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Ulf Poschardt: Shitbürgertum (2025)

Die Geburt des Shitbürgers aus dem Ungeist des NS-Wendehalses

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen neuen Begriff geprägt für etwas, was wir schon kennen: Das „linksliberale“ Bürgertum der BRD. In seiner anekdotischen Beschreibung des „linksliberalen“ Elends hat dieses Buch viele Überschneidungen mit anderen Werken zum Thema, etwa „Unter Linken“ von Jan Fleischhauer.

Das Besondere dieses Buches

Ulf Poschardt liefert allerdings keine heiter-gelassene Beschreibung des Shitbürgertums. Bei Poschardt kommt ein aggressiver Ton hinzu: Das Shitbürgertum muss weg. Weil es uns inzwischen kaputtzumachen droht. Die letzten Reste liberalkonservativer Bürgerlichkeit sind aufgezehrt, der Marsch durch die Institutionen ist vollendet. Niemand hindert das Shitbürgertum mehr an seinem selbstzerstörerischen Wirken. Die Antwort auf den Marsch durch die Institutionen muss die Schleifung der Institutionen sein.

Vor allem aber überrascht das Buch mit seiner Kritik an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Etwas ist gründlich schief gegangen bei der Vergangenheitsbewältigung, und zwar von Anfang an, und es zieht sich bis heute durch. Den Ursprung des Shitbürgertums sieht Ulf Poschardt in der inneren Abspaltung der bösen Vergangenheit durch NS-Wendehälse wie Günter Grass oder Walter Jens. Diese NS-Wendehälse belehrten uns ihr ganzes Leben lang, wie böse und faschistisch die BRD-Gesellschaft doch sei, aber dann stellte sich heraus, dass diese Gestalten selbst überzeugte Nazis gewesen waren!

Diese innere Abspaltung des eigenen Bösen hat eine manichäische Haltung von absolut rein und gut vs. absolut schmutzig und böse hervorgebracht, die bis heute beim „linksliberalen“ Bürgertum anhält. Das Shitbürgertum ist in diesem Sinne infantil und regressiv, weil es ein radikal simplifiziertes Weltbild hat: Das Böse, das ist immer das „Eigene“, also das Deutsche und das Normale, und die Bösen, das sind immer die anderen. Wer nicht „linksliberal“ ist, der ist „Nazi“. Dieser Manichäismus ist auch der Grund, warum dieses „linksliberale“ Bürgertum jeden selbstzerstörerischen und selbstverleugnenden Unsinn mitmacht, so dass sich die Gesellschaft immer mehr in einen autoritären Kindergarten verwandelt. Diese Kritik ist ein fulminanter Angriff gegen das juste milieu der BRD, und ja: Ulf Poschardt trifft den wunden Punkt unserer Gesellschaft sehr gut.

Für das Shitbürgertum dürfte allein die Tatsache, dass ihre „linksliberalen“ Ikonen wie Günter Grass und Walter Jens fast alle (!) ehemalige Nazis waren, eine ungeheure Provokation sein. Bislang nimmt man dieses Phänomen immer noch als Einzelfall wahr. Dass aber die BRD geistig dermaßen stark durch ehemalige Nazis geprägt wurde, die auf Wendehals machten, ist bislang noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Dieser Teil unserer Geschichte wird immer noch tapfer verdrängt, und mit ihm die üblen Konsequenzen bis heute.

Was dem gegenüber wieder gewonnen werden muss, ist die Fähigkeit zur Ambivalenz, die Integration der eigenen Schattenseiten in das eigene Bewusstsein, gewissermaßen ein Erwachsenwerden hin zum Realismus und weg von manichäischen Illusionen über sich und andere. Deutschland liegt bei Ulf Poschardt also auf der Couch und bedarf der Therapie. Auch das ist kein völlig neuer Gedanke.

Rettung sieht Ulf Poschardt von der Pop-Kultur her kommen: Diese ist rücksichtslos und frech, aber auch zur Ambivalenz fähig. Die Kettensäge von Milei oder Donald Trump sind für Ulf Poschardt popkulturelle Phänomene.

Kritik – Weiterentwicklungen des Shitbürgertums

Mindestens zwei historische Weiterentwicklungen des Shitbürgertums werden bei Ulf Poschardt nicht oder nicht ausreichend thematisiert. Die Urquelle des Shitbürgertums sind zweifelsohne die NS-Wendehälse. Das ist richtig.

Aber 1989/90 kam der Antifaschismus der DDR hinzu. Die DDR definierte sich kurzerhand als antifaschistischer Staat, was zur Folge hatte, dass die DDR zur Selbstkritik nicht mehr fähig war. Im ZK der SED tummelten sich die NSDAP-Funktionäre, die Freie Deutsche Jugend wurde maßgeblich von Hitlerjugend-Funktionären aufgebaut, die Volksarmee der DDR war von einer NS-Aufarbeitung so weit entfernt wie der Mond, und auch die starke Skinhead-Szene der DDR verdankt sich der völligen Unfähigkeit der DDR, die deutsche Vergangenheit adäquat aufzuarbeiten. Die DDR war gewissermaßen der Staat-gewordene NS-Wendehals, der manichäische Abspaltung betrieb. Mit der Wiedervereinigung kamen in diesem (Un-)Geist geprägte Gestalten aus der DDR an die Schaltstellen von Politik und Gesellschaft in der BRD.

Die zweite große Weiterentwicklung des Shitbürgertums kam aus dem angelsächsischen Raum: Dort hatte sich eine ganz ähnlich shitbürgerliche Deutung der dortigen Kolonialvergangenheit herausgebildet, die alles, was früher war, verteufelte. Zugleich hatten sich an den US-Universitäten postmoderne Ideologien durchgesetzt, die den klassischen Humanismus zersetzten: Vernunft, Realismus oder Freiheit sind für postmoderne Ideologen lediglich Machtmittel von „alten, weißen Männern“, die es zu dekonstruieren gälte. Dieser Ungeist schwappte mit voller Wucht in unsere Gesellschaft herüber und wurde von den hiesigen Shitbürgern begierig aufgesogen. Ein irrwitziger Multikulti-Fanatismus und eine realitätsverleugnende Gender-Ideologie machten sich breit, bis hin zur Zerstörung unserer geliebten deutschen Sprache. Teilweise wurde in sklavischer Übernahme angelsächsischer Shit-Ideen sogar versucht, den Holocaust gegenüber der deutschen Kolonialvergangenheit herunterzuspielen. Antisemitismus ist der heimliche Trumpf im heutigen Shitbürgertum.

Kritik – Zentraler Irrtum von Ulf Poschardt

In einem entscheidenden Punkt übernimmt Ulf Poschardt eine shitbürgerliche These der NS-Wendehälse, statt diese als einen wesentlichen Bestandteil ihrer inneren Abspaltung von allem Bösen zu erkennen: Ulf Poschardt meint, dass die deutsche Kultur vor 1933 tatsächlich schlimm, schlecht und böse gewesen sei und mehr oder weniger zwangsläufig zum Nationalsozialismus geführt habe. Also ganz so, wie die NS-Wendehälse es uns einzureden versuchten.

Dabei ist diese Art der Geschichtsbetrachtung doch allzu leicht als ein integraler Bestandteil der Abspaltungsstrategie zu durchschauen! Denn die totale Schlechtredung von allem, was früher war, ist gewissermaßen der Gipfel der inneren Abspaltung. Je reiner die NS-Wendehälse sich selbst fühlen wollten, desto schmutziger musste alles andere sein. Und der Gipfel des Schmutzes ist es natürlich, wenn nicht nur die Nazis Nazis waren, sondern am besten alle Deutschen, und das nicht nur 1933-45, sondern möglichst schon seit es Deutsche gibt. Das ermöglichte es den NS-Wendehälsen auch, sich über ihre Mitmenschen zu erheben: Denn wenn sie auch keine Nazis mehr waren, so waren sie doch immer noch Deutsche, trugen also das „böse Erbe“ in jedem Fall noch in sich. Die Flucht vor dem Deutschsein nach „Europa“, die Flucht in einen völlig irrwitzigen Multikulti-Fanatismus haben hier ihre Erklärung, und ebenso natürlich der Hass auf alles Deutsche, wie er in der Gendersprache zum Ausdruck kommt.

Dass Ulf Poschardt bei all seiner Einsicht in das Wesen der NS-Wendehälse dieses zentrale Märchen nicht erkannt hat, ist bedauerlich und fast schon seltsam. Es gibt übrigens noch eine weitere Steigerung dieses Märchens der NS-Wendehälse: Die nächste Steigerung wäre, dass alle Menschen verdorben und schlecht, mithin „Nazis“ sind, und dass die Übel der Welt nur durch die Überwindung des Menschen selbst ausgerottet werden können. Da sind wir dann bei den postmodernen Klimaapokalyptikern und Extinktionalisten angelangt, für die die „unberührte“ Natur alles ist, und der Mensch nichts.

Im den folgenden Abschnitten widerlegen wir im Detail die Argumente, mit denen Ulf Poschardt die ganze deutsche Vergangenheit vor 1933 zum Problem erklärt, danach nehmen wir den Faden der Kritik wieder auf.

Widerlegung: Gegen die Vollschuldigkeit aller Deutschen

Die These, dass die Deutschen im Nationalsozialismus gewissermaßen kollektiv und allesamt schwer schuldig geworden waren, ist völlig falsch. Diese These spiegelt nicht die Realität, sondern natürlich nur die manichäische innere Abspaltung der NS-Wendehälse. Denn wenn alle Deutschen mehr oder wenig schuldig waren, dann ist auch ihre eigene Schuld nicht mehr so groß. Außerdem kann man sich hinterher umso besser moralisch über seine Mitbürger erheben, wenn man sie alle für schuldig erklärt.

