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Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Marica Bodrožić: Sterne erben, Sterne färben – Meine Ankunft in Wörtern (2007)

Verwandelt zu neuem Leben in einer neuen Heimat – der deutschen Sprache

Marica Bodrozic hat erneut ein Sprachkunstwerk aus tiefem inneren Empfinden geschrieben. Hauptthema ist diesmal ihr Übergang von der jugoslawischen Sprache ihrer Kindheit hin zur Verinnerlichung der deutschen Sprache als ihrer neuen sprachlichen Heimat. Im Hintergrund steht dabei erneut stets die Grundlegung ihres Lebens in ihrer Kindheit, die sie in Dalmatien mit ihrem Großvater verbrachte, während ihre Eltern in Deutschland lebten.

Wohl selten wurde der Übergang von einer in eine andere Sprache so innig und subtil dargestellt. Herausgekommen ist dabei ganz nebenbei auch eine sehr glaubwürdige Liebeserklärung an die deutsche Sprache, wie man sie in unseren Tagen lange suchen muss. Ist doch die deutsche Sprache in Deutschland kein allgemein akzeptiertes Kulturgut mehr, in Zeiten, da selbst die Deutsche Bank um des lieben Geldes willen damit begonnen hat, auch noch die 3. und 4. Generation von türkischen Migranten (darf man sie noch so nennen?) in türkischer Sprache zu bedienen.

Die Einblicke, die Marica Bodrozic dabei in ihr Innenleben gewährt, sind teilweise sehr intim und in einer Bildersprache wiedergebeben, deren Dechiffrierung man als Außenstehender oft nur erahnen kann. An einigen Stellen fragt man sich als Leser, ob man das überhaupt erfahren sollte oder gar lesen darf, was die Autorin an Gedanken preisgibt.

Es erinnert ein wenig an Kafka, der seine Werke ja nicht für ein Publikum schrieb, sondern in ihnen seine seelischen Zustände wiederspiegelte und verarbeitete, nur für sich. Wie wir bei Kafka Einblick in ein Innenleben nehmen, der vom Autor gar nicht beabsichtigt war, so kommt es einem manchmal auch bei Marica Bodrozic vor.

Wer eine freie und phantasievolle aber einsame Kindheit hatte, die irgendwann einmal mit der „Realität“ zusammenstieß, wird ihr Empfinden gut nachvollziehen können, und auch bei sich selbst so manche Erinnerung, die halb vergessen war, wieder aufleben sehen. Ebenso erklärt sich das Bedürfnis der Autorin, ihr Erleben schriftstellerisch zu verarbeiten. Dies sollte nun zum Nutzen der deutschen Literatur auch gut gelungen sein, und man wartet gespannt auf ihr nächstes Werk, in dem die bekannten Topoi nun ganz verwandelt wiederkehren müssen und von allen Fesseln der Vergangenheit befreit auch völlig neue Wege beschritten werden können.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 10. Juni 2007)

Andreas Mäckler (Hrsg.): Schwarzbuch Wikipedia – Mobbing, Diffamierung und Falschinformation in der Online-Enzyklopädie und was jetzt dagegen getan werden muss (2020)

Der Wikipedia-Sumpf – Es fehlen diese grundsätzlichen Lösungsvorschläge

Dieses Buch versammelt eine ganze Reihe von namentlich gezeichneten Erfahrungsberichten, Recherchen und Interviews rund um das problematische Internet-Lexikon Wikipedia. Wer selbst schon bemerkt hat, dass Wikipedia seltsam einseitig ist, und wer vor allem selbst einmal versucht hat, bei Wikipedia mitzuarbeiten, oder gar Opfer von Falschinformationen in der Wikipedia wurde, wird dieses Buch als ein Trostbuch lesen können, denn man sieht, dass man seine leidvollen Erfahrung mit vielen anderen teilt, und manche sind noch weit schlimmer betroffen als man selbst.

Das Grundproblem der Wikipedia ist, dass es von einem einseitigen Meinungsmilieu beherrscht wird. Man könnte dieses Meinungsmilieu als links-grün beschreiben: Gesellschaftspolitisch ticken diese Leute links, sie sind EU-euphorisch während ihnen die eigene Nation nichts bedeutet, sie sind für radikalen Klimaschutz und schrankenlose Migration, aber zugleich sind sie auch bellizistisch für die NATO eingestellt. Eben genau wie die Grünen. Und die Grünen liegen ganz im Trend des Zeitgeistes. Gerade bei intellektuellen Charakteren, die bei Wikipedia mitmachen. In Wikipedia spiegelt sich also ganz einfach der links-grüne Zeitgeist. Wenn der Zeitgeist sich verändern würde, würde sich Wikipedia automatisch mitverändern. Das würde aber die Probleme nicht lösen.

