Schlagwort: 1 von 5 Sternen (Seite 1 von 2)

Charles Brokaw: The Atlantis Code (2009)

Flacher Indiana-Jones-Verschnitt mit unglaubwürdigem Bibel-Atlantis

Der „Atlantis Code“ von Charles Brokaw ist ein sehr flacher Thriller. Im Mittelpunkt steht nicht die archäologische Schnitzeljagd, sondern die Jagd zwischen „Guten“ und „Bösen“. Die Guten gewinnen natürlich immer, und die Bösen sind richtig böse.

Die Atlantishypothese, die sich Brokaw zurechtgelegt hat, überzeugt nicht nur nicht, sie ist völlig unglaubwürdig. Im Kern hat Brokaw das Paradies der Bibel nach Atlantis verlegt, das er bei Cadiz in Spanien um 10000 v.Chr. lokalisiert. Auch der Turmbau zu Babel fand in Atlantis statt. Die Atlanter hatten von einem vor Jesus auftretenden Sohn Gottes ein machtvolles Buch bekommen, das sie missbrauchten. Am Ende wird dieses Buch tatsächlich gefunden, und der „gute“ Papst schließt es für immer weg. Soweit so schlecht.

Einziger Lichtblick ist die Tatsache, dass Brokaw auch die Atlantisthese von Leo Frobenius einfließen ließ, derzufolge das Volk der Yoruba Nachfahren von Atlantis sind. Das reißt es aber nicht raus.

Nebenbei schläft die Hauptperson – offenbar ein Indiana-Jones-Verschnitt – mal mit dieser, mal mit jener Begleiterin, und ein Zickenkrieg bricht aus. Muss man nicht haben.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2015, auf Englisch)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Michael Köhlmeier: Wenn ich Wir sage (2019)

Kein gebildeter Essay sondern irrationale Orgie des utopischen linken Zeitgeistes

Zu Anfang gewinnt der Leser den Eindruck eines wunderbar gebildeten Essays: Köhlmeier kreist mit spielerischer Leichtigkeit um die beiden Geistesgrößen Ralph Waldo Emerson und Montaigne, und macht sich angenehm eigenwillige und durchaus originelle Gedanken zu Platon, Homer, Thomas Mann und Isaiah Berlin. Alles beginnt mit der Einsicht, dass auch in engeren Beziehungen wie Familie und Freundschaft nicht nur reine Zuneigung herrscht, sondern oft auch Motive wie z.B. Überlegenheit, Abhängigkeit und Wettkampf eine Rolle spielen.

Doch bereits bei folgenden groben Fehlern und Irrtümern beginnt man zu stutzen: Von Sokrates und den platonischen Dialogen heißt es, Sokrates wisse immer alles schon im Voraus, und seine Dialoge seien angeblich kein fairer Austausch von Argumenten. Sokrates sei doktrinär, und die Platonischen Mythen seien Erfindungen in diesem Sinne. (S. 28, 30) Hat Köhlmeier dieselben Dialoge gelesen wie wir? Hat er noch nie etwas davon gehört, dass manche Dialoge Platons in einer Aporie enden? Bei einem derart zynischen Sokrates- bzw. Platonbild muss man sich fragen, wieviel Köhlmeier von Philosophie verstanden haben kann? – Ärgerlich ist die offenbar wohlwollend gemeinte Erwähnung, dass die Religionsgemeinschaft der Unitarier sich für immer mehr Glaubensrichtungen öffnete, am Ende auch für Atheisten (S. 20). Ärgerlich deshalb, weil dieser Vorgang natürlich nicht bedeutet, dass die Unitarier tolerant geworden wären, sondern einfach nur bedeutet, dass die Unitarier ihre eigenen Überzeugungen aufgegeben haben. Wie naiv muss man sein, um an eine Weltverbrüderung durch die Selbstaufgabe der eigenen Überzeugungen zu glauben? Wie naiv muss man sein, die gegenseitige Tolerierung von gegensätzlichen Weltanschauungen durch deren Verwischung und Selbstaufgabe erreichen zu wollen? Was bei Köhlmeier hingegen fehlt, ist der Gedanke, dass die verschiedenen Weltanschauungen in einem klassisch verstandenen Humanismus (Vernunft, historische Kritik, Wesen des Menschen) eine Brücke zueinander haben könnten. – Dann vergleicht Köhlmeier das Stockholm-Syndrom mit dem Phänomen, dass manche Menschen ihren Daseinszweck in einer Feindbeziehung finden, d.h. ohne ihren Feind würde ihr Leben plötzlich sinnlos (S. 33). Das ist aber etwas ganz anderes als das Stockholm-Syndrom und deshalb ein ziemlich schiefer Vergleich. – Zu dem Umstand, dass Montaigne Latein lernte, fällt Köhlmeier nur ein, dass ihm das damals Türen geöffnet haben mag, auch zu Bibliotheken, und dass der lateinische Wortschatz zum Philosophieren besser geeignet war als das damalige Französisch (S. 56). Aber damit verkennt er den zentralen Wert des Lateinlernens: Die vertikale Horizonterweiterung hinein in die Tiefe der Geschichte! Am Verlauf der Geschichte der antiken Welt kann man viele Einsichten über die Welt der Gegenwart gewinnen. Und natürlich bekommt man einen unverfälschten Zugang zum Denken der antiken Philosophen, fernab von allen modischen Verfälschungen des Denkens der Gegenwart. Für Köhlmeier ist Latein aber offenbar nur ein höchst gegenwärtiges, schnödes Werkzeug, ja sogar ein Status Symbol, ein Türöffner zur Gesellschaft. – Bei Thomas Manns Zauberberg konzentriert sich Köhlmeier ganz auf den Gegensatz von Naphta und Settembrini, während er über Peeperkorn kein Wort verliert (S. 23, 25). Naphta ist für Köhlmeier der Repräsentant des verführerischen Charismas, der Inbegriff des Gefährlichen. Damit hat Köhlmeier den ganzen Roman missverstanden, denn es ist Peeperkorn, der der charismatische, gefährliche Typ ist. Mit Naphta hingegen kann man noch reden, und dies geschieht im Roman auch ausgiebig. Immerhin: Mit diesem völligen Missverstehen von Thomas Manns Zauberberg ist Köhlmeier nicht allein. – Schließlich wird auch die eingangs erwähnte Fragestellung nicht gut aufgelöst: Nur wer von der naiven Idee herkommt, dass das Gute in purer Selbstlosigkeit bestünde, wird von der Erkenntnis erschüttert, dass auch engere Beziehungen nicht nur reine Liebe sind. Köhlmeier leistet aber keine philosophisch akzeptable Lösung des Problems, weil er bei dem naiven Maßstab des selbstlos Guten verharrt, und damit das wahre Wesen des Menschen dauerhaft verkennt, in dem die Brücke zum Mitmenschen paradoxerweise gerade über den Egoismus geschlagen wird. Köhlmeier kommt zwar auf das Mitleid, das diese Brücke schlägt, erkennt aber dessen Bedeutung nicht, sondern sieht darin nur etwas mehr als ein „Minimalprogramm“ von Humanität (S. 38 f.). – Und gleich setzt Köhlmeier einen weiteren, entlarvenden Irrtum oben drauf: Die Aufforderung Jesu, den Nächsten zu lieben „wie sich selbst“, funktioniere noch weniger als das Mitleid, weil es schwierig sei, sich selbst zu lieben (S. 39): Aber nur diese Selbstliebe ist im Mitleid die Brücke zum Mitmenschen! Köhlmeier hat das ganze Konzept der Philosophie vom Mitleid von A bis Z nicht verstanden. Er hat Jesu Aufforderung der Nächstenliebe nicht verstanden. Er hat Platon nicht verstanden. Er hat den Bildungswert von Latein nicht verstanden. Und noch vieles andere hat Köhlmeier nicht verstanden, was zum Grundbestand eines klassisch humanistisch gebildeten Menschen unbedingt dazugehören würde.

Köhlmeiers Überlegungen kulminieren in folgendem Gedanken: Im engeren Kreise, in Familie, Freundschaft und Heimat, gäbe es ein glaubwürdiges „Wir“, auch wenn es bisweilen schwierig sei. Das „Wir“ jedoch, das die Nation repräsentiert, sei grundsätzlich verlogen, mythisch und auf die Zerstörung des Glückes der Menschen aus (S. 75-85). Köhlmeier unterscheidet dabei nicht zwischen normalem Nationalbewusstsein und Nationalismus: Für ihn ist bereits der Patriotismus eine Lüge, und eine Nation könne gar nicht anders, als sich über ihre Feinde zu definieren. Als Kronzeuge dient ihm dazu Isaiah Berlin (S. 71-75).

