Schlagwort: Atlas

Werner Nell: Atlas der fiktiven Orte – Utopia, Camelot und Mittelerde. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen (2011)

Vergnügliche Ortskunde für literarisch Gebildete

Der Atlas der fiktiven Orte ist ein gelungenes Vergnügen für literarisch vielseitig gebildete Menschen. Hier geht es nämlich nicht darum, die aus Esoterik und Pseudowissenschaft sattsam bekannten Kandidaten „verlorener“ Städte möglichst spektakulär abzuhaken. Vielmehr orientiert sich die Auswahl an literarischen und kulturellen Gesichtspunkten, wie man an sonst eher selten genannten Orten wie Ardistan, Entenhausen oder Metropolis sehen kann: Orte, die es in der Tat schon lange verdient haben, näher beleuchtet zu werden. Die Präsentation will dem Leser auf leichte Weise einen Mehrwert an Bildung und Anregung zum Selberlesen bieten. Das wird nicht zuletzt auch dank der Illustrationen erreicht, die teils kreativ sind, teils aber auch eine genaue Nachzeichnung des beschriebenen Ortes versuchen.

Was Atlantis anbelangt ist die Präsentation wenigstens halbwegs erfreulich: Einerseits wird natürlich der literarischen Perspektive der Vorzug gegeben, so dass das Augenmerk eher auf literarische Vorbilder für eine Erfindung gelenkt wird. Hier werden dann natürlich auch spätere Hinzuerfindungen zum Atlantis des Platon aus Esoterik und Pseudowissenschaft erwähnt, die unter literarischen Gesichtspunkten inzwischen ohnehin längst die Oberhand über Platons Original gewonnen haben. Aber immerhin wird dem Leser nicht vorgespiegelt, dass das Thema Atlantis unumstritten und in wissenschaftlichen Kreisen längst geklärt sei. Der Gedanke an einen realen Ort Atlantis wird dennoch ausgeschlossen. Von Forschern wie z.B. Wilhelm Brandenstein, der in der Atlantiserzählung gerade unter literarischer Perspektive einen realen Kern erkennen zu können glaubt, kein Wort; nun ja, das Glas halb voll statt halb leer. Atlantis ist eben keine Literatur, kein Poem, sondern sachlich orientierte Philosophie, und passt damit auch nicht ganz in das Konzept dieses Buches.

Korrigieren wir noch rasch einige Fehler im Detail: Falsch ist u.a. die Angabe, dass die Insel Atlantis ca. 533 x 355 km groß wäre: Dies ist vielmehr die angebliche Größe der Ebene in der Mitte der Insel. Dass Thule oder Vineta Stützpunkte von Atlantis gewesen seien ist pure Fantasy. Die Behauptung, dass Atlantis unterging, bevor der Krieg mit Athen zu Ende war, ist umstritten. Die Angabe, dass die Sonnenstadt des Campanella „in ihrem Aufbau ganz der Form von Atlantis entspricht“, ist grottenfalsch. Die Frage, ob Atlantis für das Utopia des Thomas Morus Pate gestanden hat, ist umstritten; Utopia orientiert sich eher an einer anderen, sehr bekannten Insel im Atlantik: Britannien. Die wissenschaftliche Bedeutung von Rudbecks äußerst innovativer, wenn auch vergeblicher Atlantissuche wird völlig verkannt. Weitere grenzwertige und missverständliche Halbwahrheiten über Atlantis sind enthalten. Literaturangaben oder Internet-Links wie bei anderen besprochenen Orten fehlen leider. Das alles kann jedoch den unentwegten Literaturfreund nicht beirren.

Etwas zu kurz kommt der Vergleich der verschiedenen literarischen Orte bzw. deren entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang. So hätte man z.B. bei Michael Endes Lummerland auf die Untersuchung „Darwins Jim Knopf“ von Julia Voss hinweisen können, in der klar nachgewiesen wird, dass hier die Atlantiserzählung unter einem ganz gewissen Gesichtspunkt Pate gestanden hatte. Überhaupt hätte man die verschiedenen Orte besser chronologisch als alphabetisch geordnet. Das schmälert aber das Vergnügen nicht, der gebildete Leser ist vollauf in der Lage die vorhandenen Lücken selbst zu schließen. Wenn es gar nichts mehr selbst zu denken gäbe, wäre das Buch womöglich langweilig!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Juli 2012)

Durs Grünbein: Die Bars von Atlantis – Eine Erkundung in vierzehn Tauchgängen (2009)

