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Leo Tolstoj: Krieg und Frieden (1868/69)

Trotz allem ein echter Klassiker über Mensch und Gesellschaft, der bleiben wird

Der Roman „Krieg und Frieden“ von Tolstoj beschreibt den Werdegang mehrerer Familien und ihres Umfeldes rund um die Zeit des Russlandfeldzuges Napoleons. Obwohl man zunächst den Eindruck hat, einem eher oberflächlichen Werk wie etwa einem Roman von Alexandre Dumas gegenüber zu stehen, zeigt sich bald, dass der Roman reich an Einsichten ist, die teils implizit, teils fast aufdringlich explizit vermittelt werden.

Zunächst bietet sich eine Fülle an Material, um seine Menschenkenntnis zu schulen und Einsichten in das gesellschaftliche Leben zu gewinnen. Zahlreiche Charaktere und ihre Veränderung und Entwicklung nach Situation, Stimmung und Zeitläuften werden genauestens nachgezeichnet: Da ist der Besonnene, der Tatkräftige, der Heißsporn, der Vorsichtige, der Praktische, der Karrierist, der Vater, die Mutter, die Kinder, die Brüder, die Schwestern, der naive Intellektuelle, der Reiche, der Alte, der Bauer, der Adelige, die Gesellschafterin, der Hauslehrer, der Kutscher, der General, der Skeptiker, die Gläubige usw. Diese Charaktere sind aber nicht stereotyp gezeichnet, sondern durchlaufen eine Entwicklung. Es handelt sich auch keineswegs um Randfiguren: Tolstojs „Krieg und Frieden“ hat nicht zwei oder drei Hauptpersonen, sondern gleich ein ganzes Dutzend davon.

Als Folie für diese Figuren entfaltet sich in epischer Breite ein gewaltiger Bilderbogen verschiedenster typischer Szenen des gesellschaftlichen Lebens: Die Salonrunde, der Ball, die Jagdgesellschaft, das Militärleben, die Schlacht, das Duell, der Gottesdienst, die Begegnung mit dem Kaiser, die Eheanbahnung, die Geburt, die Sterbeszene, die Bauernrevolte, das vertraute Zwiegespräch unter Eheleuten, die Rituale der Freimaurer usw.

Damit ist dieser Roman auch ein ausgezeichnetes Dokument dieser Zeit. Der moderne Leser wird viel Geduld mitbringen müssen, um diese aufmerksam beschriebenen Szenen genießen zu können; wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Lediglich in der zweiten Hälfte des Romans nehmen die Beschreibungen des größeren geschichtlichen Verlaufs einen deutlich zu großen Raum ein, sie führen zu weit weg von den betrachteten Personen – hier muss man als Leser eben durch.

Tolstoj hebt immer wieder auf die Eigenheiten des russischen Charakters ab. Die Negativfolie dazu ist häufig der deutsche Charakter: Während man den Russen im Krieg zügeln, den Franzosen hingegen in den Krieg prügeln müsse, müsse man dem Deutschen erklären, warum er in den Krieg ziehen solle; die Deutschen seien die einzigen, die Selbstbewusstsein aus einer selbsterfundenen Theorie schöpfen könnten; die Deutschen seien dazu imstande, Verletzte ignorant liegen zu lassen, während sie ihr Hab und Gut retten; der Deutsche wird als „Wurstmacher“ bezeichnet, er spalte sein Korn auf dem Rücken des Beiles, und wenn eine Lokomotive nicht vom Teufel bewegt werde, dann doch sicher „vom Deutschen“.

Das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe und der Abtreibung wird am Rande gestreift. Interessante Einsichten vermittelt der Roman auch zum Thema Freimaurer, die als eine Gruppierung dargestellt werden, deren Mitglieder ihre Ideale genauso selbstgerecht verraten, wie die Mitglieder jeder anderen Kirche auch. Tolstoj hat auch einen Blick für die charakterliche Verhärtung und das schlechte Gewissen von Menschen, die ein Verbrechen auf Befehl begehen, und weist vehement den Gedanken zurück, dass ein Verbrechen verzeihlich werde, wenn es auf Befehl großer Männer geschieht. Die Entscheidungsfindung unter Politikern und Generälen wird ebenso kritisch beleuchtet wie der Umstand, dass in der Politik morgen verdammt sein kann, was heute gilt, und umgekehrt.

Ins Zentrum seiner Darstellungen hat Tolstoj jedoch die Erkenntnis gerückt, dass die Geschichte nicht von großen Männern und Denkern gemacht wird, sondern dass die großen Männer und Denker seiner Auffassung nach nur dem Zug der Zeit entsprechen und nicht wirklich nach eigenem Willen handeln und Einfluss nehmen können. Tolstoj hat damit eine Art Chaostheorie der menschlichen Gesellschaft geschaffen: Das chaotische Zusammenwirken vieler Einzelner sei es, das in Strömungen und Gesetzmäßigkeiten zusammenlaufe. In den allerletzten Absätzen des Romans entwickelt Tolstoj daraus die Idee, dass der Mensch in Wahrheit gar keinen freien Willen habe, dass freier Wille eine Einbildung sei.

Die Radikalität dieser Auffassungen verwundert ein wenig, ist aber für Tolstoj typisch. Denn natürlich hat ein großer Mann erheblich mehr Einfluss auf den Gang der Geschichte als ein kleiner Mann, ein vielgelesener Denker mehr als ein schlichter Arbeiter; und der finale Schluss Tolstojs auf die Nichtexistenz des freien Willens ist vollends übertrieben. Verstehen kann man diese Radikalität nur vor dem Hintergrund der damaligen Geschichtsschreibung, die die großen Männer zu sehr ins Zentrum rückte, was Tolstoj natürlich völlig zurecht kritisiert. Unangenehm fällt auf, dass Tolstoj die Idee, dass große Männer den Gang der Geschichte nicht beeinflussen könnten, immer wieder und wieder in stets neuen und anderen Variationen vorträgt, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches – der Leser ist dessen bald überdrüssig, Tolstoj hört und hört nicht auf, wieder und wieder die gleichen Gedanken zu wiederholen. Tolstoj stößt auch nicht zu einer allgemeinen Theorie kollektiver Irrtümer vor, sondern bleibt ganz bei diesem einen kollektiven Irrtum stehen, dass Geschichte allein von großen Männern gemacht werde.

