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Hermann Hesse: Narziss und Goldmund (1930)

Durchspielen von Sinnlichkeit und Geistigkeit – Kritik am typisch „Deutschen“

Der Roman „Narziss und Goldmund“ schildert die Freundschaft zweier Klosterschüler, von denen der eine radikal sinnlich, der andere radikal geistig lebt. Narziss lebt ein Leben der Gelehrsamkeit, bleibt immer nur im Kloster, steigt zum Abt auf, und hat einen rationalen Durchblick durch die Zusammenhänge der Welt. Goldmund hingegen verlässt das Kloster, zieht wandernd durch die Lande, legt eine Frau nach der anderen flach, wird zum bildenden Künstler, und kehrt am Ende ins Kloster zurück. Während die Figur des Goldmund den Roman beherrscht, taucht Narziss nur am Anfang und Ende auf, und steht – obwohl ebenbürtig – nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Hermann Hesse wollte hier ganz offensichtlich zwei Charaktereigenschaften an zwei Menschen durchspielen, indem er sie jeweils völlig einseitig gestaltet und miteinander in freundschaftliche Verbindung bringt. Narziss muss Goldmund anfangs erst zur Erkenntnis seiner selbst befreien, bevor dieser hemmungslos sinnlich werden kann. Goldmund hingegen lässt Narziss zweifeln, ob ein rein geistiges Leben wirklich gut ist. Narziss hat Goldmund am Ende voraus, dass er dessen Sinnlichkeit anfanghaft versteht. Goldmund hingegen versteht die geistige Welt des Narziss noch nicht einmal im Ansatz. Goldmund bleibt bis zuletzt ein großes Kind, kuriert eine gefährliche Verletzung nicht aus, und stirbt blöde lächelnd (Hirnschlag?), ohne die Mehrzahl der von ihm geplanten Werke geschaffen zu haben. Narziss bleibt zweifelnd zurück.

Bedingt durch Bildungsmangel und die Irrtümer des Zeitgeistes fassen viele Leser diesen Roman falsch auf. Der erste Irrtum ist die Lesart als Lebensratgeber. Wie wenn Hermann Hesse dem Leser hätte sagen wollen: „Enthemme Dich, fick Dich durch’s Leben, die Rationalen sind die Dummen.“ Doch das ist nicht der Fall. Beide Charaktere sind gleich in ihrer Würde. Und beide Charaktere taugen nicht als Vorbild. Vorbildlich wäre eine richtige Mischung aus beidem. Der zweite verbreitete Irrtum ist die Lesart als homoerotischer Roman. Auch das ist Unfug. Die Liebe zwischen Narziss und Goldmund ist die Liebe von Mensch zu Mensch, jenseits aller Geschlechtlichkeit. Wer das nicht erkennt, hat etwas verpasst.

Thema Sinnlichkeit: Hier spielt das Bild der „Mutter“ eine große Rolle. Zunächst die eigene, verlorene Mutter, dann das Bild der „großen“ Mutter. Die Mutter als Verkörperung von Leben und Tod zugleich. Goldmund verfällt dieser Vorstellung völlig und wird von ihr in den Tod gezogen. Narziss sind solche Gedanken und Gefühle fremd.

Thema Kunst und Künstler: Der Werdegang von Goldmund zum Künstler, seine Begegnung mit Werken und mit dem Meister, sein innerer Drang, seine Gedanken über Gesehenes und seine inneren Bilderwelten geben dem Leser einen lebendigen Eindruck davon, was es heißt ein Künstler zu sein und Werke zu schaffen.

Thema Lebensweisheit: Der Roman umspannt das ganze Leben zweier Menschen und enthält deshalb auch eine Menge Lebensweisheit zu allen möglichen Themen (Jugend vs. Alter, Wanderschaft vs. Sesshaftigkeit, Lehre vs. Meisterschaft, Leben vs. Tod), die nicht zwingend mit dem Thema des Buches verbunden sind. Es könnte sich lohnen, das Buch mehrfach zu lesen.

Thema Kloster Maulbronn: Hermann Hesse hat das Kloster Mariabronn natürlich nach dem Kloster Maulbronn gestaltet, in dem er als Internatsschüler gescheitert war. Aber überraschenderweise ist die Darstellung der Klosterschule in diesem Roman durchgehend positiv! Das erfreut den Leser, der sich an die Depressivität des Romans „Unterm Rad“ erinnert, in dem Hesse seine negativen Erfahrungen im Kloster Maulbronn verarbeitet hatte.

Thema Mittelalter: Neben dem Kloster wird das ganze mittelalterliche Leben durchgespielt: Dörfer und Höfe, ein Ritter auf seiner Burg, die Bischofsstadt (die angeblich nach Würzburg gestaltet sein soll, aber Würzburg ist viel zu barock), der Statthalter des Kaisers in seiner Residenz.

Thema Pest: Auch die mittelalterliche Pest spielt eine Rolle. Es ist interessant, die heutigen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie mit dieser literarischen Darstellung der Pest zu vergleichen. Es gibt die Angst vor der Ansteckung, das Abstandhalten und Isolieren, die behördlichen Anweisungen, die Geschäftemacher usw.

Typisch „deutsch“:

Hermann Hesse schrieb dieses Buch 1927-1929, also noch vor der Zeit des Nationalsozialismus: „Ich habe mit diesem Buch der Idee von Deutsch­land und deutschem Wesen, die ich seit der Kindheit in mir hatte, einmal Ausdruck gegeben und ihr meine Liebe gestanden – gerade weil ich alles, was heute spezi­fisch ‚deutsch‘ ist, so sehr hasse.“ – Was könnte Hesse damit gemeint haben?

Viele denken an die im Roman geschilderte Verbrennung von Juden als Sündenböcken für die Pest. Narziss sagt, er würde eine Judenverbrennung zwar niemals anordnen, aber es könnte sein, dass er sie geschehen ließe, wenn er sie nicht verhindern könne, denn: „Die Welt ist nicht anders“. – Das mag vielleicht ein Aspekt des typisch Deutschen sein, den Hesse vielleicht auch meinte, aber Hesse schrieb dieses Buch vor der Zeit des Nationalsozialismus, und Judenpogrome waren und sind alles andere als typisch „deutsch“. Die Antwort des Narziss ist außerdem gar nicht so unvernünftig: Nicht mittun ist schon ziemlich viel getan. – Es könnte auch die Rationalität und Gelehrsamkeit des Narziss gemeint sein. Aber dieser kann es nicht allein sein, weil er ebenbürtiger Gegenspieler zu Goldmund ist, und weder Rationalität noch Gelehrsamkeit sind typisch „deutsch“. – Es könnten mit „deutsch“ auch die sesshaften Spießer gemeint sein, gegen die Goldmund als Vagabund polemisiert. Aber das ist nur ein Randthema.