Problematisch an diesem Buch ist, dass viele der Beiträger selbst einem recht „einseitigen“ Milieu angehören. Da sind z.B. Homöopathie-Anhänger, die auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit pochen und mit Recht eine unwissenschaftliche Wissenschaftsgläubigkeit des Wikipedia-Meinungsmilieus anprangern, aber dann ertappt man sie dabei, wie sie in der Corona-Krise einfachste epidemiologische Zusammenhänge nicht begreifen und die Erwartungshaltungen plumper Wutbürger bedienen. Oder sie beklagen, dass ein Homöopathie-Blogger dabei erwischt wurde, von der Homöopathie-Industrie bezahlt worden zu sein – woraufhin seine Finanzierung futsch war und er Suizid beging. So verständlich die Klage über den Suizid und die menschenverachtende Häme auch ist, so wird doch leider auch deutlich, dass diese Homöopathen kein hinreichendes Verständnis für die Richtigkeit und Wichtigkeit der Aufdeckung des Sachverhaltes haben. Eine andere Gruppe sind die NATO-Kritiker und Anti-Amerikaner, die oft auch Verschwörungstheorien zu 9/11 verbreiten. Was sie zu NATO und USA behaupten ist oft genauso leicht und schnell widerlegt wie ihre Verschwörungstheorien zu 9/11. Außerdem fragt man sich, was denn ihre Alternative zu USA und NATO ist. Etwa Russland?! Ein anderer Beiträger hat eine Internetseite für Männerrechte, auf der u.a. beklagt wird, dass der Mann nicht mehr das diktatorisch bestimmenden Oberhaupt der Familie ist. Gleich auf der ersten Seite begegnet einem ein Zitat des Sektenführers der Ahmadiyya-Muslime. Ein weiterer Beiträger ist ein jüdischer Einzelgänger, der den Islam pauschal verurteilt, statt zu differenzieren, und der zur Wahl der rechtsradikal gewordenen AfD aufruft. Seine berufliche Vita ist recht „bewegt“ und auf seiner Seite über jüdisches Leben bietet er sich als privater Kreditvermittler an: Nanu? Dann ist da noch eine libertäre Zeitschrift, die keine Hemmungen hat, sich mit durchgeknallten Politikern der rechtsradikal gewordenen AfD zu zeigen. Und schließlich ist noch ein Genetiker zu nennen, dessen Vererbungslehre gefährlich holzschnittartig anmutet, und der behauptet, dass Thilo Sarrazin angeblich mehr von ihm übernommen hätte, als Thilo Sarrazin zugeben will. Ironischerweise behauptet das linksgrüne Meinungsmilieu von Wikipedia genau dasselbe, worüber dieser Genetiker doch eigentlich froh sein sollte. Doch beide liegen falsch: Der eine will sich zu Unrecht mit dem Erfolg von Thilo Sarrazin schmücken, die anderen wollen Thilo Sarrazin zu Unrecht in die Nähe holzschnittartiger Thesen rücken.

Natürlich haben auch diese Leute ein Recht auf faire Behandlung und auf eine Erwähnung ihrer Minderheitsmeinungen in der Wikipedia, sofern sie nicht radikal sind. Und im Grunde ist das Wikipedia-Meinungsmilieu keinen Deut besser. Ob halbseiden „rechts“ oder halbseiden „links“, das gibt sich nicht viel.

Allerdings ist die Klage über das Wikipedia-Meinungsmilieu bei aller berechtigten Kritik teilweise überzogen. Viele der beklagten Wikipedia-Artikel stellen sich beim Nachschlagen dann doch als weniger schlimm heraus (einige sind aber wirklich schlimm). Und selbst in diesem Schwarzbuch sind zwei bis drei Geschichten enthalten, bei denen Wikipedia sich am Ende doch noch verbessert hat. Diverse Verschwörungstheorien, dass Wikipedia von bestimmten Interessengruppen unterwandert wäre, oder dass Wikipedia selbst eine solche Unterwanderung zulassen und fördern würde, können nur auf Einzelfälle verweisen, die z.T. von Wikipedia selbstkritisch aufgearbeitet wurden, und sind deshalb aufs Ganze gesehen nicht überzeugend. Dass es vor allem der Zeitgeist ist, der zur Einseitigkeit von Wikipedia führt, scheinen viele nicht glauben zu können. Der gesunde Menschenverstand weiß natürlich, dass es organisierte Versuche der Beeinflussung geben muss, aber die Macht über die Leitmedien scheint am Ende immer noch wichtiger zu sein als Wikipedia, weshalb sich machtvolle Einflussversuche wohl eher dort finden lassen als bei Wikipedia. Denn wenn man den Zeitgeist über die Leitmedien beeinflussen kann, hat man Wikipedia automatisch mitbeeinflusst.

Am Ende sind die Beiträger zu diesem Buch nicht besser als das Wikipedia-Meinungsmilieu, nur „andersrum“. Doch das zu begreifen, reicht ihre Intellektualität oft nicht aus.

Man sieht es an den Verbesserungsvorschlägen: Jeder Beiträger macht in kurzen Absätzen diesen oder jenen Verbesserungsvorschlag. Das ist nichts halbes und nichts ganzes. Sehr oft wird die komplette Aufhebung der Anonymität der Wikipedianer gefordert. Manche wollen zurück in die gute alte Zeit der Brockhaus-Lexika. Was aber notwendig wäre, wäre sich über die Niederungen des eigenen kleinen Meinungshorizontes zu erheben und grundsätzliche Analysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren, die jenseits der einzelnen Meinung stehen, die Rationalität auf philosophischem Niveau diskutieren, und die die demokratische Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen.

Solche grundsätzlichen Analysen und Lösungsvorschläge wären z.B.:

(x) Das Meinungsmilieu von Wikipedia singt – zurecht – das Hohelied des demokratischen Rechtsstaates, aber Wikipedia selbst entzieht sich der Regelung durch eben diesen demokratischen Rechtsstaat. Das ist ein eklatanter Selbstwiderspruch. Wikipedia muss ebenso effektiv verklagt werden können, wie jede Zeitung und jeder Verlag auch. Ob Wikipedia dazu eine Kollektivverantwortung übernimmt, oder ob zu diesem Zweck Anonymitäten einzelner Wikipedianer ganz oder teilweise aufgehoben werden, ist eine ganz andere Frage. Aber die Hoheit des Rechtsstaates ist herzustellen. Punktum. Der politische Wille aller Demokraten sollte sich dieses Ziel setzen. Es sollte auch das Ziel aller Wikipedianer sein. Alles andere wäre unglaubwürdig.