In Wahrheit ist die Schuld am Nationalsozialismus jedoch sehr ungleich verteilt. Für Humanisten gilt immer die individuelle Verantwortung. Jeder sündigt für sich allein. Es gibt keine Kollektivschuld und keine Sippenhaft.

Die meisten Deutschen waren keine Nazis. Thomas Mann und Karl Jaspers waren z.B. auch Deutsche: Wie sollte man auf die Idee kommen, ihnen eine nennenswerte Schuld zu unterstellen? Martin Walser erzählte von seiner Mutter, die für den NS-Seniorenbund Kuchen backte und sich dort mit älteren Damen zum Kaffeekränzchen traf: Diese Seniorinnen waren wohl kaum sehr schuldig, sondern hatten ganz einfach keine Ahnung von dem, was wirklich geschah. In den letzten wirklich freien Wahlen gewannen die Nationalsozialisten gerade einmal 33% der Stimmen. Das ist erstaunlich wenig. Und auch die meisten Wähler der NSDAP hatten vermutlich höchst naive Vorstellungen über die Politik, die von den Nationalsozialisten gemacht werden würde. Das war damals nicht anders als heute: Was weiß der durchschnittliche Wähler denn z.B. schon davon, was Angela Merkel mit ihrer Euro-Rettungspolitik angerichtet hat? Wenn die Medien nicht Alarm schlagen, wird es die Masse der Menschen nicht realisieren. So war es immer, so wird es immer sein.

Gerade weil die Deutschen meistens nur wenig oder gar nicht schuldig waren, war es 1945 eine effektive Methode zur Entnazifizierung, die Deutschen durch die KZs zu führen: Denn das, was die Deutschen da zu sehen bekamen, war nicht das, was sie gewollt hatten, jedenfalls die meisten nicht. Und es musste ihnen gezeigt werden, damit sie es glauben konnten, sonst hätten sie es – irrig aber ehrlich – rundweg abgestritten. Hätten die Deutschen diese Verbrechen gewollt, hätten die Führungen durch die KZs keinen Effekt gezeigt. Hier ist auch an Hannah Arendt zu erinnern, die nach den ersten Berichten aus den befreiten KZs an alliierte Propaganda glaubte und einige Tage benötigte, um zu begreifen, dass die Berichte wahr sind. Wenn schon eine Hannah Arendt es nicht wusste und erst nicht glauben konnte, wie dann erst ein Otto-Normal-Deutscher?

Eine größere Schuld trifft natürlich intellektuelle Menschen, die ideologische Texte zugunsten des Nationalsozialismus produziert hatten und in die NSDAP eingetreten waren. Das trifft auf die von Ulf Poschardt ins Auge gefassten NS-Wendehälse meistens zu. Es ist kein Wunder, dass gerade solche Leute das Märchen in die Welt setzen wollen, dass „die Deutschen“ insgesamt schuldig am Nationalsozialismus geworden seien. Das liegt doch auf der Hand! Warum hat Ulf Poschardt das nur nicht gesehen?

Widerlegung: Gegen eine pauschale Deutschfeindlichkeit

Von George Steiner, einem US-Literaturwissenschaftler, zitiert Ulf Poschardt zustimmend, dass man offenbar zugleich Goethe und Rilke lesen und Menschen in Auschwitz Menschen ermorden könne. Und: „For let us keep one fact clearly in mind: the German language was not innocent of the horrors of Nazism.“

Die Vorwürfe von George Steiner sind leicht zu widerlegen. Haben denn britische Kolonialoffiziere, die Verbrechen begangen haben, keinen Shakespeare gelesen? Was will man damit überhaupt aussagen, dass klassische Bildung angeblich nichts nütze gegen Verbrechen?! Das Gegenteil ist doch richtig: Natürlich kultiviert Bildung den Menschen. Natürlich trägt sie zur Humanisierung bei. Das ist doch gar keine Frage! Wer jedoch von den Ausnahmen her ein Argument gegen Bildung konstruieren will, der schüttet das Kind mit dem Bade aus. Es wird immer Menschen geben, die sich dem tieferen Sinn von Bildung gegenüber verschlossen zeigen und diese falsch und schief interpretieren. Das macht die Bildung aber nicht wertlos.

Genau dieser falsche Vorwurf an die klassische Bildung, womöglich zum Nationalsozialismus beigetragen zu haben, wurde von den NS-Wendehälsen erhoben, die Poschardt kritisiert. So z.B. Alfred Andersch in seinem Buch „Der Vater eines Mörders“, in dem auf groteske Weise versucht wird, dem Vater Heinrich Himmlers, der Direktor an einem humanistischen Gymnasium war, eine Mitschuld am Nationalsozialismus anzuhängen (mit der vergifteten Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“). Es ist völlig unverständlich, warum Ulf Poschardt diese falsche und freche Verleumdung der klassischen Bildung durch die NS-Wendehälse mitmacht, indem er George Steiner zustimmend zitiert.

Schließlich noch zu dem Vorwurf von George Steiner, dass schon die deutsche Sprache schuldig sei. Hier sind wird dann endgültig bei der These angekommen, dass die deutsche Kultur schlechthin verdorben und Nazi-artig sei. Wenn das wahr wäre, dann müsste man die deutsche Kultur tutto completto abräumen. Von Walther von der Vogelweide bis Michael Ende. Genau das ist ja auch das Ziel nicht weniger „Linksliberaler“. Es ist die reine Deutschfeindlichkeit. Aber sie ist natürlich nur dumm und falsch. Wer die 1000jährige deutsche Geschichte – oder auch die jahrhundertealte Geschichte Preußens – nur als ein Vorspiel zum Nationalsozialismus verstehen will, der hat schlicht eine Macke. Man kann es nicht anders sagen.

Gewiss kann und soll und muss die deutsche Kultur gereinigt und erhöht werden – aber nur, wie jede andere Kultur auch. Wer Adolf Hitler zum Inbegriff des Deutschen schlechthin macht, ist auf dem Holzweg. Ulf Poschardt verweist selbst auf Thomas Mann und dessen These von der Ambivalenz der deutschen Kultur (S. 150). Eine Ambivalenz existiert aber nur dort, wo es auch das Gute gibt.

Widerlegung: Gegen ein falsches Preußenbild

Ein zentrales Argument Poschardts für die Schuldigkeit der deutschen Kultur ist die Forschung der britischen Historikerin Helen Roche zu preußischen Militärschulen und zu nationalsozialistischen Napola-Militärschulen. Helen Roche glaubt, dass in beiden Fällen das „Härteideal Spartas“ eine zentrale Rolle gespielt habe, beidemale als Antwort auf Niederlagen (gegen Napoleon und 1918). Poschardt spricht auch von dem „unbarmherzigen Preußentum“. (S. 21)

Es hört sich zunächst martialisch und unmenschlich an: Das Härteideal Spartas an preußischen und NS-Schulen. Aber es handelt sich um eine große psychologische Irreführung. Die Wahrheit ist viel banaler.

Die Wahrheit ist zunächst, dass im 19. Jahrhundert die klassische Bildung in ganz Europa Hochkonjunktur hatte. Es dürfte überall in Europa an allen Militärschulen aller Länder über Sparta nachgedacht worden sein. Sparta steht im klassischen Bildungskanon für das Militärische wie nichts anderes, und nichts lag deshalb näher, als sich an Militärschulen mit Sparta zu befassen. Nicht nur in Preußen, sondern auch in England oder Frankreich. Rezensionen zur Forschung von Helen Roche merken an, dass ihre Belege für die Rezeption Spartas an preußischen Kadettenschulen weniger eindeutig sind als die für die NS-Napola-Anstalten und mehr als ein Hinweis auf die damals vorherrschende klassische Bildung zu deuten sind (z.B. Hagen Stöckmann auf H-Soz-Kult 31.03.2014).

Zum Militärischen gehören auch heute noch Dinge wie Pflicht, Gehorsam, Drill, Opferbereitschaft, Patriotismus. Ein Militär ist ohne diese Dinge schlicht nicht denkbar. Auch jede moderne Armee muss sich damit auseinandersetzen. Und warum sollte man das nicht mit dem antiken Sinnbild für das Militärische schlechthin tun? Man sollte hoffen, dass auch heute noch in den Bildungseinrichtungen der Bundeswehr klug über Sparta nachgedacht wird. Aber natürlich auch über Athen.

Denn im 19. Jahrhundert stand unter Gebildeten nicht Sparta, sondern Athen im Mittelpunkt. Wir lesen in der Gefallenenrede des Perikles, dass auch die Athener sich auf das Militär verstanden, und zwar nicht schlechter als die Spartaner. Das wusste man auch im 19. Jahrhundert. Die Ideen der preußischen Reformer hören sich jedenfalls wesentlich mehr nach Athen als nach Sparta an, darunter die Heeresreform mit ihrem Konzept des Bürgers als dem geborenen Verteidiger seines Landes. Auch die Flottenbegeisterung zur Kaiserzeit konnte wesentlich besser an Athen als an Sparta anknüpfen, denn Sparta galt als Landmacht, Athen jedoch als Seemacht.

