Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde
Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.
Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.
Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.
Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.
Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.
Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.
Bewertung: 5 von 5 Sternen.
(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)
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