Fazit

Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ hat einige auffällige Schwächen, dennoch ist und bleibt er ein lesenswerter Klassiker, der dem Leser viel zu geben vermag. Erstaunlich ist dabei, dass dies nicht so sehr an den explizit formulierten Intentionen des Autors liegt, sondern vielmehr an den zahlreichen Einsichten in das Wesen von Mensch und Gesellschaft, die Tolstoj eher implizit mitteilt. Diese sind es, die das Werk zu einem Klassiker machen: Wer mit den Figuren dieses Romans, mit Andrei, Pierre, Natascha, Boris, Nikolai, Marja usw. mitgefiebert hat, gehört fortan zu einem Kreis von Eingeweihten, die einen gemeinsamen Schatz von Einsichten und Erfahrungen teilen. Es lohnt sich, dazu zu gehören.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Juli 2010; dort ist die Rezension inzwischen verschwunden)

Leonardo Sciascia: Mein Sizilien (1995)

Zahlreiche Einblicke in die historische Tiefenpsychologie Siziliens, doch etwas bedrückt

Der Band „Mein Sizilien“ von Leonardo Sciascia, erschienen im Wagenbach-Verlag 1995, vereinigt eine Reihe von Aufsätzen aus den 1970er und 80er Jahren, in denen Leonardo Sciascia über Wesen und Seele Siziliens und der Sizilianer berichtet, teilweise aus einer sehr persönlichen, teilweise aus einer allgemeinen Perspektive. Fast alle Aufsätze haben eine historische Dimension.

Wir erfahren von der Abgewandtheit der Sizilianer vom Meer, obwohl sie doch überall vom Meer umgeben sind, und von ihrem Charakter eines stummen Leidens. Wir hören von den vielen Eroberungen im Laufe der Geschichte und ihren psychologischen Folgen für die Sizilianer, und von einzelnen Helden, die aus den Umständen auszubrechen versuchten. Wir lesen von Sciascias Heimatort Racalmuto und vom Schweigen im Motto des Stadtwappens. Wir hören von dem Vorrecht Siziliens, das dem Papst abgetrotzt wurde, und von einer Stadt Mussolinis, die nie gebaut wurde. Es wird von einem Massaker berichtet, dass deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Zivilbevölkerung anrichteten, aber auch von der Effektivität, mit der dieselben deutschen Soldaten die Invasion der Alliierten bekämpften und einen erfolgreichen Rückzug organisierten. Wir lesen von einer „Gebrauchsanweisung“ für Sizilien, die 1577 für einen neuen Vizekönig geschrieben wurde, und von der Beschreibung von Siziliens Küsten von 1584. Ebenso erfahren wir von den klugen Beobachtungen von Alexis de Tocqueville zur Landwirtschaft am Ätna und der besonderen Bedeutung von Grundbesitz auf der Insel. Wir erfahren einiges über die Hauptstadt Palermo und seine Beziehung zu Monreale. Wir hören von dem britischen Herzog von Bronte und von der sizilianischen Unabhängigkeitsbewegung. Aber auch von einer skurrilen Jugendbewegung in Catania, und davon, dass die Catanesen als die „exemplarischen“ Sizilianer gelten, während die Mafia sich, so Sciascia, eher im Westteil Siziliens austobte. Schließlich bekommen wir einen Überblick, wie sich die Präsenz der Mafia in der sizilianischen Literatur niederschlug.

Alles in allem hinterlässt das Bändchen einen etwas düsteren und bedrückten Eindruck. Lebensfreude scheint nicht die Sache der Sizilianer zu sein, eher eine gewisse Skurrilität. Auch scheint die Mafia von Leonardo Sciascia seltsam milde behandelt zu werden: Es ist zu viel von Ehre und Verteidigung gegen den Staat die Rede, und dass sie im Osten der Insel nicht präsent sei. Vom katholischen Glauben und seinen Festen hört man nicht viel. Man sollte unbedingt auch Sciascias Aufsatzsammlung „Das weinfarbene Meer“ lesen, um ein runderes und gegenwärtigeres Bild zu bekommen. Die darin enthaltenen Aufsätze stammen aus früheren Jahren: 1959-1972.

Man hat den Eindruck, dass sich Leonardo Sciascias Stimmung in späteren Jahren eintrübte. Tatsächlich wechselte Sciascia 1977/79 von der kommunistischen Partei zu der radikallibertären Partei Partito Radicale, und redete Ermittlungserfolge gegen die Mafia durch Staatsanwälte wie Falcone und Borsellino schlecht. Angeblich wollte er damit sagen, dass man die Mafia nicht durch eine andere Mafia austreiben dürfe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Dirk Liesemer: Café Größenwahn 1890-1915 – Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde (2023)

Größenwahn und Traumtänzerei im Milieu des Kaffeehauses

Dirk Liesemers Buch über die großstädtische Kaffeehausszene in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ist ein weiteres Beispiel für ein inzwischen eingeführtes Genre: Man zeichnet nicht mehr das Leben einer einzelnen Person vom Leben bis zum Tode nach, wie dies in einer klassischen Biographie geschieht, sondern man zeichnet eine bestimmte Epoche oder Ära nach, innerhalb derer man die Lebensfäden verschiedener Akteure verwebt und in Interaktion zeigt, und zwar in literarischer Weise, während die klassische Biographie ein reines Sachbuch ist. Dieses Verfahren ist Dirk Liesemer hier meisterhaft gelungen: Sowohl literarisch als auch dokumentarisch genügt dieses Buch höchsten Ansprüchen. Man fühlt sich genötigt, lieber von einem Werk als von einem Buch zu sprechen.

Jahr um Jahr entfaltet Dirk Liesemer das Leben und Treiben an den drei Hauptorten des „Café Größenwahn“, Wien, Berlin und München, und bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Dabei begegnen dem Leser nicht nur bekannte Literaten und Künstler wie z.B. Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Rainer Maria Rilke oder Arthur Schnitzler, sondern auch eine Menge „B-Prominenz“, deren Namen man zwar durchaus schon gehört hat, von denen man aber nicht viel mehr als den Namen weiß. Es gibt durchaus Gründe, warum diese Namen vergessen sind: Denn zum Erfolg der einen gehört das Scheitern der anderen dazu. Als Leser möchte man fast meinen, dass die Darstellung dieses Wurzelwerkes aus Gescheiterten fast wichtiger ist als die Darstellung der Erfolgreichen, die daraus hervorgingen: Gut, dass ihnen auf diese Weise ein Denkmal gesetzt wurde.

Der Leser erfährt jedenfalls zahlreiche Anregungen zu weiterer Beschäftigung. Man möchte mehr erfahren und wird deshalb nach Biographien und Dokumentationen Ausschau halten, oder gleich an Ort und Stelle fahren, um sich die Originalschauplätze direkt anzusehen bzw. eines der zahlreichen Museen besuchen, die diesem oder jenem Literaten bzw. dieser Epoche gewidmet sind. Stoff für Bildungsreisen gibt es hier genug. Es fällt auf, dass das Buch eine Schlagseite zugunsten von Wien hat. Und es scheint, dass die Milieus sich damals trotz allem Kosmopolitismus sehr national orientierten.

Etwas verblüffend ist der Umstand, dass die vorgestellten Literaten und Künstler alle mehr oder weniger „links“ waren. Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie leben ein schwärmerisches Leben ohne Realismus, weder für ihre eigene Lebensplanung noch in ihren utopischen Ideen für die Gesellschaft. Der Name „Café Größenwahn“ scheint seine Berechtigung zu haben. Jedenfalls deutet nichts in dieser Gesellschaft auf den sturzartigen Zusammenbruch dieser relativ heilen Welt hin, den der Erste Weltkrieg bedeuten wird. Die Bohèmiens träumen in die blaue Luft hinein und bemerken dabei gar nicht, wie ihre Träume die Grundlage des guten Lebens, das sie haben, zu zerstören drohen bzw. völlig an dem vorbei gehen, was in der Wirklichkeit geschieht.

