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Vaclav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (Die Macht der Machtlosen, 1978)

Dissident aus philosophischer Lebenseinstellung – im Osten wie im Westen

Mit seinem Text „Die Macht der Machtlosen“ von 1978 (hier: „Versuch, in der Wahrheit zu leben“) hat Vaclav Havel seine Idee vom Dissidententum niedergeschrieben. Damit hat er viele andere Dissidenten in Osteuropa inspiriert und ermutigt und zugleich seine eigene moralische Autorität begründet. Seine Überlegungen gehen jedoch über die konkrete Situation des Ostblocks hinaus.

Ausgangspunkt des Dissidenten ist nicht die Opposition gegen ein System. Ausgangspunkt des Dissidenten ist der schlichte Wille, in der Wahrheit leben zu wollen. Das bedeutet, sich nicht den öffentlichen Unwahrheiten anzupassen, sich auch nicht in den Konsum zu flüchten, sondern als Mensch interessiert, erhellt, vernünftig und verantwortlich für sich und für die Gesellschaft zu leben und zu handeln. Das ist weniger ein politischer Wille als vielmehr eine philosophische Lebenseinstellung. Tatsächlich war Vaclav Havel von dem tschechischen Existentialisten Jan Patocka beeinflusst. Zum Dissidenten wird man nicht durch Entschluss, denn niemand will Dissident werden. Zum Dissidenten wird man, weil der eigene unpolitische Wunsch, in der Wahrheit zu leben, unvorhergesehen und unbeabsichtigt mit dem System kollidiert.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des Dissidententums ist dabei, dass das System nicht rücksichtslos gegen jede Form von Opposition vorgeht, sondern abgestufte Formen von Manipulation und Repression kennt. Havel nennt diese Form des Systems „posttotalitär“ (weil ihm kein besseres Wort eingefallen ist). Das System ist nicht offen diktatorisch, sondern will sich als legitim, demokratisch und gerecht verstanden wissen. Das System verkleidet die Unterdrückung der Menschen deshalb mit verschiedenen Alibis. Eines dieser Alibis ist die Ideologie und ihre Parolen von Gerechtigkeit, Arbeiterherrschaft usw. Dazu bringt Havel das berühmte Beispiel des Gemüsehändlers, der ohne groß nachzudenken ein Spruchband mit einer politischen Parole in sein Schaufenster hängt, weil es von ihm so erwartet wird. Dadurch sendet er ganz bestimmte Botschaften sowohl an das System (Ich bin konform) als auch an seine Mitmenschen (Alle machen mit, steh‘ nicht außen vor). Ein anderes Alibi ist die Einhaltung des geschriebenen Rechts und der Menschenrechte. Weil das System daran interessiert ist, sein Alibi nicht zu verlieren, kann man die Einhaltung von Gesetzen und Menschenrechten einfordern und damit auch teilweise Erfolg erzielen (Legalitätsprinzip). Interessanterweise ist für Havel auch die Konsumkultur ein wesentlicher Bestandteil des posttotalitären Systems. Ein Teil der unterschwelligen Erpressung der Menschen geschieht über Gewährung und Entzug von Konsummöglichkeiten.

Das posttotalitäre System hat zudem ein Eigenleben entwickelt, in dem auch die obersten Politiker nur Rädchen im Getriebe sind. Havel nennt dies „Eigenbewegung“.

Dissidenten sind nicht eigentlich politisch, denn ihr Ziel ist nicht die politische Herrschaft. Weil ihr Ausgangspunkt der Wunsch ist, in der Wahrheit zu leben, beschränkt sich ihre politische Tätigkeit vielmehr auf die Abwehr vor Übergriffen der Macht. Deshalb steht auch der Kampf um die Menschenrechte als Abwehrrechten im Vordergrund. Dissidenten erschaffen Parallelstrukturen zum offiziellen System. Vor allem eine parallele Kulturszene. Im Idealfall würde das System irgendwann absterben und komplett durch die Parallel-Polis ersetzt werden. In der Praxis sieht Havel dies eher nicht. Auch kleine Taten sind wertvoll. Hier knüpft Havel an die Idee der „Kleinarbeit“ des tschechischen Staatsgründers Masaryk an, der ebenfalls Philosoph war. Dissidenten ermutigen den Rest der Gesellschaft, ebenfalls in der Wahrheit leben zu wollen. Immer wieder bricht aus der Masse der Menschen der Wille zum Widerstand hervor, es lässt sich jedoch schwer vorhersagen, wann jeweils „der letzte Tropfen“ das Fass zum Überlaufen bringt. Das System ist außerdem den Wechselfällen des Schicksals ausgesetzt, also der Außenpolitik, wirtschaftlichen Entwicklungen, Naturkatastrophen, aber auch dem unvorhersehbaren Wechsel des konkret handelnden Personals.