Hinzu kommt, dass der Militarismus Spartas noch keinen Rassismus, ja, überhaupt nicht zwingend irgendeinen Antihumanismus bedeuten muss. Die „bösen“ Spartaner haben jedenfalls keinen Völkermord begangen, sondern ausgerechnet die „guten“ Athener, nämlich gegen die Bewohner der Insel Melos. Der berühmt-berüchtigte Melierdialog bei Thukydides gehört zum unverlierbaren Bildungsgut der Menschheit als Mahnung für alle Zeiten. Seit damals stellen sich Historiker die Frage, wie es möglich war, das gerade eine Bildungsnation wie Athen einen Völkermord begehen konnte. Es ist dieselbe Frage, die man sich im 20. Jahrhundert zu Deutschland und dem Holocaust stellte, denn auch Deutschland war ein Land der Bildung. Wer da in einer Befassung mit Sparta ein besonderes Problem sehen will, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Schließlich ist Ulf Poschardt einfach völlig auf dem Holzweg, wenn er von „unbarmherzigen Preußentum“ spricht. Das war die primitive Sicht der ungebildeten Nazis auf das Preußentum. Kadavergehorsam war eine Idee der Nazis, nicht Preußens. Preußen lebte auch von seinen Legenden und Mythen, und eine dieser unverlierbaren, wahren Legenden ist die des preußischen Generals von der Marwitz (1723-1781), der einen Befehl Friedrichs des Großen aus Gewissensgründen verweigerte. Ikonisch schrieb man auf seinen Grabstein: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“ Dieser Satz gehört fest zum kollektiven Gedächtnis Preußens. Und er hat Wirkung gezeigt, z.B. im bekannten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Gleichzeitig machte sich Hitlers Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel über diverse moralischen Bedenken der preußischen Offiziere in der Wehrmacht lustig. Keitel war eben kein Preuße, sondern ein Nazi.

In Wahrheit war Preußen einfach ein Staat wie jeder andere, sagen wir: wie England, mit Höhen und Tiefen, mit guten und schlechten Seiten. Die Kritik an Preußen ist bestens bekannt und teilweise auch berechtigt. Aber Preußen stand – durch Friedrich den Großen und Immanuel Kant – eben auch für die Aufklärung. Die preußischen Reformer und die Humboldt-Brüder standen für Fortschritt, Aufklärung, Geist und Moderne.

Das Spießrutenlaufen schaffte das „unbarmherzige“ Preußen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab, also genau in der Phase, in der an preußischen Militärschulen über das Härteideal Spartas nachgedacht wurde. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855.

In der Revolution von 1848 zeigte sich der preußische König mit der schwarz-rot-goldenen Fahne, nachdem ein versehentlicher Schuss (bis heute ungeklärt woher) zu Barrikadenkämpfen in Berlin geführt hatte. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das. Aber die Shitbürger plappern munter von der „Unbarmherzigkeit“ Preußens.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Preußen scheint also in den Augen der Frankfurter revolutionären Parlamentarier nicht der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Jeder weiß auch, dass Preußen die Kaiserkrone wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht.

Historiker wie Hedwig Richter haben darauf hingewiesen, dass das Kaiserreich moderner und demokratischer war als viele meinen.

Es ist einfach eine falsche und ungerechte schwarze Legende, dass Preußen „unbarmherzig“ und „hart“ gewesen wäre, und dass dies mehr oder weniger zielstrebig im Nationalsozialismus geendet hätte. Diese primitive Sicht auf Preußen wurde dann nahtlos von den NS-Wendehälsen in die BRD hineingetragen. Es macht traurig, dass Ulf Poschardt in diesem Punkt den NS-Wendehälsen auf den Leim gegangen ist.

Schließlich ist es Ulf Poschardt selbst, der Preußen auf S. 87 positiv konnotiert und damit seiner eigenen Preußenfeindlichkeit vom Anfang des Buches widerspricht. Dort echauffiert sich Poschardt darüber, dass Oskar Lafontaine „den preußischen Hanseaten“ Helmut Schmidt attackierte, um gegen die preußischen Sekundärtugenden zu polemisieren. Hier hat Ulf Poschardt die Verhältnisse wieder gerade gerückt: Oskar Lafontaine ist der Shitbürger, der die preußische Vergangenheit abspaltet und Sekundärtugenden nur verachtet, obwohl sie wertvoll sind, während Helmut Schmidt diese preußische Vergangenheit nicht abspaltet, sondern in seine Persönlichkeit inkorporiert, und auf vernünftige Weise für seine Gegenwart fruchtbar macht.

Ulf Poschardt wiederholt hier übrigens denselben Denkfehler, den auch Andreas Rödder in seinem Buch „Konservativ 21.0“ begangen hat: Erst sagt Rödder, dass es durch den Nationalsozialismus einen Traditionsbruch gegeben habe, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen. (Was für ein Unsinn! Gerade deshalb, weil der Nationalsozialismus ein Bruch war, kann man sehr wohl an das, was davor war, wieder anknüpfen.) Später dann beruft sich Rödder auf den Preußen Wilhelm von Humboldt und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern ein. Auch hier bei Rödder finden wir also diese völlig verklemmte Selbstwidersprüchlichkeit im Umgang mit Preußen: Erst verdammt man gut shitbürgerlich alles, dann erachtet man aber doch dies oder das oder jenes für wertvoll, und merkt den Widerspruch nicht.

Kritik – Keine konstruktive Vision

Fahren wir mit unserer Kritik fort: Ulf Poschardt erhofft sich Rettung von der Popkultur und deren respektlosen Zerstörung der Verhältnisse. Aber eine konstruktive Vision ist das eigentlich nicht. Gut, es ist eine libertäre Vision. Aber nach dem libertären Kettensägenmassaker muss eine Ordnung übrig bleiben, und die will konstruktiv gedacht sein. Hier schwächelt Poschardt.

Was fehlt, ist natürlich eine positive Vision für Deutschland. Ein geläutertes Nationalbewusstsein ohne Abspaltungen: Darum geht es Poschardt doch! Ein Deutschland, das mit sich im Reinen ist. Ein Deutschland, das stolz auf den – sprechen wir es aus – preußischen Humanismus ist. Ein Deutschland, das auch Zuwanderer gerne in seine wunderbare Kultur integriert, die eine offene und humanistische Kultur ist, aber keinesfalls eine selbstvergessene Kultur. Aber solche Töne fehlen bei Poschardt. Vielleicht hätte ihm das zu national gesinnt geklungen? Es wäre aber nur folgerichtig.

Man hätte z.B. die Vision entwickeln können, den Staat Preußen als ganz normales Bundesland, bestehend aus den historischen Gebieten auf dem Boden der ehemaligen DDR, wiederzuerrichten. Wer die falsche Abspaltung der NS-Wendehälse überwinden wollte, müsste genau das tun. Endlich die volle Versöhnung mit der eigenen Geschichte, endlich die volle Ambivalenz ins eigene Nationalbewusstsein integriert. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem!

Vielleicht scheitert Ulf Poschardt aber gerade deshalb an einer solchen positiven Vision, weil er den Shitbürgern in einem Punkt auf den Leim gegangen ist: Dass Deutschland und die deutsche Kultur vor 1933 durchweg „böse“ und schuldig seien. Auf dieser ideologischen Basis kann man nie mehr zu einer Geisteshaltung ohne Abspaltung kommen.

Kritik – Shitbürgertum von Rechts kaum thematisiert

Ulf Poschardt erwähnt, dass die starken Männer in der AfD gegen den Westen und gegen den Liberalismus sind (S. 144). Aber leider zieht er nicht die direkte Verbindung zum Shitbürgertum, die hätte gezogen werden müssen!

Wenn wir Alexander Gaulands Buch „Anleitung zum Konservativsein“ lesen, finden wir dort im Zentrum des Buches in mehreren Kapiteln (!) eine fundamentale Kritik an Preußen. Gauland zieht alle nur erdenklichen Register der preußenfeindlichen Propaganda. Schließlich meint Gauland, dass Preußen gesellschaftlich und territorial verloren sei, und will auf gar keinen Fall – und niemals nicht! – dass Preußen wieder sei. Das ist schon auffällig nahe am Shitbürgertum.

Gleichzeitig freut sich Gauland darüber, wie die Osteuropäer wieder an die Zeit vor 1933 anknüpfen, bevor sie durch Nationalsozialismus und Kommunismus geknebelt wurden. Und das, obwohl diese Länder kaum weniger als Preußen „gesellschaftlich und territorial“ gelitten haben. Auch hat Alexander Gauland überhaupt kein Problem mit Bayern, und das, obwohl Bayern das Bundesland mit den engsten Bindungen zum Nationalsozialismus war: München war die Hauptstadt der Bewegung, Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage, und in Bayreuth residierte der große Inspirator des Nationalsozialismus auf dem Grünen Hügel. Für Gauland kein Problem. Aber Preußen mit seiner Rationalität und seinem preußischen Humanismus, das ist für Gauland ein Riesenproblem.

Auch sonst ist Gauland der typische Shitbürger: Sein Antiamerikanismus ist unübersehbar. Sein Antiliberalismus ist penetrant. Und konservativ ist er eigentlich auch nicht, wenn man es recht bedenkt. Sondern unangenehm bräunlich. Eine Fixierung auf Hitler scheint offensichtlich.

Schließlich missbraucht Alexander Gaulands Freund Björn Höcke Preußen immer wieder als Projektionsfläche für seine schrägen Phantasien. Höcke kann dies tun, weil das juste milieu der BRD ihm Preußen völlig überlassen hat. Höcke kann über Preußen den größten Unsinn verzapfen, wie einst die NS-Wendehälse, und niemand widerspricht ihm.

