch, aber er kann sehr viel schneller entscheiden. In einer zeitkritischen Situation wie z.B. einem Verkehrsunfall, kann das einen Unterschied zum Vorteil der KI ausmachen.

Undiskutiert bleibt auch der Mangel an Bildung bei vielen Menschen: Viele Menschen treffen ethische Entscheidungen auf einem Niveau, das unter einem gebildeten Gesichtspunkt recht dürftig ist, und das von einer KI leicht übertroffen werden könnte. Das will zwar nicht viel heißen, aber doch ist es so. Ein Algorithmus muss in ethischen Dingen nicht in jedem Fall schlechter sein als ein Mensch. Ein Argument gegen die Autonomie des Menschen darf das natürlich nicht sein. Es geht nur um die Frage, ob eine algorithmische Ethik wirklich immer schlechter ist als die real existierende menschliche Ethik.

Das Büchlein geht meistens von deterministischen Algorithmen aus. In diesem Sinne ist eine KI ein so hochkomplexer Algorithmus, dass zwar nicht sicher vorhersehbar ist, wie sich die KI entscheiden wird, obwohl es natürlich doch vorherbestimmt ist. Das lässt jedoch die Möglichkeit eines neuronalen Netzes außer acht, dem kein Algorithmus zugrunde liegt.

Nur an wenigen Stellen wird auf neuronale Netze eingegangen. Das Hauptargument lautet: Der Name der neuronalen Netze würde täuschen, denn heutige neuronale Netze seien weit von der Komplexität und der Plastizität des menschlichen Gehirns entfernt. Ungesagt bleibt dabei, dass heutige neuronale Netze, die auf deterministischen Maschinen laufen, damit natürlich auch selbst wiederum deterministisch sind. – Das ist allerdings kein prinzipielles Gegenargument, denn was noch nicht ist, kann noch werden. Man müsste neuronale Netze also tatsächlich dem vegetativen Nervengeflecht des Gehirns nachbilden, um sie den Menschen ähnlich zu machen. Die Autoren vergessen diesen Punkt, vermutlich, weil die Technik davon noch weit entfernt ist.

Die Autoren steuern aber an anderer Stelle zusätzliche Argumente zu diesem Thema bei: Eine menschenähnliche KI könnte niemals durch das übliche „Training“ eines neuronalen Netzes erschaffen werden. Eine menschenähnliche KI müsste wie ein Mensch eine Kindheit haben, eine Familie, und über viele Jahre hinweg aufwachsen, um zu einem Menschen zu werden, bis hin zur humanistischen Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung. Dann hätte der Mensch sich tatsächlich selbst nachgebildet.

Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob es nicht einfacher wäre, ein echtes Kind zu zeugen und aufzuziehen? Und es würde sich die Frage stellen, ob es ethisch vertretbar wäre, eine solche umfassend gebildete, echt freie und menschliche Künstliche Intelligenz dann wie eine Maschine für sklavische Arbeit einzusetzen.

Höhere Kritik

Es erhebt sich noch ein letztes prinzipielles Problem, auf das die Autoren nur an einer einzigen Stelle kurz eingehen, nämlich das Problem, dass ja nicht nur der Computer, sondern auch die Physik insgesamt deterministisch ist. Die Physik kann zusätzlich auch noch probabilistisch sein, also zufälliges Verhalten zeigen. Aber die Physik kennt keine autonome, freie Entscheidung eines menschlichen Willens, genauso wenig wie ein deterministischer Computer. Wenn der menschliche Geist, egal ob als natürliches Gehirn oder als gut nachgebildetes neuronales Netzwerk, allein auf dieser Physik aufbauen würde, könnte er nicht frei sein.

Unter diesem Gesichtspunkt kann die menschliche Autonomie nur durch Metaphysik gerettet werden, nämlich durch die Postulierung eines menschlichen Geistes jenseits aller Physik, der sich in den scheinbar probabilistischen Phänomenen der Physik zum Ausdruck bringt. Dazu schreiben die Autoren nur, dass der Umstand, dass mentale Zustände durch Gehirnzustände realisiert werden, nicht heiße, dass sie von diesen verursacht werden (S. 39). Das Bewusstsein kann durch physikalische Prozesse nicht erklärt werden (Qualia-Argument). Das ist zu knapp. Dieses Thema hätte man ausführlicher behandeln müssen.