Nein, es ist etwas ganz anderes, was die Menschen von heute nicht sehen, weil sie durch Bildungsmangel und Zeitgeist blind dafür geworden sind. Der Elephant im Raum ist natürlich die zentrale Figur des Goldmund, wie er mit größter Unbekümmertheit und Naivität durch das ganze deutsche Reich wandert, dabei Jung-Siegfriedhaft immer ein Kind bleibt, wie er sich gerne in Raufereien verwickelt und manchmal jemanden totschlägt, wie er die Jüdin Rebecca, die gerade ihre Familie auf dem Scheiterhaufen verloren hat, dämlich dazu auffordert, ihr Leben doch in sinnlicher Lust zu genießen, der sich nicht einmal ansatzweise (!) aufs Denken versteht, und der schließlich dem Todessog der großen Mutter verfällt. Dies ist die große Kritik am deutschen Volk, die Hermann Hesse hier gestaltet hat. Diese Figur ist es, die Hermann Hesse zugleich liebt und hasst. Also gerade das, was manche als positive Lebenslehre aus diesem Roman mitnehmen wollen, ist in Wahrheit die zentrale Kritik des typisch „Deutschen“.

Ein Vergleich zu Thomas Manns „Zauberberg“ von 1924 drängt sich auf: Auch hier meinen heute viele irrigerweise, der politisch Radikale Naphta wäre die große Warnung vor dem, was kommt. Doch in Wahrheit ist es der freundliche Herr Peeperkorn, der alle für sich vereinnahmt und nur inhaltsleere Gespräche führt, vor dem Thomas Mann vor allem warnen will. Auch dieses Buch wird in ganz ähnlicher Weise missverstanden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. August 2020.

Jan Fleischhauer: Unter Linken – Von einem, der aus Versehen konservativ wurde (2009)

Der große Exorzismus des linken Zaubers in lockeren Worten präsentiert

Wer sich mit dem Thema schon etwas beschäftigt hat, wird in diesem Buch viele ihm längst bekannte Überlegungen und Sachverhalte antreffen. Dennoch hat dieses Buch unbestreitbare Vorteile:

a) Es bietet eine Zusammenfassung all dessen, was man sonst nur verstreut findet.
b) Es bietet aktualisierte Beispiele, bis hin zur Islamkonferenz.
c) Es zeigt eine ganz persönliche Erfahrung und Bewältigung.
d) Last but not least: Dieses Buch wird im Gegensatz zu so manchem theoretischen oder politischen Buch auch tatsächlich von einem größeren Publikum gelesen!

Man hätte sich vielleicht ein etwas systematischeres Inhaltsverzeichnis gewünscht, wo doch endlich einmal alles in einem Buch präsentiert wird, aber vielleicht hätte das Leser abgeschreckt? Der lockere Ton benötigt lockere Übergänge zwischen den einzelnen Teil- und Unterthemen. Das kann man verstehen. Dass der Autor nicht noch mehr persönliche Anekdoten liefert, ist schade: Wie bekannt ist das alles aus eigenem Erleben! Für Leidensgenossen hat dieses Buch geradezu therapeutischen Charakter: Man erkennt so manchen Hintergrund der eigenen Biographie auf ganz neue Weise. Und ganz nebenbei werden hier praktisch dieselben Einsichten formuliert, die Thilo Sarrazin in seinem Werk „Deutschland schafft sich ab“ präsentierte.

Was wirklich fehlt ist die Formulierung einer politisch-weltanschaulichen Alternative. Wirklich „konservativ“ im klassischen Sinn wird nämlich keiner mehr, der einmal links war. Aber wie nennt man die Ex-Linken dann? Neokonservative? Sind uns die USA auch hier wieder um Jahre in der gesellschaftlichen Entwicklung voraus?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung Amazon 2010; erneut 23. August 2012)

Andreas Eschbach: Der schlauste Mann der Welt (2023)

Köstliche Taugenichtsgeschichte mit Weisheiten am Rande

Der schlauste Mann der Welt: Das ist der Habenichts Jens Leunich, der sich die fernöstlichen Weisheiten auf ganz eigene Art zu Herzen nimmt. Es geht dabei um Weisheiten wie z.B. das Loslassen von allem Besitz, denn nicht Du besitzt ihn, sondern er Dich; oder um Meditation, also die große Kunst des Nichtstuns; oder um das Warten darauf, dass das Schicksal in das eigene Leben eingreift und eine Entscheidung herbeiführt, die man selbst nicht treffen möchte.

Mit einem naiven Vertrauen in diese Weisheiten und einer guten Portion Bauernschläue sowie einer weitgehenden Abwesenheit von Skrupeln kommt der Taugenichts Jens Leunich unverhofft zu viel Geld und reist nun den Rest seines Lebens von Luxushotel zu Luxushotel quer durch die Welt und tut dabei: Nichts.

Dabei sind durchaus einige Abenteuer zu bestehen. Denn manchmal wird es echt knapp für Jens Leunich. So geht es immer wieder um Frauen und wie man sie wieder los wird. Der Vorteil eines Escort-Service wird klar erkannt: Nach geleisteten Diensten entfernt sich die Frau von selbst aus dem eigenen Leben. Gutes zu tun ist ein Problem, während es sich mit einem gesunden Egoismus wunderbar leben lässt. Ein Politiker bekommt den Rat, einfach nichts zu tun, und hat damit Erfolg. Richtiggehend gefährlich sind alle, die an Leunichs Geld wollen.

Eine ganze Reihe von Klischees werden gnadenlos auf die Schippe genommen, u.a. Esoteriker, Amerikanische Banker, Schweizer Privatbankiers, Millionäre, Hoteliers, Schneider, Politiker, Polizisten, Entwicklungshelfer, Ökos und Gutmenschen. Der Leser verfolgt auch gerne, wie es sich in Luxushotels leben lässt und wen man dort alles trifft. Auch die Beobachtungen zu Land und Leuten in den verschiedenen Ländern erfreuen den Leser.

Kein Buch, was man gelesen haben muss, aber ein großes Vergnügen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

J.J. Abrams und Doug Dorst: S. – Das Schiff des Theseus, von V.M. Straka (2013)

Wirklich ein intelligentes Buch – mit Potential zum Kultbuch

— — — Was den Leser zunächst erwartet — — —

Der Leser hat mit dem Buch „Das Schiff des Theseus“ ein altes Bibliotheksexemplar dieses Werkes in der Hand. Der Autor nennt sich V. M. Straka. Es handelt sich um eine hochsymbolische Erzählung, die in allegorischer Form die Geschichte der Geheimorganisation S darstellt, und wie die Hauptperson S., die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern kann, zum ausführenden Arm dieser Organisation wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches befinden sich außerdem teils verschlüsselte, teils im offenen Text versteckte Botschaften, die sich der Autor und seine Übersetzerin Kapitel für Kapitel gegenseitig zusandten.