Insbesondere aber denkt Höcke keine Sekunde daran, Preußen als Bundesland wiederherzustellen. Das wahre Preußen wäre für Höcke ein Problem. Das wahre Preußen ließe sich nicht so leicht missbrauchen. Es stünde Höckes Visionen von Deutschland nur im Wege. Wir erinnern uns, wie Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil in Doorn mehrere Stunden vergeblich versuchte, Göring zu erklären, dass man Deutschland nur in Ländern regieren könne: „Zwei Stunden lang habe ich diesem Rindvieh klarzumachen versucht, dass man Deutschland nur auf der Grundlage des Föderalismus regieren kann.“

Kritik – Kleine Fehler

Richard von Weizsäcker wird von Ulf Poschardt den Shitbürgern entgegengestellt (S. 37). Er hätte seine Rede vom 8. Mai 1985 nur deshalb halten können, weil er selbst aufgrund seiner Familiengeschichte die Ambivalenzen integriert hätte. Doch das ist falsch. Ganz falsch. Bekanntlich wurde Weizsäckers Rede für die Aussage gefeiert, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war. Doch diese Einseitigkeit der Perspektive auf den 8. Mai ist genau die Abspaltung von allem Bösen und Problematischen, das Ulf Poschardt anprangert. Denn viel besser als Richard von Weizsäcker hatte es der erste Bundespräsident Theodor Heuss gesagt, der in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 eine andere Deutung des 8. Mai präsentiert hatte, die bis 1985 unter Liberalkonservativen unbestritten war: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Hier, bei Theodor Heuss, finden wir die Integration der Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, während Richard von Weizsäcker einfach nur ein weiteres abspalterisches Dogma des Shitbürgertums bestätigt hat.

Martin Walser wird bei Ulf Poschardt zu den Shitbürgern und Antisemiten gezählt, seine Friedenspreisrede in der Paulskirche scharf kritisiert (S. 32). Diese Perspektive ist fragwürdig. Martin Walser hatte sich von der linksliberalen Schickeria losgesagt und gründlich zu denken begonnen („Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil“), weshalb er ausgegrenzt blieb. Auch seine Paulskirchenrede ist nicht einfach antisemitisch, sondern im Gegenteil ein Versuch, die Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, wieder sichtbar zu machen. (Es wäre interessant zu wissen, was Ulf Poschardt von Hans Magnus Enzensberger denkt.)

Fazit

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen laut vernehmbaren Weckruf in die Welt gesandt, der hoffentlich zu einer vermehrten Bewusstseinsbildung beiträgt, indem Realitäten auf Begriffe gebracht werden, vor allem den Begriff des „Shitbürgertums“. Völlig richtig ist, dass Ulf Poschardt den Kern des Übels in einer falschen Vergangenheitsbewältigung sieht. Leider ist Ulf Poschardt selbst nicht völlig frei von den Lebenslügen der Shitbürger. Deshalb bleibt seine positive Vision für Deutschland auch seltsam dünn. Aber es ist eine Streitschrift, lanciert zum Streiten. Und das ist gut, denn es ist der Anfang von aller besseren Erkenntnis.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen (1995)

Intellektuelle Scham, Peinlichkeit, Ängste literarisch glänzend verarbeitet

Pascal Mercier schreibt in seinen Büchern offenbar gerne über mehr oder weniger depressive Typen. In „Nachtzug nach Lissabon“ war es ein schwach depressiver Typ in der midlife crisis, der seine Krise aktiv und philosophisch bewältigt: Sehr sympathisch. In „Lea“ ist der Protagonist so depressiv, dass man sich mehrfach wünscht, er möge sich doch endlich umbringen, damit das schreckliche Buch ein Ende findet. Und in „Perlmanns Schweigen“ ist es nun ein mitteldepressiver Typ: Die Symptome der Depression sind noch nicht so stark ausgeprägt, dass man nicht in allem auch sich selbst erkennen könnte, doch sind sie wiederum doch so stark ausgeprägt, dass man sich aufs Ganze gesehen nicht mit ihm identifizieren kann.

Der Rote Faden des Buches kann als jenes Gefühl beschrieben werden, das wir alle vermutlich noch aus Schulzeiten kennen, wo wir typischerweise darunter litten, wenn wir unsere Hausaufgaben vergessen hatten: Man versucht krampfhaft, noch schnell etwas zu Papier zu bringen, oder man versucht, es zu vertuschen und hofft, nicht entdeckt zu werden, und in jedem Fall wäre es ganz schlimm und gewissermaßen der Weltuntergang, wenn es entdeckt würde! Die Reife, den Vorfall als Bagatelle abzutun und souverän, vielleicht sogar frech und erfolgreich durchzustehen, hat man als Schüler noch nicht entwickelt. Dieses Gefühl nun steht im Zentrum dieses Romans, in dem sich eine Handvoll Sprachwissenschaftler in einem Hotel nahe Genua versammelt, um einige Wochen an ihren Texten zu schreiben und sie sich gegenseitig zu präsentieren. Denn Perlmann ist blockiert, hat wie Goethes Faust die abgeschmackte Wissenschaft gründlich satt, und bringt keinen Text zustande.

Soweit ist es noch das Drama eines jeden Intellektuellen, und es gibt viele wertvolle Stücke dazu in diesem Buch. Allerdings steigert sich Perlmann in diese Gefühlslage derart hinein, dass man es nur mit einer gewissen Depressivität erklären kann, die Symptome sind klar: Perlmann kann sich aus der Enge seiner Ängste nicht lösen, er bezieht alles auf sich, misst Kleinigkeiten große Bedeutung bei, leidet unter radikalen Stimmungsschwankungen, zieht sich zurück. Gnadenlos wird Perlmann vom Autor durch alle Varianten peinlicher Momente und der Scham hindurch gejagt, die sich schicksalhaft aus einer anfänglichen Vertuschung zur Wahrung der Fassade ergeben, und immer mehr auftürmen und in sich verstricken. Man will es als Leser immer wieder nicht glauben, aber es kann immer noch schlimmer und noch peinlicher werden.

Der Leser erleidet bei der Lektüre zwei Arten von Scham: Einmal die direkte Scham, indem man mit Perlmann mitleidet. Dann aber schämt man sich auch deshalb für Perlmann, weil dieser es sich so unnötig schwer macht.

Folgende Themen werden anhand des roten Fadens entfaltet:

  • Die anderen sind wirklich andere. Das unüberwindliche Alleinsein mit sich. Fehleinschätzungen von anderen aus Selbstbezogenheit, Vorurteil.
  • Drama des Intellektuellen. Nutzlosigkeit des erworbenen Wissens, die Suche nach dem wirklichen Leben. Wettbewerb mit anderen Intellektuellen.
  • Unwillkürliche Handlungen, die man sich nachträglich zu eigen macht. Die emotionale Unfähigkeit, einen Entschluss auszuführen
  • Mechanisches aber erstaunlich erfolgreiches Reagieren auf Erwartungshaltungen anderer. Nachträgliche Übernahme von Fremdinterpretationen eigenen Handelns im Sinne der Erwartungshaltung anderer. Was ist am Ende der wirkliche eigene Wille?
  • Verhältnis zur Zeit, Zeitgefühl: Leben in und aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
  • Erinnerung und eigene Identität als Selbstkonstruktion.
  • u.v.a.m.

Der zweite Rote Faden des Buches ist ein russisches Manuskript zum Thema Erinnerung, das Perlmann im Laufe des Buches übersetzt, anstatt an seinem eigentlichen Text zu arbeiten. Was dieses Manuskript theoretisch refklektiert, erlebt Perlmann im Laufe des Buches dann auch praktisch.

Das Buch ist sehr gut geschrieben und literarisch stark, aber es kostet den Leser einiges und kann sich endlos ziehen: Zum einen, weil das Thema anstrengend ist, man muss als Leser viele peinliche Momente im Geiste mitgehen. Zum anderen, weil der Autor das Thema wirklich bis zum Exzess durchexerziert. Die ersten 100 Seiten fragt man sich, was das Buch eigentlich soll, dann erkennt man das Schema, dass Perlmann sich Sorgen macht, aber immer unbegründet. Mit den zwei unerwarteten Besuchern verkompliziert sich die Situation dann und eskaliert, der Leser reagiert gereizt. Die Leselust sinkt. Die Fahrt vom Flughafen zum Hotel ist ein Horror-Trip auch für den Leser, man ist froh, wenn man das hinter sich hat. Dann bald die Erlösung, wiederum auch für den Leser: Mestre non è brutta. Ab diesem Moment saugt das Buch den Leser regelrecht in sich hinein, denn die Katastrophe ist abgewendet, und es ist nun fast schon wieder vergnüglich zu sehen, wie sich die peinlichen Momente nun auf raffinierte Weise immer dichter fügen und die aufgestauten Verwicklungen Stück um Stück abgewickelt werden.

Dabei gibt es einige Szenen, die wohl unvergessen bleiben werden und für die Leser klassisch werden könnten:

  • Perlmann konfrontiert Millar mit der Musik-CD, die dessen Irrtum entlarvt („Trouvaille“).
  • Die Autofahrt von Genua zum Hotel mit Leskov.
  • Mestre non e brutta. Welch eine Erlösung auch für den Leser des Buches!
  • Der Irre mit dem Umschlag.
  • Ein furioses Klaviersolo.
  • Die wohlkonstruierte Kaskade der Peinlichkeiten zum Ende hin.