Die Schwachheit des Arguments

Natürlich ist eine solche metaphysische Dimension des menschlichen Geistes nicht beweisbar. Man kann sie nur postulieren. Weil sonst der Mensch kein Mensch mehr wäre, sondern nur eine komplizierte biologische Maschine. Weil sonst Bewusstsein, Freiheit, Rationalität und Personalität nur Illusionen wären, aber keine Realitäten. Weil damit der Humanismus gescheitert wäre, und die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit gesiegt hätte: Dann hätten die Materialisten und Zyniker und die Anhänger der Silicon-Valley-Ideologie Recht. Allerdings würde ihnen das nichts nützen. Denn dann wäre alles sinnlos geworden.

An diesem dünnen, seidenen Faden hängt der Humanismus. Man kann nur ex negativo zu seinen Gunsten argumentieren, und das ist ein schwaches Argument. Das Problem ist nicht neu. Friedrich der Große formulierte das Problem z.B. so:

Sinnlos ist eins, das andre unerklärlich,
Zwei Klippen starren, beide gleich gefährlich.
Da gilt die Wahl: Sinnloses gibt es schwerlich;
Drum wend’ ich selber mich zum Dunkeln hin
Und überlasse euch den Widersinn.

Ein erneuter Angriff auf den Humanismus

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz treibt dieses altbekannte Problem nun erneut auf seine Spitze. Natürlich ist der Humanismus das einzig Vernünftige, aber die Unterscheidungslinie zwischen Mensch und Maschine wird durch KI immer feiner und feiner gezogen. Es ist möglich, dass viele Menschen aus Denkfaulheit und falschem Pragmatismus keinen Unterschied mehr machen werden.

Es ist so, wie damals beim Aufkommen des Darwinismus: Ein oberflächliches und vulgäres Verständnis des Darwinismus führte zu Phänomenen wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Eugenik, Euthanasie und Rassenlehren, aber auch Kollektivismus und der Glaube an gesellschaftlich notwendige Entwicklungen, denen der Einzelne notfalls geopfert werden darf. Und so wie der Mensch damals zum Affen reduziert wurde, so wird der Mensch heute auf eine Maschine reduziert. Der Digitale Humanismus warnt genau vor solchen Fehlentwicklungen.

Kritik am Rande

Der Charakter einer leicht geschriebenen Werbeschrift führt dazu, dass manche Themen sich wiederholen. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Teilweise bauen sie aufeinander auf, ohne dass dies durch die Kapitelstruktur deutlich würde. Manchmal wurde ein Nebenthema in ein Kapitel mit „hineingestopft“, das man besser separat behandelt hätte.

Was das ethische Verrechnungsverbot anbelangt, wurde vergessen, dass es sehr wohl Situationen gibt, in denen eine gewisse Verrechnung erlaubt und auch geboten ist. Julian Nida-Rümelin hat dies selbst im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen formuliert: Es ist nicht zulässig, eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen, nur um womöglich ein einzelnes Menschenleben zu retten. Ethische Dilemmata werden aber erwähnt.

In einigen Punkten folgen die Autoren linken Blütenträumen: Die Abkehr von der Atomenergie wird immer noch als richtige und wichtige Zukunftsentscheidung gefeiert. Es wird die irrige These vertreten, dass der Einzelne kein eigenes Auto mehr bräuchte, wenn es autonom fahrende Taxen gäbe. Wikipedia würde angeblich von „einem strengen Ethos epistemischer Rationalität getragen“. Und ein Gegenmittel zu den Fehlinformationen im Internet seien traditionelle, redaktionelle Medien – wobei Julian Nida-Rümelin ungesagt lässt, dass die traditionellen, redaktionellen Medien sich in einer schweren Vertrauenskrise befinden.

Fazit

Eine gelungene Werbeschrift für einen Digitalen Humanismus als Antwort auf die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie, die sich gut liest und leicht verständlich ist. Das Schlusskapitel geht dann noch einmal alle lessons learned im Schweinsgalopp durch. Wer es systematischer, tiefer und theoretischer möchte, muss zu einem anderen Buch greifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

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