Auch in der westlichen Welt sieht Vaclav Havel ein System mit „Eigenbewegung“. Die westlichen Systeme werden von Technik, Konsumkultur, Verflachung und Kapital getrieben, nicht von Menschen. Mit Heidegger sieht Havel die Menschen als Gefangene der immer weiter um sich greifenden Technik: Radikales Umdenken wäre erforderlich, nur ein Gott könne uns retten, so Heidegger. Auch die Parlamente seien in dieser Eigenbewegung gefangen. Das westliche System wäre für Osteuropa zwar ein Fortschritt, aber keine endgültige Lösung der Probleme. Havel verweist dazu auch auf die Rede von Solschenizyn in Harvard: Freiheiten, die nicht auf Verantwortung gründen, sind Illusion. Auch Ortega y Gasset wird bemüht.

Havel will deshalb eine existentielle Revolution. Sein Traum wäre eine Gesellschaft, in der die Gemeinschaft im Vordergrund steht, und nicht die Organisation. Er denkt an sich spontan bildende Gemeinschaften von Bürgern, die begeistert an einer Sache arbeiten, um sich danach wieder zu trennen und in anderen Gemeinschaften neu zu formieren. Die Wirtschaft solle sich selbst verwalten. Havel denkt also an Arbeiter als Besitzer ihrer eigenen Fabrik. Havel nennt seine Vision „Postdemokratie“.

Kritik

Die Idee des Dissidenten, der keiner sein wollte, sondern der aufgrund seines guten Charakters und einer philosophischen Lebenseinstellung ungewollt zum Dissidenten wurde, ist großartig. Genau das geschah in der Tat auch in etlichen Fällen. Auch die Analyse des posttotalitären Systems und der „Macht der Machtlosen“ in diesem System ist zutreffend.

Vermutlich ist aber das Bild des real existierenden Dissidententums, das Vaclav Havel zeichnet, falsch. Viele Dissidenten werden aus ganz anderen Gründen zu Dissidenten geworden sein als Havel. Es wird auch Spinner und Ideologen und Radikale gegeben haben, wie überall. Vaclav Havel wurde von ihnen allen nach vorne geschoben und aufs Schild gehoben, weil sie alle wussten, dass er tatsächlich so war, wie sie nur zu sein vorgaben.

Falsch liegt Havel auch mit der Idee einer völlig übermächtigen „Eigenbewegung“. Es kommt eben doch auf einzelne Menschen an, die Dinge tun, die von der Eigenbewegung des Systems nicht vorgesehen sind. Sowohl im Kleinen wie im Großen. Dass eine führende Person wie Gorbatschov doch einen Unterschied macht, hat Havel nicht gesehen. Auch im Westen kommt es auf Einzelpersönlichkeiten an, die die Karten immer wieder neu aufmischen. Ob Politiker, Erfinder, Denker oder Unternehmensgründer.

Grundsätzlich richtig ist auch die Übertragung der Kritik auf die westliche Welt. Auch hier gibt es eine gewisse „Eigenbewegung“ des Systems, auch hier gibt es viele öffentliche Lügen und zeitgeistige, ideologische Alibis, auch hier ist die Masse nur an Konsum interessiert, auch hier werden Menschen zu Dissidenten, ohne dass sie es wollten. Allerdings verbietet sich eine Gleichsetzung der Systeme. Im Westen ist es im Grunde auch gar kein „System“, sondern es ist das Wesen des Menschen selbst, das sich hier unter den Bedingungen der Freiheit von seiner unausrottbar schlechten Seite zeigt.

Völlig falsch liegt Vaclav Havel mit der Idee einer existentiellen Revolution. Die Masse der Menschen kann existentiell nicht revolutioniert werden. Die Masse der Menschen wird immer am Konsum interessiert sein, und nur selten einen „existentiellen Moment“ erleben, wobei noch die Frage wäre, ob es sich nicht vielmehr oft nur um ein Aufbegehren gegen den Entzug des Futtertroges handelt. Dauerhaft existentiell erhellt lebende Menschen wird es immer nur wenige geben. In Zeiten der Not tatsächlich mehr als sonst, aber dennoch immer nur wenige. Und vielleicht genügt das ja auch.