Leider hat das Buch kein Happy End, Perlmann erlebt keine Katharsis und verarbeitet seine Probleme nicht konstruktiv, vielmehr sieht man ihn auch am Ende in der ewigen Wiederholungsschleife seines inneren Hamsterrades: Die Depression hat sich während des Buches zweifelsohne von einem mittleren zu einem schwereren Grad entwickelt. Perlmann zerbricht offenbar an seiner Schuld, die er in seinem Wahn auf sich geladen hat. Ein „schönes“ Buch ist es nicht – aber ein „gekonntes“.

Für das literarisch Meisterhafte und das allgemein Menschliche, das in allem zu erkennen ist, lohnt es sich, dieses Buch zu lesen, aber selten hat man als Leser so an einem Buch gelitten. Es ist kein Muss.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Juli 2012)

Christian Rieck: Die 36 Strategeme der Krise – Erfolgreich werden, wenn andere scheitern (2020)

Tricks und Taktiken erkennen und durchschauen lernen

Die Welt ist oft nicht so, wie sie uns erscheint. Speziell dort, wo verschiedene Kräfte miteinander ringen, kommen auch Listen, Tricks und Täuschungen zum Einsatz. Das ist natürlich vor allem in der Politik so, aber auch im ökonomischen Wettbewerb, im Ringen um philosophische oder theologische Standpunkte, im real existierenden Wissenschaftsbetrieb, im persönlichen Wettbewerb um Posten und Karriere, bis hin zum Gerangel im Ehe- und Familienleben. „Strategem“ ist der Fachbegriff für Listen, Tricks und Täuschungsmanöver. Professor Christian Rieck, ein Ökonom mit Spezialgebiet Spieltheorie, hat dazu einiges zu sagen, unterfüttert durch seine wissenschaftliche Sicht.

Das Buch

Auf der Grundlage historischer Sammlungen von Strategemen, speziell der chinesischen „36 Strategeme“, die dem General Tan Daoji (gestorben 436 n.Chr.) zugeschrieben werden, aber auch der „Strategemata“ des Römers Sextus Iulius Frontinus (ca. 40-103 n.Chr.), hat Christian Rieck eine Sammlung von Strategemen vorgelegt. Dazu werden immer zuerst die traditionellen Titel und Geschichten der Strategemata präsentiert, wozu auch Fabeln und Sinngeschichten gehören. Danach zeigt der Autor auf, wo diese Strategeme im modernen Leben zu beobachten sind.

Hauptzweck des Büchleins ist die Sensibilisierung für das Erkennen von Strategemen. Der Leser soll seine Naivität verlieren, Skepsis gewinnen, und geübt darin werden, hinter die Kulissen zu schauen. Das gelingt dem Autor in überzeugender Weise, nicht zuletzt durch eine ganze Reihe von hochaktuellen Fallbeispielen (das Buch wurde offensichtlich in späteren Auflagen aktualisiert). Die Einschätzungen des Autors zu Vorgängen unserer unmittelbaren Zeitgeschichte sind hochgradig zustimmungsfähig. Wer schon etwas älter ist, wird vieles finden, was er sich schon selbst gedacht hatte. Speziell jüngere Leser dürften durch dieses Buch schneller auf die Sprünge gebracht werden, besser zu erkennen, in was für einer Welt sie leben.

Interessant, aber weniger gelungen, ist der Ansatz, eine Krise als einen Akteur von Strategemen zu begreifen: Wie wenn uns eine Krise als handelnde Person mit List und Tücke begegnen würde. Das ist als Denkfigur zwar geeignet, um das Denken in Strategemen zu üben, ist aber in der Realität nicht so. Eine Krise handelt nicht. Sie vollzieht sich. Hier hat der Autor versucht, sein Buch als Ratgeber für aktuelle Krisen (Corona, Finanzkrise, was immer) aufzuhübschen und Leser mit der Idee zu ködern, von Krisen profitieren zu können. Strategeme sind aber nicht nur ein Thema für Krisenzeiten, sondern beherrschen auch den Alltag.

Kritik

Kritik muss an formalen Aspekten geübt werden. Das Buch ist teils schlampig zusammengestellt. Speziell die Einleitungen der verschiedenen Kapitel knallen dem Leser ohne Zusammenhang erst den chinesischen Titel des Strategems, dann z.B. eine Fabel von Aesop, dann vielleicht auch eine Anekdote aus der römischen Geschichte, und zuletzt auch die traditionelle chinesische Geschichte zum jeweiligen Strategem vor die Nase. Hier fehlen Einleitungen, Überleitungen und Einordnungen. Man hätte sich jeweils auch einen modernen Untertitel zu jedem Kapitel gewünscht, der die Essenz jedes einzelnen Strategems für moderne Leser besser auf den Punkt bringt. Dann wäre auch das Inhaltsverzeichnis des Büchleins „sprechender“ geworden.

Speziell von einem Wissenschaftler hätte man sich noch etwas mehr Abstraktion erwartet: Die 36 traditionellen Strategeme überlappen sich häufig gegenseitig, wie der Autor immer wieder mit Recht bemerkt. Hier hätte man sich den Versuch gewünscht, die 36 Strategeme auf eine noch kleinere Zahl von Elementarstrategemen einzudampfen. Wünschenswert wäre auch eine Tabelle gewesen, die aufzeigt, welche Strategeme mit gleichen Mitteln arbeiten. Ein kleines Literaturverzeichnis hätte nicht geschadet. Etwas mehr historischer Hintergrund wäre nicht schlecht gewesen. Nicht einmal der Name des chinesischen Generals Tan Daoji als Autor der „36 Strategeme“ fällt.

Immer wieder sind Worte in blassblauer Farbe gedruckt: Es handelt sich um Weblinks, die in der gedruckten Fassung des Buches natürlich nicht funktionieren und auch nirgendwo ausgeschrieben vorliegen (etwas in Fußnoten oder einem Anhang). Rechtschreibfehler kommen vor, jedoch nicht allzu häufig. Der aktuelle Preis von 9,99 EUR für die Kindle-Ausgabe und 18,- EUR für Softcover ist zu hoch. 6,- bzw. 12,- EUR wäre angemessener gewesen.

Fazit

Das Buch erfüllt seinen Zweck und lohnt zu lesen, ist aber etwas zu schlampig gemacht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit (1511)

Rundumschlag quer durchs Leben, gelungen und doch irreführend

Erasmus lässt die personifizierte Torheit eine Lobrede auf sich selbst halten. Versteckt hinter der Maske der Torheit und der Ironie kann Erasmus die Fehler der großen und kleinen Leute durchsprechen. Teilweise ist das anregend und witzig und auch für die heutige Zeit oft gut getroffen.

Teilweise ist es aber auch sehr unübersichtlich: Dummheit als Hauptthema einer Arbeit eröffnet ein viel zu weites Feld, als dass noch ein gemeinsames Band hinter allem zum Vorschein käme.

Teilweise ist es auch irreführend. Die Torheit redet teils so überzeugend und doppelt-ironisch, dass der Leser an manchen Stellen wirklich nicht mehr wissen kann, was Erasmus nun selbst ernst meint, und was er nur ironisch meint. Weniger gebildete Leser werden so manchen Rat der Torheit ernst nehmen und ihn entweder als Provokation empfinden oder sogar gutheißen! Das zynische Klischee des Weisen, der am Leben vorbeilebt und von den Frauen verschmäht wird, das Klischee von den Frauen, für die man sich zum lächerlichen Narren machen müsse, um sie zu gewinnen, das Klischee vom erfolgreichen Toren und dem erfolglosen Weisen (leidvolle Erfahrungen von Erasmus?): Sie sind wenig hilfreich und polarisieren die Leser, statt zu differenzieren.

Teilweise ist so manches, was die Torheit als Torheit hinstellt, in Wahrheit gar nicht töricht, wodurch das Werk schiefe und halbwahre Aussagen trifft. Witz, Ironie und Höflichkeit als Dummheiten hinzustellen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde, ist irrig. Ebenso irrig ist es, das „Ich weiß dass ich nichts weiß“ des Sokrates für töricht zu halten.

Gegen Ende des Werkes kommt Erasmus auf die Vernunftlogik des Glaubens zu sprechen, die in den Augen der Nichtgläubigen Torheit ist (Paulus: Wir sind Narren um Christi willen; Gott lässt die Weisheit der Weisen zuschanden werden und offenbart sich in Torheit). Dass die Worte des Paulus nicht vernunftfeindlich gemeint sind, sondern lediglich besagen, dass man mit derselben Vernunft zu anderen Schlüssen kommt, wenn man von anderen Voraussetzungen ausgeht (Jesus lebt, oder eben auch nicht), kommt nicht zum Ausdruck. Die Verwirrung zwischen Torheit und Vernunft ist perfekt.

Der eigentliche Wert des Werkes liegt vermutlich weniger in dieser oder jener Aussage, sondern in der Provokation selbst. Diese ist zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht gelungen. Die Frage ist, ob Erasmus es mit der Provokation nicht übertrieben hat, und wohin die Provokation führen soll, da es doch teilweise an Klarheit mangelt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Werk stark an Wert. Das „Lob der Torheit“ ist ein Querschläger, der schief und krumm in der Landschaft herumsteht, und viel Nebel verbreitet. Auch die heutigen Interpreten sind sich nicht völlig einig darin, was Erasmus eigentlich wollte, jeder sieht es wieder ein wenig anders.

Teilweise ist der Mangel an Klarheit auch dem Umstand geschuldet, dass Erasmus mit diesem Werk die politische Korrektheit seiner Zeit unterlief und unter der Maske der Torheit Dinge aussprach, die man nicht ungestraft sagen konnte. Erasmus soll durch dieses Büchlein das Aufbrechen von Tabus gelungen sein, so dass er als Wegbereiter der Reformation gilt.