Am Rand der Buchseiten dieses Bibliotheksexemplars befinden sich die Randnotizen der Studentin Jen und des Doktoranden Eric, die gemeinsam das Geheimnis von S ergründen, indem sie sich über diese Randnotizen austauschen. Diese Randnotizen sind nach vier verschiedenen Zeitebenen in vier verschiedenen Farbkombinationen gehalten. Hinzu kommen Einleger von Jen und Eric wie Briefe oder Postkarten, die im Zusammenhang mit den Randnotizen stehen.

Wer dieses Buch lesen will, sollte vor allem Geduld mitbringen. Notizen sind kein Muss, können aber helfen, den Überblick zu behalten (dafür gibt es aber inzwischen auch zahlreiche Internetseiten). Der Aufwand lohnt sich! Selten konnte der Leser eines Buches so unmittelbar erfahrbar an der Geschichte teilhaben.

— — — SPOILER-WARNUNG: Lese-Methode — — —

Um das Buch zu lesen, muss man zunächst das (gedruckte) Buch von vorne bis hinten lesen, und danach jeweils die Randnotizen mit den zugehörigen Einlegern mehrfach, je Zeitebene, von vorne nach hinten. Man kann aber z.B. auch die erste Zeitebene der Randnotizen zusammen bei der Lektüre des gedruckten Buches Kapitel für Kapitel mit erledigen. Es empfiehlt sich, die Information über die Farben der vier Zeitebenen der Randnotizen aus dem Internet zu besorgen, da sie sich dem Leser nur schlecht aus dem Kontext erschließen, zumal sich die verwendeten Farben der Zeitebenen teilweise überschneiden.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, muss der Leser bei der Lektüre dieses Buches so gut wie keine Rätsel lösen. Vielmehr schaut der Leser passiv dabei zu, wie die Protagonisten des Buches die Rätsel lösen. Das Buch ist also im Prinzip wie ein ganz normaler Roman zu lesen, nur dass die Lesereihenfolge der einzelnen Passagen kein einmaliges Durchlesen von vorne nach hinten erfordert, sondern ein mehrfaches Lesen von vorne nach hinten auf den verschiedenen Zeitebenen.

— — — SPOILER-WARNUNG: Inhalte — — —

Die symbolische Erzählung des gedruckten Buches handelt von S., der eines Tages ohne Erinnerung an seine Vergangenheit auf ein Schiff entführt wird. Auf diesem Schiff haben alle Matrosen bis auf einen zugenähte Münder. Das Schiff bringt S. zu verschiedenen Orten, wo er verschiedene Dinge erlebt und verschiedene Aufträge zu erfüllen hat. Das Schiff erneuert sich immer wieder, deshalb die Anspielung auf das „Schiff des Theseus“. (Und wegen Theseus und Ariadne; aber eine Anspielung auf die Rolle des Schiffs des Theseus beim Tod des Sokrates findet sich nicht.) – Der große Gegenspieler von S. ist der Waffenfabrikant Vévoda, der unbotmäßige Arbeiter verschwinden lässt, ein Massaker unter streikenden Arbeitern anrichtet, und eine neue Massenvernichtungswaffe entwickelt hat: Die Schwarzranke, oder Schwarzrebe. Sie tötet mit klebriger Tinte. Ebenso mit klebriger Tinte schreiben die Matrosen im Bauch des Schiffes endlose Texte, die sie bisweilen an Land bringen. S. wird auch zu verschiedenen Mordaufträgen geschickt, und auch Vévoda ermordet Mitglieder der Organisation S.

Diese symbolische Erzählung verschlüsselt eine echte Geheimorganisation von Schriftstellern von Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich mit Vogelnamen tarnen und gegen den Waffenfabrikanten Bouchard zusammengetan haben. Mit ihm befinden sie sich in einem „Krieg der Erzählungen“. Während sie wie Enthüllungsjournalisten arbeiten bzw. Samisdat-Literatur verbreiten, hat Bouchard die Presse in der Hand, die die Menschen mit Tinte in Massen belügt. Die gegenseitigen Morde sind leider nicht symbolisch zu verstehen, sondern real. Bouchard kann auch einige Überläufer gewinnen. Straka und seine Übersetzerin FXC waren die Hauptpersonen von S.

Im Heute von Jen und Eric, 2012, scheint es ruhig um S. geworden zu sein, und nur noch wenige Literaturwissenschaftler wie Eric und sein Doktorvater Moody befassen sich mit V.M. Straka und seinen Werken, um die wahre Geschichte von Straka und der Organisation S zu ergründen. Als Jen und Eric Erfolge bei ihren Recherchen erzielen, werden ihnen plötzlich Steine in den Weg gelegt. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Recherche, Widerstand und Liebe, gedoppelt auf der Zeitebene von Straka und FXC, sowie auf der Zeitebene von Jen und Eric.

Das Buch schlägt u.a. folgende Themen an:

  • Erwachsenwerden, Eltern, Kindheit, Studium, Job, seinen Weg finden, eine Identität bilden, eine Aufgabe finden.
  • Beziehungen aufarbeiten, Liebe finden, Stärken und Schwächen kennen, zusammenwachsen, gemeinsam etwas erschaffen.
  • Wie soll man in Welt etwas bewegen, bzw. kann man überhaupt etwas bewegen?
  • Soll man sein Leben für eine Aufgabe opfern? Oder soll man einfach nur sein Leben genießen? Oder etwas dazwischen?
  • Der Einfluss von Industrielobbies auf das Weltgeschehen, hier speziell die Rüstungsindustrie.
  • Geheimorganisationen als Möglichkeit, das Weltgeschehen zu beeinflussen. (Man denke an: Freimaurer. Ku-Klux-Klan. Terrorgruppen. Kommunistische Partei.)
  • Krieg der Erzählungen, Worte als Waffe.
  • Literarische und philologische Analyse von Texten: Sehr gut.
  • Konstruktion und Dekonstruktion von Identität durch Erzählen.
  • Wahrnehmung von Zeit, das Vergehen des Lebens.

Es gibt eine ganze Reihe von Running Gags in diesem Buch, die teils anspielungsreich sind, teils geheimnisvoll bleiben, so z.B.:

  • Immer wieder taucht die Zahl 19 auf.
  • Vögel tauchen immer wieder auf, Chiffren für die S-Mitglieder.
  • Überall findet sich das Symbol „S“, und man weiß nicht, wie es dahin kam.
  • Sola, die Geliebte von S., taucht immer wieder auf, bleibt jedoch unerreichbar.

Das große Fazit am Ende des Buch ist die Erkenntnis, dass die Liebe im Zweifelsfall wichtiger ist als die „Sache“. Einen Beweis für die Identität Strakas haben Eric und Jen bis zum Schluss nicht gefunden, sie arbeiten aber weiter daran. Solange sie sich lieben, ist der Weg das Ziel.

— — — Bewertung — — —

Dieses Buch ist ein Volltreffer! Das originelle Buchkonzept lässt den Leser haptisch an der Story teilhaben, wie es nur ein echtes, gedrucktes Buch bieten kann. Es geht um eine düstere Story und zwei junge Leute, die nicht nur ein vergangenes Geheimnis, sondern auch das Leben und die Liebe erkunden. Der Leser ist in akuter Gefahr, sich in dieser Welt zu verlieren und paranoid zu werden: Dieses Buch hat das Potential zu einem Kultbuch! Die Welt scheidet sich fortan in Menschen, die es gelesen haben, und solche, die es nicht gelesen haben.