Geradezu gefährlich ist Havels Idee einer Beschwörung der Gemeinschaft statt der Organisation, und der Überwindung des parlamentarischen Systems zugunsten einer Traumwelt, die es niemals geben wird. Es gibt nun einmal nichts besseres als die Demokratie und ihre organisatorischen Verfahren, und jeder Traum, sie zu überwinden, ist im Grunde eine typische Form von altbekanntem antidemokratischen Denken. Wie Havel bereits selbst vermutet, dürfte sich das schöne Gemeinschaftserlebnis der Dissidenten nur den Bedingungen des Systems verdanken. Ausschließlich als Appell an den Einzelnen, an jeden Einzelnen als Einzelnem, bleibt Havels Idee einer existentiellen Revolution richtig und wichtig.

Realistischer ist da die Idee von Albert Schweitzer, der die Zerfallenheit der Gesellschaft in dem Wegfall einer gemeinsamen Weltanschauung sieht, und der die Heilung dieses Bruchs als die Heilung der Gesellschaft erhofft. Eine einheitliche Weltanschauung wird sich wohl nicht wieder herstellen lassen, aber evtl. ließe sich mit dem Humanismus eine gemeinsame weltanschauliche Basis jenseits der verschiedenen Weltanschauungen herstellen. Auf einer gemeinsamen weltanschaulichen Grundlage wären dann auch die Massen eher zu einem Denken und Handeln jenseits des Konsums zu bewegen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. 01. Juli 2020; am 02. September 2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon verschwunden ist)

Jostein Gaarder: Das Kartengeheimnis (1990)

Genial verschränktes Werk voller Esprit – hier wird Philosophie lebendig erfahrbar

Das „Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder ist eine geniale Verschränkung verschiedener Handlungsstränge ineinander: Eine Reise nach Griechenland, ins Mutterland der Philosophie. Eine Reise in die Vergangenheit einer Familie und ihrer Brüche. Und eine Reise auf eine magische Insel, auf der die Phantasieprodukte eines Schiffbrüchigen plötzlich reale Gestalt annehmen und Teil der wirklichen Welt werden. Wenn die 53 Karten eines Kartenspiels lebendig werden und gemäß ihrer Funktion agieren, entsteht eine ganz eigene Welt, die uns auch über unsere wirkliche Welt einiges lehren kann. Denn wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und dann ist da noch der Joker im Spiel …

Diese mit viel Esprit geschriebene Geschichte ist ganz nebenbei auch eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. Ebenso nebenbei leistet Jostein Gaarder dankenswerterweise auch die Aufarbeitung eines Teils der norwegischen (und europäischen) Unheilsgeschichte, nämlich die Thematisierung der Hassverbrechen der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Völker an jungen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Prädikat: Sehr wertvoll. Besser als „Sofies Welt“.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Oktober 2019)

Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995)

Ein „Ausflug“ aus der DDR in den dekadenten, linksliberalen Westen

Friedrich Christian Delius ist wie immer ein Meister der Introspektion: Man sieht bei ihm, wie „es“ im Menschen denkt. Das macht die Lektüre allerdings auch anspruchsvoll. Diesmal geht es um einen DDR-Bürger, der ohne politische Absichten einfach nur auf den Spuren Seumes nach Italien reisen und dann wieder zurückkehren möchte.

Die erste Hälfte des Buches über erlebt man mit, wie die Flucht geplant wird, wie dabei ein Gedanke den nächsten jagt, wie das Denken vorwärts auf das eine Ziel hin drängt. In der zweiten Hälfte des Buches erlebt man die Begegnung mit dem Westen. Das völlige Unvermögen der dekadenten, linksliberalen Wessis, den unpolitischen Ossi zu verstehen, ist sehr gut getroffen. Erst in Italien fühlt sich der DDR-Bürger als Deutscher und Diktaturopfer ernst genommen.

Das Buch wäre in besagtem dekadenten Westen vor 1989 wohl ein Skandalbuch geworden; da es aber erst in den 90er Jahren geschrieben wurde, winken viele heute nur ab: Stasi und Mauer gelten als ferne Vergangenheit. Sie begreifen nicht, dass das dekadente, linksliberale Denken, das vor 1989 im Angesicht der DDR-Diktatur versagte, auch heute noch herrscht, und immer wieder aufs neue an immer wieder neuen Themen versagt; oder sie begreifen es, und wollen nicht mit Kritik belästigt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010)

Eine umsichtige und kundige Warnung vor der kommenden Gefahr

Sarrazins umstrittenes Buch ist keine Polemik gegen sozial Bedürftige, Ausländer oder Muslime; es ist auch nicht sozialdarwinistisch oder rassistisch; es ist vielmehr ein unglaublich kundig und umsichtig geschriebenes Buch, das differenziert argumentiert und niemanden ausgrenzt oder ignoriert. Aber das Erstaunlichste ist: Migranten sind, anders als die veröffentlichte Meinung es darstellt, überhaupt nicht das zentrale Thema dieses Buches!