Dirk Liesemer hat in seine Erzählung immer wieder Abschnitte zu Kaiser Wilhelm II. eingestreut, die zeigen sollen, wie dessen Großmachtstreben auf die Katastrophe zusteuerte. Doch um ehrlich zu sein, scheinen die Literaten und Künstler keinen Deut besser zu sein als Kaiser Wilhelm II. Sie haben jedenfalls keine realistische Alternative zu bieten. Im Gegenteil. Wenn wir uns entscheiden müssten, würde Kaiser Wilhelm II. keinesfalls schlechter abschneiden als das „Café Größenwahn“. Man fasst es nicht, was wir hier für eine unpolitische (oder pseudopolitische) und unrealistische Traumtänzerei zu sehen bekommen, wenn man weiß, auf was für eine Katastrophe diese Zeit zusteuerte. Und man fühlt sich wiederholt an die Gegenwart erinnert, in der auch viel Traumtänzerei die Grundlagen des guten Lebens zerstört, das wir bislang hatten, und jeden Blick für die Realitäten verloren hat. Wir finden in diesem Buch viel gegenwartsbezogene Eitelkeit.

Die allergrößte Katastrophe von damals, die Reformunfähigkeit der österreichischen kuk Monarchie, wird überdies kaum thematisiert. Auch die Vorboten des Nationalsozialismus in Österreich, die Bewegung von Georg Ritter von Schönerer und das Leben des jungen Hitler in Wien, bleiben außen vor. Aber auch von Theodor Gomperz und Ernst Mach, um zwei positive Wiener Charaktere der Zeit zu nennen, erfahren wir nichts. Obwohl das Buch sehr reichhaltig ist, ist die Perspektive doch recht fokussiert.

Das Buch ist mit zahlreichen Fotographien und Zeichnungen angereichert, bietet die wichtigsten Kurzbiographien in einem „Ausblick“ am Ende und enthält eine wohlsortierte Bibliographie der wichtigsten Quellen. Wünschenswert wäre ein Index gewesen, und zwar für Personen und für Orte. Auch weitere Techniken, die Überblick verschafft hätten, wären wünschenswert gewesen. So hätte man z.B. im Inhaltsverzeichnis zu jedem Abschnitt kurz die Personen auflisten können, die darin vorkommen. Oder umgekehrt, in der Kurzbiographie im „Ausblick“ jeden Abschnitt auflisten können, in dem diese Person vorkommt. Auch eine Zeitstrahl-Graphik wäre eine Möglichkeit gewesen. Eine Aufzählung von Museen wäre hilfreich.

Fazit: Eine wertvolle Schatztruhe von Informationen und Zusammenhängen für diese Zeit und dieses Milieu, die sich wie ein gut geschriebener Roman liest, und die man jedem Interessierten nur empfehlen kann. Das Format stößt allerdings an Grenzen, nicht zuletzt auch an die Begrenztheit der Seitenzahl, die zwischen zwei Buchdeckel passt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Ein Rezensionsexemplar wurde gestellt.)

Robert Löhr: Der Schachautomat – Roman um den brillantesten Betrug des 18. Jahrhunderts (2005)

Gelungener, leichter Historien-Roman

Löhr versteht es, die Charaktere glaubwürdig nach der damaligen Zeit zu gestalten, aber auch eine lebendige, glaubhafte Geschichte um die historische Begebenheit zu stricken. Die Tatsache, dass die frühe Geschichte des Schachautomaten relativ unbekannt ist, gibt dem Autor dabei einige Freiheiten: Ein höchst eigenwilliger Charakter soll der Zwerg im Automaten gewesen sein. Dem „Erfinder“ geht es darum, bei Hof zu imponieren. Ein Zweifler schickt eine Spionin. Eine ehemalige Geliebte kommt im Beisein des Automaten ums Leben. Ein rachsüchtiger Ungar will ein Duell. Löhr spielt auch mit philosophischen Überlegungen, die wir sonst nur aus unserem modernen Computerzeitalter kennen.

Für ein Meisterwerk ist es jedoch zu leicht geschrieben, Gedankentiefe gibt es nicht. Es ist sehr gute Unterhaltungsliteratur mit einem mittelmäßigen Bildungseffekt. Das melancholische Ende macht wenig Freude, entspricht aber ganz den inneren Anlagen der Charaktere, und ist deshalb zu akzeptieren. Eher störend ist, dass die Verwebung der Rückblenden mit dem Zeitstrang in der Gegenwart etwas unglücklich geraten ist, so dass die Erzählung nach dem eigentlichen, melancholischen Ende der Geschichte noch ein kleines Stück weitergeht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. November 2014)

Christine Brückner: Letztes Jahr auf Ischia (1964)

Alltag, Allzu-Menschliches und Abgründe im Urlaubsparadies

Der Roman „Letztes Jahr auf Ischia“ von Christine Brückner beginnt harmlos, ja fast schon enttäuschend. Vier Deutsche, drei Männer und eine Frau, sind auf Ischia in einer Ferienwohnung zusammen gekommen, um auf der Insel gemeinsam einen Film zu drehen: Arne, Carlos, Paul und seine Freundin, die Erzählerin. Doch sie kommen damit nicht voran. Die Stimmung ist schwül. Die Beziehungen innerhalb der Gruppe changieren ebenso schwül, übergriffig und unentschieden hin und her. Der Millionärssohn Arne macht der Erzählerin ein Angebot. Paul verhält sich Oberlehrerhaft. Carlos stellt den Frauen nach. Man beobachtet, wie eine andere Deutsche sich den zurückgezogenen Signor Ernesto zum Liebhaber nimmt. Erwartungshaltungen werden enttäuscht. Illusionen gepflegt. Rücksichtslosigkeiten begangen.

Man möchte das Buch vor Langeweile am liebsten weglegen. Doch dann kommt es zu einem reinigenden Gewitter, zu einem Ausbruch von Zorn und einer Aussprache, und von da an nehmen die Dinge Fahrt auf.

Als erstes wird der unfertige Film symbolisch beerdigt. Dieses Projekt ist gestorben. Auf der Fiesta der Inselheiligen entjungfert Carlos eine Inselschönheit, woraufhin deren Clan Schwierigkeiten macht. Die Freunde halten dagegen zusammen. Und nun beginnt ein Reigen von Entlarvungen und Enhüllungen der biographischen Hintergründe der einzelnen Personen, die das Buch wahrlich lesenswert macht.