Es werden eine Menge Themen auf intelligente Weise bearbeitet. Hier wird Bildung auf interessante und vergnügliche Weise geboten! Und zwar eine Bildung, die den Menschen als ganzes erfasst, in allen Facetten seines Daseins. Eine wahrhaft humanistische Bildung. Unbedingte Leseempfehlung! Jedoch mit einem deutlichen Caveat, siehe die Kritik.

— — — Kritik — — —

Zunächst: Keine nennenswerte Kritik sollte man an dem Umstand üben, dass die Geheimorganisation S offensichtlich eine „linke“ Gruppierung ist. Straka versteht sich zwar nicht als Kommunist (S. 222), hat aber Sympathien für Trotzki (S. 363). Die Stoßrichtung der Organisation ist simpel gegen Kapitalismus und Waffenhandel und für die Arbeiterschaft. Das ist nicht per se kritikwürdig, denn irgendeine Geheimorganisation musste es nun einmal sein, und da ist jede auf ihre Weise einseitig. „S“ könnte man übrigens auch als Chiffre für „Sozialismus“ lesen. So konkret wird das Buch aber an keiner Stelle.

Sehr kritikwürdig ist hingegen der Umstand, dass die „andere“ Seite, der Bösewicht Bouchard, allzu simpel gezeichnet wird. Hier hätte man sich mehr von jener Lebensweisheit gewünscht, dass jede Seite einen Zipfel der Wahrheit in Händen hält. Die Menschlichkeit der „anderen“ Seite bleibt völlig unterbelichtet. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert (Suizid der Ehefrau von Bouchard; Liebe unter Agenten).

Sehr kritikwürdig ist, dass die Geheimorganisation S mordet. Denn immerhin zeigen die Protagonisten Jen und Eric klare Sympathien für Straka und FXC. Das wäre völlig in Ordnung, wenn S wirklich nur einen „Krieg der Erzählungen“ geführt hätte. Ein Kampf mit den Mitteln des Wortes und der Überlegenheit der Intelligenz. Sympathie für diese Methode des Kampfes, und für die Tatsache an sich, dass man für irgendetwas kämpft, ist immer angebracht. Aber S begann auch zu morden. Damit hat S sich nicht nur von den Prinzipien des Humanismus abgewandt, sondern zudem auch die Intelligenz verraten, denn man tötet die Hydra nicht, indem ihr einige Köpfe abschlägt.

Damit weckt dieses Buch Sympathien für eine höchst einseitige „Sache“, und senkt bei den Lesern zugleich die Hemmschwelle, auch Mord als politisches Mittel zu begreifen. Denn eine klare Absage an Straka aufgrund seiner Morde findet sich in diesem Buch nirgends. FXC formuliert sogar den unglaublichen Satz, dass solche Dinge zwar vorgekommen seien, dass sie aber darüber hinweggesehen habe (S. 300). Und die Sympathie von Jen und Eric für FXC und Straka bleibt ungebrochen. – Mit diesem anti-humanistischen mindset sind einst die linksradikalen Massenmörder um Pol Pot von westlichen Universitäten (namentlich Paris) nach Kambodscha aufgebrochen, um dort ihr ideologisches Werk in den Killing Fields zu beginnen. Auch bloße Worte können reale Folgen haben, deshalb klarer Widerspruch!

Ebenfalls kritikwürdig sind einige Passagen, in denen behauptet wird, wir könnten uns selbst völlig frei definieren. Wir seien die Erzählungen, die wir über uns erfinden (S. 430 Brief Jen, S. 452, u.a.). Hierzu gehört auch der völlige Gedächtnisverlust von S. am Anfang der Geschichte, mit dem er zu leben lernt. Dabei handelt es sich offenbar um die im linken Milieu der US-Universitäten verbreitete Ideologie des Poststrukturalismus [Postmoderne; 29.09.2023]. Auch das ist eine Einseitigkeit, die man von zwei Seiten her hätte beleuchten sollen. Den meisten Lesern wird es aber kaum aufgefallen sein.

Die Umsetzung des Buchkonzepts ist teils etwas unglücklich. Die verschiedenen Zeitebenen erschließen sich nicht so einfach, zumal für verschiedene Zeitebenen teilweise dieselbe Farbe verwendet wird. Auch der Code des 10. Kapitels ist nicht wirklich einfach zu knacken. – An einigen Stellen wurde die falsche Schriftfarbe verwendet, so dass es kleine Brüche in der Chronologie der Ereignisse gibt. Insbesondere die Schriftfarben der Postkarten verwirren. – Das alles berührt das Lesevergnügen aber nur am Rande.

— — — Anschlussempfehlung — — —

Ein gutes, aber einseitiges Buch darf legitimerweise mit einer ebenso einseitigen, guten Buchempfehlung gekontert, nein besser: ergänzt werden, nämlich mit „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand. Auch in diesem Buch geht es um eine Geheimorganisation, deren Umfang und wahres Ziel sich erst im Laufe einer spannenden Geschichte enthüllt. Auch diese Geheimorganisation verwendet antike Chiffren, doch anders als S mordet diese Geheimorganisation nicht, sondern hat einen genialischen Plan, sich der „anderen“ Seite zu erwehren. Doch die Akteure sind nicht „links“, sondern im Gegenteil Unternehmerpersönlichkeiten (übrigens auch Frauen, während S ziemlich patriarchalisch erscheint), die sich gegen die Zerstörung von Wohlstand und Gerechtigkeit durch linke Akteure zur Wehr setzen! Natürlich: Auch hier liegt die Schwäche des Buches in der Einseitigkeit. Doch wer von S redet, kann zu Atlas nicht schweigen. Die Ähnlichkeiten von S und Atlas sind so groß, dass man sich fragt, ob Abrams und Dorst sich ihre Inspiration für S bei Ayn Rand geholt haben?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21.01.2019)

Florian Illies: 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts (2012)

Wunderschöner Spaziergang durch unser Bildungswissen zu dieser Epoche

Das Buch „1913“ von Florian Illies ist ein klassisches Buch für Leute, die schon gebildet sind: Spielerisch präsentiert Illies in angenehm kurzen Absätzen, was berühmte Schriftsteller, Wissenschaftler, Dichter, Politiker und andere berühmte Leute im Jahr 1913 gedacht und getan haben.