(x) Wikipedia fordert den sogenannten „neutralen“ Standpunkt. Also genau einen einzigen Standpunkt. Philosophisch betrachtet ist ein solcher für Menschen jedoch nicht zu erreichen. Wir alle nähern uns immer nur an die Wahrheit an, und zwar von verschiedenen Seiten. Und auch „die Wissenschaft“ hat gerade bei komplexen Fragestellungen keine einheitliche Meinung. Praktisch führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während er alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabwürdigt oder als unwürdig ausblendet. Die Abfassung von Lexikonartikeln vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers aus, der genau eine Meinung darlegt, hat zwar lexikographische Tradition, ist aber rational betrachtet Unsinn. Und eigentlich liegt dem Meinungsmilieu von Wikipedia doch sehr viel an Rationalität. – Besonders schön kann man diese Problematik bei der Wissenschaft sehen, die ja eben keinen „Mund der Wahrheit“ kennt, wie etwa die katholische Kirche mit Papst und Konzilien. In der Wissenschaft sind Minderheitsmeinungen nicht nur legitim sondern geradezu notwendig. Wo es zu komplexen Fragestellungen nur noch eine einzige Meinung gibt, dort ist die Wissenschaft meistens „verbogen“, z.B. durch politischen Einfluss. Wikipedia spielt sich genau als dieser „Mund der Wahrheit“ der Wissenschaft auf, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das ist sehr unglaubwürdig. Wikipedia sollte also dringend auf einen anderen Standpunkt wechseln, der dann auch wirklich neutral ist, nämlich auf den Standpunkt eines neutralen Beschreibers der Gesamtwirklichkeit, der die ganze Wirklichkeit beschreibt, dass es also zu einem Thema zunächst unstrittige Aussagen gibt, dann eine Mehrheitsmeinung, und dann Minderheitsmeinungen. Die unstrittigen Aussagen kommen zuerst und ganz groß, dann die Mehrheitsmeinung ebenfalls groß, und schließlich Minderheitsmeinungen, nur klein und hinten. Aber sie werden eben doch dargestellt. Und zwar ohne dass sie herabgewürdigt werden. Und der Leser des Artikels bekommt nicht vorgeschrieben, was er nun glauben soll. In der Demokratie machen wir es übrigens genauso: Wer bei Wahlen unterliegt, darf trotzdem im Parlament sitzen, nur eben mit weniger Sitzen und weniger Zugang zu Geld und Mikrofonen. Alles andere wäre totalitär. Wikipedianer berufen sich gerne auf ihre Rationalität und ihre demokratische Gesinnung. Die sollten sie in dieser Frage zeigen, wenn sie es ernst meinen. Alles andere ist rational nicht darstellbar. Außen vor ist nur radikal Falsches und politischer Radikalismus.

(x) Wikipedia braucht dringend Konkurrenz, denn Wettbewerb spornt am besten zu Verbesserungen an. Eine solche Konkurrenz könnte eigentlich nur durch die weltweite Wissenschaftsgemeinde aufgebaut werden. Nur sie hat die Kompetenz und auch die Manpower. Ziel wäre ein von Fachwissenschaftlern aufgebautes, populärwissenschaftliches (nicht: wissenschaftliches!) Universallexikon, das nach Art klassischer Lexika mit namentlich verfassten und betreuten Artikeln arbeitet. Dazu müssten die Staaten der Welt ihren Wissenschaftlern Budget zu Verfügung stellen, und es müsste je Sprache ein Stab gegründet werden, der die Arbeit koordiniert. Das alte Prinzip der gedruckten Lexika würde endlich wieder eine Finanzierung haben und ins Internet gehoben werden. Damit würden sich zwei Wikipedias, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, gegenüberstehen. Auf der einen Seite die Intelligenz namentlich zeichnender Wissenschaftler, auf der anderen Seite die zeitgeistige Schwarmintelligenz der anonymen Masse. Das wäre ein durchführbarer Plan, der von allen Demokraten politisch gewollt sein sollte, um die Pluralität und Qualität der zur Verfügung stehenden Information in der demokratischen Gesellschaft zu sichern und zu steigern. Also sollten auch alle Wikipedianer das wollen. Was jedoch nicht funktioniert, ist der Versuch, eine zweite Wikipedia nach gleichen oder ähnlichen Prinzipien aufzubauen.

(x) Es gibt auch rein praktische Vorschläge zur Verbesserung der real existierenden Wikipedia. Zum Beispiel bessere Anleitungen, wie man unter bestimmten Umständen vorgeht, oder Beschwerde-Buttons und -Formulare an Artikeln, um kritische Inhalte schnell und einfach melden zu können. – Insbesondere könnte eine schnellere und direkt anrufbare Schiedsgerichtsbarkeit bzw. schnell herbeirufbare Moderatoren, die sich auch wirklich als solche verstehen, sehr viel helfen. Heute läuft es ja so: Es gibt Streit im Diskussionsforum und einen Edit-War, aber lange taucht kein Admin auf, und wenn dann doch ein Admin auftaucht, ergreift er kurzerhand Partei für eine Seite, und bedroht die andere Seite mit Sperrung, wenn sie nicht still ist. Ganz schlechter Stil. Evtl. sollte Wikipedia solche Moderatoren sogar professionell anstellen. Sie sollen nur moderieren, nicht schreiben. Ebenso könnte man professionelle Schiedsrichter, die geschult sind und selbst nicht schreiben, anstellen.