Das zentrale Thema von Sarrazins Buch ist der deutsche Sozial- und Rechtsstaat, der völlig falsche Anreize für das Verhalten aller Menschen in Deutschland setzt, sei es ihre Gesunderhaltung, sei es ihre Familiengründung, sei es ihr Arbeitswillen, sei es ihre Rechtstreue, sei es ihre Integrationsbereitschaft oder ihre Neigung zu Aus- oder Einwanderung. Schuld an allen Missständen sind natürlich nicht „die Ausländer“ oder „die Muslime“, sondern die Gutmenschen, Deutschlandhasser und Multikulti-Fanatiker, die bekanntlich eher unter den „Urdeutschen“ zu suchen sind.

Die dramatisch geringen Geburtenzahlen gerade der intelligenteren Menschen sind das wichtigste Problem, das Sarrazin thematisiert. Denn es ist Stand der Wissenschaft, dass statistisch gesehen 50-80 Prozent der Intelligenz erblich sind. Da sich Sarrazin mit der ökonomischen Überlebensfähigkeit Deutschlands befasst, konzentriert er sich mit Recht auf eine rational-technisch verstandene Intelligenz. Wenn nämlich die intelligenten Menschen dramatisch weniger Kinder bekommen, die weniger intelligenten Menschen aber mehr Kinder bekommen, dann wird die durchschnittliche Intelligenz in Deutschland insgesamt dramatisch und rasch sinken.

Keine noch so große Bildungsanstrengung kann dies verhindern, da Bildung sich über Generationen nur langsam wieder aufbauen lässt (immer im Durchschnitt gedacht, in Einzelfällen kann es immer anders sein). Sarrazin verdeutlicht dies am Beispiel Berlin: Dort wird für Bildung sehr viel mehr Geld ausgegeben als anderswo, die Ergebnisse sind aber erstaunlich bescheiden.

Deshalb plädiert Sarrazin neben Anstrengungen im Bildungswesen dafür, die falschen Anreize unseres Sozialstaates umzudrehen, so dass Akademiker tendentiell mehr Kinder, Sozialhilfeempfänger aber tendentiell weniger Kinder bekommen, als dies zur Zeit der Fall ist. Böse Zungen haben dies als Eugenik im Sinne der Nationalsozialisten bezeichnet. Sarrazin wurde auch unterstellt, er habe sich an manchen Stellen nicht von rassistischen Verirrungen abgegrenzt – aber Sarrazin argumentiert so sachbezogen und präzise, dass diese Forderung Fehl am Platze ist. Es ist immer klar, dass Sarrazin auf dem Boden der Humanität steht.

Bis hierher hat Sarrazin noch kein Wort über Zuwanderung verloren. Das Thema Zuwanderung tritt zu den beschriebenen Problemen verschärfend hinzu. Denn der deutsche Sozial- und Rechtsstaat hat die Anreize für Zuwanderung leider so gesetzt, dass im Durchschnitt die eher weniger intelligenten Menschen nach Deutschland kommen. Eine solche objektiv wahre statistische Aussage über die durchschnittliche rational-technische Intelligenz als ein „Werturteil“ oder als ein „Pauschalurteil“ über Zuwanderer lesen zu wollen, verbietet sich von selbst. Wer glaubt, aus Liebe zu den Menschen die Liebe zur Wahrheit verraten zu dürfen, verrät die Liebe zu den Menschen gleich mit.

Da die Muslime (auch hier natürlich nur im Durchschnitt, der Einzelfall ist immer anders) die größten Integrationsprobleme bereiten und auch mit die höchsten Geburtenraten haben, befasst sich Sarrazin mit ihnen in mehreren Unterkapiteln. Allerdings stellt Sarrazin klar, dass die Integrationsprobleme der Muslime nicht genetisch begründet sein können, da Muslime den unterschiedlichsten Ethnien angehören. Er sieht vielmehr die Kultur des Islam als Hauptursache für die spezifischen Integrationsprobleme der Muslime. Natürlich werden liberale Muslime und traditionalistische Muslime bei Sarrazin nicht in einen Topf geworfen.