Diese spielerische Kürze ist dabei nur möglich, weil der Leser schon umfangreiches Vorwissen über die einzelnen Personen hat. Auch die Pointen erschließen sich nur dem ganz, der nicht zum ersten Mal von den beschriebenen Personen und Ereignissen hört. Dann aber, wenn dieses Vorwissen schon da ist, ist es ein reiner Genuss und ein Feuerwerk des Witzes. Außerdem ist dieses Buch eine vielfältige Anregung, dies oder jenes noch einmal nachzulesen und nachzuschlagen, insbesondere auch die vielen genannten Gemälde noch einmal anzusehen, denn Bildung erneuert sich gerne selbst und ist nie am Ende. Man lernt immer noch etwas dazu. Und es erschließt sich so mancher Zusammenhang, den man bei der Betrachtung der Personen jeweils für sich so nie gesehen hätte.

Rundherum ein Buch, das man mit großer Freude gelesen hat. Für Leute, denen die Bildung noch fehlt, ist dieses Buch ein Arbeitsauftrag: Arbeiten Sie sich durch, nehmen Sie sich dafür Zeit! Sie werden im Laufe Ihres Lebens reich dafür belohnt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. April 2017)

Vaclav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben (Die Macht der Machtlosen, 1978)

Dissident aus philosophischer Lebenseinstellung – im Osten wie im Westen

Mit seinem Text „Die Macht der Machtlosen“ von 1978 (hier: „Versuch, in der Wahrheit zu leben“) hat Vaclav Havel seine Idee vom Dissidententum niedergeschrieben. Damit hat er viele andere Dissidenten in Osteuropa inspiriert und ermutigt und zugleich seine eigene moralische Autorität begründet. Seine Überlegungen gehen jedoch über die konkrete Situation des Ostblocks hinaus.

Ausgangspunkt des Dissidenten ist nicht die Opposition gegen ein System. Ausgangspunkt des Dissidenten ist der schlichte Wille, in der Wahrheit leben zu wollen. Das bedeutet, sich nicht den öffentlichen Unwahrheiten anzupassen, sich auch nicht in den Konsum zu flüchten, sondern als Mensch interessiert, erhellt, vernünftig und verantwortlich für sich und für die Gesellschaft zu leben und zu handeln. Das ist weniger ein politischer Wille als vielmehr eine philosophische Lebenseinstellung. Tatsächlich war Vaclav Havel von dem tschechischen Existentialisten Jan Patocka beeinflusst. Zum Dissidenten wird man nicht durch Entschluss, denn niemand will Dissident werden. Zum Dissidenten wird man, weil der eigene unpolitische Wunsch, in der Wahrheit zu leben, unvorhergesehen und unbeabsichtigt mit dem System kollidiert.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des Dissidententums ist dabei, dass das System nicht rücksichtslos gegen jede Form von Opposition vorgeht, sondern abgestufte Formen von Manipulation und Repression kennt. Havel nennt diese Form des Systems „posttotalitär“ (weil ihm kein besseres Wort eingefallen ist). Das System ist nicht offen diktatorisch, sondern will sich als legitim, demokratisch und gerecht verstanden wissen. Das System verkleidet die Unterdrückung der Menschen deshalb mit verschiedenen Alibis. Eines dieser Alibis ist die Ideologie und ihre Parolen von Gerechtigkeit, Arbeiterherrschaft usw. Dazu bringt Havel das berühmte Beispiel des Gemüsehändlers, der ohne groß nachzudenken ein Spruchband mit einer politischen Parole in sein Schaufenster hängt, weil es von ihm so erwartet wird. Dadurch sendet er ganz bestimmte Botschaften sowohl an das System (Ich bin konform) als auch an seine Mitmenschen (Alle machen mit, steh‘ nicht außen vor). Ein anderes Alibi ist die Einhaltung des geschriebenen Rechts und der Menschenrechte. Weil das System daran interessiert ist, sein Alibi nicht zu verlieren, kann man die Einhaltung von Gesetzen und Menschenrechten einfordern und damit auch teilweise Erfolg erzielen (Legalitätsprinzip). Interessanterweise ist für Havel auch die Konsumkultur ein wesentlicher Bestandteil des posttotalitären Systems. Ein Teil der unterschwelligen Erpressung der Menschen geschieht über Gewährung und Entzug von Konsummöglichkeiten.

Das posttotalitäre System hat zudem ein Eigenleben entwickelt, in dem auch die obersten Politiker nur Rädchen im Getriebe sind. Havel nennt dies „Eigenbewegung“.

Dissidenten sind nicht eigentlich politisch, denn ihr Ziel ist nicht die politische Herrschaft. Weil ihr Ausgangspunkt der Wunsch ist, in der Wahrheit zu leben, beschränkt sich ihre politische Tätigkeit vielmehr auf die Abwehr vor Übergriffen der Macht. Deshalb steht auch der Kampf um die Menschenrechte als Abwehrrechten im Vordergrund. Dissidenten erschaffen Parallelstrukturen zum offiziellen System. Vor allem eine parallele Kulturszene. Im Idealfall würde das System irgendwann absterben und komplett durch die Parallel-Polis ersetzt werden. In der Praxis sieht Havel dies eher nicht. Auch kleine Taten sind wertvoll. Hier knüpft Havel an die Idee der „Kleinarbeit“ des tschechischen Staatsgründers Masaryk an, der ebenfalls Philosoph war. Dissidenten ermutigen den Rest der Gesellschaft, ebenfalls in der Wahrheit leben zu wollen. Immer wieder bricht aus der Masse der Menschen der Wille zum Widerstand hervor, es lässt sich jedoch schwer vorhersagen, wann jeweils „der letzte Tropfen“ das Fass zum Überlaufen bringt. Das System ist außerdem den Wechselfällen des Schicksals ausgesetzt, also der Außenpolitik, wirtschaftlichen Entwicklungen, Naturkatastrophen, aber auch dem unvorhersehbaren Wechsel des konkret handelnden Personals.

Auch in der westlichen Welt sieht Vaclav Havel ein System mit „Eigenbewegung“. Die westlichen Systeme werden von Technik, Konsumkultur, Verflachung und Kapital getrieben, nicht von Menschen. Mit Heidegger sieht Havel die Menschen als Gefangene der immer weiter um sich greifenden Technik: Radikales Umdenken wäre erforderlich, nur ein Gott könne uns retten, so Heidegger. Auch die Parlamente seien in dieser Eigenbewegung gefangen. Das westliche System wäre für Osteuropa zwar ein Fortschritt, aber keine endgültige Lösung der Probleme. Havel verweist dazu auch auf die Rede von Solschenizyn in Harvard: Freiheiten, die nicht auf Verantwortung gründen, sind Illusion. Auch Ortega y Gasset wird bemüht.

Havel will deshalb eine existentielle Revolution. Sein Traum wäre eine Gesellschaft, in der die Gemeinschaft im Vordergrund steht, und nicht die Organisation. Er denkt an sich spontan bildende Gemeinschaften von Bürgern, die begeistert an einer Sache arbeiten, um sich danach wieder zu trennen und in anderen Gemeinschaften neu zu formieren. Die Wirtschaft solle sich selbst verwalten. Havel denkt also an Arbeiter als Besitzer ihrer eigenen Fabrik. Havel nennt seine Vision „Postdemokratie“.