Der Frauenheld Carlos heißt eigentlich nur Karl, kommt aus NRW, und hat eine sehr praktisch denkende Ehefrau, die plötzlich auf der Insel auftaucht. Und schon ist Karl ein ganz anderer, biederer Mensch. Er verschwindet mit seiner Ehefrau nach Capri und damit aus der Geschichte. Ein Abendessen bei dem zurückgezogenen Signor Ernesto und seiner deutschen Partnerin verläuft surreal. Dann ein schwerer Autounfall von Arne und der Erzählerin, weil der Clan der Inselschönheit die Reifen gelockert hatte, um Carlos zu treffen. Die Einheimischen raten von rechtlichen Schritten ab. Auf dem Krankenbett die Offenbarung des Vorlebens der Erzählerin: Sie hat bereits einen Sohn, und ist jetzt Großmutter geworden. Arne stirbt an dem Autounfall: Er hätte eine vielversprechende Karriere als Komponist vor sich gehabt. Die Erzählerin und Paul raufen sich zusammen, versuchen für sich den Urzustand des Paradieses wiederzuerlangen. Weil der Autounfall die Falschen traf, wird die Inselschönheit von ihrem Clan zur Versöhnung in die Ferienwohnung der Deutschen geschickt: Zum Arbeiten. Dort wird sie mit einem deutschen Inselarzt verkuppelt, der auf Ischia gestrandet ist. Letzter Akt: Die deutsche Partnerin des Signor Ernesto schwimmt bei Unwetter ins offene Meer hinaus und muss durch ein riskantes Manöver gerettet werden. Jetzt werden auch noch die Hintergründe dieser beiden offenbart. Es sind Abgründe.

Man bekommt in diesem Buch auch viel vom Inselalltag auf Ischia mit. Man sieht das Urlaubsparadies durch die Brille von Menschen, die länger dort leben. Es ist langweilig, spießig und manchmal zynisch. Und immer wieder schön. – Ein Anachronismus zu heute ist der Umgang mit Frauen: Einer alleinreisenden Touristin wird solange von den „Pepis“ nachgestellt, bis sie sich einen Liebhaber nimmt. Erst dann hat sie Ruhe. Solches hört man heute vor allem aus noch weiter südlich gelegenen Staaten, damals war es aber wohl auch auf Ischia noch so. – Schließlich fehlt auch das Multikulti von heute: Die vier Kollegen aus Deutschland sind alles Deutsche, die Italiener sind alle Italiener. Heute würde ein Filmteam kaum mehr nur aus vier „Biodeutschen“ bestehen. Der moderne Leser hält Carlos zunächst z.B. für einen Spanier, und würde das auch für das Selbstverständlichste von der Welt halten, bis überraschend die Aufklärung kommt, dass er Karl heißt und aus NRW kommt.

Ein Punkt Abzug, weil das Buch keinen echten roten Faden hat. Die Dinge entwickeln sich, und man nimmt manche Einsicht zu Menschen und ihrem Charakter und Zusammenleben aus diesem Buch mit, ebenso manche Einsicht zu den Vorgängen hinter den Kulissen eines Urlaubsparadieses, aber eine zentrale Botschaft ist eher nicht zu erkennen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Mai 2018)

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951) – Teil 1 der Trilogie des Scheiterns

Stilistische Sprachspiele im Geist der frühesten BRD

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ist eine sich ständig abwechselnde Aneinanderreihung von kleinen Fortsetzungsepisoden aus dem Alltag der Menschen um 1950 in München, die sich innerhalb eines Tages von morgens bis abends ereignen und sich zunehmend miteinander verweben, bis die Verwicklungen einem Höhepunkt zustreben.

Gefolgt wird u.a. dem Tageslauf eines alten Amtmannes, der einen schwarzen amerikanischen Besatzungssoldat begleitet, der wiederum von einer Deutschen ein Kind erwartet, die wiederum abtreiben lassen möchte, deren Mutter wiederum Schande in der Verbindung mit einem Schwarzen sieht; eine Kommerzienratstochter, die mehrere Häuser besitzt, die in der damaligen Zeit aber niemand kaufen will, weshalb sie ihren Hausrat und Schmuck zu Pfandleihern tragen muss; Ihren Freund, einen inspirationslosen Schriftsteller; ein ratloser Psychiater; ein bekannter Schriftsteller und eine Gruppe amerikanischer Lehrerinnen auf Deutschland-Tournee; Straßenkinder; Huren; ein Kapellmeister; ein frömmelndes Dienstmädchen; ein übertrieben träumendes Dienstmädchen; und allerlei andere Leute.

Die Episoden sind sprachlich verschränkt, was in der einen Episode ein sinnvolles Wort war, ist in der angeschlossenen Episode ein absurder Kontrast dazu. Eingestreut werden immer wieder Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen, die ebenfalls das Geschehen absurd kontrastieren. Koeppen spielt mit der Sprache, fast wie Arno Schmidt, aber nicht so extrem, aber mehr noch und absurder als Thomas Mann. Absurde Assoziationen lassen auch absurde und verdrängte Erinnerungen an die Vergangenheit 1914-1945 aufkommen.

Man sagt, wer die Atmosphäre in der damaligen BRD kennenlernen möchte, sollte diesen Roman lesen. Das stimmt wohl, auch wenn es nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist.

Weltanschaulich und moralisch vertritt das Werk die These, dass die Menschen und ihr Leben und Streben wie „Tauben im Gras“ erscheinen, ein bekanntes Zitat von Gertrude Stein: Zufällig und sinnlos. Auch das passt zur damaligen Atmosphäre. Die Menschen und die Gesellschaft haben kein Ziel und vegetieren vor sich hin. Der bekannte Schriftsteller, der in einem Vortrag die Kultur des Abendlandes beschwört, wird von niemandem verstanden.

Insofern dies eine Zustandsbeschreibung ist, ist es sehr treffend. Und das ist die Stärke des Romans. Insofern der Roman aber keine Perspektive bietet, und mögliche Perspektiven sogar ablehnt, ist der Roman ein Werk des Nihilismus, und damit abzulehnen. Die Sinnvernichtung und Sinnzerstörung, die sich lange vorbereitend 1945 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wird durch diesen Roman leider bestätigt, statt dem etwas entgegen zu setzen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2018)

PS 07.10.2023

Im März 2023 entbrannte eine absurde Debatte um den Umstand, dass der Roman wiederholt das Wort „Neger“ verwendet. Das Wort „Neger“ war ein völlig wertungsfreies Wort der deutschen Sprache. Es war allgemein im Gebrauch, auch und gerade bei Gegnern des Rassismus. Erst etwa in den 1980er Jahren begann man damit, bewusst auf dieses Wort zu verzichten, weil es lautlich ähnlich wie das amerikanische N-Wort klingt. Man wollte also Missverständnisse vermeiden. Man verzichtete aber nicht deshalb auf das Wort, weil das Wort selbst abwertend gewesen wäre. Die englische Entsprechung zu „Neger“ ist auch nicht das N-Wort, sondern das Wort „negro“. Laut Wikipedia 2023 ist auch das Wort „negro“ an sich wertungsfrei.

Das Wort „Neger“ kommt im Roman in neutralen, in abwertenden und in positiven Kontexten vor. Man mache die Probe, und ersetze das Wort „Neger“ in abwertenden Aussagen durch das heute gebräuchliche „Schwarzer“, und man wird sehen, dass der abwertende Ton unverändert erhalten bleibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch das Wort „Schwarzer“ in den entsprechenden Kontexten von den Romanfiguren gehässig hervorgestoßen wird. Es ist nicht das Wort „Neger“, das den abwertenden Effekt erzeugt.