(x) Wikipedia sollte sich Gedanken darüber machen, die Mitarbeiter philosophisch zu schulen, in dem Sinne, dass sie in die Lage kommen, zu erkennen, dass der Zeitgeist nur der Zeitgeist ist, um sich über den Zeitgeist erheben zu können. Und dass die Fiktion eines einzigen realisierbaren neutralen Standpunktes zutiefst irrational und unphilosophisch ist. Und dass nichtradikale Minderheitsmeinungen auch das Recht haben, dargestellt zu werden, ohne dass sie herabgewürdigt werden. Wikipedianer müssten eben weise werden. Das ist natürlich viel verlangt, aber zumindest das Ziel sollte formuliert werden, um das Problem zu kennzeichnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Im Idealfall würde eine Mitarbeit bei Wikipedia den Menschen demütiger und weiser machen, statt wie heute seine niederen Instinkte zu wecken.

Fazit

Bei allen Defiziten ist es trotzdem gut, dass dieses Buch erschienen ist. Es bietet zumindest eine Grundlage und einen Anfang, um sich der Probleme bewusst zu werden. Damit fängt alles an.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juni 2020)

Julia Voss: Darwins Jim Knopf (2009)

Michael Endes Jim Knopf als positive „Bannung“ und Umprogrammierung negativer Mythen und Bilder

Der deutsche Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende (1929-1995) begann seine Karriere 1960/62 mit dem zweibändigen Werk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, das zu einem Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur wurde. Lange Zeit galt das Werk als ein gelungenes Erzeugnis der freien Phantasie des Autors. Doch 2009 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss eine Untersuchung, derzufolge Michael Ende mit den Motiven dieses Jugendbuches Motive des Nationalsozialismus aufgriff, um sie durch eine alternative Bilderwelt zu überschreiben und umzuprogrammieren, mithin also positiv zu „bannen“.

Der schwarze Junge und Held des Buches Jim Knopf entspricht dem realen Jemmy Button, dem Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle begegnete: Damit ist das Thema des Darwinismus gesetzt. Die Drachenwelt Kummerland, zu der keine Halbdrachen Zugang haben, entspricht der Welt des Nationalsozialismus, die auf Reinrassigkeit wert legte. Der autoritäre Lehrerdrache Frau Malzahn verwandelt sich später in einen Drachen der Weisheit und des Glücks. Und schließlich führt die Reise von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer in eine versunkene Stadt, die am Ende der Geschichte aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht. Dabei entpuppt sich die kleine Insel Lummerland, die Heimat von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, als die höchste Bergesspitze eines versunkenen Kontinentes. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker herbei, um in trauter Eintracht in dem neuen Land zu leben. Der Name „Atlantis“ wird bei Michael Ende zwar nicht explizit genannt, doch ist das Motiv unverkennbar. Ähnlich wie in Thomas Manns Joseph und seine Brüder ist Atlantis bei Michael Ende nicht der Ursprungsort einer „reinen“ Rasse, sondern im Gegenteil ein Ort, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben. Ähnlich wie bei Thomas Mann ist bei Michael Ende nicht etwa die Vernichtung des Bösen, sondern die Erneuerung und Verwandlung des Bösen zum Guten das Ziel: Der Drache Mahlzahn verwandelt sich in einen Drachen der Weisheit und des Glücks, und das versunkene Atlantis taucht wieder auf.

Woher Michael Ende die Idee hatte, dass es eine Verbindung zwischen Atlantis und Nationalsozialismus gab, ist unbekannt. Die Schulszene mit dem Lehrerdrachen Frau Mahlzahn lässt vermuten, dass Michael Ende seine persönlichen negativen Eindrücke über den Nationalsozialismus hauptsächlich in der Schule gewonnen hatte. Einzelne Lehrer können ihre Schüler mit dem Thema Atlantis traktiert haben, obwohl dies nicht der offiziellen Parteilinie entsprach. Eine wichtige Rolle der Schule vermutet auch Julia Voss, allerdings verengt auf den Biologieunterricht. Vielleicht würde man fündig, wenn man statt des Biologie- den Geschichts- oder Geographieunterricht in den Blick nehmen und statt nach offiziellen Lehrplänen nach den konkreten Lehrern des Schülers Michael Ende fragen würde?

Fehler

Leider sind Julia Voss einige typische Irrtümer unterlaufen, die im Zusammenhang mit dem Thema Atlantis und Nationalsozialismus im Umlauf sind, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. So schreibt sie z.B.: „Atlantis, der alte Mythos, den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umkodiert hatten. … … … Mit dem Nationalsozialismus war die Wahnvorstellung massentauglich geworden. … … … … fand … der Atlantis-Mythos seinen größten Umschlagplatz in der Kinder- und Jugendbuchliteratur.“

Natürlich spielte Atlantis im Nationalsozialismus keine Rolle, erst recht keine öffentliche Rolle, und Julia Voss kann natürlich keine „unzähligen Kinderbücher“ vorweisen, in denen das Atlantisthema im Nationalsozialismus verarbeitet worden wäre. Das einzige Beispiel, das Julia Voss vorweist, ist die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis. Das ist aber erstens kein Kinderbuch, und zweitens ist diese Serie keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ganz im Gegenteil: Unter Einfluss der Nationalsozialisten musste eine der beiden Hauptfiguren der Serie – ein Schwarzer – erst künstlich aus der Serie entfernt werden, wie Julia Voss selbst beschreibt. Schließlich ist Sun Koh eine Phantasiegeschichte, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wegen Sun Koh hat im Nationalsozialismus gewiss niemand an Atlantis geglaubt, geschweige denn vermutet, dass Atlantis etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben könnte. Im Gegenteil hat Sun Koh dazu beigetragen, dass Atlantis als ein literarischer Topos für phantasievolle Groschenromane und nicht als ein realer Ort wahrgenommen wurde.