Kritik

Die Idee des Dissidenten, der keiner sein wollte, sondern der aufgrund seines guten Charakters und einer philosophischen Lebenseinstellung ungewollt zum Dissidenten wurde, ist großartig. Genau das geschah in der Tat auch in etlichen Fällen. Auch die Analyse des posttotalitären Systems und der „Macht der Machtlosen“ in diesem System ist zutreffend.

Vermutlich ist aber das Bild des real existierenden Dissidententums, das Vaclav Havel zeichnet, falsch. Viele Dissidenten werden aus ganz anderen Gründen zu Dissidenten geworden sein als Havel. Es wird auch Spinner und Ideologen und Radikale gegeben haben, wie überall. Vaclav Havel wurde von ihnen allen nach vorne geschoben und aufs Schild gehoben, weil sie alle wussten, dass er tatsächlich so war, wie sie nur zu sein vorgaben.

Falsch liegt Havel auch mit der Idee einer völlig übermächtigen „Eigenbewegung“. Es kommt eben doch auf einzelne Menschen an, die Dinge tun, die von der Eigenbewegung des Systems nicht vorgesehen sind. Sowohl im Kleinen wie im Großen. Dass eine führende Person wie Gorbatschov doch einen Unterschied macht, hat Havel nicht gesehen. Auch im Westen kommt es auf Einzelpersönlichkeiten an, die die Karten immer wieder neu aufmischen. Ob Politiker, Erfinder, Denker oder Unternehmensgründer.

Grundsätzlich richtig ist auch die Übertragung der Kritik auf die westliche Welt. Auch hier gibt es eine gewisse „Eigenbewegung“ des Systems, auch hier gibt es viele öffentliche Lügen und zeitgeistige, ideologische Alibis, auch hier ist die Masse nur an Konsum interessiert, auch hier werden Menschen zu Dissidenten, ohne dass sie es wollten. Allerdings verbietet sich eine Gleichsetzung der Systeme. Im Westen ist es im Grunde auch gar kein „System“, sondern es ist das Wesen des Menschen selbst, das sich hier unter den Bedingungen der Freiheit von seiner unausrottbar schlechten Seite zeigt.

Völlig falsch liegt Vaclav Havel mit der Idee einer existentiellen Revolution. Die Masse der Menschen kann existentiell nicht revolutioniert werden. Die Masse der Menschen wird immer am Konsum interessiert sein, und nur selten einen „existentiellen Moment“ erleben, wobei noch die Frage wäre, ob es sich nicht vielmehr oft nur um ein Aufbegehren gegen den Entzug des Futtertroges handelt. Dauerhaft existentiell erhellt lebende Menschen wird es immer nur wenige geben. In Zeiten der Not tatsächlich mehr als sonst, aber dennoch immer nur wenige. Und vielleicht genügt das ja auch.

Geradezu gefährlich ist Havels Idee einer Beschwörung der Gemeinschaft statt der Organisation, und der Überwindung des parlamentarischen Systems zugunsten einer Traumwelt, die es niemals geben wird. Es gibt nun einmal nichts besseres als die Demokratie und ihre organisatorischen Verfahren, und jeder Traum, sie zu überwinden, ist im Grunde eine typische Form von altbekanntem antidemokratischen Denken. Wie Havel bereits selbst vermutet, dürfte sich das schöne Gemeinschaftserlebnis der Dissidenten nur den Bedingungen des Systems verdanken. Ausschließlich als Appell an den Einzelnen, an jeden Einzelnen als Einzelnem, bleibt Havels Idee einer existentiellen Revolution richtig und wichtig.

Realistischer ist da die Idee von Albert Schweitzer, der die Zerfallenheit der Gesellschaft in dem Wegfall einer gemeinsamen Weltanschauung sieht, und der die Heilung dieses Bruchs als die Heilung der Gesellschaft erhofft. Eine einheitliche Weltanschauung wird sich wohl nicht wieder herstellen lassen, aber evtl. ließe sich mit dem Humanismus eine gemeinsame weltanschauliche Basis jenseits der verschiedenen Weltanschauungen herstellen. Auf einer gemeinsamen weltanschaulichen Grundlage wären dann auch die Massen eher zu einem Denken und Handeln jenseits des Konsums zu bewegen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. 01. Juli 2020; am 02. September 2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon verschwunden ist)

Jostein Gaarder: Das Kartengeheimnis (1990)

Genial verschränktes Werk voller Esprit – hier wird Philosophie lebendig erfahrbar

Das „Kartengeheimnis“ von Jostein Gaarder ist eine geniale Verschränkung verschiedener Handlungsstränge ineinander: Eine Reise nach Griechenland, ins Mutterland der Philosophie. Eine Reise in die Vergangenheit einer Familie und ihrer Brüche. Und eine Reise auf eine magische Insel, auf der die Phantasieprodukte eines Schiffbrüchigen plötzlich reale Gestalt annehmen und Teil der wirklichen Welt werden. Wenn die 53 Karten eines Kartenspiels lebendig werden und gemäß ihrer Funktion agieren, entsteht eine ganz eigene Welt, die uns auch über unsere wirkliche Welt einiges lehren kann. Denn wie wirklich ist eigentlich die Wirklichkeit? Und dann ist da noch der Joker im Spiel …

Diese mit viel Esprit geschriebene Geschichte ist ganz nebenbei auch eine wunderbare Vater-Sohn-Geschichte. Ebenso nebenbei leistet Jostein Gaarder dankenswerterweise auch die Aufarbeitung eines Teils der norwegischen (und europäischen) Unheilsgeschichte, nämlich die Thematisierung der Hassverbrechen der im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzten Völker an jungen Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Prädikat: Sehr wertvoll. Besser als „Sofies Welt“.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Oktober 2019)

Friedrich Christian Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995)

Ein „Ausflug“ aus der DDR in den dekadenten, linksliberalen Westen

Friedrich Christian Delius ist wie immer ein Meister der Introspektion: Man sieht bei ihm, wie „es“ im Menschen denkt. Das macht die Lektüre allerdings auch anspruchsvoll. Diesmal geht es um einen DDR-Bürger, der ohne politische Absichten einfach nur auf den Spuren Seumes nach Italien reisen und dann wieder zurückkehren möchte.

Die erste Hälfte des Buches über erlebt man mit, wie die Flucht geplant wird, wie dabei ein Gedanke den nächsten jagt, wie das Denken vorwärts auf das eine Ziel hin drängt. In der zweiten Hälfte des Buches erlebt man die Begegnung mit dem Westen. Das völlige Unvermögen der dekadenten, linksliberalen Wessis, den unpolitischen Ossi zu verstehen, ist sehr gut getroffen. Erst in Italien fühlt sich der DDR-Bürger als Deutscher und Diktaturopfer ernst genommen.