Es finden sich interessante Reformgedanken zum Christentum, bis hin zu historisch-kritischen Denkweisen: Zum einen in der Feststellung, dass die Apostel einst kaum über das theologisch spitzfindige Wissen der Theologen aus Erasmus‘ Zeit verfügt haben werden, und was für einen Sinn es dann haben sollte? Zum anderen z.B. in der Feststellung, dass auch der Apostel Paulus die Altarinschrift für den unbekannten Gott in Athen zu seinen Gunsten zurechtbog. Beides erstaunliche Gedanken, die das scholastische Christentum massiv hinterfragen.

Die Anzahl der antiken Anekdoten, die Erasmus einbaut, ist erstaunlich. Die Interpreten sagen, die Torheit würde mit ihnen nur so um sich werfen, weil sie selbst sage, dass die Toren mit Zitaten nur so um sich werfen. Aber gleichzeitig kann Erasmus so seine Belesenheit beweisen, ohne selbst als töricht zu gelten.

Fazit

Eine geschickte und wirkmächtige, aber leider auch teils undurchsichtige Provokation, die das mittelalterliche Denken ordentlich durchschüttelte und bis an seine Grenzen in Richtung der Moderne dehnte. Nebenbei auch mancher Ratschlag, manche Einsicht der Lebensklugheit und Menschenkenntnis, die auch heute noch von Wert ist.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Januar 2014)

Tommaso Campanella: Die Sonnenstadt (1602)

Campanellas Sonnenstadt als Brutstätte sozialistischen Denkens

Der Text „Die Sonnenstadt“ (La città del Sole), oft fälschlich als „Sonnenstaat“ übersetzt, ist das politische Programm eines praktizierenden Sozialrevolutionärs aus dem Jahr 1602, veröffentlicht 1623. Es ist keine satirische Schrift wie die „Utopia“ des Thomas Morus, der seiner Zeit ironisch den Spiegel vorhalten wollte und nicht ernsthaft an die Verwirklichung seiner Ideen dachte. Und es ist auch keine Wissenschaftsvision wie das „Neu-Atlantis“ von Francis Bacon, wo der Schwerpunkt auf noch zu machenden Erfindungen liegt. Campanella zählt an Techniken und Methoden nur auf, was die Renaissance bereits zu bieten hatte, bis hin zur Idee der Flugmaschinen.

Lupenreiner Sozialismus

Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen die sozialen Verhältnisse, die in herzlich naiver Weise einen lupenreinen Sozialismus propagieren. Es ist für den modernen Leser ganz und gar erstaunlich, wie exemplarisch die einzelnen Aspekte des Sozialismus in dieser Schrift Punkt für Punkt abgehandelt werden:

Niemand besitzt etwas für sich, alle bekommen das Ihre von den Beamten zugeteilt. Die Menschen seien durch Besitzlosigkeit zum Gemeinsinn befreit. Die Familie ist aufgelöst. Geschlechtsverkehr findet ausschließlich zur Triebbefriedigung und zur Fortpflanzung statt, wobei die Partner von Beamten ausgewählt werden. Die Kinder werden gemeinschaftlich erzogen. Liebe spielt sich nur auf platonischer Ebene ab, Eifersucht gäbe es nicht.

Es gibt keine schweren Verbrechen, da die Menschen zu höchstem Edelsinn befreit seien. Eine Erbsünde, d.h. eine grundsätzliche Verstricktheit des Menschen in das Böse, gäbe es nicht, sondern Fehler und Verbrechen seien immer eine Folge falscher Erziehung, falscher gesellschaftlicher Verhältnisse usw. und damit grundsätzlich beseitigbar.

Die Herrscher gäben ihr Amt freiwillig ab, wenn sich jemand fände, der weiser ist als sie. Die Menschen strebten alle voller Eifer nach Bildung und Pflichterfüllung für die Gemeinschaft. Eigeninitiative ist nicht vorgesehen. Individuelle Begabungen sind darauf angewiesen, von Beamten erkannt und gefördert zu werden.

Kritik

Es ist kein Zufall, dass Campanella Aristoteles grundsätzlich ablehnt und schmäht. Ein realistischer Einwand des Aristoteles, der stellvertretend die ganze Kritik an solchen sozialistischen Blütenträumen repräsentiert, dass nämlich der Eine immer darauf warte, dass ein anderer die Arbeit für ihn tue, wird kurz abgetan. Der Realist Aristoteles wird von Campanella als Pedant verschrieen.

Damit wird auch deutlich, dass Campanellas Naivität nicht verzeihlich ist. Manche meinen ihn entschuldigen zu müssen, weil er ein so früher Denker sei, dass er noch nicht wissen konnte, wie der Sozialismus an der Realität scheitern wird. Doch dies ist unzutreffend. Man hat dies schon immer gewusst und wissen können.

Da ist es auch keine Entschuldigung, dass die spanische oder kirchliche Herrschaft zu seiner Zeit nach einer Revolution schrie. Eine Revolution muss keine sozialistische Revolution sein, wenn sie z.B. humanistisch orientiert ist und Athen und Rom vor Augen hat, was der Zeit Campanellas nicht ferngelegen hätte.

Herkunft der sozialistischen Ideen

Was aber hatte Campanella dann vor Augen, wenn nicht Athen oder Rom? Woher kommen überhaupt seine sozialistischen Ideen? Es wird deutlich in seinen Worten von den vielen Gliedern des einen Gemeinwesens, einem Wort des Apostels Paulus, das das ideale Zusammenwirken aller Gläubigen in der heiligen Gemeinschaft der Kirche beschreibt. Campanellas Sonnenstadt folgt ganz offensichtlich dem christlich-religiösen Ideal der idealen Gemeinschaft der Gläubigen unter einer perfekt funktionierenden Hierarchie! Wahrhaft aufklärerisches Denken sieht anders aus.

Selten hat sich die These, dass der Sozialismus eine säkularisierte Wendung des christlich-religiösen Glaubens ist, so bestätigt gefunden wie hier. Hier bei Campanella sind wir ganz dicht dran an der originalen Brutstätte der sozialistischen Ideen.

PS 29-SEP-2013: Die Rezension macht zu wenig deutlich, dass der sozialistische Charakter auch durch Übernahmen aus Platons Politeia zustande kommt. Damit hat Campanella die liberale Wende Platons in dessen späteren Werk Nomoi ignoriert, es liegt eine typische Fehlinterpretation Platons vor.

Einige bemerkenswerte Einzelaspekte

Völlig befremdlich ist die Ausgestaltung der Strafen in der Sonnenstadt; sie sehen alles andere als zivilisiert aus, sondern erinnern an archaische Stammestraditionen: Es gibt die kollektive Steinigung, Verbrennen, Todesstrafe ohne vorherige Diskussion, für die Wahrheitsfindung nutzlose Mindestanzahlen von Zeugen, und unbeweisbare Anklagen fallen auf den Ankläger zurück. Im Übrigen gilt das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Bei Campanella sieht man sehr eindrücklich, wie Astrologie und Astronomie noch eine gemeinsame Wissenschaft bilden. Neue Erkenntnisse über Himmelsmechanik und Zeichendeutung gehen hier noch Hand in Hand. Gegen Ende schweift der Text sogar vom Thema der Sonnenstadt ab und verliert sich in astrologischen Prophezeiungen über die Zukunft Europas.

Hat die Sonnenstadt etwas mit Platons Atlantis zu tun? Nein.

Der Stadtgrundriss der Sonnenstadt mit ihren sieben Mauerringen auf einem Hügel, die den sieben Planeten zugeordnet sind, gleicht verblüffend der Stadt Ekbatana, wie sie von Herodot beschrieben wird, nicht jedoch Platons Atlantis, das drei Ringe von Wasser und Land um einen Hügel herum aufweist. Der Tempel in der Mitte hat nichts mit Platons Atlantis zu tun, ebenso wenig der Kult der Sonnenstadt. Wasserringe tauchen auch keine auf, lediglich Burggräben, was etwas völlig anderes ist.

Auch sonst weist nichts auf Atlantis: Keine rechteckige Ebene, keine Lage am Rande einer Ebene, kein schwarz-weiß-rotes Gestein, keine zwei Quellen, keine Gründungslegende mit fünf Zwillingspaaren, und auch kein Sittenverfall gefolgt von einem Angriff auf den Rest der Welt. Campanella macht zwar zahlreiche Anleihen bei Platon, jedoch nur bei dessen Staatsutopie Politeia, nicht aber bei dessen Atlantisdialogen. Zumal Atlantis bei Platon ja auch nicht positiv sondern negativ gezeichnet wird.

Eindeutig erkennbar sind Anleihen bei der Utopie des Thomas Morus, vor allem was die Rahmenhandlung betrifft. Dabei ist die Utopie des Thomas Morus selbst wiederum eine Karikatur der britischen Insel, nicht aber der Insel Atlantis. Es wäre also schlicht falsch zu behaupten, Campanella hätte sich zu seiner Sonnenstadt von Platons Atlantis inspirieren lassen. Ein solcher Zusammenhang ist nirgends erkennbar.

Fazit

Für die Aufarbeitung und Präsentation des Textes mit Anmerkungen und Nachwort gibt es vier von fünf Punkten; ein Punkt Abzug für ein zu großes Verständnis für die gefährlichen Ideen Campanellas.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Juli 2010)

Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur – Ein Perspektivenwechsel (2006)

Humanismus als gute Gesprächsbasis – aber welcher Humanismus?

Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von Reden, Aufsätzen und einem Interview von und mit Nida-Rümelin, die im Zeitraum 1999-2006 gehalten bzw. geschrieben worden waren. Dabei kommt es teilweise zu mehrfachen Wiederholungen derselben Thematik, was andererseits auch verschiedene Aspekte derselben Sache eröffnen kann.

Klassischer Humanismus

Zunächst ist es wohltuend, von einem Politiker, der Nida-Rümelin ja als Kulturstaatsminister 2001-2002 war, einige tiefer gründende Worte zu Themen wie Kultur und Bildung zu hören. Für Nida-Rümelin ist Bildung gerade nicht zuerst Berufsausbildung, sondern Menschenbildung, die den Menschen als ganzes entfaltet, und zur Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit erzieht. Damit wird der Mensch kommunikationsfähig, gesellschaftsfähig, und letztlich auch fähig, sich verschiedensten beruflichen Situationen zu stellen, gerade auch in unserer heutigen einen Welt. Nida-Rümelin rückt dafür – auch im Buchtitel – den Humanismus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

An einigen Stellen lässt Nida-Rümelin durchblicken, dass der Humanismus geerdet ist in seiner Tradition von der Antike bis z.B. zu Wilhelm von Humboldt. Damit ist der Humanismus keine beliebige Leerformel. Nida-Rümelin sieht den Humanismus auch zurecht als Widerspruch gegen das allzu Nützliche, gegen ein ökonomisches Diktat, oder gegen die Vereinnahmung durch den zynischen Zeitgeist. Auch sieht sich Nida-Rümelin eher dem Klassischen als dem Romantischen verbunden.

Das ist in der Tat die Grundlage, auf der unsere Gesellschaft eine Zukunft haben kann. Das ist auch die Grundlage, auf der sich die Zukunft von Kultur und Bildung zwischen den verschiedenen politischen Lagern zu diskutieren lohnt. Nida-Rümelin ist natürlich ein Linker, ein SPD-Mitglied. Aber eines, mit dem sich offenbar reden lässt. Das muss man festhalten.

Kritikpunkte

Leider hält Nida-Rümelin die Linie von Rationalität und Tradition nicht konsequent durch. In manchen seiner Texte schwebt der Humanismus als abgehobener Begriff im Raume herum, und wird zu einer Leerformel, mit der sich die Irrtümer des Zeitgeistes verbinden. So plädierte Nida-Rümelin z.B. für die „Vielfalt-Gesellschaft“, in der Religion bzw. Weltanschauung und Nationalkultur eines Menschen nur als irgendwelche Aspekte unter mehreren angesehen werden, die sich beliebig kombinieren und austauschen ließen, so dass daraus eine bunte, vielfältige Gesellschaft entstünde. Bei Nida-Rümelin heißt das „humanistischer Individualismus“. In Wahrheit handelt es sich aber nur um das alte, dumme Multikulti, nur anders verpackt.

Ebenso denkt Nida-Rümelin über einen Mittelweg zwischen Hobbes und Rousseau nach: Zwischen einer Gesellschaft, die durch Zwang von oben zusammenhält, und einer Gesellschaft, die durch Homogenität zusammengehalten wird, glaubt er an ein Modell der Kooperation von Bürgergesellschaft und starken Institutionen des Staates, und einen ethischen Minimalkonsens, der stets neu auszuhandeln sei. Nida-Rümelin übersieht damit völlig, wie stark die Bindekräfte von Traditionen, des Gewachsenen schlechthin, sind, und wie schwer so etwas wieder herzustellen ist, wenn es erst einmal kaputt gemacht wurde. Vielleicht sind Hobbes und Rousseau auch einfach die falschen Gegenpole. Jedenfalls wird weder ein Minimalkonsens, der gerade einmal aus den Menschenrechten besteht, noch ein stets neues Aushandeln je zu einer stabilen Gesellschaft führen. Multikulti funktioniert nur dort, wo es in die klaren Regeln einer Mehrheitsgesellschaft eingebettet ist. Oder anders ausgedrückt: Es funktioniert eigentlich per se überhaupt nicht.

Richtig ist allerdings, dass eine Toleranz aus Indifferenz nicht funktioniert. Toleranz ist nur dort echt, wo sie ganz bewusst Toleranz ausübt gegenüber einer Meinung, die man klar für falsch hält. Toleranz aus Respekt in diesem Sinne ist eine Tautologie. Toleranz ist Respekt vor dem Andersdenkenden, ist Empathie mit den Irrenden.

Auch andere linke Projekte werden von Nida-Rümelin ideologisch gestützt. So z.B. die Ganztagsschule, die angeblich zur Persönlichkeitsbildung beitrage. Oder planwirtschaftliche Elemente wie die Buchpreisbindung. Oder linke Theorien von Gerechtigkeit (John Rawls), denen zufolge Ungleichheit dann gerecht sei, wenn sie den Schwächeren nützt. Da kann man sehr geteilter Meinung sein, ob das den Schwächeren wirklich nützt! Jedenfalls kann man alles übertreiben, und gerade diese positive Diskriminierung scheint heute doch sehr übertrieben zu werden.

Erfrischend unideologisch

Andererseits ist Nida-Rümelin wiederum erfrischend unideologisch. Er wendet sich gegen die anti-humanistischen Impulse im marxistischen und freudianischen Denken: Wer immer nur cui bono? frage, oder immer nur nach psychologisch tieferen Absichten forsche, der verpasse es, den Menschen als Menschen ernst zu nehmen. Nida-Rümelin hatte auch ein richtiges Urteil über den Ostblock, womit er sich keine Freunde machte. Auch möchte Nida-Rümelin Karl Popper rehabilitieren, worin sich Nida-Rümelin mit Thilo Sarrazin trifft, der einstmals zusammen mit Helmut Schmidt Propaganda für Karl Popper in der SPD machte.

Kurz: Man muss nicht alles mögen, was Nida-Rümelin sagt und schreibt, aber man muss Nida-Rümelin als ein faires Gesprächsangebot verstehen, weil tiefere gemeinsame Grundlagen da sind: Der Humanismus. Mit der Idee des Humanismus gibt es eine gemeinsame Basis, auf deren Grundlage man die Zukunft gestalten kann. Linksliberale und Liberalkonservative gemeinsam.

Humanismus ist gewiss ein wichtiger Aspekt der gemeinsamen deutschen Leitkultur. Hier ist nun wiederum allerdings schade, dass Nida-Rümelin diesen Gedanken nicht auch historisch so durchbuchstabiert hat, dass sich humanistisches Denken in allen Kulturen der Welt vorfinden lässt, vom Christentum über den Islam bis hin zum Konfuzianismus.

Einige Randthemen

Sehr wohltuend sind Passagen, in denen Nida-Rümelin den real existierenden Wissenschaftsbetrieb auf die Schippe nimmt. Seiner Meinung nach hätten viele kreative Forscher vergangener Zeiten im heutigen System keine Chance mehr. Wie wahr. – Er wendet sich auch sehr richtig gegen ein Ausspielen der „exakten“ Naturwissenschaften gegen die „Geschwätzwissenschaften“ der Geisteswissenschaften. – Gut beobachtet auch, dass Platon in den Nomoi gegenüber der Politeia umdenkt. – Sloterdijk war wohl anders, als Nida-Rümelin denkt, kein Anti-Humanist. Sarrazin übrigens auch nicht, aber den erwähnt Nida-Rümelin nicht. – Schließlich noch eine Kuriosität: In einem Vortrag von 2001 bezeichnet Nida-Rümelin den historischen deutschen Sonderweg seit 1990 für beendet. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Julia Friedrichs: Gestatten, Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008)

Lesenswert – sympathisch – fordert eigene Meinungsbildung heraus

Ein sehr lesenswertes Buch, weil es Einblick in die Schulen und Universitäten bietet, an denen die Elite von morgen herangebildet wird, und weil man vor allem auch einen Blick auf die jungen Menschen selbst bekommt, die sich als Elite verstehen. Vorurteile werden bestätigt – und widerlegt. Es gibt tatsächlich Leistungseliten – aber es gibt natürlich auch die Geldeliten, die sich einen Schul- oder Uni-Abschluss praktisch kaufen, weil sie es im normalen System nicht schaffen würden. Ein Problem für alle – auch bei gutem Willen – ist natürlich der Verlust der Bodenhaftung.

Ein Vorteil aller Eliteschulen ist, dass nicht nur auf Stoffvermittlung, sondern auch auf Persönlichkeitsbildung Wert gelegt wird. Stark auch die Passagen, wo die Autorin überzeugend darlegt, dass die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend nur selten durch Leistung entschieden wird, sondern fast immer durch quasi traditionelle Beziehungen und Stallgeruch (d.h. nicht allein und nicht zuerst durch Geld, sieh an).

Sehr sympathisch lesen sich die Passagen, wo die Autorin den Werdegang der Elite-Schüler mit ihrem eigenen ganz normalen Werdegang an staatlichem Gymnasium und staatlicher Uni vergleicht. Oder wo sie selbstkritisch wird und auch schildert, wie ihre eigenen Sozi-Eltern mit dem Alter plötzlich so manches ganz anders sahen. Oder wo sie zeigt, dass es bei Ökos und Sozen ebenfalls zu Elite-Bildungen kommt.