Sarrazin rechnet überzeugend vor, dass die „Urdeutschen“ schon erschreckend bald in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden [wodurch die kulturelle Tradition abreißen wird; 24.08.2023; das ist hier der Punkt, nicht „deutsche Gene“; 27.09.2023] und der Islam die Mehrheit übernimmt, wenn alles so weitergeht wie bisher. Sarrazin diskutiert auch die Unwahrscheinlichkeit einer Islamreform durch die Islamverbände. Zur Lösung des Problems schlägt Sarrazin vor, die Anreize und Anforderungen zur Integration beim Thema Islam deutlich anders zu akzentuieren, als es derzeit geschieht.

Alles in allem hat Sarrazin ein überzeugendes Werk vorgelegt, das auch sprachlich und stilistisch anspricht, und in dem sich Humanität vor allem auch durch unbedingte Liebe zur Wahrheit und präzise Sachlichkeit ausdrückt. Dabei hat Sarrazin nicht bei jeder einzelnen statistischen Aussage über Bevölkerungsgruppen dazu gesagt, dass sich Pauschalurteile und rassistische Lesarten von selbst verbieten; das wäre auch albern, denn dass Sarrazin fest auf dem Boden der Humanität steht, ist im Zusammenhang stets klar.

Es ist erschreckend, wie Sarrazin und sein Buch verleumdet werden. Allein um die Verleumdungen zu durchschauen lohnt sich die Lektüre. Manche Kritik an Sarrazin ist auch der Tatsache geschuldet, dass viele Menschen in Deutschland Berührungsängste und Verständnisprobleme im Umgang mit Statistik und Vererbungslehre zu haben scheinen, so dass ihre Vorwürfe an Sarrazin zwar ehrlich gemeint aber dennoch unsinnig sind. Für manche eher romantisch veranlagte Menschen, die die Weltwirklichkeit gerne verklärt sehen, mag auch die Rationalität der Analyse zynisch erscheinen; Zynismus wird man bei Sarrazin jedoch nicht finden, höchstens Sarkasmus. An manchen Stellen plaudert der langjährige Spitzenbeamte und Berliner Finanzsenator Sarrazin auch aus dem Nähkästchen der Macht; auch dies mag für manche Leser eine ungewohnte Ernüchterung sein.

Es ist erschreckend, was Sarrazin an bitteren Wahrheiten offenbart: Deutschland muss dramatisch umsteuern. Mit ein wenig Kosmetik hier und da wird es nicht mehr getan sein. Uns läuft die Zeit davon. Denn wir haben Deutschland nur von unseren Enkeln geborgt.

PS 24. August 2023

Die Zahl der Falschinformationen und Missverständnisse zu Thilo Sarrazin ist inzwischen schier übermächtig geworden, so dass sich ein öffentliches Fehlurteil gebildet hat. Deshalb noch einige zusätzliche Erklärungen und Verdeutlichungen.

Thilo Sarrazin referiert zum Thema Vererbung von Intelligenz nur den Stand der Wissenschaft, und der lautet seit eh und je, dass sich Intelligenz teilweise vererbt, teilweise aber auch Erziehung und Umwelt verdankt. Nicht mehr und nicht weniger. Bildungsanstrengungen lohnen sich also immer, weil ein Teil der Intelligenz erworben werden kann, doch der mögliche Bildungsaufstieg ist nicht grenzenlos, sondern durch den angeborenen Teil begrenzt. Thilo Sarrazin plädiert dafür, dass jeder die Bildung bekommt, die er zur Entfaltung seines Potentials braucht. Aber Thilo Sarrazin warnt zugleich davor, sich zu viel zu erwarten: Nicht jeder hat das Potential zum großen Bildungsaufstieg, auch wenn man noch so viel Geld in Bildung investiert.

Thilo Sarrazin strebt keine „Unterdrückung“ der Geburtenrate von weniger gebildeten Menschen an. Vielmehr beklagt er, dass die Anreize unserer Sozialsysteme zur Zeit so gesetzt sind, dass Gebildete einen Anreiz haben, weniger Kinder zu bekommen, Ungebildete aber einen Anreiz haben, mehr Kinder bekommen. Diese Fehlanreize will Sarrazin korrigieren. Es geht nicht darum, irgendjemandem das Kinderkriegen zu verbieten oder durch die Verweigerung von Sozialleistungen Negativanreize zu setzen. Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat.

Manche meinen, Sarrazin würde biologistisch denken, denn jeder könne durch Anstrengung einen Bildungsaufstieg erreichen. Wer so denkt, hat das Grundproblem nicht verstanden. Noch einmal: Die Aufstiegsmöglichkeiten sind durch die angeborenen Fähigkeiten begrenzt. Anstrengung lohnt sich immer, aber sie führt nicht grenzenlos nach oben, sondern stößt irgendwann an eine Decke, bei manchen früher, bei manchen später. Länger einheimische Familien haben in den Jahrzehnten der BRD die Chance zum Bildungsaufstieg meistens genutzt. Ihr Aufstiegspotential ist damit ausgereizt. Paradoxerweise sind Bildungsaufstiege deshalb eher bei manchen Migranten zu erwarten, so ungebildet sie bei ihrer Ankunft in Deutschland auch sind: Denn diese kommen oft aus Ländern, in denen Bildung nicht sonderlich gefördert wurde, so dass ihr Potential nicht genutzt wurde.