Das Buch wäre in besagtem dekadenten Westen vor 1989 wohl ein Skandalbuch geworden; da es aber erst in den 90er Jahren geschrieben wurde, winken viele heute nur ab: Stasi und Mauer gelten als ferne Vergangenheit. Sie begreifen nicht, dass das dekadente, linksliberale Denken, das vor 1989 im Angesicht der DDR-Diktatur versagte, auch heute noch herrscht, und immer wieder aufs neue an immer wieder neuen Themen versagt; oder sie begreifen es, und wollen nicht mit Kritik belästigt werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. August 2012)

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (2010)

Eine umsichtige und kundige Warnung vor der kommenden Gefahr

Sarrazins umstrittenes Buch ist keine Polemik gegen sozial Bedürftige, Ausländer oder Muslime; es ist auch nicht sozialdarwinistisch oder rassistisch; es ist vielmehr ein unglaublich kundig und umsichtig geschriebenes Buch, das differenziert argumentiert und niemanden ausgrenzt oder ignoriert. Aber das Erstaunlichste ist: Migranten sind, anders als die veröffentlichte Meinung es darstellt, überhaupt nicht das zentrale Thema dieses Buches!

Das zentrale Thema von Sarrazins Buch ist der deutsche Sozial- und Rechtsstaat, der völlig falsche Anreize für das Verhalten aller Menschen in Deutschland setzt, sei es ihre Gesunderhaltung, sei es ihre Familiengründung, sei es ihr Arbeitswillen, sei es ihre Rechtstreue, sei es ihre Integrationsbereitschaft oder ihre Neigung zu Aus- oder Einwanderung. Schuld an allen Missständen sind natürlich nicht „die Ausländer“ oder „die Muslime“, sondern die Gutmenschen, Deutschlandhasser und Multikulti-Fanatiker, die bekanntlich eher unter den „Urdeutschen“ zu suchen sind.

Die dramatisch geringen Geburtenzahlen gerade der intelligenteren Menschen sind das wichtigste Problem, das Sarrazin thematisiert. Denn es ist Stand der Wissenschaft, dass statistisch gesehen 50-80 Prozent der Intelligenz erblich sind. Da sich Sarrazin mit der ökonomischen Überlebensfähigkeit Deutschlands befasst, konzentriert er sich mit Recht auf eine rational-technisch verstandene Intelligenz. Wenn nämlich die intelligenten Menschen dramatisch weniger Kinder bekommen, die weniger intelligenten Menschen aber mehr Kinder bekommen, dann wird die durchschnittliche Intelligenz in Deutschland insgesamt dramatisch und rasch sinken.

Keine noch so große Bildungsanstrengung kann dies verhindern, da Bildung sich über Generationen nur langsam wieder aufbauen lässt (immer im Durchschnitt gedacht, in Einzelfällen kann es immer anders sein). Sarrazin verdeutlicht dies am Beispiel Berlin: Dort wird für Bildung sehr viel mehr Geld ausgegeben als anderswo, die Ergebnisse sind aber erstaunlich bescheiden.

Deshalb plädiert Sarrazin neben Anstrengungen im Bildungswesen dafür, die falschen Anreize unseres Sozialstaates umzudrehen, so dass Akademiker tendentiell mehr Kinder, Sozialhilfeempfänger aber tendentiell weniger Kinder bekommen, als dies zur Zeit der Fall ist. Böse Zungen haben dies als Eugenik im Sinne der Nationalsozialisten bezeichnet. Sarrazin wurde auch unterstellt, er habe sich an manchen Stellen nicht von rassistischen Verirrungen abgegrenzt – aber Sarrazin argumentiert so sachbezogen und präzise, dass diese Forderung Fehl am Platze ist. Es ist immer klar, dass Sarrazin auf dem Boden der Humanität steht.

Bis hierher hat Sarrazin noch kein Wort über Zuwanderung verloren. Das Thema Zuwanderung tritt zu den beschriebenen Problemen verschärfend hinzu. Denn der deutsche Sozial- und Rechtsstaat hat die Anreize für Zuwanderung leider so gesetzt, dass im Durchschnitt die eher weniger intelligenten Menschen nach Deutschland kommen. Eine solche objektiv wahre statistische Aussage über die durchschnittliche rational-technische Intelligenz als ein „Werturteil“ oder als ein „Pauschalurteil“ über Zuwanderer lesen zu wollen, verbietet sich von selbst. Wer glaubt, aus Liebe zu den Menschen die Liebe zur Wahrheit verraten zu dürfen, verrät die Liebe zu den Menschen gleich mit.

Da die Muslime (auch hier natürlich nur im Durchschnitt, der Einzelfall ist immer anders) die größten Integrationsprobleme bereiten und auch mit die höchsten Geburtenraten haben, befasst sich Sarrazin mit ihnen in mehreren Unterkapiteln. Allerdings stellt Sarrazin klar, dass die Integrationsprobleme der Muslime nicht genetisch begründet sein können, da Muslime den unterschiedlichsten Ethnien angehören. Er sieht vielmehr die Kultur des Islam als Hauptursache für die spezifischen Integrationsprobleme der Muslime. Natürlich werden liberale Muslime und traditionalistische Muslime bei Sarrazin nicht in einen Topf geworfen.

Sarrazin rechnet überzeugend vor, dass die „Urdeutschen“ schon erschreckend bald in ihrem eigenen Land zur Minderheit werden [wodurch die kulturelle Tradition abreißen wird; 24.08.2023; das ist hier der Punkt, nicht „deutsche Gene“; 27.09.2023] und der Islam die Mehrheit übernimmt, wenn alles so weitergeht wie bisher. Sarrazin diskutiert auch die Unwahrscheinlichkeit einer Islamreform durch die Islamverbände. Zur Lösung des Problems schlägt Sarrazin vor, die Anreize und Anforderungen zur Integration beim Thema Islam deutlich anders zu akzentuieren, als es derzeit geschieht.

Alles in allem hat Sarrazin ein überzeugendes Werk vorgelegt, das auch sprachlich und stilistisch anspricht, und in dem sich Humanität vor allem auch durch unbedingte Liebe zur Wahrheit und präzise Sachlichkeit ausdrückt. Dabei hat Sarrazin nicht bei jeder einzelnen statistischen Aussage über Bevölkerungsgruppen dazu gesagt, dass sich Pauschalurteile und rassistische Lesarten von selbst verbieten; das wäre auch albern, denn dass Sarrazin fest auf dem Boden der Humanität steht, ist im Zusammenhang stets klar.

Es ist erschreckend, wie Sarrazin und sein Buch verleumdet werden. Allein um die Verleumdungen zu durchschauen lohnt sich die Lektüre. Manche Kritik an Sarrazin ist auch der Tatsache geschuldet, dass viele Menschen in Deutschland Berührungsängste und Verständnisprobleme im Umgang mit Statistik und Vererbungslehre zu haben scheinen, so dass ihre Vorwürfe an Sarrazin zwar ehrlich gemeint aber dennoch unsinnig sind. Für manche eher romantisch veranlagte Menschen, die die Weltwirklichkeit gerne verklärt sehen, mag auch die Rationalität der Analyse zynisch erscheinen; Zynismus wird man bei Sarrazin jedoch nicht finden, höchstens Sarkasmus. An manchen Stellen plaudert der langjährige Spitzenbeamte und Berliner Finanzsenator Sarrazin auch aus dem Nähkästchen der Macht; auch dies mag für manche Leser eine ungewohnte Ernüchterung sein.