Hier ist Köhlmeier entschieden zu widersprechen: Auch eine Nation kann ein legitimes und notwendiges „Wir“ sein, das aus einer gemeinsam erlebten Geschichte erwachsen ist. Die Nation ist zudem der einzige Organisationsrahmen, innerhalb dessen sich Demokratie entfalten kann, denn nur die Nation stellt den dafür nötigen Diskursraum sowie die historisch gewachsene Solidarität der Bürger untereinander zur Verfügung. Die Idee Köhlmeiers, dass Heimat „einschließe“, Nation jedoch „ausschließe“, ist irrationaler Blödsinn. Gerade die innige Kultur der Heimat grenzt Neuankömmlinge gnadenlos aus, man denke nur an den Dialekt. Und wenn Köhlmeier meint, wer eine Nation liebe, der könne genauso gut die Verkehrsschilder lieben, die von Nation zu Nation unterschiedlich sind (S. 81), dann ist ihm zu entgegnen: Ja, die Verkehrsschilder gehören auch dazu! Wer über eine Grenze von Nation zu Nation fährt, bemerkt sofort tausend kleine Unterschiede, die zusammen eine ganz andere Atmosphäre erzeugen, die eben typisch ist für die jeweilige Nation. Von den Verkehrsschildern, über die Werbeplakate bis hin zum Zuschnitt von Feldern und Wäldern: Alles zeugt von einem anderen inneren Zusammenhang, der über Jahrhunderte gewachsen ist, seinen ganz eigenen Charme hat, und sich bis in tiefste Tiefen fortsetzt, denn auch Politik, Literatur und Kunst funktionieren in jeder Nation wieder ganz anders.

Man fragt sich auch, wie Köhlmeier z.B. über den Zusammenschluss der Nationen in Europa denkt? Ist Europa für ihn auch nur eine einzige Lüge? Und völlig verrückt, was Köhlmeier dann vom Weltbürgertum sagt: Dieses sei seiner Meinung nach kein „Wir“ (S. 49). Die Menschheit also kein „Wir“? Gibt es wirklich nichts, was uns Menschen als Menschen verbindet, was wir gemeinsam haben, und was uns überhaupt erst zu dem macht, was wir sind, nämlich Menschen? Spätestens hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus. Tatsächlich sieht er sich außerstande, überhaupt irgendetwas Verbindendes anzuerkennen, selbst innerhalb einer Nation. Über den Verschiedenheiten von Religionen, Interessen und Herkunftsländern gäbe es schlicht nichts Verbindendes (S. 82 f.). Da fragt man sich, wie Köhlmeier sich eigentlich die Integration von Zuwanderern vorstellt? Sollten sie nicht wenigstens die Landessprache ihrer neuen Heimat lernen? Was Köhlmeier hier präsentiert, ist die ganze Unmenschlichkeit der Multikulti-Ideologie in ihrer reinsten, gefährlichsten Form.

Zudem hat Köhlmeier Isaiah Berlin falsch gedeutet. Überall kann man nachlesen, dass Isaiah Berlin sehr wohl zwischen Nation und Nationalismus unterschied, auch wenn er den Unterschied an manchen Stellen durch eine ungeschickte Wortwahl verwischte. Dies kann schon durch ein wenig Googlen gefunden werden, also hätte auch Köhlmeier dies wissen können.

Köhlmeier ist nichts anderes als politisch radikal. Seine Vorstellungen sind nicht nur unrealistisch, sondern sie brandmarken auch ganz normale Bürger, die ihr Land, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Kultur lieben, als böse Nationalisten. Genau diese unduldsame Haltung gegenüber völlig normalen Einstellungen ist es, die die Wähler scharenweise von den bisherigen Parteien weg und hin zur rechtsradikalen AfD treibt. Es sind Menschen wie Köhlmeier, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass unsere Demokratie zerfällt. Der Radikalismus der einen Seite füttert den Radikalismus der anderen Seite. Nicht zufällig findet sich in diesem Büchlein mindestens eine bösartige politische Verleumdung. Dem Vorsitzenden einer nicht genannten Partei (offensichtlich Strache von der FPÖ) wird unterstellt, er habe befunden, dass man den Nächsten lieben, den Übernächsten aber hassen solle (S. 82). Doch es ist nicht wahr. So sagte Strache in einem Interview z.B.: „… die Nächstenliebe beginnt ja beim Nächsten, der Familie und der eigenen Bevölkerung, und nicht beim Übernächsten. Und wenn dann noch Geld übrig bleibt, kann man gerne auch andere unterstützen.“ Es gibt genügend sachliche Kritik, die man an der FPÖ und Strache üben könnte, aber es ist definitiv falsch und schlicht unwahr, dass Strache zum „Hass“ auf den „Übernächsten“ aufgerufen hätte. Wer das behauptet, redet selbst voller Hass.

Woher kommt der Hass? Köhlmeier spricht sich zwar für die rationale Kühle der Aufklärung aus (S. 49), ist aber selbst ein ausgesprochener Gefühlsmensch. Damit trägt er einen veritablen Selbstwiderspruch mit sich herum. Dieses ganze Büchlein ist eine Ansammlung von emotionalen Assoziationen, weniger von rationalen Argumentationen. Sich selbst stellt Köhlmeier in diesem Büchlein ausführlich als Musiker dar, und wie Musik auf höchst unrationale aber ihm zugleich höchst erwünschte Weise ein „Wir“ konstitutieren kann (S. 66-69). Sehr nahe an die Irrationalität von Köhlmeier kommt man, wo er einen Gegensatz zwischen Wahrheit und Mensch aufmacht! (S. 30) Auch hier legt Köhlmeier die Axt an die Wurzel des Humanismus: Denn wer die Wahrheit und ihre freimachende Wirkung nicht liebt und diese Wahrheitsliebe nicht als etwas Urmenschliches begreift, sondern die freundliche Lüge bevorzugt, nur weil sich jemand durch die Wahrheit verletzt fühlen könnte, der hat Humanismus und Aufklärung aufgegeben. Angeblich unter Berufung auf Montaigne meint Köhlmeier, man brauche sich weder Platon noch Aristoteles „aufzuladen“, man solle die Welt lieber betasten und sinnlich begreifen (S. 57). Irgendwie fühlt man sich hier an Hitlers „Mein Kampf“ erinnert, wo ebenfalls einer fehlgeleiteten Vorliebe für das Praktische das Wort geredet und Intellektualität verpönt wird.

Köhlmeier zeigt sich nicht etwa als individueller Geist, sondern als ein dem Zeitgeist höriger Mensch. Früher einmal waren Linke noch halbwegs vernünftig. Noch in den 1990er Jahren verkündete Johannes Rau, einer der Altväter der SPD, in Wahlkampfveranstaltungen stolz: „Ich bin ein Patriot!“ Doch heute sind die Linken zum nationalen Selbsthass übergegangen, und verkünden eine Utopie von „no borders no nations – refugees welcome!“ Und Köhlmeier ist da einfach nur ein Kind seiner Zeit, das munter nachplappert.

Halten wir aber zwei Sachen fest, die Köhlmeier richtig gesagt hat:

  • Mitleid ist eine wichtige Basis für Humanität.
  • Romantische Irrationalität ist eine Ursache für Nationalismus.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. Februar 2020)

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders – Eine Schulgeschichte (1980)

Der Sohn eines Nazis – Mörder des Klassischen Humanismus

Die kurze Erzählung „Der Vater eines Mörders“ von Alfred Andersch ist mitsamt ihrem Nachwort zu einer Ikone linksliberaler Kulturkritik, zu einem literarischen Kronzeugentext gegen den klassischen Humanismus geworden. Unter dem klassischen Humanismus, der in der Erzählung immer nur kurz als Humanismus angesprochen wird, sei hier jener Humanismus verstanden, der aus der Beschäftigung mit den Texten und Sprachen der griechisch-römischen Antike entspringt. Er ist die hauptsächliche Grundlage unserer westlichen Kultur.

Zunächst handelt die autobiographische Skizze einfach nur davon, wie der Schulrektor Himmler, der Vater des späteren Reichsführers SS Heinrich Himmler, zwei Schüler in einer Griechisch-Stunde vor versammelter Klasse auf autoritäre Weise demütigt und schließlich des Gymnasiums verweist. Einer davon war Alfred Andersch. Wie die Erzählung zeigt, beschränkt sich der Humanismus von Vater Himmler offenbar darauf, auf der griechischen Grammatik herumzureiten. Andersch nennt ihn eine „alte, abgespielte und verkratzte Sokrates-Platte“, doch das ist schon zuviel gesagt, denn Vater Himmler äußert sich in diesem Buch ausschließlich zu griechischer Grammatik und Lautlehre, mit keinem Wort aber zu den Gedanken des Sokrates. Andersch berichtet, dass es kein Wunder sei, dass sich der Sohn Heinrich Himmler von diesem Vater abgewendet und einer anderen weltanschaulichen Orientierung zugewendet hatte. Am Ende erfährt man, dass Schulrektor Himmler Alfred Andersch vermutlich gerade deshalb von der Schule verwies, weil der Vater von Andersch mit dem abtrünnigen Sohn von Himmler politisch verbunden war.