Dass die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis nicht als Ausdruck eines engen Verhältnisses von Nationalsozialismus und Atlantis gesehen werden kann, wird auch daran deutlich, dass es seit 1941 eine US-Comicserie gab, die eine ganz ähnliche Thematik hatte und ein ganz ähnliches look and feel aufwies: Aquaman. Aquaman ist ein moderner Mensch, der sich unter Wasser bewegen kann und dessen Mutter von Atlantis stammt. Die bevorzugten Gegner von Aquaman während des Zweiten Weltkrieges waren nationalsozialistische U-Boote: Hier waren Atlantis und Nationalsozialismus also Gegensätze. Aquaman ist bis heute eine feste Größe in der US-amerikanischen Popkultur. Im Jahr 2018 erschien der Kinofilm Aquaman, der Kinostart in Deutschland war am 20. Dezember 2018.

Auch bei den möglichen Ursachen der angeblichen Atlantisbegeisterung der Nationalsozialisten folgt Julia Voss den klassischen Irrtümern: Theosophen und Ariosophen werden als Quellen dieser Idee genannt. Doch Julia Voss weiß weder etwas von Gleizès und Richard Wagner, noch vom Artamanenbund.

Diese populären Irrtümer schmälern natürlich in keiner Weise die großartige Entdeckung von Julia Voss, dass Michael Endes Jim Knopf der Versuch einer systematischen Umprogrammierung vermeintlicher oder echter Motive des Nationalsozialismus war.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung als Unterkapitel in Thorwald C. Franke: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis, 2016)

PS 28.02.2024

Am 22. Februar 2024 ging die Schreckensmeldung durch die Presse: Nun ist auch Michael Endes Jim Knopf im Sinne des Wokismus sprachlich und bildlich „bereinigt“ worden. Das Wort „Neger“ wird vermieden und als angeblich rassistisches „N-Wort“ geschmäht, und auch das schöne Wort „Mandelaugen“ fiel dem Rassismusvorwurf zum Opfer. Die bekannten Grafiken wurden retuschiert, z.B. um die „schwarzen“ Eigenschaften von Jim Knopf weicher zu zeichnen.

Der Vorgang ist an sich schon grotesk, aber im Falle von Michael Endes Jim Knopf zeigt sich die ganze Lächerlichkeit des Wokismus mit besonderer Deutlichkeit: Denn eine zentrale Technik in den Werken Michael Endes ist die positive „Bannung“ von Vorurteilen und Stereotypen, indem diese positiv gewendet und „umprogrammiert“ werden, wie oben beschrieben. Der Effekt dieser positiven Bannung geht nun jedoch teilweise verloren, denn umprogrammieren kann man nur das, was man auch offen und unverblümt darstellt!

Durchgeführt wurde die Säuberungsaktion vom Verlag Thienemann, in Abstimmung mit den Erben Michael Endes. Der ganze Vorgang ist an Dummheit und Unverschämtheit kaum zu überbieten. Es handelt sich um nichts anderes als um einen Anschlag auf einen sehr wertvollen Teil unserer deutschen Kultur. Denn wo sonst finden wir einen so konstruktiven und aufbauenden Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Jan Assmann: Weisheit und Mysterium – Das Bild der Griechen von Ägypten (1999)

Ein schönes, kenntnisreiches Büchlein – Anwendungsfall Atlantis

Dieses Büchlein überrascht zunächst durch seine Aufmachung: Obwohl ein Taschenbuch, hat es ein edles Cover mit Goldprägung. – Im Inneren erwarten einen dann kenntnisreiche Ausführungen von Assmann zum Beziehungsverhältnis zwischen Griechenland und Ägypten. Dabei pflegt Assmann seinen bekannt angenehmen Plauderton, der den Stoff gefällig präsentiert. Leider fallen dabei ein paar harte Fragen unter den Tisch, wie z.B. die Diskussion, ob wirklich alle griechischen Ägyptenreisenden auch tatsächlich in Ägypten waren.

Auch Platons Atlantis-Erzählung wird kurz angesprochen, um die Beziehungen der Griechen zu Ägypten zu verdeutlichen. Allerdings lässt Assmann zu Platons Atlantis viele Fragen offen und verfolgt so manchen Gedankenfaden nicht weiter. Wer in diesem Punkt wissen möchte, was man aus dem Wissen in Assmanns Büchlein in bezug auf Platons Atlantis machen kann, sei verwiesen auf: Franke: „Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis“. – Empfehlung!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Januar 2007)

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom (1954) – Teil 3 der Trilogie des Scheiterns

Erdenschwere Auseinandersetzung um Täter, Schuld, Söhne, Bewältigung

Der dritte Roman „Der Tod in Rom“ aus der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen befasst sich mit weiteren Gruppen von Deutschen: Den Tätern, den willigen Mitläufern, deren Söhnen und deren Bewältigungsstrategien, aber auch mit Opfern. Im ersten Roman ging es noch um die kleinen Leute, im zweiten Roman um die Politiker und Journalisten des Wiederaufbaus.

Im Zentrum des Romans steht die Familie Pfaffrath-Judejahn, deren Teile sich durch Zufall alle in Rom aufhalten und dort treffen. Wieder laufen verschiedene Handlungsfäden nebeneinander her, bis sie sich immer mehr berühren und verstricken.