Es geht also nicht um Biologismus. Es geht nicht darum, aus biologischen Gegebenheiten Werturteile abzuleiten und auf dieser Grundlage diese oder jene Gruppe von Menschen zu diskriminieren. Thilo Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat: Jeder soll Kinder und Sozialleistungen und Bildung haben. Aber die Fehlanreize müssen aufhören. Denn es geht darum, wie Deutschland seinen wichtigsten Rohstoff erhält: Kluge Köpfe. Auch zum Wohle der weniger klugen Köpfe.

Es kursiert ein Video mit Thilo Sarrazin im Netz, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zieht zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat. Diese Aussage passt auch gar nicht zu den Aussagen in Sarrazins Buch: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe.

In seinem Buch „Tugendterror“ kommentiert Sarrazin das gefälschte Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen): „Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Verrückterweise glauben viele rechtsradikale Sarrazin-Fans die Unterstellungen, die ihm von linker Seite gemacht werden, so dass sich die Extreme in ihrem Fehlurteil über Sarrazin gegenseitig bestätigen. So benutzen Rechtsradikale z.B. den Vergleich von Pferdezucht und Mischehen und berufen sich dabei auf Sarrazin. Man liest auch immer wieder, Sarrazin hätte einen Zuwanderungsstop für Muslime gefordert: Doch in Wahrheit fordert Sarrazin immer wieder, auf die Qualifikation der Zuwanderer zu achten.

Gibt es an Sarrazin gar nichts zu kritisieren? Im Detail gewiss, aber erst mit seinem fünften Buch zum Thema Islam äußerte Thilo Sarrazin eine These, die eine deutlichere Kritik rechtfertigt: Sarrazin meinte, dass der Islam anders als das Christentum grundsätzlich zu keiner Modernisierung fähig wäre.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2010; am 24. August 2023 festgestellt, dass die Rezension nicht mehr bei Amazon vorhanden ist.)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Stefan Zweig: Schachnovelle (1942)

Ein zum Klassiker gewordenes Meisterwerk: Charakterstudien, Nationalsozialismus und Schach

Dieses längst klassisch gewordene schmale Bändchen von Stefan Zweig ist viel mehr als die meisten meinen. Es ist eine Charakterstudie nicht nur von einer Person, sondern gleich von vier Personen, und behandelt werden mindestens zwei Themen, wenn nicht mehr.

Die erste Charakterstudie widmet sich einem Schachweltmeister, Mirko Czentovic: Aus welchen Verhältnissen er stammt, und wie er so geworden ist, wie er ist. Um an diese sehr verschlossene Person heranzukommen, verbündet sich der Ich-Erzähler mit McConnor, einem schottischen Ölbohrungsingenieur, einem Ausbund an Pragmatismus und Ehrgeiz. Schließlich die Hauptperson: Der Vermögensverwalter Dr. B., der sich in Gefangenschaft der Gestapo in einen wahren Schachwahn hineingesteigert hatte, der Suchtcharakter annahm und die Gefahr des Rückfalls in sich birgt. Aber es gibt noch eine vierte Person von Interesse: Es ist der Ich-Erzähler – natürlich Stefan Zweig, wer sonst? – der einmal mehr in seiner Rolle als neugieriger Erkunder der menschlichen Seele auftritt. Dabei zeigt er sich nicht als Alleskönner und Superheld, sondern als fragender, zweifelnder, ausprobierender, listenreicher aber auch manchmal unbeholfener Erkunder der Seele, was sehr menschlich ist.

Die zwei großen Themen der Novelle sind bekannt: Da ist zum einen die subtile Folter von Dr. B. durch die Gestapo. Völlig isoliert in einem Hotelzimmer, ohne Zeitung und ohne Gesprächspartner, wird Dr. B. geistig und nervlich zermürbt, ohne dass er körperlich gefoltert würde oder überhaupt eine schlechte Behandlung nach den üblichen Kategorien erfährt. (Auch eine Frau spielt keine Rolle, wie manche Verfilmung offenbar meint – von jeder Verfilmung sei abgeraten, man kann diese Erzählung nicht verfilmen.) Das andere große Thema ist natürlich das Schachspiel und seine Faszination in vielen Facetten.