Soweit könnte diese Erzählung ein hilfreiches Lehrstück über den autoritären Charakter und über Väter und Söhne sein. Doch dabei bleibt das Buch leider nicht stehen. Im Nachwort holt Alfred Andersch zum Schlag gegen den klassischen Humanismus aus, indem er auf die Feststellung, dass Heinrich Himmler „in einer Familie aus altem, humanistisch fein gebildetem Bürgertum“ aufgewachsen ist, die vielzitierte, anklagende Frage folgen lässt:

„Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“

Mit diesen Worten klagt Andersch den Humanismus nicht nur an, kein Schutz vor der Verirrung des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Es ist mehr: Andersch unterstellt auf subtile Weise eine direkte Verbindungslinie vom klassischen Humanismus zum Nationalsozialismus. Dies geschieht auf folgende Weise: Die Feststellung, dass Heinrich Himmler in einem humanistischen Haus aufgewachsen sei, und die anschließende Frage, ob Humanismus denn vor gar nichts schützt, impliziert unausgesprochen, dass Heinrich Himmler ebenfalls ein Humanist gewesen sei, und trotz (oder vielleicht gerade wegen?) seines Humanismus zum Nationalsozialisten wurde. Denn die Frage nach dem Schutz durch den Humanismus stellt sich natürlich nur solange, solange der Mensch sich als Humanist versteht. Diese Passage ist zu einem Kronzeugen geworden für die Anklage an den klassischen Humanismus, dass er gewissermaßen eine Propädeutik des Nationalsozialismus gewesen sei, eine Vorschule für autoritäre Charaktere. Klassischer Humanismus war anscheinend ein guter Nährboden und Wurzelgrund für den Nationalsozialismus, so lautet die Logik.

Diese Passage mit ihrer anklagenden Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ wird von linksliberal verblendeten Menschen wieder und immer wieder zitiert, um gegen den klassischen Humanismus und den altsprachlichen Unterricht zu Felde zu ziehen.

Doch Alfred Andersch betrügt seine Leser mit dieser Passage in mehrfacher Hinsicht. Zum einen fällt es jedem aufmerksamen Leser sofort auf, dass Andersch hier plötzlich von einem „humanistisch fein gebildetem“ Bürgertum spricht – eine Aussage, die auf Vater Himmler, so wie Andersch ihn viele Seiten lang portraitierte, gewiss nicht zutrifft! Heinrich Himmler war also gar nicht der Sohn eines „fein gebildeten“ klassischen Humanisten, sondern der Sohn einer autoritären Persönlichkeit, deren „Humanismus“ sich offenbar in griechischer Grammatik erschöpfte. – Zum anderen ist es in diesem Fall völlig unzulässig, eine direkte Verbindungslinie von Vater zum Sohn zu ziehen, also die humanistische Bildung des Vaterhauses für die nationalsozialistische Verirrung des Sohnes verantwortlich zu machen. Denn wie Andersch selbst schreibt, hatte sich Heinrich Himmler von seinem Vater abgewendet, und damit natürlich auch vom Humanismus, den der Vater – wenn auch schlecht – verkörperte! Heinrich Himmler verstand sich selbst definitiv nicht als klassischen Humanisten, sondern bevorzugte bekanntlich nordische Mythen und inhumane Ideologien. Wie also sollte der Humanismus einen Menschen schützen können, der sich von ihm abgewendet hat?

Was ist das für eine Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ in bezug auf einen Menschen, der gar kein Humanist ist, gar kein Humanist sein will, und gar nicht aus einem „fein gebildeten“ humanistischen Elternhaus stammt? Es ist eine von jenen heimtückischen Anklagen, die einen eingängigen – aber falschen – Zusammenhang konstruieren und über eine Anklage moralisieren und emotionalisieren. Es erfordert viele Worte, um den falschen Zusammenhang sichtbar zu machen, doch wer hört schon geduldig zu, wo die Emotionen hohe Wellen schlagen? Zudem kann sich der Ankläger jederzeit damit herausreden, dass er ja „nur“ eine Frage gestellt habe, ja, dass er damit nirgendwo explizit ausgesprochen hat, dass er eine Verbindungslinie zwischen klassischem Humanismus und Nationalsozialismus sieht. Diese anklagende Frage „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ ist nichts anderes als ein Stück äußerst gelungener Propaganda.

Aber sagt Alfred Andersch in seinem Nachwort nicht auch, dass er nicht wisse, „dass und wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen“? – „Oder ob sie einander gerade nicht bedingen“? Doch das ist nur die Vortäuschung von Objektivität. Denn in Wahrheit hat Andersch bereits durch den Titel der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ die ganze Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass hier doch wohl ein Zusammenhang sein müsse, und ohne diese Frage würde die ganze Erzählung keinen Sinn mehr machen. Die Frage so zu stellen, wie Andersch es mit dieser Erzählung tut, lässt nichts anderes als eine positive Antwort zu. Andersch argumentiert nicht sachlich, er argumentiert überhaupt nicht, er ist einfach nur suggestiv.

Halten wir also fest, dass man keinerlei Schlüsse aus der von Andersch skizzierten Episode über den klassischem Humanismus ziehen kann. Man erfährt nur etwas über das Drama zwischen einem autoritären Vater und seinem Sohn, der vor seinem Vater in eine andere weltanschauliche Orientierung flüchtet – im Falle von Heinrich Himmler leider zum Nationalsozialismus. Aber Alfred Andersch sah das offenbar ganz anders, und seine linksliberalen Leser bis heute auch. Alfred Andersch ist mit seinen unzulässigen Unterstellungen, subtilen Anklagen und suggestiven Fragen gewissermaßen zu einem heimtückischen Mörder des klassischen Humanismus geworden, der doch der Urgrund unserer Kultur ist.

Aber warum hat Alfred Andersch das getan?

Ein Blick in den Text hilft uns weiter. Denn dort ist nicht nur von dem Vater von Heinrich Himmler die Rede, sondern auch noch von einem weiteren Vater – dem Vater von Alfred Andersch! Und dieser Vater ist ein Anhänger von Ludendorff. Ein überzeugter Antisemit. Ein Kamerad von Heinrich Himmler im Reichskriegsflaggenbund. Schon 1920 wurde er Mitglied der NSDAP. Kurz: Im Gegensatz zu Vater Himmler, der konservativ und katholisch war und den Schülern Sowjetsterne und Hakenkreuze gleichermaßen verbot, war der Vater Andersch ein echter Nationalsozialist! Von diesem Vater hat sich der Sohn Alfred Andersch später natürlich nun seinerseits abgewendet. Und nun war es Alfred Andersch, der vor seinem Vater flüchtete – und auch er wählte für seine Flucht bedauerlicherweise eine radikale weltanschauliche Orientierung: 1930 trat Alfred Andersch der KPD bei. Hier sind wir am Kern der Sache: Es entspricht einem typisch unaufgeklärten linken bzw. später linksliberalen Weltbild, der klassischen Bildung eine Mitschuld am Nationalsozialismus zu unterstellen. Alles, was nicht links war, wurde und wird in diesem Sinne unter NS-Verdacht stellte. Das ist die Erklärung, wie es dazu kam, dass der Sohn eines Nazis gewissermaßen zum heimtückischen Mörder am klassischen Humanismus werden konnte.

Aperçu am Rande: Alfred Andersch outet sich hier als begeisterter Leser von Karl May, während der Schulrektor Himmler geäußert haben soll: „Karl May ist Gift!“ Das ist eine interessante Ironie angesichts der Tatsache, dass Karl May, der eine eminent humanistische Botschaft hatte, in linksliberalen Kreisen als NS-verdächtig abgetan wird. Vielleicht stehen so manche Linksliberale dem autoritären Charakter von Schulrektor Himmler näher, als sie glauben. Heute ist die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ eine bei Lehrern beliebte Schullektüre. Ob sie ihren Schülern heute die irrigen Suggestionen von Alfred Andersch einpauken, so wie einst Vater Himmler seinen Schülern die griechische Grammatik? Übrigens legt der Schüler Alfred Andersch in dieser Erzählung eine so überaus erstaunliche Faulheit und Unwissenheit an den Tag, dass man nicht völlig ohne Verständnis für den Zorn des Schulrektors Himmler ihm gegenüber bleiben kann, auch wenn dessen Pädagogik natürlich indiskutabel ist. Doch das nur am Rande.