Leider haben gewisse Kreise seit den 1980er Jahren ganze Arbeit in Sachen Desinformation geleistet. Sie haben die Unwahrheit verbreitet, dass das Wort „Neger“ ein abwertendes Wort gewesen wäre. Sie vermeiden außerdem konsequent, das Wort explizit auszusprechen, und sprechen statt dessen ständig vom „N-Wort“. Damit vermischen und verwirren sie aber das neutrale deutsche Wort „Neger“ mit dem amerikanischen N-Wort, das schon immer eindeutig abwertend gemeint war. Solche verwirrten Meinungen sind heute im real existierenden Wissenschaftsbetrieb vorherrschend.

Auf diese Desinformation ist im März 2023 offenbar eine Ulmer Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund hereingefallen. Sie glaubte tatsächlich, dass das Wort „Neger“ abwertend gemeint sei. Die „Urdeutschen“ wissen alle, dass das nicht der Fall ist, denn sie oder ihre Eltern haben das Wort bis in die 1980er Jahre völlig wertfrei benutzt. Aber die Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund konnte das nicht wissen, weil sie und ihre Eltern in den 1980ern noch nicht in Deutschland lebten. (Oder sie verdrängte die Wahrheit, denn sie ist zugleich eine politische Aktivistin der bekanntlich recht einseitig ausgerichteten „Black Lives Matter“-Bewegung.) Also unterstellte sie dem Autor Wolfgang Koeppen und überhaupt der deutschen Gesellschaft insgesamt Rassismus. Sie mag es gut gemeint haben, aber sie hat natürlich vollkommen Unrecht.

Wir, die wir das Wort selbst noch wertfrei und deshalb völlig ohne Bedenken gebrauchten, kennen die Wahrheit aus eigenem Erleben. Aber man kann es auch belegen: Denn wenn man tatsächlich den Maßstab anlegen würde, dass das Wort „Neger“ wie das amerikanische N-Wort ein rassistisches Wort war, dann wären auch die edelsten Geister der letzten Jahrhunderte allesamt üble Rassisten gewesen, denn das Wort findet sich querbeet in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Insbesondere auch erklärte Gegner des Rassismus gebrauchten natürlich das Wort „Neger“, um jene Menschen zu bezeichnen, die sie in Schutz nahmen.

Es macht Sinn, das Wort „Neger“ heute nicht mehr zu verwenden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber im nachhinein sämtliche historischen Verwendungen des Wortes für rassistisch zu erklären, ist einfach nur falsch.

PS 25.01.2024

Weil es schon länger her ist, dass ich das Buch gelesen hatte, und weil die öffentliche Debatte unter dem „N-Wort“ derzeit unterschiedslos sowohl das N-Wort als auch das Wort „Neger“ subsumiert, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Roman neben dem Wort „Neger“ an einigen Stellen tatsächlich auch das N-Wort enthält. Aber auch das ist völlig in Ordnung, weil der Roman an diesen Stellen ganz offensichtlich rassistische Sprache wiedergeben will, wie sie nun einmal ist.

An dem Umstand, dass ich irrigerweise dachte, die Debatte ginge ausschließlich um das Wort „Neger“, kann man erkennen, zu welchen unnützen Verwirrungen diese Sprechverbote führen. Abgesehen davon, dass sie einfach nur überflüssig sind und dazu führen, dass man gar nicht mehr weiß, worüber man eigentlich spricht, sind diese Sprechverbote auch noch kontraproduktiv: Denn durch das Sprechverbot erschafft man erst eine „Beleidigung“ für Schwarze, die es vorher nicht gab. Plötzlich gilt bereits die bloße Nennung des Wortes als Beleidigung, selbst wo der Kontext völlig klar macht, dass es nicht als Beleidigung gemeint ist.

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik? (1966)

Schon 1966 klare Warnung vor Parteienoligarchie – gültig bis heute!

Das Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ des bekannten Philosophen Karl Jaspers erschien 1966 und wurde zu einem politischen Bestseller wie vielleicht in unseren Tagen das Buch von Thilo Sarrazin. Im Zentrum der Analyse steht die Erkenntnis, dass die BRD schwerwiegende demokratische Defizite aufweist.

Das Grundgesetz und das Wahlgesetz beruhen auf einem ausgesprochenen Misstrauen dem Volk gegenüber, und installieren eine Parteienoligarchie. Der Begriff „Parteienoligarchie“ wurde durch Jaspers Buch geprägt. Der Wähler hat in diesem System so gut wie keinen Einfluss. Die Parteien halten im Zweifelsfall gegen den Wähler zusammen. Wichtige Entscheidungen werden nicht nur nicht durch das Volk entschieden, sie werden häufig noch nicht einmal öffentlich diskutiert und zu Bewusstsein gebracht.

Neue Parteien haben praktisch keine Chance. Das Wahlsystem, die Parteienfinanzierung u.a. Mechanismen sichern die Macht der Altparteien. Es gibt eine Tendenz zu einer indirekten Zensur, und Intellektuelle werden kritisiert, sobald sie unabhängige Gedanken in den Massenmedien äußern. Jaspers äußert Verständis für Menschen, die keine Hoffnung mehr sehen und auswandern.

Die BRD ist eine Gründung „von oben“, durch die Westalliierten, die ihre wahre demokratische Gründung durch die Bewusstwerdung des Volkes als Souverän erst noch zu leisten hat. Das will Karl Jaspers aber nicht gegen das Grundgesetz, sondern mit dem Grundgesetz erreichen, das er als gute Ausgangsbasis ansieht, und dessen Grundrechtekatalog er hoch schätzt. Jaspers will u.a. die 5%-Klausel abschaffen und einen Ombudsmann für Meinungsfreiheit einsetzen. Politische Bewegungen aus dem Volk heraus will Jaspers fördern, doch die Forderung nach Volksbegehren und Volksentscheid fehlt seltsamerweise: Sie wird noch nicht einmal diskutiert! Wie das, fragt sich der Leser?

Das Buch äußert sich auch zu konkreten Einzelthemen der damaligen Politik. In seiner Opposition gegen Fehlentwicklungen schießt Jaspers aber häufig über das Ziel hinaus und formuliert eine radikale Gegenposition, die genauso falsch ist, bzw. er scheitert daran, eine differenzierte Sicht richtig zum Ausdruck zu bringen, oder er verwickelt sich in Widersprüche. Außerdem ist der Schreibfluss teilweise ungeordnet und es kommt zu störenden Wiederholungen. Wo es nicht um Freiheit und Demokratie, sondern um einzelne Themen geht, ist Jaspers vielfach schwach. Dennoch ist manche Anregung dabei, die auch heute noch wert ist, beachtet zu werden:

Notstandsgesetze:
Für Jaspers drohen die damals diskutierten Notstandsgesetze zur Überleitung von der Parteienoligarchie zur Diktatur zu werden.