Es gibt aber auch interessante Nebenthemen: Dazu gehört die Plünderung von nichtjüdischem Privatvermögen durch die Nationalsozialisten, hier die Vermögen von Adel und Kirche, die vom Vermögensverwalter Dr. B. betreut wurden. Oder die Wichtigkeit der geistigen Nahrung und des Austauschs mit anderen für den menschlichen Seelenhaushalt. Die Herkunft von Mirko Czentovic setzt dem Provinzleben der kuk Monarchie einmal mehr ein Denkmal. Man erfährt aber auch, wie es auf einem Ozeandampfer zuging, hier auf einer Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Da heute alle das Flugzeug nehmen, ist diese Form des Reisens praktisch ausgestorben.

Alles in allem ist diese kurze Erzählung ein kleines Meisterwerk, das zurecht zu einem Klassiker geworden ist, den man gerne und leicht mehr als nur einmal in seinem Leben lesen kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932)

Epochen-Roman über Milieu und Verlust der kuk Monarchie

Der Roman „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth ist vor allem eine Milieustudie der Zeit der untergehenden kuk Monarchie. Die Morbidität der wie für die Ewigkeit zementierten Verhältnisse, und das in ihnen aufbrechende Neue, sowie der Verlust des Alten sind die Themen. Für diese Epoche und diese Zeit und den folgenden Umbruch sicher ein großartiger Roman in einer sehr schönen Sprache.

Der Handlungsfaden ist eigentlich nebensächlich, jede Szene für sich ist ein Ereignis: Wie der Held von Solferino zum Helden wurde, wie er sich über eine falsche Darstellung in einem Schulbuch beklagt. Die Examinierung durch den Herrn Vater, den Bezirkshauptmann und Repräsentanten des Kaisers, das Mittagessen mit der Haushälterin und dem Diener, danach das Aufspielen der Musikkapelle, danach die Unterhaltung des Bezirkshauptmannes mit dem Kapellmeister. Der Besuch beim Witwer Slama, das Offizierskasino, das Bordell, der jüdische Doktor Demandt, dessen orthodoxer Großvater und Schankwirt, das Duell, die Verhältnisse an der Grenze, der Spielsalon, Kapturak, die verkrachte Existenz Maler Moser, die sozialdemokratische Demonstration und ihre Niederschießung, der Tod des Dieners Jacques, die Eisenbahn, immer wieder Kaffeehausszenen, Wiener Bürokraten, der milde und der greise Kaiser, das Auseinanderfallen der Armee beim Eintreffen der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers, der Schachpartner des Bezirkshauptmannes Dr. Skowronnek, und viele, viele andere mehr.

Leider wird die Handlung heute häufig unter dem Aspekt der Affären des Leutnants Trotta gesehen, vielleicht wegen Verfilmungen? Es ist ganz die Sprache, die den Roman ausmacht, und deshalb ist eine Verfilmung ohnehin nicht denkbar. Jedenfalls stehen die Affären nicht im Mittelpunkt und sind nur ein Mosaikstein wie viele andere auch. Der Autor hätte ruhig auch eine Affäre weglassen können, ohne dem Roman etwas zu nehmen.

Der Roman ist ein Meisterwerk der Menschlichkeit, ein literarisches Kunstwerk der Beobachtung, ein Denkmal für eine vergangene Zeit, aber auch ein Mahnmal für Zeitenwenden, die immer wieder auf die Menschen zukommen. Als Hörbuch besonders geeignet, wegen der ruhigen Sprache und vor allem, weil durch einen guten Vorleser mit österreichischem Akzent alles noch viel echter und eindrücklicher wirkt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. September 2012)

Alexandre Dumas: Der Schleier im Main (1867)

Alter Groschenroman über Frankfurt am Main im Jahr 1866

Literarisch gesehen besteht der Wert dieses Werkes von Alexandre Dumas einzig in der Popularität des Autors. Die Geschichte ist jedenfalls höchst einfach gestrickt: Ein französischer Tausendsassa, der anscheinend alles kann, und dem alles gelingt, wird Zeuge und Begleiter des Schicksals diverser Personen im Jahr 1866, als die Preußen Hannover und Frankfurt besetzen und annektieren. Liebe wird auf kitschigem Niveau geboten, Duelle werden immer vom „richtigen“ gewonnen. Und die Preußen sind bis auf Ausnahmen die Bösewichter.