PS 16.12.2023

Im Jahr 1993 warf W.G. Sebald in einem Artikel der Zeitschrift „Lettre International“ die Frage auf, inwieweit Alfred Andersch sein Leben vor 1945 schön gefärbt und verfälscht hatte. Inzwischen sind zahlreiche Belege aufgetaucht, die diesen Vorwurf stützen. Ohne in die Untiefen dieser Debatte einsteigen zu wollen, sei festgehalten: Es zeigt sich einmal mehr, dass Alfred Andersch kein wahrhaftiger Mensch war. Und das ist der entscheidende Vorwurf.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 2014; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Lea Korte: Die Maurin (2010)

Ein missglücktes Buch, eine verpasste Chance

Der Roman „Die Maurin“ von Lea Korte ist literarisch und inhaltlich verunglückt. Die Charaktere sind eindimensional und meist naiv gut oder böse gezeichnet, ihr Handeln ist häufig spontan und unmotiviert. Der Gang der Erzählung ist vorhersehbar einfach gestrickt. Es nerven zudem die ständigen Wiederholungen: Immer wieder gerät jemand in Gefangenschaft, muss befreit werden, dann folgt eine Fluchtgeschichte, wobei immer jemand schwer verletzt oder schwanger ist, was mithilfe heilender Kräuter wieder ausgebügelt wird. Die Flucht endet häufiger an einem Ort, von dem alle wissen, dass er keinen Schutz bietet, trotzdem bleiben sie dort. Richtig Freude kommt beim Lesen nicht auf.

Völlig daneben ist die Darstellung des damaligen Islams. Bei Korte handelt es sich beinahe um eine Religion im modernen, privatisierten Sinne. Die Protagonistin verstößt praktisch ständig gegen das islamische Gesetz der Scharia, doch wird dies immer nur als ein Verstoß gegen „unsere Gesetze“ dargestellt. Dass es sich dabei um unmittelbare religiöse Weisungen aus Koran und Sunna handelt, deren Bruch wenigstens einen religiösen Gewissenskampf erfordert hätte, wird glatt übergangen. Statt dessen weiß sich die Protagonistin bei ihren Verstößen gegen die Scharia stets einig mit ihrem ganz persönlich verstandenen Gott. Dies lässt zudem den Kollektivismus des damaligen Islams völlig außer acht. Sie betet auch ständig individuelle Gebete, während man vom islamischen Ritualgebet kaum etwas mitbekommt. Auch die damalige Enge der familiären Bindungen unter dem Gesichtspunkt der Ehre wird unglücklich verarbeitet: Dass die Beteiligten eines solchen Systems eine Schere im Kopf haben, die bereits ihre geistige Freiheit beschneidet, bevor an eine persönliche Freiheit auch nur zu denken wäre, erfährt der Leser nicht. Auch von der Kopfsteuer für Juden und Christen ist nichts zu lesen, statt dessen leben Juden und Christen im islamischen Herrschaftsbereich in völliger Gleichberechtigung; es wäre zu schön gewesen.

Völlig unakzeptabel in einem Roman über das islamische Spanien ist jedoch die völlige Ausblendung des Philosophen Averroes und der damit zusammenhängenden geistigen Auseinandersetzung. Averroes hatte in der Blütezeit des Kalifats von Cordoba begonnen, den Islam vor dem Hintergrund der Philosophie des Aristoteles neu zu durchdenken. Dieser Prozess war der Anfang von Aufklärung und Freiheit! Und er begann wirklich im Islam – nicht im Christentum! Im islamischen Raum wurden die Ideen des Averroes bekanntlich schnell wieder verworfen, dafür fielen sie im christlichen Raum auf umso fruchtbareren Boden. Natürlich war Averroes zu der Zeit der Romanhandlung, nämlich dem Niedergang der islamischen Herrschaft in Spanien, schon lange tot. Aber warum zogen denn die Muslime in Spanien gegenüber dem Christentum den Kürzeren? Doch eben deshalb, weil der Islam den Weg der Aufklärung wieder abgebrochen hatte! Weil der Islam damals wieder in fundamentalistische Haltungen zurückgefallen war.

Und das wäre nun wirklich das eine, großartige Thema für diesen Roman über den Niedergang der islamischen Herrschaft in Spanien gewesen, das unmöglich hätte übergangen werden dürfen! Statt dessen bekommt man die platte Unwahrheit aufgetischt, dass folternde und fanatische christliche Könige ein reiches und tolerantes Maurenreich zerstört hätten. Alle aufgeklärten Menschen, ob Muslim, Christ, Jude, Agnostiker oder Atheist, können mit dieser Darstellung nicht einverstanden sein.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. September 2010; die Rezension ist dort inzwischen verschwunden.)

Slavoj Žižek – Blasphemische Gedanken – Islam und Moderne (2015)

Ratlose Beschwörung von linkem Wunschdenken aufgrund falscher Analyse

Slavoj Zizek gibt sich klar als linker Denker zu erkennen, der in der Schreckensherrschaft des Kommunismus und seiner Massen- und Völkermorde lediglich eine „Reaktion“ auf die „Zumutungen“ des liberalen Kapitalismus sieht. Dieser immerwährende Grundirrtum linken Denkens, der die vergleichsweise harmlosen Zumutungen des Kapitalismus (von den segensreichen Seiten des Kapitalismus ganz zu schweigen) als Ursache für die grausamen Taten des Kommunismus ansieht, könnte übergangen werden, wenn Zizek nicht denselben Grundirrtum in bezug auf den Islam beginge. Denn nun ist auch der grausame Islamismus für Zizek nur eine Reaktion auf die „Zumutungen“ des Westens. Für Zizek ist der Islamismus lediglich eine moderne Erscheinung. Dass hier wie beim Kommunismus eine falsche Ideologie bzw. religiöse Tradition dahintersteht, kommt nicht zum Ausdruck. Es ist dasselbe falsche Denken wie bei Peter Scholl-Latour: Wie wenn der islamische Traditionalismus nur deshalb grausam wäre, weil es einst den Kolonialismus gab, und heute die USA. Was für ein Unsinn! Denn die Geschichte der islamischen Grausamkeit reicht weit in die islamische Geschichte zurück.

Falsche Analyse

Zizek sieht die von ihm diagnostizierte liberale Zumutung u.a. darin, dass das westliche Denken von jeder Kultur verlangt, sich einzufügen in den liberalen Universalismus. Doch ist das überhaupt eine Zumutung? Es geht doch lediglich darum, dass die Kulturen falschen Traditionalismus überwinden und dadurch auch in ihrem je eigenen Sinne glaubwürdiger werden. Das Christentum hat durch den Fortschritt der Aufklärung sehr profitiert und zu seinen eigenen Wurzeln zurückgefunden. Die katholische Kirche ist durch das Zweite Vatikanische Konzil nicht unglaubwürdig geworden, im Gegenteil: Die katholische Kirche ist immer noch konservativ – aber sie ist eben (weitgehend) nicht mehr traditionalistisch. Wo soll hier die Zumutung sein?

Das Problem mit dem Islam ist in Wahrheit doch, dass der Islam in einem riesigen Reformstau steckt, der sichtbar wurde, als er mit der westlichen Welt in nähere Berührung kam, wo man seine „Hausaufgaben“ in Sachen Christentum bereits gemacht hatte. Wenigstens den Moment dieser Berührung zweier Gesellschaftssyteme, die unterschiedlich weit entwickelt sind, hat Zizek erkannt, doch er macht nichts aus diesem guten Gedanken. Die aus dieser Berührung entstehende Zumutung ist aber keine Zumutung des Westens, es ist vielmehr die Zumutung des Blicks in den Spiegel, dem sich der Islam stellen muss.

Falsche Alternativen

Es ist erschreckend, dass Zizek nur zwei Auswege nennt: Entweder Selbstaufgabe des Islam und „Unterwerfung“ unter den Westen, oder Rückzug in den Traditionalismus und Kampf bis zum Untergang. Die Möglichkeit, dass der Islam seinen Reformstau aufarbeitet, so wie es das Christentum auch getan hat, und auf diese Weise liberal wird, ohne sich selbst aufzugeben, ist Zizek offenbar nicht in den Sinn gekommen. Es ist das alte Lied: Wer seine eigene Kultur nicht verstanden hat, der kann auch über andere Kulturen nicht richtig urteilen. Für einen Linken wie Zizek ist das Christentum vermutlich ein Rotes Tuch, bei dem nicht weiter differenziert wird. Dass es Reformen gab, wird nicht zur Kenntnis oder nicht ernst genommen, bzw. als eine echte „Reform“ gilt für einen Linken wie Zizek nur die Selbstaufgabe des Religiösen.

Wer eine falsche Analyse hat, kann nur zu falschen Schlüssen kommen. Wie wenn die Aufklärung eine Sache wäre, die nur typisch westlich wäre. Die Aufklärung ist aber ein Vorgang, der grundsätzlich jeder Kultur offen steht. Der Islam hatte hierzu in der Vergangenheit sogar schon Vorarbeit geleistet. Natürlich sind Reformen nicht von heute auf morgen möglich und für den Islam in Europa deshalb keine befriedigende Option, aber Zizek redet hier über den Islam insgesamt und weltweit, und auf dieser Ebene sind Reformen selbstverständlich langfristig der einzige Weg.