Schuldfrage:
Zwar ist Jaspers gegen eine Kollektivschuld der Deutschen am Nationalsozialismus, aber seine Schuldzuweisungen sind dennoch maßlos und zelebrieren fast eine Art „Schuldseligkeit“. Allein dass man überlebt hat, gilt praktisch schon als Schuld. Jeder, der nicht sein Leben daran gesetzt habe, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, sei schuldig. Von allen Deutschen seien vielleicht 500.000 ohne Schuld, meint Jaspers. Gleichzeitig nimmt Jaspers aber z.B. den einfachen Soldaten in Schutz, weil er nur Befehlsempfänger war. – Jaspers bedauert, dass sich der Bundestag nur zu einer rechnerischen Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen um wenige Jahre durchringen konnte, nicht aber zu einer dauerhaften Aufhebung der Verjährung als politisch gewollter, rechtssetzender Tat.

Bündnis mit den USA:
Die Tatsache, dass die beiden Großmächte USA und Russland militärisch uneinholbar sind, zwingt die anderen Staaten in Schutzbündnisse mit einer der beiden Großmächte. Neutralität ist nicht mehr möglich, weil Neutralität heute nicht mehr verteidigt werden kann. Dabei übertreibt es Jaspers allerdings mit der Unterwürfigkeit gegenüber den USA, er merkt aber auch richtig an, dass die Hegemonie nur in der Politik gegenüber dem äußeren Feind gilt, nicht jedoch in der Politik der freien Staaten untereinander. Jaspers sieht das Bündnis zu den USA als bedeutend wichtiger an als das Bündnis zu Frankreich. Charles de Gaulle ist für Jaspers ein weltfremder Romantiker.

Souveränität:
Jaspers will, dass die Deutschen aus Vernunft auf ihre Souveränität verzichten. Jaspers versäumt es jedoch, den Gedanken zu formulieren, dass man in einem Bündnis souverän bleibt, wenn man die Gestaltung und Mitgliedschaft des Bündnisses jederzeit neu verhandeln kann. Allerdings stellte sich die Frage nach der Souveränität der BRD vor 1990 ganz anders als heute.

Europäische Einigung:
Jaspers verwendet auf dieses Thema nicht mehr als einen Absatz. Er ist grundsätzlich dafür, glaubt aber nicht daran, dass Europa jemals eine große Macht wie USA oder Russland sein könnte.

Atomkrieg, Friedenspolitik:
Jaspers opfert praktisch die Freiheit auf dem Altar des Friedens. Weil ein Atomkrieg das Ende sei, müsse man alles (!) tun, um den Frieden zu erhalten. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, hieße das Unterwerfung unter den Kommunismus, doch so weit denkt Jaspers nicht. Jaspers hat nicht verstanden, dass der Satz „Si vis pacem para bellum“ auch und gerade im Atomzeitalter Geltung hat. Damals war die Angst vor dem Atomkrieg allerdings sehr viel realer als heute – obwohl die Gefahr nach wie vor besteht.

China:
Jaspers verwendet mehrere Seiten darauf, vor dem aufstrebenden China zu warnen, und plädiert dafür, die Atomanlagen Chinas zu zerstören. China ist für Jaspers kein berechenbarer Gegner wie die Sowjetunion.

DDR-Politik:
Jaspers wünscht, dass die BRD die DDR ökonomisch unterstützt, auch wenn man damit das Ulbricht-Regime stabilisiert. Jaspers hofft, dass eine Vertrauensbildung irgendwann dazu führen wird, dass die Sowjets abziehen, weil die DDR dann auch freiwillig ein kommunistischer Staat bleiben würde. Man sieht, dass Jaspers hier die Realität krass verkennt. Gerade auch angesichts der bewunderswerten Verve, mit der Jaspers für die BRD freiheitlichen Geist fordert, ist es erstaunlich, dass die DDR-Bürger sich mit kleinen persönlichen Freiheiten und Konsum abfinden sollen, anstatt für die Freiheit zu kämpfen. Für den Frieden opfert Jaspers einfach alles, und das ist falsch.

Deutsche Teilung und Vertreibung aus Ostgebieten:
Jaspers formuliert mit Recht, dass der status quo anerkannt werden muss, um den Frieden zu wahren. Jaspers versäumt es aber zu formulieren, dass die Freiheit für die DDR-Bürger automatisch die Wiedervereinigung bedeuten würde, und dass die Vertreibung Unrecht war, auch wenn sie nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Bei Jaspers spürt man große Kälte und Unverständnis gegenüber den Vertriebenen, und wiederum eine unmenschliche Schuldseligkeit, die Jaspers dazu führt, Vertreibung und Teilung als legitime Folgen der deutschen Aggression anzusehen: Hier rechnet er ein Verbrechen gegen das andere auf, und das darf man nicht.

Bundeswehr:
Jaspers wendet sich gegen eine Traditionsbildung der Bundeswehr, die an NS-Generäle anknüpft, und würde lieber eine Bundeswehrtradition sehen, die auf preußische Vorbilder wie Gneisenau, Scharnhorst, Clausewitz oder Moltke aufbaut. Den 20. Juli hält Jaspers nicht für würdig und betrachtet ihn als eine fadenscheinige Legitimierung der Bundeswehr durch die Adenauerregierung. An anderer Stelle jedoch lobt Jaspers einen General, der die Opfer des 20. Juli gewürdigt wissen will, und kritisiert, dass die Bundeswehr von Offizieren aufgebaut wurde, die gegen den 20. Juli waren. Eine typisch Jaspersche Unausgegorenheit.

Bildung:
Für die Bildung möchte Jaspers auf die Antike zurückgreifen: „Der Abendländer soll in griechischer und römischer Welt und in der Bibel zu Hause sein. Das ist möglich auch ohne Kenntnis der alten Sprachen, zumal bei der heute gegenüber früheren Zeiten unvergleichlichen Zugänglichkeit guter Übersetzungen in billigen Ausgaben. Es ist als ob wir durch die Tiefe und Einfachheit des Großen in der Antike wie in eine neue Dimension unseres Lebens gelangen, den Adel des Menschen erfahren und Maßstäbe gewinnen. Wer nicht von der Antike weiß, ist noch nicht erwacht und bleibt barbarisch.“ (S. 202 f.) Die Geschichte „lässt uns heimisch werden in der eigenen Herkunft, in dem Leben der Völker und der Menschheit.“ (S. 203)

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 28. Juni 2015)

Einige Zitate:

„Das Volk ist dem Namen nach der Souverän. Aber es hat keinerlei Einwirkung auf die Entscheidungen außer durch Wahlen, in denen nichts entschieden, sondern nur die Existenz der Parteienoligarchie anerkannt wird. Die großen Schicksalsfragen gehen nicht an das Volk. Ihre Beantwortung muss das Volk über sich ergehen lassen und merkt oft gar nicht, dass etwas und wie es entschieden wird.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 134)

„Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und als für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner. Wenn die Opposition keine eigenen, durchdachten und das Denken der Bevölkerung ergreifenden Zielsetzungen und Wege hat, dann erscheint sie der herrschenden Partei ähnlich. … Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 138)

„Demokratie heißt Selbsterziehung und Information des Volkes. Es lernt nachdenken. Es weiß, was geschieht. Es urteilt. Die Demokratie befördert ständig den Prozess der Aufklärung. Parteienoligarchie dagegen heißt: Verachtung des Volkes. Sie neigt dazu, dem Volke Informationen vorzuenthalten. Man will es lieber dumm sein lassen. Das Volk braucht auch die Ziele, die die Oligarchie jeweils sich setzt, wenn sie überhaupt welche hat, nicht zu kennen. Man kann ihm statt dessen erregende Phrasen, allgemeine Redensarten, pompöse Moralforderungen und dergleichen vorsetzen. Es befindet sich ständig in der Passivität seiner Gewohnheiten, seiner Emotionen, seiner ungeprüften Zufallsmeinungen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 140)

„Die Tendenz, eine Zensur auszuüben im Interesse der autoritären politischen Herrschaft, nimmt zu. Sie zeigt sich heute durch indirekte Maßnahmen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 153)

„Die Freiheit aber muss durch Erziehung, Überlieferung, Übung und Wagnis stets neu erworben werden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 169)

„Es gibt für uns [Deutsche] noch immer keinen politischen Ursprung und kein Ideal, kein Herkunftsbewusstsein und kein Zielbewusstsein, kaum eine andere Gegenwärtigkeit als den Willen zum Privaten, zum Wohlleben und zur Sicherheit.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 178 f.)

„Die Wirtschaft kann sich selbst ruinieren, wenn sie nicht unter ethischen Impulsen steht, die zuerst bei den Unternehmern, die durch ihr Vorbild den Geist ihres Betriebes erzeugen, dann bei den Arbeitern das ganze Leben tragen.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 192)

„Einige Vorschläge: … Abschaffung 5%-Klausel, des konstruktiven Misstrauens-Votums, der Finanzierung der Parteien aus der Staatskasse. Der Sinn ist: Durchbrechung der Parteienoligarchie. Eine Gefahr, dass bei Anarchie der Parteien eine Hitlerdiktatur sich wiederhole, besteht nicht. Wohl aber besteht die Gefahr, dass aus der Parteienoligarchie ein autoritärer Staat und aus ihm die Diktatur erwächst. Diese Gefahr wird erhöht, wenn man die Angst vor der nicht bestehenden andern Gefahr festhält.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 194)

„Heute brauchen wir vor allem eine Geschichte der Freiheit in den deutschen Gebieten im Rahmen der abendländischen Geschichte, deren Glied wir sind.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 204)

„Dies muss mit Deutlichkeit betont werden. Die Verbindung mit den freien Staaten unter der Hegemonie der USA ist zwar notwendig zur Selbstbehauptung der Freiheit. Aber dieses Bündnis gilt nur außenpolitisch gegenüber der nicht freien Welt. Innenpolitisch hat jeder Staat, jedes Volk seine Freiheit. Dazu kommt eine gemeinsame ‚Innenpolitik‘ der freien Staaten unter sich, vor allem in Wirtschaftsfragen. Hier gilt keine Hegemonie.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 250)

„Wer als Deutscher alt geworden ist, hat es zweimal erlebt (1914 und 1933) und fürchtet, dass es sich zum dritten Mal wiederholen könnte. Es ist in allem Wandel der Erscheinung etwas unheimlich Bleibendes. Nur die Deutschen, die sich dessen bewusst werden, können es überwinden.“ (Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1966, S. 281)

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

„Werther für Erwachsene“ – Starker Anfang, starkes Nachlassen, interessante Nebenthemen

Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809 handelt vom Wechselspiel der Gefühle in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen; wie sie sich zu Paaren finden, oder wieder lösen, um sich in anderer Kombination neu zu verbinden, und welche subtilen und teils romantischen, teils unromantischen Antriebe und Motive hinter all dem stecken.

Im ersten Drittel geht es sehr subtil zu, und das ist auch der starke Teil des Romans: Im Zentrum steht das Paar Eduard und Charlotte, die glücklich verheiratet auf einem Schloss wohnen. Doch bereits das Zustandekommen dieser Idylle war nicht geradlinig: Schon als Jugendliche waren sie einander zugetan, dann aber in andere Ehen gekommen, und nur das Schicksal hat es ihnen erlaubt, am Ende doch noch zusammen zu kommen. Dabei hatte Charlotte jedoch zunächst versucht, Eduard mit ihrem jüngeren Patenkind Ottilie zu verkuppeln. Doch Eduard hatte nur Augen für Charlotte, und so kam diese scheinbar perfekte Ehe zustande.

Als Eduard seinen Freund, einen Hauptmann, und Charlotte Ottilie zum dauerhaften Mitwohnen in ihr Schloss einladen, kommt es zu weiteren Wechselfällen der Gefühle: Eduard und Ottilie fühlen sich zueinander hingezogen, und ebenso Charlotte und der Hauptmann. Dabei sind Eduard und Ottilie die eher schlichteren Gemüter, während Charlotte und der Hauptmann sich an Feinsinnigkeit gleichen, und über Eduard und Ottilie lächeln. Dem entsprechend verfallen Eduard und Ottilie ihren Leidenschaften, während Charlotte und der Hauptmann ihre Beziehung platonisch halten.

Der Roman verflacht zusehends, als die Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie irrational aufflammt und gewissermaßen kindisch wird, und bis zum Ende des Romans nicht mehr zur Vernunft kommt, sondern sich auf eine unnötige Weise zu einer überromantischen Tragik steigert. Gegen Ende stört es einfach nur noch, und man möchte nur noch möglichst schnell zum unvermeidlichen und offensichtlichen Ende kommen, wenn die „heilige“ Ottilie sich endlich entschlossen zu haben scheint, auf Eduard zu verzichten, und sie diesen Entschluss dann doch wieder über den Haufen wirft, aber auch das wieder nicht richtig. Oder wenn Charlotte auf die Gefühle von Eduard und Ottilie eine Rücksicht nimmt, die sie nicht verdient haben, die ihnen auch nicht gut tut, und die Charlottens eigenes Schicksal völlig unterpflügt. Das ist dann kein subtiles Seelenleben mehr, sondern Kitsch und Unvernunft. Das ist dann wieder „Werther für weniger erwachsene Leser“, und man fragt sich, warum Goethe seinem Roman diese Wendung gegeben und den größeren Teil seines Romans auf solche Geschehnisse verwendet hat. Hatte er nicht immer darunter gelitten, vor allem als der Autor des „Werther“ zu gelten? Wirklich entfernt davon hätte er sich mit dem größeren Teil dieses Romans nicht.

Vielleicht handelt es sich bei den „Wahlverwandtschaften“ wie bei „Wilhelm Meister“ um einen Roman ohne geradlinigen Plot, der sich spontan und wenig planvoll entwickelt hat, und bei dem zeitweise manches Nebenthema wichtiger wird als die Handlung selbst, so dass sich die Handlung der Präsentation eines Nebenthemas unterordnen muss?