Es ist erschreckend, was Sarrazin an bitteren Wahrheiten offenbart: Deutschland muss dramatisch umsteuern. Mit ein wenig Kosmetik hier und da wird es nicht mehr getan sein. Uns läuft die Zeit davon. Denn wir haben Deutschland nur von unseren Enkeln geborgt.

PS 24. August 2023

Die Zahl der Falschinformationen und Missverständnisse zu Thilo Sarrazin ist inzwischen schier übermächtig geworden, so dass sich ein öffentliches Fehlurteil gebildet hat. Deshalb noch einige zusätzliche Erklärungen und Verdeutlichungen.

Thilo Sarrazin referiert zum Thema Vererbung von Intelligenz nur den Stand der Wissenschaft, und der lautet seit eh und je, dass sich Intelligenz teilweise vererbt, teilweise aber auch Erziehung und Umwelt verdankt. Nicht mehr und nicht weniger. Bildungsanstrengungen lohnen sich also immer, weil ein Teil der Intelligenz erworben werden kann, doch der mögliche Bildungsaufstieg ist nicht grenzenlos, sondern durch den angeborenen Teil begrenzt. Thilo Sarrazin plädiert dafür, dass jeder die Bildung bekommt, die er zur Entfaltung seines Potentials braucht. Aber Thilo Sarrazin warnt zugleich davor, sich zu viel zu erwarten: Nicht jeder hat das Potential zum großen Bildungsaufstieg, auch wenn man noch so viel Geld in Bildung investiert.

Thilo Sarrazin strebt keine „Unterdrückung“ der Geburtenrate von weniger gebildeten Menschen an. Vielmehr beklagt er, dass die Anreize unserer Sozialsysteme zur Zeit so gesetzt sind, dass Gebildete einen Anreiz haben, weniger Kinder zu bekommen, Ungebildete aber einen Anreiz haben, mehr Kinder bekommen. Diese Fehlanreize will Sarrazin korrigieren. Es geht nicht darum, irgendjemandem das Kinderkriegen zu verbieten oder durch die Verweigerung von Sozialleistungen Negativanreize zu setzen. Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat.

Manche meinen, Sarrazin würde biologistisch denken, denn jeder könne durch Anstrengung einen Bildungsaufstieg erreichen. Wer so denkt, hat das Grundproblem nicht verstanden. Noch einmal: Die Aufstiegsmöglichkeiten sind durch die angeborenen Fähigkeiten begrenzt. Anstrengung lohnt sich immer, aber sie führt nicht grenzenlos nach oben, sondern stößt irgendwann an eine Decke, bei manchen früher, bei manchen später. Länger einheimische Familien haben in den Jahrzehnten der BRD die Chance zum Bildungsaufstieg meistens genutzt. Ihr Aufstiegspotential ist damit ausgereizt. Paradoxerweise sind Bildungsaufstiege deshalb eher bei manchen Migranten zu erwarten, so ungebildet sie bei ihrer Ankunft in Deutschland auch sind: Denn diese kommen oft aus Ländern, in denen Bildung nicht sonderlich gefördert wurde, so dass ihr Potential nicht genutzt wurde.

Es geht also nicht um Biologismus. Es geht nicht darum, aus biologischen Gegebenheiten Werturteile abzuleiten und auf dieser Grundlage diese oder jene Gruppe von Menschen zu diskriminieren. Thilo Sarrazin denkt ganz als Sozialdemokrat: Jeder soll Kinder und Sozialleistungen und Bildung haben. Aber die Fehlanreize müssen aufhören. Denn es geht darum, wie Deutschland seinen wichtigsten Rohstoff erhält: Kluge Köpfe. Auch zum Wohle der weniger klugen Köpfe.

Es kursiert ein Video mit Thilo Sarrazin im Netz, in dem es so aussieht, als ob Sarrazin einen abstoßenden und eindeutig rassistischen Vergleich zieht zwischen der Pferdezucht und der Vermischung von Deutschen mit Migranten (Kreuzung von edlen Lipizzanern mit belgischen Ackergäulen). Doch das Video ist ein unzulässiger Zusammenschnitt zweier getrennter Passagen, die zusammen eine Aussage ergeben, die Sarrazin nie getätigt hat. Diese Aussage passt auch gar nicht zu den Aussagen in Sarrazins Buch: Dort schreibt Sarrazin z.B., dass Mischehen von Deutschen und Zuwanderern Zeichen einer gelungenen Integration sind. Und Sarrazin schreibt dort auch klipp und klar, dass die Probleme mit Muslimen nicht auf genetische Ursachen zurückgeführt werden können, sondern auf kulturelle Gründe.

In seinem Buch „Tugendterror“ kommentiert Sarrazin das gefälschte Video (es soll aus einer WDR-Sendung stammen): „Aber die Autoren filmten eine zweistündige öffentliche Lesung in Döbeln in Sachsen ab, offenbar in der Hoffnung, ‚kompromittierendes‘ Material zu bekommen. Sie fanden nichts und entschieden sich zu einer Fälschung: Zwei Redeabschnitte, die 45 Minuten auseinander lagen, wurden zusammengeschnitten: Im ersten sprach ich über die Erblichkeit von Eigenschaften und benutzte ein Beispiel aus der Pferdezucht. Im zweiten Abschnitt referierte ich Daten über die Bildungsleistung muslimischer Migranten. Der Zusammenschnitt ergab den zwingenden Eindruck: Sarrazin führt die geringe Bildungsleistung muslimischer Migranten auf genetische Einflüsse zurück.“

Verrückterweise glauben viele rechtsradikale Sarrazin-Fans die Unterstellungen, die ihm von linker Seite gemacht werden, so dass sich die Extreme in ihrem Fehlurteil über Sarrazin gegenseitig bestätigen. So benutzen Rechtsradikale z.B. den Vergleich von Pferdezucht und Mischehen und berufen sich dabei auf Sarrazin. Man liest auch immer wieder, Sarrazin hätte einen Zuwanderungsstop für Muslime gefordert: Doch in Wahrheit fordert Sarrazin immer wieder, auf die Qualifikation der Zuwanderer zu achten.

Gibt es an Sarrazin gar nichts zu kritisieren? Im Detail gewiss, aber erst mit seinem fünften Buch zum Thema Islam äußerte Thilo Sarrazin eine These, die eine deutlichere Kritik rechtfertigt: Sarrazin meinte, dass der Islam anders als das Christentum grundsätzlich zu keiner Modernisierung fähig wäre.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2010; am 24. August 2023 festgestellt, dass die Rezension nicht mehr bei Amazon vorhanden ist.)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

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