Reformdenken ohne Aktivierungsidee

Im weiteren bringt Zizek eine Reihe von theologischen und psychoanalytischen Deutungen vor, wie und warum der Islam sich doch reformieren könnte. An dieser Stelle fragt man sich, warum Zizek die Reform zuvor nicht als Möglichkeit nannte? Hier hat Zizek offenbar einen veritablen Knoten im Hirn.

Jedenfalls sind die folgenden Analysen von Zizek gar nicht so schlecht, doch begeht Zizek auch hier den grundsätzlichen Denkfehler vieler Linker: Die theoretische Möglichkeit zu Reformen ist das eine, die reale Umsetzung derselben ist aber etwas ganz anderes. Und dazu sagt Zizek nichts.

Zizek sagt in diesem ganzen Buch überhaupt nichts dazu, was die westliche Welt denn nun tun soll. Das ganze Buch ist formal in dem typischen Stil linker Theoriebücher gehalten, man vergleiche z.B. „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer / Adorno: Das ganze Buch ist ein einziger langer Schlauch von lose verknüpften Gedanken und Assoziationen, die ohne Punkt und Komma, ohne Kapiteleinteilung und ohne Fazit aufeinander folgen. Selbst wenn alles, was Zizek sagen würde, richtig wäre, wüsste man am Ende des Buches immer noch nicht, was er denn nun eigentlich will. Man hat das Gefühl: Nett, dass wir mal über alles gesprochen haben, aber ratlos sind wir jetzt immer noch. Solche Bücher dienen der Selbstbestätigung von Linken, damit sie sich auf der richtigen Seite wähnen können, auch wenn sie keine Rezepte mehr haben.

Existierende Reformer und Reformgruppen im Islam werden von Zizek mit keinem Wort bedacht. Der vordere Klappentext, der vermutlich vom Verlag und nicht von Zizek stammt, sagt, dass die säkulare Linke die Lösung wäre. Das steht so nicht im Buch. Aber vermutlich meinte Zizek tatsächlich „irgendetwas“ in dieser Richtung. Aber ein Buch über den Islam, das dem Leser die „säkulare Linke“ als „Lösung“ vor den Latz knallt (wie eigentlich genau?), und existierende Reformer nicht einmal nennt – noch nicht einmal, um sie zu ablehnend zu diskutieren – ist höchst fragwürdig.

Für diesen Quark – ja Quark! – die schlechteste Wertung. Bessere Empfehlungen: Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Tom Holland: Im Schatten des Schwertes.

Gefallen haben Gedanken wie:

  • Mit Islam und dem Westen berühren sich zwei Kulturen, die auf einem unterschiedlichen Entwicklungsstand stehen. Leider führt Zizek diesen guten Gedanken nicht weiter aus.
  • Im Islam soll die Geschichte von der nichtstattfindenden Opferung Isaaks durch Abraham so motiviert sein, dass Abraham den Befehl Gottes von Anfang an falsch verstanden habe. Das eröffnet natürlich einen großen Raum dafür, dass auch spätere Interpreten Gott falsch verstehen. Ob die Quellendeutungen von Zizek immer ganz richtig sind, sei allerdings dahingestellt. Das ist ein weiteres Problem mit Zizek. Wunschdenken herrscht manchmal über die Realität der Texte.
  • Ismaels Mutter Hagar wird im Koran nicht genannt, gewissermaßen verdrängt, was für die Psychologie des Islam von Bedeutung sei.
  • Mohammed wurde erst durch seine Ehefrau Chadidscha darin sicher, ein Prophet zu sein. Das ist richtig beobachtet.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2015)

Patrick Tschan: Schmelzwasser (2022)

Ein fürchterlich verunglücktes Buch

Dieser Roman will anhand der Geschichte der Überlinger Buchhändlerin Eleonore Weber (1900-1992), die 1947 ihre überregional bekannte Buchhandlung eröffnete, einen Einblick geben, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 den nationalsozialistischen Ungeist zurückdrängte und in die Zeit von 1968 aufbrach. Doch leider ist dieses Vorhaben gründlich missglückt.

Es beginnt damit, dass der Roman völlig ahistorisch ist. Mit der Anlehnung an die Person von Eleonore Weber wird Historizität angedeutet, doch in Wahrheit ist der Roman fast vollständig frei erfunden. Die historische Person Eleonore Weber wird völlig verfehlt. Warum dann nicht gleich völlig frei erfinden? Nicht einmal als Lokalroman für die Stadt Überlingen taugt das Buch, denn auch die Stadt Überlingen bleibt mit einigen spärlichen Anspielungen seltsam blass. Es geht eher um irgendeine imaginierte deutsche Kleinstadt als um Überlingen. Hinzu kommt die Verfremdung durch Pseudonyme: Eleonore Weber heißt in diesem Roman „Emilie Reber“. Der Name der Stadt bleibt ungenannt. Warum dieses Versteckspiel? Und aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird die „Sozialistische Partei Deutschlands“ (S. 283): Das ist fast schon eine Schändung der Tradition der SPD.

Auch die Handlung ist leider sehr unrealistisch. Man hat das Gefühl, es mit Stehaufmännchen zu tun zu haben. Den Protagonisten gelingt im Grunde immer alles, es sind Tausendsassas ohne Charakter. Und wenn sich die Buchhändlerin Emilie Reber in der Überlinger Stadtgesellschaft unbeliebt gemacht hat, dann ändert sie einfach die Strategie und schon ist sie wieder obenauf – in der Realität würde das nicht so funktionieren. Im Hintergrund steht dabei immer die französische Besatzungsmacht, die Emilie Reber eine besondere Macht über ihre schuldigen Mitmenschen verleiht. Das ist eine sehr unwirkliche Situation (und auch moralisch etwas fragwürdig.) Man könnte versuchen, diese unwirkliche Handlung symbolisch zu lesen. Aber dafür ist das Buch wieder nicht symbolisch genug.

Die Unglaubwürdigkeit setzt sich damit fort, dass die Realität der Nachkriegszeit völlig verfehlt wird. In diesem Buch gibt es auf der einen Seite eine durch und durch schuldig gewordene und eisern schweigende deutsche Gesellschaft, angeführt von einer Reihe alter Nazis, die so alt und so dumpfbackig sind, wie es nur eben geht. Dem gegenüber stehen junge, weibliche, dynamische „Aufklärer“, die die Gesellschaft aufmischen. Eine klare Polarität. So war es aber nicht. Die Schuld am Nationalsozialismus war in der deutschen Gesellschaft sehr ungleich verteilt, dazu gleich mehr. Und so mancher Nazi war jung, clever, elegant und unangenehm anpassungsfähig. Im Roman fehlt z.B. auch die katholische Kirche in Form eines Stadtpfarrers oder der katholischen Jugend völlig. Die Kirche spielte in Baden sowohl im als auch nach dem Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Auch das Handeln der Franzosen als Besatzungsmacht wird an keiner Stelle kritisch hinterfragt. Die Rollen von Gut und Böse sind in diesem Roman so klar verteilt, dass es weh tut. Wer sich für die Nachkriegszeit interessiert, sollte besser „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen. Koeppen hat diese Zeit selbst miterlebt und beschreibt sie sehr realistisch. Auch was die Stimmung anbelangt: Dort findet man viele kleine und große Sorgen der Menschen, serviert mit erstaunlich viel Humor, und von Schuldgefühlen eher keine Spur. „Aufklärer“ sind in der Nachkriegsgesellschaft eines Wolfgang Koeppen völlig überflüssig.

Neben die unrealistische Zeitdiagnose wird eine unrealistische Therapie gesetzt: Dieser Roman glaubt allen Ernstes, den Nationalsozialismus mit „Literatur, Musik, Mode, Frisuren, Aufklärung, Sex“ überwinden zu können, so heißt es wortwörtlich (S. 210). „Aufklärung“ meint dabei Sexualaufklärung, nicht philosophisch-politische Aufklärung. Hannah Arendt oder Thomas Mann werden zwar genannt, aber die Inhalte ihrer Werke bleiben in diesem Roman stumm: Dabei wäre hier viel Gutes zu finden gewesen. Statt dessen treten die „Aufklärer“ des Romans den Rechtsstaat, den sie angeblich aufbauen möchten, mit Füßen, indem sie das Briefgeheimnis wiederholt und systematisch brechen, um Nazis zu bekämpfen. Am Ende wird sogar ein Mord am Obernazi des Romans als finale Erlösungstat angedeutet, denn er wird in seinem Rollstuhl bei Nacht und Nebel hinaus aufs Eis des Bodensees geschoben (und ward danach wohl nie mehr gesehen; das bleibt aber ungesagt).