In den Bars von Atlantis endet der Abend nie

In seinem kurzen Essay „Die Bars von Atlantis“ versucht Durs Grünbein, Lyriker und Kenner der Geisteswelt der Antike, zu erläutern, welche Gedanken hinter einer einzigen Zeile seines Gedichtes „Kosmopolit“ standen und stehen. Dazu entfaltet er in 14 kurzen Betrachtungen ein Feuerwerk der Assoziationen. Sie kreisen um die folgenden Themen und Topoi: Die Leere des Transitraumes am Flughafen, Reisen als Vorgeschmack der Hölle, Seefahrt als Inbegriff der Reise, die Ursehnsucht des Menschen nach dem Eintauchen in das unendliche Meer, das im Meer versunkene Atlantis als Chiffre für das Endziel aller Reisen, und schließlich die Bars von Atlantis als der Treffpunkt für alle, die die Reise hinter sich gebracht haben. Nebenbei erfahren wir auch etwas zur Poseidonstadt Paestum und der Tomba del Tuffatore, zum ganz privaten Tauchvergnügen des Dichters, zur Weltflucht des Kapitän Nemo in seiner Nautilus, zu den Tränen des Odysseus, und dass es Dante war, der die Intention von Durs Grünbein in kaum beachteten Versen vorwegnahm, ja, ihm fast schon die Show stahl.

Es ist ein wahres Vergnügen, den von Gedanke zu Gedanke spielerisch fortschreitenden Ausführungen Grünbeins zu folgen, die sich auf höchstem Niveau von Sprache und Bildung bewegen. Wer ihm folgen kann, wird seine ungetrübte Freude daran haben; wer es nicht kann, hat einen Text vor sich, an dem man sich hervorragend abarbeiten kann, um höher zu kommen. Sprache im Sinne Durs Grünbeins ist eben nicht nur ein Sichversenken, sondern auch ein Emportauchen, ein Lesen zwischen den Zeilen, das sich über das Geschriebene erhebt, ein Erwachen aus fremden Lebensräumen, wo das Leben Traum nur heißt.

Aus der Sicht der Atlantisforschung greift Durs Grünbein ein Thema auf, das schon mehrfach bearbeitet wurde, nüchterner und expliziter – und dennoch unreflektierter – etwa bei Ulrich Sonnemann und dessen Frage nach der tiefenpsychologischen Dimension von Atlantis (Atlantis zum Beispiel, 1986).

Es bleibt die trockene Pflicht, auf einige typische Irrtümer im Zusammenhang mit Atlantis hinzuweisen, denen auch Durs Grünbein erlegen ist, damit die Welten von Dichtung und Wahrheit sich nicht auf unglückliche Weise miteinander vermischen: Die Forschung neigt zu der Auffassung, dass König Atlas von Atlantis, ein Sohn des Poseidon, nicht identisch ist mit dem Titan Atlas aus der griechischen Mythologie. Dieser Titan ist es, nach dem das Meer westlich der Säulen des Herakles das Atlantische Meer genannt wurde; als Platon seine Atlantis-Dialoge schrieb, war der Name schon vergeben. Platon hängt sich also keineswegs an den mythologischen Atlas an, sondern ersetzt ihn überraschend und kühn und weit über eine Entmythologisierung hinausgehend durch eine völlig andere Person gleichen Namens! – Etwas ins Auge geht die Verwendung des Begriffs Okeanos im Zusammenhang mit Atlantis. Platon verwendet das Wort Okeanos an keiner Stelle seiner Atlantis-Dialoge, und bei Herodot kann man nachlesen, warum der Mythos vom Okeanos damals in keinem guten Ruf stand; zumal es ja bei Atlantis um Logos und nicht um Mythos geht.

Wohltuend verschont Durs Grünbein seine Leser mit den ewig falschen Vulkanausbrüchen als Ursache für den Untergang von Atlantis, sondern bleibt bei den von Platon genannten Erdbeben. Und ja, auch hierin ist Durs Grünbein beizupflichten: Wer in ein U-Boot steigt, wird Atlantis wohl tatsächlich niemals zu Gesicht bekommen. Doch das zu erläutern würde das Atlantis des Dichters in unzulässiger Weise mit der Frage nach Atlantis als einem realen Ort verknüpfen. Denn in den Bars von Atlantis wird auch dann noch ein Kommen und Gehen herrschen, wenn Platons Atlantis sich als ein realer Ort entpuppt haben wird. Es wäre ja auch schade, wenn Atlantis das gleiche Schicksal wie Troja widerfahren würde: Ein langweiliger Trümmerhaufen am Ende der Zeit, entdeckt bis zur Unkenntlichkeit. Nein, bei Atlantis muss und wird und kann das alles nur ganz anders sein und bleiben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Juli 2010)