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Noah Gordon: Der Medicus (1986)

Genre-prägender Mittelalterschinken, aber ganz gut

Wie so viele Mittelalterschinken greift der Roman „Der Medicus“ in die Vollen und beschreibt das Mittelalter so, wie man es sich eben vorstellt, und weniger, wie es wirklich war. Es geht deftig zu, Religion und Unwissenheit spielen eine Rolle, und den Protagonisten bleibt kein Schicksal erspart, doch am Ende enden sie halbwegs glücklich und um viele Erfahrungen reicher.

Dennoch gehört „Der Medicus“ zu den besseren Werken dieser Gattung. Vielleicht wurde hier manches noch besser gemacht als bei späteren Werken, weil das Genre mit diesem Roman erst richtig geprägt wurde.

Das unangenehm Deftige ebbt nach einem furiosen Anfang ab, und macht einigen interessanten Beschreibungen von Judentum und persischem Heilwesen Platz. Das Thema Islam wird noch völlig unaufgeregt gehandhabt. Der ganze Roman erscheint ehrlicher, frischer, und weniger konstruiert, als jene Romane, die in seiner Nachfolge erschienen. Nicht zufällig liest sich dieses dicke Buch flott von der Leber weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. November 2013)

Gunter Frank: Das Staatsverbrechen – Warum die Corona-Krise erst dann endet, wenn die Verantwortlichen vor Gericht stehen (2023)

Annäherung an die Wahrheit zu Corona anhand eines „Viertelsschwurbler“-Buches

Die Fronten zu Corona (Covid-19, Sars-Cov-2) sind verhärtet. Der normaldenkende Mensch hat die Erfahrung gemacht, dass beide Seiten mit Halbwahrheiten arbeiten. Schwurbler überall! Was soll man da glauben? Wie soll man sich da orientieren?

Der Frage nach der Corona-Wahrheit wollen wir hier anhand des Buches „Das Staatsverbrechen“ von Gunter Frank näherkommen. Auch Gunter Frank argumentiert nicht perfekt, aber sein Buch zeichnet sich durch ein hohes Maß an Faktizität und Rationalität aus. Gunter Frank schwurbelt fast nie um den Punkt herum, er kommt zum Punkt. Dabei liegt er nicht immer richtig. Aber er liegt vermutlich näher an der Wahrheit, als andere. Er ist sozusagen ein „Viertelsschwurbler“. Das ist in diesem Fall durchaus als Kompliment gemeint. Deshalb liefert sein Buch einen brauchbaren Ausgangspunkt für eine rationale Debatte.

Beginnen wir aber mit einer Chronologie eigener Beobachtungen und Gedanken während der Pandemie: Wir alle starten unsere Überlegungen nicht bei Null, und so soll auch hier zunächst aufgezeigt werden, was der Rezensent zu Corona dachte und wusste, bevor er dieses Buch las. Auf dieser Grundlage gehen wir danach auf das Buch ein.

Eigene Beobachtungen, chronologisch

Am Anfang der Pandemie war man mit den Corona-Maßnahmen der Regierung noch im Reinen: Offenbar hatte der Virus eine höhere Sterblichkeitsrate, wie man vor allem durch Berichte von Ärzten aus Bergamo erfuhr (09.02.2020). Bergamo war die Initialzündung zur Corona-Panik. Angela Merkel hielt ihre Fernsehansprache zu Corona praktisch zeitgleich zu den berühmt-berüchtigten „Bildern aus Bergamo“, die eine Kolonne von Militärlastwagen zeigten, die Särge abtransportierten (18.03.2020). Heute wissen wir: In Bergamo wurden massive Behandlungsfehler begangen. Aber das wusste man damals noch nicht. – Die Wissenschafts-Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim hatte zudem wunderbar erklärt, wie das mit „Flatten the Curve“ funktioniert: Man muss die Erkrankungsrate senken, um das Gesundheitswesen zu schonen, indem nicht zuviele Menschen auf einmal an Corona erkranken.

Was Mai Thi nicht ausgerechnet hatte, war die Zeit, wie lange man „Flatten the Curve“ betreiben müsste, um alle Menschen nach und nach durch die Erkrankung und – anteilig – durch das Gesundheitswesen zu schleusen: Mein eigenes Rechenergebnis sagte mir, dass es viele Jahre sein würden. Bei Alexander Kekulé fand ich diese Erkenntnis später bestätigt. Damit war mir aus damaliger Sicht klar, dass die Pandemie durch eine Impfung beendet werden musste, und dass es eine Pflichtimpfung sein würde. Denn man kann die Gesellschaft nicht für viele Jahre in den Lockdown schicken, und die Impfung würde nur helfen, wenn sehr viele sie bekommen würden. – Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Die Impfung würde gar nicht wie eine klassische Impfung wirken. Und: Eine Pandemie kann auch durch eine mildere Variante des Virus beendet werden.

Meine Erwartung war also, dass die Politik die Menschen auf eine Impfpflicht vorbereiten würde. Doch das geschah nicht. Im Gegenteil verkündeten alle Politiker und Journalisten unisono, dass der Gedanke an eine Impfpflicht eine Verschwörungstheorie von Schwurblern und bösen „Rechten“ wäre. Nach der Bundestagswahl 2021 schalteten die Politiker dann plötzlich reihenweise auf Impfpflicht um: Das war maximal unglaubwürdig, sehr undemokratisch und sehr entlarvend.