Es kommt hinzu, dass die „Aufklärung“ der kleinstädtischen Gesellschaft erstaunlich kommerziell verläuft. Die Protagonisten des Romans verkaufen ständig irgendetwas: Sie verkaufen Taschenbücher, Frisuren, Jeans, Beate-Uhse-Kataloge, Musik und Eintrittskarten in die Disko, wo dann wieder Getränke verkauft werden. Auch das große Konzert am Ende des Romans hat einen genau bezeichneten Eintrittspreis, nämlich 5 DM, und die örtlichen Vereine verkaufen Bratwurst und Getränke, wie sorglich vermerkt wird. Und die Protagonisten loben sich gegenseitig mehrfach für ihren Geschäftssinn. Natürlich, nicht selten gehen Fortschritt und Kommerz Hand in Hand. Aber diese Einseitigkeit hat doch ein Gschmäckle.

Was die Schuld der Deutschen anbelangt, wiederholt dieser Roman doch tatsächlich das ewig falsche Mantra, dass jeder von dem kommenden Unheil durch die Nationalsozialisten hätte wissen können und deshalb jeder voll schuldig sei: Jeder Deutsche also ein vollschuldiger Massenmörder (S. 301). Man denke aber nur, wie kurzsichtig und oberflächlich die große Masse der Wähler auch heutzutage politische Fragen beurteilt: Es ist unrealistisch, allzu hohe Forderungen an die Masse der Menschen zu stellen. Zwar gibt es eine gewisse Schuld auch bei den „kleinen“ Leuten, doch sie ist meist klein oder auch gar nicht vorhanden. Die Hauptschuld ist natürlich vor allem bei den „Vorbetern“ der Gesellschaft zu suchen. Abgesehen davon, dass die NSDAP in den letzten Wahlen vor der Machtergreifung nicht 100% sondern 33% erzielte, und selbst nach der Machtergreifung bei ungebremster Propaganda und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur auf 43,9% kam. Die badischen Wahlergebnisse bewegten sich dabei ziemlich genau im Durchschnitt Gesamtdeutschlands. Der Überlinger Lokalhistoriker Oswald Burger, den Patrick Tschan als eine seiner Quellen anführt, urteilt: „Ein Nazinest war Überlingen vor 1933 allerdings eindeutig nicht.“

Zumal sich die Frage stellt, was es denn genau ist, was man vorher über die Verbrechen der Nationalsozialisten hätte im voraus wissen können, vorausgesetzt, man wäre intellektuell wach gewesen. Es sei an Hannah Arendt erinnert, die als verfolgte Jüdin und Intellektuelle am ehesten in der Lage hätte sein sollen, Dinge vorauszusehen. Doch als 1945 die Nachrichten aus den KZs in die Zeitungen kamen, brauchte sie eine gewisse Zeit, um zu begreifen, dass der Holocaust keine alliierte Propaganda sondern Realität war. Wenn Hannah Arendt Schwierigkeiten hatte, die Monstrosität des Nationalsozialismus im nachhinein zu begreifen, wie soll es dann der Otto-Normal-Deutsche im vorhinein hätte sehen können? Die Schuldfrage wird in diesem Roman ganz platt und falsch behandelt, wie wenn alle Deutschen bei einer freien und geheimen Volksabstimmung mit einem willentlichen und wissentlichen „Ja“ explizit für die massenhafte Ermordung von Menschen gestimmt hätten. Das ist grotesk. Die komplexe Realität der Schuldfrage wird von diesem Roman vollkommen verfehlt.

Weiter tischt dieser Roman die uralte Lüge auf, dass der Nationalsozialismus ganz dem jahrhundertealten deutschen Wesen entsprochen habe, das im Nationalsozialismus lediglich zu seiner reinsten Form kulminiert sei. Zitat: „Seit Generationen werden in diesem Land Menschen gedemütigt, gefügig gemacht, abgerichtet. Wie Sie. Weitergegeben von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Wie bei Ihnen. Das ist das Wesen dieses Landes, das Europa zweimal in den Abgrund geführt hat. Millionen und Abermillionen Tote wegen dieser Zucht: demütigen, gehorchen, die nächsten demütigen, zum Kadavergehorsam, zu Maschinen wie Sie erziehen, in den Krieg schicken und so weiter und so weiter.“ (S. 301 f.) „Und dass alle diese Eichmanns in diesem Land das Resultat einer Erziehung zum Kadavergehorsam durch Demütigung und Strafen sind, die seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben worden ist. Er sei genauso eine Ausgeburt deutscher Zucht, die stets gedankenlos den noch Schwächeren tritt.“ (S. 304)

Die Idee, dass das Wesen des Deutschen „seit Jahrhunderten“ in „deutscher Zucht“ zum „Kadavergehorsam“ bestünde, die „stets“ gedankenlos den noch Schwächeren tritt, ist einfach nur Quatsch. Man versuche mal Goethe und Schiller mit dieser Idee im Hinterkopf zu lesen. Oder Immanuel Kant und Friedrich den Großen. Kadavergehorsam gab es in der SS, in der Tat. Aber schon in der Wehrmacht sah es anders aus, und das mitten im Nationalsozialismus. Selbst Wikipedia weiß es besser: „In Wirklichkeit setzt gerade die vom preußischen und deutschen Militär (unter anderem in beiden Weltkriegen) sehr erfolgreich umgesetzte Auftragstaktik das Gegenteil von Kadavergehorsam voraus.“ Der Nationalsozialismus war nur eine Karikatur des wahren deutschen Wesens, wenn überhaupt. Den Nationalsozialismus als höchste Manifestation des deutschen Wesens zu beschreiben, ist ein sehr, sehr radikaler Standpunkt, dessen logische Konsequenz die Auslöschung von allem ist, was deutsch ist. Nur weniger gebildete Menschen vertreten solche Thesen. Gebildete Menschen hingegen hätten nicht nur Goethe und Schiller gelesen, sondern wüssten z.B. auch, dass die Frage nach der Kriegsschuld beim Ersten Weltkrieg, der von Patrick Tschan hier in einem Atemzug mit dem Zweiten Weltkrieg genannt wird, sehr differenziert betrachtet wird. Wer glaubt denn heute noch daran, dass der „verrückte Kaiser Wilhelm“ und die „kadavergehorsamen Deutschen“ die volle und alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg tragen?

Aber damit nicht genug. Dieser Roman schöpft den Brunnen der Peinlichkeit voll aus. Nicht nur das deutsche Wesen, auch Preußen wird klischeehaft in die Pfanne gehauen. Angeblich hätte Preußen nach der Niederschlagung der badischen Revolution von 1849 überall in Baden „Statthalter“ eingesetzt. So z.B. auch den Vorfahren des Roman-Obernazis, der ein Überlinger Landgut erhalten hätte, das zuvor einem Revolutionär gehört hätte. Diese Obernazi-Familie hätte von 1849 durchgehend bis in den Nationalsozialismus hinein Überlingen mit Kadavergehorsam beherrscht (S. 296). Und der alte Obernazi hätte noch in den 1920er Jahren seinen Sohn „nach alter preußischer Schule“ (S. 291) Spießruten laufen lassen. Die „Kaiserzeit“ wird wiederholt negativ genannt.

Auch das ist alles ganz falsch und unhistorisch. Preußen hat gewiss keine „Statthalter“ in Baden eingesetzt, sondern Preußen hatte Baden für ein gutes Jahr komplett militärisch besetzt. Später wurde Baden durch eine dynastische Beziehung des badischen Prinzregenten Friedrich mit der preußischen Prinzessin Luise (ab 1855) an Preußen gebunden. Es gab auch nie ein Spießrutenlaufen „nach alter preußischer Schule“. Das Spießrutenlaufen war im Zeitalter des Absolutismus überall in Europa verbreitet und kein preußisches Spezifikum. Im Gegenteil. Preußen schaffte das Spießrutenlaufen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855. Und der reale Überlinger Obernazi, Kreisleiter Gustav Robert Oexle (1889-1945), war kein preußischer Gutsbesitzer, sondern stammte aus einer Tagelöhnerfamilie. Romanautor Patrick Tschan muss das gewusst haben, denn den Motorradunfall von Zänglers Sohn im Roman und dessen Bestrafung nach 1945 hat er sichtlich dem realen Motoradunfall von Oexles Nachfolger Ernst Bäckert nachempfunden. Zuguterletzt sei an die Autobiographie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki erinnert: Darin kommt Reich-Ranicki immer wieder mit lobenden Worten auf das preußische humanistische Gymnasium zu sprechen. Wer aber nur Patrick Tschans Roman gelesen hat, wird gar nicht verstehen, wie man „Preußen“ und „Humanismus“ in einem Atemzug nennen kann.

Fazit

Für ein Buch des Jahres 2022 hätte man sich wahrlich mehr Gedankenreichtum über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewünscht. Wir wissen inzwischen, dass die Aufarbeitung im Zuge von 1968 so ihre Probleme hatte. Johannes Gross prägte das Wort: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Es ist viel Ungerechtigkeit der damaligen Generation gegenüber geschehen, und es wurde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es musste immer gleich alles, was deutsch oder preußisch ist, dran glauben. Ein Unding! Abgesehen davon, dass es sachlich falsch ist, stellt sich zudem die Frage, wie man mit einer solchen Einstellung jemals wieder ein Land namens Deutschland aufbauen soll? Eine konstruktive Vision für Deutschland und die deutsche Kultur außer Sex und Jeans und Rock’n’Roll findet sich in diesem Roman nicht. Das hätte man von einem Roman aus dem Jahr 2022 aber erwarten können. Das Rad der Geschichte hat sich inzwischen doch deutlich weitergedreht.