Judejahn, der alte NS-General, arbeitet inzwischen für ein arabisches Regime, für das er als Waffenhändler mit Diplomatenpass, Limousine und Chauffer in Rom ist. Im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wurde er in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Judejahn ist der uneinsichtige Nazi, ignorant, befehlsgewohnt, aber auch alt geworden und leidet daran, dass er nicht mehr befehlen kann. Psychologisch wird immer wieder auf den infantilen kleinen Gottlieb angespielt, der in dem General steckt. Literarisch werden ihm die Symbole von Tod und Teufel zugeordnet.

Friedrich Wilhelm Pfaffrath war vor dem Krieg Oberpräsident, als der er dem Dirigenten Kürenberg die Scheidung von seiner jüdischen Frau aus der Kaufhausfamilie Aufhäuser nahegelegt hatte. Kürenberg lehnte ab und emigrierte. Heute ist Pfaffrath demokratisch gewählter Bürgermeister. Er sieht die Verbrechen der Nazis als „Fehler“, meint aber, man könne danach weitermachen wie bisher, wiederaufbauen, evtl. sogar einen weiteren Krieg zum Ausgleich führen.

Seine Frau ist die Schwester von Eva, der Ehefrau Judejahns. Eva ist NS-gläubig und versteht die Welt nicht mehr. Sie wollen sich mit Judejahn treffen, zum ersten Mal nach dem Krieg, und über eine mögliche Rückkehr Judejahns beraten, dem Pfaffrath einen Beamtenposten verschaffen möchte.

Dietrich Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrath, und ein Karrierist. Er bemisst alles und alle nur danach, ob es ihm auf dem Karriereweg nützen kann. Friedrich Wilhelm und Dietrich Pfaffrath sind eigentlich die zwei Charaktere, die den Leser am meisten verzweifeln lassen, denn sie sind zwar definitiv keine Nazis, aber eben doch willige Mitläufer, Karrieristen, deren Ideologie das Mitmachen und das Erfolghaben ist. Die Plage aller Zeiten.

Siegfried Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrat und hat sich komplett von der Familie losgesagt. Als Kind hat er mitbekommen, wie sein Vater Kürenberg die Scheidung von Ilse Aufhäuser nahelegte, wie das Kaufhaus Aufhäuser brannte, und später stöberte er in der geplünderten Bibliothek der Aufhäusers. Siegfried war auf einer NS-Ordensschule, ist Komponist geworden, und zu einem Musikkongress in Rom, auf dem Kürenberg seine Symphonie aufführen wird, ein Stück voller Verzweiflung und Zerstückung des Geistes. Siegfried Pfaffrath ist zum Päderasten geworden. Ein Menschenleben in dieser Welt zu zeugen ist ihm ein Greuel.

Adolf Judejahn ist der Sohn von Judejahn, der Priester wurde. Er war zusammen mit Siegfried auf einer NS-Ordensschule, und liefert sich im Laufe des Romans zwei hochinteressante Gespräche um die Verstrickung und um das Entkommen daraus, welches Handeln Sinn hat, und wie es weitergehen soll. Beide sind ratlos und wissen um die Brüchigkeit der rationalen Legitimation ihres Weges. Sie fragen sich, ob sie es sich nicht zu einfach machen usw.

Die Klimax des Romans ist mehrfach: Alles trifft sich im Konzert zur Aufführung der Symphonie von Siegfried. Danach trifft sich alles in den Künstlerräumen hinter der Bühne. Dann trifft sich alles in einer Schwulenbar. Zum Schluss erschießt Judejahn Ilse Kürenberg, und stirbt an einem Schlag.

Kritik

Wolfgang Koeppen malt auch hier zu schwarz. Für ihn ist die ganze Geschichte eine Orgie von Macht und Sinnlosigkeit. Ganz so verdorben ist die Menschheit dann doch nicht. Außerdem gerät Koeppen durch diese Sicht in Gefahr, das Besondere der NS-Verbrechen zu relativieren. Würde Koeppen seine Verzweiflung über die Menschheit konsequent zu Ende denken, würde er beim Pfaffrathschen Denken herauskommen: Fehler sind geschehen, aber nichts besonderes, und jetzt muss wieder aufgebaut werden – das ist eben zu einfach gedacht.

Koeppen beobachtet vieles richtig, repräsentiert aber dennoch eine extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus. Dies wird auch deutlich an seiner für ihn selbst fragwürdigen Vision einer Nation ohne jedes nationale Pathos. Lösungen bietet dieses Buch gar keine. Nur Zweifel und Verzweiflung.

Für einen Menschen wie Koeppen, der in einem Interview mit Marcel Reich-Rarnicki angab, doch lieber an Gott zu glauben, und sich auch sonst versöhnlicher zeigte, ist das eigentlich erstaunlich. Vielleicht ist es mit seinen Büchern wie mit seinem Interview: Erst auf Nachfrage relativiert und präzisiert Koeppen eine anfänglich allzu harte, allzu einseitige Aussage. Ein Buch lässt sich leider nicht befragen.

An einer Stelle blitzt kurz doch so etwas wie die Idee eines anderen, besseren Weges auf. Dort nämlich, wo ausgerechnet Friedrich Wilhelm Pfaffrath an eine Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückdenkt, an seine Jugend, wo er einen besseren Weg ging, den er aber verließ (S. 562, als Judejahn aus der Schwulenbar wieder herauskommt).