Folgende Nebenthemen werden behandelt:

  • Landschaftsgartenbau. Gärtnerei. Architektur. Wandmalerei. Der Hauptmann. Der Architekt. Der Gärtner.
  • Chemie: Von hier kommt der Begriff der „Wahlverwandtschaften“, der sich in der damaligen Chemie auf Stoffe bezog, die sich einander unwillkürlich anzogen, deshalb aus vorhandenen Bindungen lösten, und miteinander eine neue Bindung eingingen.
  • Diskussion um die Institution der Ehe. Der Graf und die Baronesse. Mittler. Es ist keineswegs ausgemacht, was genau die Meinung Goethes ist.
  • Erziehung. Gebote statt Verbote. Der Gehülfe aus der Pension. Mittler.
  • Gesellschaftliches Leben. Frechheit siegt. Die Tochter Charlottens.
  • Übernatürliche Empfindungen. Wunderglaube. Pendeln. Nanny. Der Begleiter des Lords.
  • Diverses: Tableaux vivants. „Dunkle Kammer“ zur Zeichnung von Landschaftsbildern.

Fazit

Das erste Drittel ist ein starker Einblick in das subtile Seelenleben der Menschen. Die Nebenthemen sind interessant. Es ist jedoch kein runder Roman. Die Stärke des ersten Drittels wird den Roman über nicht durchgehalten, und das Abdriften der Handlung ins allzu Romantische, Irrationale, Kitschige stört den guten Eindruck aus dem ersten Teil doch sehr.

Man beachte: Der Roman ist keinesfalls ein Plädoyer für Beliebigkeit und Laisser-faire, als der er von weniger gebildeten Menschen gerne verstanden wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2022)

Hans Rosling: Factfulness – Ten Reasons We’re Wrong About The World – And Why Things Are Better Than You Think (2018)

Justified 3rd-world optimism, guide to skeptical thinking, although somewhat biased itself

This is an amazing book, amazing under several aspects:

First, it is amazing, because you think that most human beings live in poverty, that the increase of population is eating up all successes in development, and that there is no improvement at the horizon – and then you see: By silent development, by small steps over long times, and without media attention, this world has become a better place, and many problems are already solved, or will soon be solved. Change is possible, is already on its way, or is even already reality. Some major examples:

  • World’s population is no longer living in great poverty. Most countries managed to reach a medium level of development.
  • World’s population is not just increasing without limits. Instead, „peak child“ is already reached!
  • The number of children has almost nothing to do with religion, but is clearly related to the level of development.
  • The visualisation of life circumstances on the author’s „Dollarstreet“ Web site is very valuable.

This book is also amazing in giving its readers a lecture in skeptical thinking. There are so many mistakes you can make when following mainstream thoughts. Here, you learn to develop a sense of skepticism, and to ask the right questions to debunk easy and popular answers. The book is a plea for rationality, against emotional judgements. It also teaches skepticism towards a belief in experts. Experts e.g. are only experts for their field, not for other fields. And it teaches how to interpret statistics correctly: You shall not interpret data out of context, expect linear increase instead of curves, ignore the possibilty of change, e.g. by still working with statistics from the 1960s – which are simply wrong because unexpected change has arrived!

Amazing is also, that the author can provide first-hand experience from poor countries about the mindset of poor people, and about their real needs, since he worked there as a doctor. Many valuable experiences from his eventful life are openly presented, including fatal mistakes he made. Priorities are different, if living in poor circumstances. And development depends on things you would not imagine. E.g. saving the children of the poor by modern medicine does not mean to increase world’s population without limits. Because the children’s health security is an important step towards parents having fewer children. If you want to put a limit on the world’s population, save the children! Human life in past centuries had a balance in population numbers only because so many children were dying. It was not paradise, as some imagine.

Not everything in this book is convincing:

  • The problems of immigration from underdeveloped countries into developed countries are very generally downplayed.
  • The book concentrates on the decrease of the number of children, yet it completely ignores that in the meantime, childlessness in developed countries has become a new problem on its own. Closing the gap of births by immigrants from poorer countries is highly problematic, since so many immigrants are needed to fill the gap that they cannot integrate into the developed culture any more. Furthermore, there is the problem that emigration of educated citizens from poorer countries into developed countries deprives the poorer countries from the fruits of their development.
  • „Peak child“ is reached also because of the childlessness of developed countries. This means that still too many children are born on a lower level of development. Especially in Africa, „peak child“ is by far not reached, yet, and as the book itself says, Africa’s population will increase from one billion to three billion, if slow but steady development in Africa will do its work as expected.
  • More developed countries means more need for natural resources, and indeed the rivalry over the natural resources of the planet is increasing. China e.g. is on a big „shopping tour“ in Africa, while at the same time building a fleet of aircraft carriers to fight for its interests in the world. Wars could be the consequence, and are likely. Especially the development of middle-developed countries can quickly be destroyed by war. The author ignores the not-at-all linear but disruptive quality of the statistics of war casualties which he himself presents.
  • The author suggests that companies should strip off their national roots and pretend to be „global“, although this deprives them of their identity, their traditions, and creates anonymity and informal cultural power structures.
  • Concerning the media (and schools!), the author sees no politically intended bias as driver of wrong information, but only a bias because of ignorance and dramatization.
  • The author is a strong advocate for the idea that climate change is man-made, that it will have catastrophic effects, and that quick and strong measures are needed to tackle the problem.

All in all, the author favours sometimes a naive optimism, and has a clear political left-wing bias. Indeed, the author has a left-wing background. He is e.g. member of IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War). This organization helped Soviet Union during Cold War to spread FAKE NEWS creating irrational fears of nuclear war in Western countries, in order to „democratically“ dismantle the West from its nuclear defence, and thus to ensure the victory of communism over the West. Hans Rosling himself tells in this book how his fears of nuclear war are irrational and deeply rooted in his family. IPPNW got the Noble Peace Prize in 1985. Former US president Obama, Noble Peace Prize in 2009 and himself known to be a left-wing politician, is advocating Rosling’s book.

Yet amazing again, the author is excused:

Reading this book it becomes clear that the author got over the usual politically biased propaganda. This becomes especially clear when he advocates against typical left-wing notions: For example, he explicitly rejects emotionalized „thinking“ about immigration as created by pictures of drowned children. Or he explicitly says that in Fukushima nobody was killed by radioactivity, but by senseless evacuations driven by irrational fear of radioactivity. Or he explicitly advocates against „thinking“ under the pressure of alleged urgency when it comes to climate change. And he strongly rejects the idea that overdramatization is justified to make politicians act on climate change! This is great.

And last but not least: Yes, the author is basically right to have a certain optimism, and he is right in his basic idea, that only development is the solution, and nothing else, and that development is indeed possible, despite all pessimists.

Summary

This is an amazing book. Not only that it gives you a much more optimistic view of the world. It teaches you also to think on your own. And while you cannot agree with the author in all questions, his way of thinking is still convincing. This is really amazing.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2019)

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