Dieser Roman verrät mehr über den Zeitgeist des Jahres 2022 in einem bestimmten linken „juste milieu“ als über die wahren Vorgänge der Nachkriegszeit. Denn dieser Roman tut nichts anderes, als die infantilen Phantasien linker Spätgeborener, die geistig irgendwo in den 1980er Jahren stehen geblieben sind, in die Vergangenheit zu projizieren. Dieser Roman ist schrecklich falsch: Literarisch falsch. Historisch falsch. Politisch falsch. Es ist kein Wunder, dass dieser Roman sich nicht an der historischen Realität orientieren konnte sondern fast alles frei erfinden musste: Denn dieser Roman ist die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie, die mit der Realität nichts zu tun hat. Historizität wird nur vorgetäuscht. Der Roman hätte statt „Schmelzwasser“ auch den Titel „Li-La-Lustiges Nazi-Bashing mit Claudia Roth und Greta Thunberg“ tragen können. In die Tonne damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 07. Oktober 2022)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

Ulrike Guérot: Begräbnis der Aufklärung? – Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit (2020)

Die Engführung des grün-linken Zeitgeistes endet in antidemokratischem Denken

Ulrike Guérot steht fest auf dem Boden des grün-linken Zeitgeistes. Das ist allgemein bekannt, wird aber auch in diesem Büchlein am Rande immer wieder sehr deutlich: Sie träumt von einer Welt ohne Staaten und Grenzen (S. 68), und wünscht sich die Verbindung von Demokratie und Sozialismus (S. 66 f.). Der Kapitalismus ist das Böse. Die „Zivilgesellschaft“, die sie in linken NGOs realisiert sieht, gefällt ihr sehr (S. 31 f.). Der britische Brexit ist ihrer Meinung nach ein Weg in einen neuen Totalitarismus (S. 25). Demokratie ist für Guérot immer „liberale“ Demokratie (S. 28 f.). Dass in einer Demokratie auch konservative Politiker Mehrheiten erringen können, scheint bei ihr eher nicht vorgesehen zu sein. Guérot glaubt, dass z.B. ein Fleischverbot oder ein Verbot der Weihnachtsbeleuchtung sinnvoll und machbar seien, und auch die Abschaltung der Atomkraftwerke nach Fukushima sei problemlos möglich gewesen, meint sie (S. 29, 47).

Last but not least glaubt sie an die „worst case“ Apokalypse des menschengemachten Klimawandels: Sie glaubt fest daran, dass die ganz große Katastrophe in allernächster Zukunft bevorsteht, wenn die Menschheit nicht dramatisch umsteuert (z.B. S. 26). Das nennt sie die „posthume Kondition“ unserer Zeit.

Demokratie sei das Problem

Davon ausgehend stellt Ulrike Guérot die Frage, ob die „liberale“ Demokratie in der Lage ist, die nötigen vernünftigen Entscheidungen zu treffen, um das Überleben der Menschheit angesichts der Klima-Apokalypse zu treffen (S. 28 f.). Die „liberale“ Demokratie ist für sie grundsätzlich nicht dazu in der Lage, Verbote auszusprechen, weil Liberalität für Guérot automatisch Laschheit bedeutet (S. 37). Zudem sind die Bürger der „liberalen“ Demokratie für Guérot eher dekadente Konsumenten als Bürger, die sich zu keinem vernünftigen, moralischen Ziel mehr aufraffen können (S. 37).

Daran knüpft Ulrike Guérot eine ausführliche Demokratiekritik an: Churchills Diktum, dass die Demokratie die am wenigsten schlechte Staatsform ist, stellt sie infrage (S. 50). In Wahrheit wäre unsere Demokratie eine konstitutionelle Oligarchie (S. 30 f.). Die Gesetzgebung in einer Demokratie wäre immer willkürlich, weil das Wahlvolk nicht wirklich handlungsfähig wäre (S. 33). Bis auf Ausnahmen seien demokratische Beschlüsse immer ungerecht und gegen das Gemeinwohl gerichtet (S. 34). Die beiden Lager Links und Rechts würden sich immer gegenseitig blockieren (S. 34). Ein Volk wisse nicht, was gut für es ist (S. 50). – Es sind die altbekannten Halbwahrheiten des antidemokratischen Denkens.

Welche Alternative zur Demokratie schlägt Guérot vor? Losverfahren und Räterepublik werden als Alternativen geprüft und verworfen (S. 35). Guérot wird nicht völlig deutlich, worauf sie hinaus will, und zündet eine Nebelkerze: Sie problematisiert den Begriff „Souveränität“. Angeblich würde Souveränität auf Herrschaft über andere und auf Zwang hinauslaufen. Echte Freiheit gäbe es aber nur ohne das (S. 33 Fußnote 14, S. 67 f.). Hier träumt wieder einmal jemand von einer paradiesischen Staatsform, in der alle in völliger Freiheit friedlich und vernünftig zusammenleben. Guérot hätte gerne eine Welt ohne Staaten und Grenzen, eine „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“. Wie das gehen soll, verrät sie nicht.

Jedenfalls hat Guérot zu ausführlich über das Unvermögen der Demokratie, Verbote auszusprechen, geklagt, um nicht deutlich werden zu lassen, worum es wirklich geht: Nämlich um genau das, was sie angeblich nicht will: Um die Souveränität, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen, Verbote auszusprechen und Zwang gegen Andersdenkende auszuüben. Am Ende träumt sie von einer „(hoffentlich freiwillig hervorgebrachte[n]) Kultur der Selbstbegrenzung“ (S. 68). Mit diesem „hoffentlich freiwillig“ deutet sie erneut an, dass es im Notfall eben auch ohne Freiwilligkeit gehen muss. Ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf Guérots Gesinnung ist der Umstand, dass sie am Anfang noch mit Aufklärung und Vernunft als Zielen und Grundlagen guten und richtigen Lebens argumentiert, doch weiter hinten rutschen Aufklärung und Vernunft zusammen mit der Demokratie auf die Anklagebank („führen Aufklärung und Demokratie … in einen Bürgerkrieg“ S. 36; „Die Aufklärung und mit ihr die liberale Demokratie haben versagt“ S. 50; „Liberaldemokratisch dürfte dies nicht aufzulösen sein“ S. 64; „Wo … die Vernunft als Ausdruck des Kant’schen Gewissens versagt hat“ S. 68).

Auf der anderen Seite erkennt Guérot richtig, dass der Mensch an sich selbst arbeiten muss, und nicht nur an der Technologie (S. 52 f., 65). Aufklärung und Vernunft werden zumindest am Anfang noch als erstrebenswerte Ziele genannt. Später hofft sie auf eine „aufgeklärte oder zumindest abgeklärte Menschheit“ (S. 68). Aber auch Meditation als Schulfach wird von Guérot befürwortet (S. 52). Dass die sieben Todsünden in der Konsumwelt zu Tugenden geworden sind, hält Guérot mit Recht für falsch (S. 48).

Kurz: Guérot lässt der Menschheit zwar die Chance, es freiwillig, vernünftig und demokratisch zu schaffen, aber sie ist offenbar bereit, Aufklärung und Demokratie zu opfern, falls die Dinge sich nicht so entwickeln, wie sie sich das vorstellt.

Typisch antidemokratisches Denken

Das Denken von Ulrike Guérot ist ein exemplarischer Fall von antidemokratischem Denken: Man versteift sich fanatisch auf irgendein Problem als der ganz großen Katastrophe – Klima, Demographie, Integration, Euro-Krise, was immer – und sieht, dass die Demokratie das Problem anscheinend nicht zu lösen vermag. Daraus schließt man messerscharf, dass die Demokratie nicht die beste Staatsform sein kann, und beginnt an eine andere Staatsform zu glauben, von der man sich einredet, dass es in ihr besser zugehen würde.

Dieses Denken beruht auf grundlegenden Denkfehlern:

(1) Oft ist der fanatisch aufgeblasene Problemfall nicht ganz so dramatisch, wie man sich einbildet. Statt die Demokratie zu hinterfragen, sollte man besser seine Annahmen hinterfragen. Beim Klima ist es gewiss nicht so dramatisch, wie behauptet wird. Das ist leicht zu sehen. Ulrike Guérot ist viel zu sehr dem grün-linken Zeitgeist und seinen Hysterien verhaftet.

(2) Es ist ein Irrglaube, eine andere Staatsform sei besser. Auch wenn es tatsächlich gelingen sollte, ein Problem durch die Abschaffung der Demokratie zu lösen, würde man sich dafür zahlreiche andere Probleme einhandeln, die nicht weniger schwer wiegen.