Zusammenfassung

Wolfgang Koeppen thematisiert die Uneinsichtigkeit der Täter und ihr Davonkommen ohne Urteil, und wie sie nach dem Krieg in Luxus leben. Dann die Fortsetzung ihrer Schlechtigkeit in der nächsten Generation. Die hilflosen Versuche der Nachgeborenen, sich von ihren Täterfamilien zu lösen, und ihre Zweifel, ob es gelingt und welchen Sinn ihr Dasein hat.

Noch mehr als sonst in der „Trilogie des Scheiterns“ malt Koeppen schwarz, was nur als extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus gedeutet werden kann. Man nimmt es dem guten Koeppen nicht ganz ab.

Literarisch ist das Buch wieder besser gelungen als der zweite Roman, es gibt wieder mehr gelungene überraschende Effekte und Übergänge von einer Szene zur nächsten, aber es reicht nicht an den ersten Roman heran.

Nebenbei

Der Roman klappert alle bekannten touristischen Orte Roms ab, und verknüpft so die Fragen von Schuld und Bewältigung mit einem Sehnsuchtsort der Deutschen. Der Name „Judejahn“ ist wohl eine Anspielung auf den General Guderian, dessen Namen berlinerisch ausgesprochen „Judejahn“ nahe kommt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2018)

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)

Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist – Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann (2018)

Schwärmerisch-merkwürdige Auffrischung des Altgriechischen: Con passione!

Der Inhalt dieses Büchleins ließe sich kurz dadurch beschreiben, dass darin all jene Ratschläge, Eselsbrücken, Weisheiten, Anekdoten und Zusatzinformationen zusammengestellt wurden, die ein Altgriechischlehrer seinen Schülern im Verlaufe des Altgriechischunterrichtes über den bloßen Lehrstoff hinaus vermittelt. Es ist ein lockeres Revue-Passieren der altgriechischen Literatur, Sprachlehre und Grammatik. Wer einmal Altgriechisch gelernt hatte, wird darin eine willkommene, lockere Auffrischung seines Wissens finden. Wer noch nie Altgriechisch gelernt hat, wird mit diesem Büchlein wenig anfangen können. Dem sei besser „The Greek Way“ von Edith Hamilton empfohlen.

Das Buch hat einen großartigen Ansatz, aber leider ist die Umsetzung etwas problematisch. Die Autorin, die sich übrigens selbst als „merkwürdig“ bezeichnet, schwärmt leidenschaftlich vom Altgriechischen und hat über ihrer Schwärmerei die Genauigkeit vergessen. Vieles wird nicht völlig korrekt dargestellt. Meistens meint die Autorin zwar das richtige (so hofft man wenigstens!), sie formuliert aber schräg und schief und trifft den Punkt nicht. Auf diese Weise wird das Büchlein für den kundigen Leser auch zu einer kleinen Denksportaufgabe, was der Auffrischung des Stoffes nur gut tun kann – unfreiwillig.

Teilweise verliert sich die Autorin trotz gegenteiliger Beteuerung doch etwas zu sehr in trockener Grammatik, und versäumt, den Sinn dahinter in den Vordergrund zu stellen. Manches Thema wurde nicht behandelt, obwohl es sich angeboten hätte, so z.B. das Verhältnis von Philosophie und Altgriechisch, oder die Fähigkeit des Altgriechischen durch Verkettung von Worten neue Worte zu bilden. Und dort, wo es richtig spannend wird, nämlich in der Frage, wie das Altgriechische die Schüler für immer verändert, ist die Autorin viel zu kurz angebunden.

Eine gewisse Oberflächlichkeit ist leider nicht zu verkennen. Sie fand sich auch in einer Podiumsdiskussion mit der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse am 13.10.2018 wieder. Dort wurde u.a. davon gesprochen, dass die Welt der griechischen Stadtstaaten durch ihre sprachliche Identität zusammengehalten wurde, und dass dies ein Modell für Europa sein könnte. Der Vergleich ist aber höchst schief, denn Europa ist keine Sprachgemeinschaft. Man könnte eher einen Vergleich zu den angelsächsischen Staaten ziehen. Schiefheiten und Oberflächlichkeiten von dieser Art erwarten den Leser in diesem Buch.

Man muss der Autorin allerdings zugute halten, dass sie mit ihrem unbeholfenen Büchlein und vielleicht mehr noch durch ihre sympathische Person etwas geschafft hat, was Anerkennung verdient: Sie hat positive Aufmerksamkeit auf das Erlernen der alten Sprachen gelenkt. Es soll inzwischen beachtliche 500.000 verkaufte Exemplare weltweit geben! Deshalb bekommt dieses Büchlein einen Punkt mehr, als es eigentlich verdient hätte. Die Autorin ist eben in einem positiven Sinne merkwürdig, wie sie selbst sagt. Nehmen wir sie und ihr Buch so, wie sie sind – con passione – und freuen wir uns über die Aufmerksamkeit, die die Autorin erregen konnte. Denn auch das ist eine Kunst.

Atlantis:

An zwei Stellen bindet Andrea Marcolongo das Thema Atlantis ein. Auf S. 45 gibt sie als Ursachen für den Wandel der griechischen Sprache in den dunklen Jahrhunderten Eroberungen, Migration und gesellschaftlichen Wandel an, und stellt ihren Leser dann die rhetorische Frage, ob sie etwa an Naturkatastrophen oder gar Atlantis geglaubt hatten? Auf S. 237 spricht sie über dieselbe Epoche der dunklen Jahrhunderte, über die es „zahlreiche trostlose Legenden“ über „Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis“ gäbe, die „den Untergang ganzer Inseln und Völkerschaften bewirkt haben sollen“. Eine unmissverständliche Anspielung auf Atlantis!