Hochinteressant ist hingegen, wie Alexandre Dumas die Vorgänge in Deutschland aus seiner französischen Sicht schildert. Auch seine Darstellungen des alten Frankfurts sind lesenswert. Es ist überhaupt erstaunlich, wie ein Franzose eine solche Fülle von Details schildern konnte. Jedenfalls wird ein Abschnitt Frankfurter Geschichte durch einen Zeitzeugen lebendig und erfahrbar, auch wenn dieser Zeitzeuge politisch sehr voreingenommen war.

Es ist Clemens Bachmann zu danken, dass er dieses Werk vor dem Vergessen bewahrt und den deutschen Lesern zugänglich gemacht hat. Diverse Übertragungsfehler fallen da nicht ins Gewicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Ralph Giordano: Sizilien, Sizilien! – Eine Heimkehr (2002)

Die Seele Siziliens gesucht und gefunden

Ralph Giordano wandelt in diesem Buch auf den Spuren seines Großvaters, der einst von Sizilien nach Deutschland kam. Reisebeschreibungen nach Sizilien gibt es viele – aber hier liegt der Reiz natürlich darin, dass Ralph Giordano eine ganz persönliche Beziehung zu Sizilien hat, noch dazu eine, die erst noch entdeckt werden will: Wie kein anderer kann er deshalb tief in die Seele Siziliens eintauchen, weil er persönlich involviert ist. Wie kein anderer nähert er sich der sizilianischen Kultur, weil er auf der Suche nach etwas ist.

In einer ruhigen, schönen, meisterhaft erzählenden Sprache schildert Ralph Giordano sein Erleben und sein Empfinden. Alles, was in jeder Reisebeschreibung Siziliens enthalten sein muss, findet sich hier wieder: Aber wie verwandelt, wie veredelt! Und am Ende die große Überraschung, ein wahrer Knalleffekt: Ralph Giordano erfährt weit mehr über seinen Großvater, als er sich in seinen kühnsten Träumen erhoffen konnte, ein Geheimnis, das dessen Leben und Charakter plötzlich entschlüsselt!

Ralph Giordanos Sizilienreise kann getrost neben Goethes Italienischer Reise ins Regal gestellt werden: Wer die eine mag, wird auch die andere mögen.

Zum Hörbuch: Sehr empfehlenswert, da vom Autor selbst gelesen, andererseits natürlich schmerzlich gekürzt. Man muss einfach beides haben: Buch und Hörbuch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. Oktober 2010)

Jonas Grethlein: Die Odyssee – Homer und die Kunst des Erzählens (2017)

Umfassende Analyse zu Homers Odyssee, die viele Bezüge eröffnet

Jonas Grethlein hat mit „Die Odyssee – Homer und die Kunst des Erzählens“ eine Analyse zu Homers Odyssee vorgelegt, die den gebildeten Leser wirklich glücklich macht. Nicht nur, weil das Werk Homers unter verschiedensten Gesichtspunkten beleuchtet wird (Geschichte, Kunst, Literatur, Ethik, usw.), sondern auch, weil immer wieder sehr erhellende Bezüge zu alten und neuen Denkern, Literaten u.a. Autoren gezogen werden, die den Leser ungemein anregen und bereichern. Viele Fragestellungen der Homer-Forschung werden angesprochen und durch kluges Abwägen auf überzeugende Weise beantwortet.

Im Mittelpunkt von Grethleins Analyse steht das Erzählen als solches. Die Odyssee ist eine Erzählung, und sie handelt von Erzählungen, und im Modus des Erzählens sind erstaunlich viele Dinge möglich: Nicht nur die simple Kommunikation, sondern auch die Bildung einer Identität, das Wiedererkennen und Identifizieren, die Vorstrukturierung erst noch zu machender Erfahrungen, das Durchstehen schlimmer Leiden, die Verarbeitung eigenen Erlebens, die Aufhebung der Zeit, das Bilden von Beziehungen, die Erfahrung von Lust, usw.

Man lernt hier nicht nur etwas über die Odyssee, sondern über Literatur insgesamt, und man staunt einmal mehr, wie ein so reiches Werk wie Homers Odyssee ganz am Anfang der griechischen Literaturgeschichte entstehen konnte.

Etwas unterbelichtet bleibt die Frage, ob und inwieweit bereits Homer den Pfad gebahnt hat, der die griechisch-römische Welt zur Philosophie, zur Rationalität und zur Herausbildung demokratischer und republikanischer Staatsordnungen führte. Ein Verweis auf die „Dialektik der Aufklärung“ und deren These, dass die Konzentrationslager des Nationalsozialismus gewissermaßen Endziel und Gipfelpunkt von Rationalität und Aufklärung gewesen wären, erscheint unpassend; diese These hat sich nicht bewährt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)

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