(3) Die Korrekturfähigkeit von Demokratie wird oft unterschätzt. Demokratie kann zwar träge sein und Probleme lange ignorieren. Aber spätestens wenn Probleme akut werden, wacht die Demokratie auf. Das ist oft leider spät, aber besser spät als nie. Andere Systeme wachen womöglich selbst dann nicht auf. Es ist jedenfalls vollkommen falsch zu glauben, Demokratie sei zu Verboten und moralischem Handeln nicht fähig. Eine Demokratie ist zu schlichtweg allem fähig, wenn nur die Stimmung im Volk entsprechend ist. Guérot selbst zählt ja viele historische Beispiele auf, in denen sich Demokratien als handlungsfähig erwiesen haben (S. 41). Dass Guérot es als etwas völlig neues und mit der Demokratie unvereinbares anpreist, dass sich die Menschen vom „anything goes“ verabschieden müssen, ist Unsinn (S. 64).

Kurz: Churchill behält Recht. Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen, die jemals ausprobiert worden sind. Man muss einen Blick für das Machbare, das Realistische und das Wünschenswerte haben. Ulrike Guérot hat diesen Blick nicht. Demokratie ist höchstens dann nicht machbar, wenn zu viele Bürger keine Demokraten sind, oder sich die Bürger in unversöhnliche Lager aufspalten.

Zweites großes Thema: Verstrickung in der digitalen Welt

Das zweite große Thema, das Guérot in diesem Büchlein bearbeitet und ebenfalls zur „posthumen Kondition“ rechnet, ist die zunehmende Verstrickung des Menschen in die digitale Welt: Wir werden immer abhängiger von Computern und Netzen. Wir überlassen den Algorithmen immer mehr Entscheidungen. Wir verlernen, ohne sie zu leben. Wir machen keine echten Erfahrungen mehr. Das Irrationale sei das Menschliche.

Das alles sind reale Probleme, aber Ulrike Guérot überzieht auch diese Probleme ins Maßlose: Denn natürlich machen wir immer noch Erfahrungen. Natürlich gibt es auch Anfänge einer Gesetzgebung zur Regulierung des Netzes. Es ist auch ganz falsch zu glauben, dass Algorithmen rational, perfekt und unmenschlich seien, sondern dahinter stehen immer Menschen, mit höchst menschlichen, irrationalen, kommerziellen und politischen Interessen. Die Digitalisierung ist mitnichten das Ende der Geschichte, als das sie Guérot beschwört.

Es ist auch befremdlich, dass Guérot sich statt der Nationalstaaten die „legitimierte, und selbststeuerungsfähige Organisation einer globalen Allmende“ wünscht (S. 68), während sie gleichzeitig beklagt, dass der Einzelne in der durchalgorithmisierten Welt keinen Einfluss mehr habe. Denn die Orte, an denen der Einzelne Einfluss nehmen kann, sind natürlich vor allem die gewohnten Demokratien der menschlich gewachsenen Nationalstaaten, während eine anonyme, internationale „selbststeuerungsfähige Organisation“ sich eher nach jenem unbeeinflussbaren Moloch anhört, den Guérot fürchtet.

Schwaches Denken

Ulrike Guérot ist zum Opfer ihres eigenen ungenauen Denkens geworden, das sich die Argumente zur Erreichung vorgefasster Ergebnisse zurechtbiegt. Es finden sich in ihrem Text viele falsche und schräge Argumente, die noch nicht genannt wurden. Einige davon wollen wir hier aufzählen.

Wenn man Politiker per Los statt per Wahl bestimmt, würde die Repräsentation wegfallen, meint Guérot (S. 35). Das stimmt natürlich nicht. Die Repräsentanten würden dann nur auf eine andere Weise bestimmt, es wären aber immer noch Repräsentanten. – Wie viele, so glaubt auch Guérot, dass Links und Rechts heute verwechselbar geworden sind (S. 37). Das ist keineswegs so. Vielmehr wird das normale demokratische Wechselspiel von Rechts gegen Links aus verschiedenen Gründen behindert. Insbesondere dadurch, dass allzu viele Menschen zu der undemokratischen Überzeugung gelangt sind, man dürfe konservative Positionen aus dem erlaubten Spektrum der „liberalen“ Demokratie ausschließen. – Es ist auch völlig übertrieben, dass die Bürger heute willenlose Konsumenten seien (S. 39 f.). Ganz so schlimm ist es nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch unverschämt, wenn im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution in der DDR die Banane als Symbol der wahren Motivation der Menschen beschworen wird (S. 40). Hier zeigt sich wieder, dass Ulrike Guérot eine in der Wolle gefärbte Linke ist, die bis heute innerlich nicht verwunden hat, dass die Menschen den real existierenden Sozialismus nicht mittragen wollten. – Guérot meint, das Projekt der ersten Aufklärung sei das Begreifen gewesen, dass es keinen Gott gibt (S. 61). Das ist Unsinn. Die Aufklärer glaubten bis auf wenige Ausnahmen alle an einen Gott. Nur radikale Materialisten und Linke nicht. Dies ist ein weiterer Fingerzeig auf das denkerische Milieu von Guérot. – Völlig falsch ist auch ein Seitenhieb gegen Donald Trump: Dieser hätte das atomare Armdrücken mit Nordkorea wieder aufgenommen, meint Guérot (S. 64). In Wahrheit hat Trump Nordkorea an den Verhandlungstisch gebracht. Wie viele, so begreift auch Guérot nicht, dass das notorische Verbreiten von hysterisch aufgeblasenen Unwahrheiten über den politischen Gegner nicht zur eigenen Glaubwürdigkeit beiträgt. Aber auch das ist nichts neues. Das war schon bei Ronald Reagan so.

Sehr blauäugig ist Ulrike Guérot in Bezug auf die Bewegungen „Fridays for Future“ und Extinction Rebellion (S. 65 f.): Es ist zwar richtig, dass diese Bewegungen ein Ziel jenseits des Konsum haben, aber das allein genügt nicht. Denn das Ziel wird durch pseudowissenschaftlichen Fanatismus definiert. Andersdenkende werden nur noch als Radikale wahrgenommen. „Follow the Science“ ist hier längst zu einem Demokratie-zerstörerischen Slogan geworden, der mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat. Und es gibt eine verborgene Agenda: Es finden sich in diesen Bewegungen, die keinesfalls Graswurzelbewegungen von Jugendlichen sind, altbekannte antikapitalistische und linksradikale Motivationen wieder, die die wahren Antriebe sind. So geht es diesen Bewegungen immer nur ums Abschalten und Dichtmachen und Blockieren. Um den Aufbau einer ökonomisch tragfähigen Energie-Infrastruktur nach durchdachten Gesamtplänen geht es hingegen sichtlich nicht.

Guérot versucht ihre Argumentation durch mehrere Verweise auf Hannah Arendt abzusichern, um ihnen den Anstrich der Klugheit und der Legitimität zu verschaffen. Doch die meisten Zitate sind rein beschreibend, nicht unterstützend (S. 44, 67, 69). An einer Stelle wird die Aussage von Hannah Arendt jedoch klar überzogen: Guérot behauptet, dass Hannah Arendt in letzter Konsequenz für eine Räterepublik gewesen wäre (S. 33 Fußnote 14). Das ist zumindest übertrieben. Die angeführte Quelle berichtet u.a. von Hannah Arendts Bewunderung für die Verfassung der USA, in der der Anspruch auf Souveränität eliminiert sei. „Souveränität“ wird hier im Sinne von unkontrollierter Herrschaft verwendet. Das ist etwas ganz anderes, als Ulrike Guérot in diesem Büchlein unter dem Stichwort „Souveränität“ bespricht, denn die US-Verfassung gehört für Guérot offensichtlich zu den demokratischen Verfassungen, die sie kritisiert.

Last but not least hat Ulrike Guérot die zutreffende Beobachtung gemacht, dass die Rechtspopulisten heute zu den wenigen gehören, die tatsächlich bereit sind, für ihre Überzeugungen einen Preis zu bezahlen. Gerade sie handeln also nicht wie verdummte Konsumenten. Ein Beispiel ist für sie der Brexit. (S. 42) – Leider denkt Guérot an dieser Stelle nicht weiter, weshalb sie nicht erkennt, dass diese Rechtspopulisten zumindest einen Zipfel der Wahrheit in der Hand halten, für den Guérot aber völlig blind ist. Der Brexit war tatsächlich notwendig, um die Demokratie in Großbritannien vor dem unbelehrbaren Brüsseler Moloch zu retten. Und der Widerstand gegen die Klimahysterie ist ebenfalls nicht nur ein dummes Blaffen von verwöhnten Konsumenten, sondern die warnende Stimme von wissenden Menschen:

  • Was Ihr da sagt stimmt nicht!
  • Was Ihr da wollt, funktioniert nicht!
  • Auf diesem Weg macht Ihr die Demokratie kaputt!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2022)

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