Dass die Autorin politisch links ist und es auch zeigt, wäre kein Problem, da sie nicht radikal ist, aber manchmal stört es doch. Das Problem ist weniger, was sie sagt, als was sie nicht sagt. Wenn Eliten wirklich Leistungseliten sind, die der Gesellschaft etwas bringen, dann sind sie gut und sinnvoll – aber in dieser Klarheit liest man das in diesem Buch leider nicht. Dass bei Vermischung von guten und schlechten Schülern nicht nur die schlechten Schüler besser, sondern auch die guten Schüler schlechter abschneiden, hätte die Autorin ruhig sagen können. Dass in Deutschland durch eine unkontrollierte Zuwanderung und Multikulti-Illusionen bezüglich der Integration eine enorm angewachsene, bildungsferne Unterschicht entstanden ist, die das staatliche Schulsystem heute ganz anders aussehen lässt als vor 20 Jahren, als die Autorin zur Schule ging, bleibt ebenfalls unausgesprochen, obwohl es gut gepasst hätte, z.B. als die Flucht in private Schulsysteme thematisiert wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon im Dezember 2009)

Jules Verne: Das Karpathenschloss (1892)

Provinzposse in Transsylvanien um Technik und Aberglauben

Thema dieses Romans ist die Wirkung von moderner Technik auf Menschen, die sie nicht kennen. Da sind zum einen die Bewohner eines rumänischen Dorfes, die bemerken, dass sich in dem nahe gelegenen, verlassenen Schloss plötzlich merkwürdige Dinge tun, die sie sich nicht erklären können. Aber auch ein durchaus aufgeklärter Graf, der hinzukommt, wird am Ende durch die moderne Technik getäuscht. Hineinverwoben ist eine tragische Geschichte um Liebe, Tod und Musik.

Die Geschichte selbst ist nicht sonderlich interessant und eher operettenhaft, man muss sich auf die farbige Schilderung der Dorfbewohner einlassen können und am Erzählen selbst gefallen finden, um dieses Buch zu lieben. Dann ist es aber ein schönes Stück Literatur.

Am Rande interessant ist, dass Vampire so gut wie nicht vorkommen. Jules Verne schrieb diesen Roman offenbar noch vor dem Hype um Dracula (1897). Außerdem interessant ist die Rolle der Juden in Rumänien, wie Jules Verne sie sieht: Sie treten entweder als fahrende Händler auf, die um Preise schachern, oder als Geldverleiher, die Wucherzinsen nehmen und auf diese Weise irgendwann ganz Rumänien in ihrem Besitz haben werden, so Jules Verne. Man könnte von einem „ökonomischen Antisemitismus“ sprechen; ein kultureller oder gar rassistischer Antisemitismus ist nicht zu sehen. Ganz am Rande werden auch Zigeuner als besonders abergläubische Menschen gezeichnet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2015)

Johan Bargum: Nachsommer (1993)

Trost- und Lachbuch für vielgeplagte „stille“ Brüder

Das Buch erzählt von einem ungleichen Brüderpaar, das sich nach langer Zeit am Sterbebett der Mutter wiedertrifft. Einer der Brüder ist eher „still“ und zurückhaltend, der andere aggressiv und rücksichtslos. Der eine unbeholfen und scheinbar ein Versager, der andere ein „Macher“ und scheinbar ein Erfolgsmensch. Der eine lebt dauerhaft einsam, der andere hat Familie. In Retrospektive wird das Verhältnis der beiden nachgezeichnet, sowie das Verhältnis zur Mutter, zum Stiefvater („Onkel“), und zur Ehefrau und den Kindern des einen Bruders.

Johan Bargum schafft es, in knappen Worten kurze Episoden zu Papier zu bringen, die den Charakter der beiden Brüder subtil und präzise auf den Punkt bringen. Bargum muss so eine Situation selbst erlebt oder sehr genau beobachtet haben, denn er kann auch die untergründigen Beweggründe der Beteiligten bestens nachzeichnen. Angefangen von der unfasslichen Ignoranz des „Macher“-Bruders und seines Kotzbrocken-Sohnes in ihrer ganzen lächerlichen Tragikomik, über die erlernte Hilflosigkeit des systematisch entmutigten „stillen“ Bruders, bis hin zur Mutter, die über sich selbst keine Klarheit erlangen zu können scheint und unwahrhaftig bis zur Heuchelei ist: Während sie den „Macher“-Bruder offiziell hasst, zieht sie ihn in Wahrheit dem „stillen“ Bruder immer wieder vor, angefangen vom ewig einseitig geäußerten „Schieb die Schuld nicht auf Deinen Bruder!“ bis hin zu dem Umstand, dass er selbst noch beim Erbe benachteiligt wird.

Es ist fast schon eine Satire über allzumenschliche Verhältnisse. Eine Satire, die von der Realität bisweilen überholt wird. Wer selbst in einer ähnlichen Situation lebt, wird sie wiedererkennen, und darin Trost und Ermutigung finden. Wer einer solchen Situation entronnen ist, wird herzlich darüber lachen können. Zeile für Zeile, Wort für Wort wird ein Volltreffer nach dem anderen gelandet. Der faule Zauber der ignoranten „Macher“ und der unklaren Unwahrhaftigen, hier wird er entlarvt. Das Büchlein ist kurz, aber sehr dicht und sehr reich. Es ist ein Plädoyer für rationale Klarheit und unverfälschte Menschenfreundlichkeit ex negativo.

Kritik ist an der Darstellung der Begebenheiten rund um die Ehefrau des „Macher“-Bruders, Klara, angebracht. Es ist unglaubwürdig, dass sie aus Unsicherheit über ihre Beziehung zum „Macher“-Bruder spontan mit dem „stillen“ Bruder ins Bett geht. So sind die Ehefrauen von „Machern“ nicht. Und es ist ebenso unglaubwürdig, dass der „stille“ Bruder dies geschehen lässt, ohne dass sie sich von ihrer Beziehung zum „Macher“-Bruder losgesagt hätte. So sind „stille“ Brüder nicht. Treffender wäre es gewesen, wenn der „Macher“-Bruder dem „stillen“ Bruder die Freundin ausgespannt hätte.

Auch das Ende des Buches, wo sich Klara wieder dem „stillen“ Bruder zuneigt, ist unglaubwürdig. So läuft es in Wirklichkeit nicht. Solche „Macher“-Menschen haben einen inneren Abwehrmechanismus gegen alles, was sie zum Nachdenken und zum Zweifeln bringen könnte. Deshalb kann es auch kein Umdenken geben. Nachdenken und Zweifeln gilt ihnen schon als verdächtig, als seelische Krankheit, als Aussatz der Aussätzigen, dem man sich am besten gar nicht erst aussetzt. Wegschauen ist in diesen Kreisen Trumpf. Solche Menschen huldigen der Oberflächlichkeit und dem Aufgehen in einem Mainstream-Denken als dem wahren Glück. Sie verwechseln Vernunft mit „common sense“ und sind notorisch gut drauf. Probleme umgeht man, indem man sie einfach nicht hat (weil man vom Glück und den Umständen begünstigt wird, womöglich auf Kosten anderer, worüber man aber nicht nachdenkt), oder indem man ihre Wahrnehmung aktiv unterdrückt, bis es zu spät ist (und dann sind andere schuld, oder man spricht cool von „Pech“, obwohl man selbst schuld ist, was man aber niemals zugeben würde, nicht einmal vor sich selbst).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2018)

Tibor Rode: Das Rad der Ewigkeit (2013)

Gelungene historische Schnitzeljagd mit noch ungehobenem Potential

Der Hintergrund dieses Historienromans ist in der Tat spannend und gut ausgesucht: Es geht um den Erfinder Orffyreus, der im 17. Jahrhunderts angeblich ein Perpetuum Mobile erfunden haben soll, und damit die damalige Fachwelt um Newton und Leibniz in Aufruhr versetzte. In Deutschland sind diese Geschehnisse weitgehend vergessen, in England jedoch sollen sie auch heute noch bekannt sein. In der Tat sind diese Geschehnisse es wert, beleuchtet zu werden.

Das schafft dieser Roman ganz ausgezeichnet, indem er auch den historischen Bergpark in Kassel mit seinem berühmten Herkules auf glaubwürdige Weise damit in Verbindung setzt, denn Orffyreus lebte damals in Kassel: So muss gute Literatur mit Geschichte umgehen: Nicht verfälschen, sondern so ergänzen, dass das bestmögliche dabei herauskommt.

Rund um diese historischen Geschehnisse entfaltet der Roman eine historische Schnitzeljagd in der Gegenwart, die von verschiedenen, teils jahrhundertealten Interessengruppen getrieben wird. Dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte von Orffyreus Stück für Stück enthüllt, Gegenwart und Vergangenheit verzahnen und kommentieren sich … – perfekt!

Der Roman ist ein Debut und leidet deshalb an einigen wenigen Stellen unter gewissen erzählerischen und sprachlichen Schwächen, die aber angesichts der Gesamtleistung nicht weiter ins Gewicht fallen. Schon schwerer wiegt der allzu offene Schluss des Romans: Zwar sind die beiden Hauptpersonen den „Bösewichtern“ zunächst glücklich entkommen und auch sehr reich geworden, aber die „Bösewichter“ sind immer noch in der Welt und werden sie weiter jagen, davon muss der Leser ausgehen. Eine Lösung ist das nicht.

Auch die Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart passte nicht immer. Teilweise liefen die beiden Handlungsstränge unverbunden nebeneinander her. Deshalb ein Punkt Abzug. Bei Behebung solcher Schwächen ist von diesem Autor aber noch einiges zu erhoffen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Februar 2014)

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