Die Autorin lässt damit offen, wie sie zum Thema Atlantis steht. Sie behandelt das Thema mit einem Augenzwinkern. Die anfänglich Atlantis-skeptische erscheinende rhetorische Frage bleibt ohne klare Antwort, und wird durch den späteren Verweis auf die Legenden über Atlantis konterkariert. Aber es sind eben nur Legenden. Die Autorin spielt mit dem Thema Atlantis, ohne sich zu entscheiden. Das muss sie auch nicht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. November 2018)

Dennis E. Taylor: Ich bin viele (2016)

Konsequente Auserzählung einer alten Idee

Der Roman „Ich bin viele“ („We are Legion“) von Dennis E. Taylor ist die erzählerische Ausführung einer alten Idee, nämlich der Besiedelung des Weltraums nicht durch Menschen, sondern durch selbstreplizierende Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Um genau zu sein, wird die Künstliche Intelligenz in diesem Fall auf den Gehirnscan eines echten Menschen zurückgeführt, und diesen Menschen begleiten wir von seinen letzten Lebenstagen über seinen Tod, sein Erwachen als „Replikanten“ und dem Start seiner Sonde von der Erde bis zur Besiedelung des Weltraumes.

Der Roman entfaltet das Thema in Gänze:

  • Erforschung fremder Planetensysteme.
  • Abbau von Rohstoffen und Bau weiterer Sonden mit derselben Künstlichen Intelligenz, die zu weiteren Sternensystemen aufbrechen, um dort wieder Rohstoffe abzubauen und weitere Sonden zu bauen usw.
  • Kampf mit gegnerischen Sonden, die von anderen Staaten ins Weltall geschickt wurden.
  • Entdeckung von primitiven außerirdischen Völkern, die man in der Rolle eines Gottes zur Zivilisation führt.
  • Entdeckung von entwickelten außerirdischen Völkern, die unbekannte und bedrohliche Technologien entwickelt haben.
  • Rettung der Menschheit von der Erde nach einem Atomkrieg und deren Umsiedelung in ein anderes Planetensystem.

Der besondere Charme des Buches liegt in dem Charakter des Protagonisten, Bob, der als Künstliche Intelligenz weiterlebt. Es handelt sich um einen Weltraum-Nerd mit Unternehmergeist, der jede Situation mit Optimismus und einem besonderen Humor meistert. Da jede weitere Kopie von Bob wieder Bob ist, erzählt der Roman die Geschichte aus immer mehr Perspektiven nahtlos weiter, wie wenn jede Kopie immer dieselbe Person wäre.

Bob hat sich in seinem Computer eine virtuelle Welt erschaffen, in der er wieder wie ein Mensch mit Körper und Gefühlen leben kann. Interessant auch das Zusammenspiel der verschiedenen Bobs: Obwohl sie alle Kopien voneinander sind, entwickelt jede Kopie einen anderen Charakter durch Akzentuierung bestimmter Charakterzüge. Jeder neue Bob wählt sich zudem einen charakteristischen Namen. Auf diese Weise lernt sich Bob noch einmal besser selbst kennen.

Immer wieder geht es auch um politische Spielchen und wie lästig diese sind: Seien es die politischen Querelen der verbliebenen Menschen um die besten Plätze in den Aussiedlungssonden, oder seien es die politischen Friktionen unter den Ältesten einer primitiven Zivilisation, die darüber debattieren, ob sie den Weisungen des „großen Baab“, also von Bob, folgen sollen. Es wird dabei keinerlei Verständnis für den guten Sinn von politischen Aushandlungsprozessen geweckt, sondern im Gegenteil darauf abgezielt, die angebliche Unnötigkeit und Schlechtigkeit von Politik zu „entlarven“, angesichts der praktischen Intelligenz von Bob, der am Ende immer Recht hat.

Die zur Anwendung kommende Technologie wird nur recht oberflächlich beschrieben. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Handlung, nicht auf den Hintergründen. Manche beschriebene Technologie dürfte auch utopisch sein. Aber damit wird es nicht übertrieben, so dass es hinreichend glaubwürdig bleibt.

Der Schwerpunkt auf der praktischen Handlung lässt das Buch auch philosophisch recht schwach sein. Philosophische und moralische Probleme werden zwar kurz angerissen, aber dann beiseite geschoben. So denkt Bob z.B. kurz darüber nach, ob er darüber traurig sein sollte, dass der originale Mensch Bob tot ist und er selbst nur eine Maschine, deren Künstliche Intelligenz auf dem Gehirnscan von Bob beruht. Der „Replikant“ Bob ist also gar nicht Bob. Es würde sich auch die Frage stellen, ob Bob als Maschine wirklich genauso wie der Mensch Bob funktionieren kann, und ob die Maschine Bob überhaupt einen freien Willen und ein Bewusstsein haben kann (wie sollte das technisch realisiert sein?), und nicht nur eine Simulation davon. Aber so tief denkt dieses Buch nicht, denn Bob fühlt sich pudelwohl, ist voller Tatendrang und fängt einfach an zu handeln!

An einer Stelle heißt es: „Ich bin Humanist. Ich glaube nicht an das Jenseits.“ (S. 20) Damit folgt das Buch der begrifflichen Vereinnahmung des Humanismus durch Atheismus bzw. Materialismus. Auch das ist philosophisch schwach, um nicht zu sagen: Völlig falsch.

Fazit: Gut erzählter Pageturner, gute und konsequente Ausführung der Grundidee, aber politisch und philosophisch bedauerlich flach.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

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