Dann war da noch die sehr frühe Studie des Virologen Hendrik Streeck zu Heinsberg, die u.a. das Ergebnis brachte, dass die Sterblichkeitsrate doch nicht so hoch war, wie man zunächst befürchten musste. Man hätte erwartet, dass diese Ergebnisse Beachtung bei den Maßnahmen finden. Es geschah jedoch nicht. Vielmehr wurde versucht, Streeck schlechtzureden. Man gewann den Eindruck, dass man gar nicht daran interessiert war, die wahre Sterblichkeitsrate des Virus näher zu bestimmen: Dabei hing daran doch alles!

Zum Thema Masken hatte ich gleich am Anfang der Pandemie ein Youtube-Interview mit einem südkoreanischen Arzt gehört. In Südkorea hatte man bereits 2015 Erfahrungen mit einer MERS-Pandemie gesammelt und musste also Bescheid wissen. Der südkoreanische Arzt sagte klipp und klar, dass Masken sehr wohl nützen. Sie reduzieren das Risiko. Natürlich nicht auf Null. Und es ging um medizinische Masken, auch als OP-Masken bekannt. – Als dann später die FFP2-Masken Pflicht wurden, fragte man sich, wie man solche Masken einen ganzen Tag lang tragen soll. Schulkinder und Angestellte mit Kundenkontakt wurden dazu gezwungen. Man selbst litt schon, wenn man ein paar Stunden damit in der Bahn saß. Da Masken das Risiko nicht auf Null reduzieren, dürfte die Nutzen-Schaden-Abwägung bei FFP2-Masken nicht positiv gewesen sein.

Christian Drosten erschien am Anfang der Pandemie recht überzeugend, weil er gut reden konnte. – Doch zu Anfang der Pandemie sagte er, dass Masken nichts nützen würden. Das sagte er natürlich deshalb, weil wir zu wenige Masken in Deutschland hatten und er nicht wollte, dass nun ein Run auf die Masken beginnt, so dass am Ende keine Masken mehr für das Gesundheitswesen übrig bleiben. Man kann das als eine verständliche Notlüge interpretieren. Allerdings wäre mir bis heute nicht zu Ohren gekommen, dass Drosten sich zu dieser Notlüge je bekannt hätte. – Heute, nach der Pandemie, hört man, dass Drosten sagt: Er wäre immer der Auffassung gewesen, dass Masken nichts nützen. Verrückt! Denn er hatte in der Pandemie ganz klar Masken propagiert. – Auch sonst will Drosten hinterher nicht so richtig dabei gewesen sein, wie man hört: Sehr fragwürdig! Zudem fabuliert er davon, in einer nächsten Pandemie die Meinungsfreiheit beschneiden zu wollen, weil Andersdenkende den Erfolg der Maßnahmen gefährden würden. Meint er. Drosten scheint ein tragischer Fall zu sein. Aber das alles wusste man erst hinterher.

Sehr schwer wiegt auch, dass Drosten gleich am Anfang der Pandemie behauptete, dass die These vom Laborunfall „vom Tisch“ sei. Sie war natürlich nicht vom Tisch, wie wir heute wissen. Als das Anfang 2022 klar wurde, war das eine weitere, schwere Erschütterung der Glaubwürdigkeit von Drosten, auf dessen Expertise ich in diesem Punkt vertraut hatte.

Seltsam war auch, dass der deutsche Staat nicht genügend Masken vorrätig hatte, und sich auch schwer tat, sie im Ausland zu beschaffen. Man lebt ja in der Vorstellung, dass der Staat Katastrophenschutzpläne in der Schublade hat und auch das nötige Material auf Vorrat hält. So wie die Feldbetten, die bei jeder Katastrophe verfügbar sind. Aber offenbar war das nicht der Fall. – Man hatte generell den Eindruck, dass es überhaupt keine Pläne für eine Pandemie gab, sondern alles ad hoc entschieden wurde. Statt planvollem Vorgehen nach Vorgaben von Experten z.B. des Robert-Koch-Instituts (RKI) hatten wir einen Hühnerhaufen von profilierungssüchtigen Politikern, besserwisserischen Journalisten und ein paar wenigen Star-Virologen.

Völlig obskur war die Argumentation, dass die Rettung auch nur eines einzigen Menschenlebens jede Maßnahme rechtfertigen würde. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann berief sich dazu auf Immanuel Kant, ohne das näher zu begründen. Wolfgang Schäuble hat das schon im April 2020 hinterfragt, da Menschenwürde und Menschenleben nicht dasselbe seien, drang aber nicht durch. Ebenfalls im April 2020 äußerte Boris Palmer denselben Gedanken („Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“) und wurde für diesen Satz stellvertretend für alle Andersdenkenden öffentlich niedergemacht. Man blieb beim radikalen Schutzanspruch. Etwas anderes durfte nicht gedacht werden. Es war erschütternd zu sehen, auf welch‘ niedrigem intellektuellen Niveau die Debatte verlief. Es war derselbe flache Dogmatismus, den man schon von den Debatten um Krieg, Migration, Folter oder finalem Rettungsschuss her kannte. Man kann es kaum eine Debatte nennen, es war ein Vertuschen und ein Wegbeißen von Andersdenkenden.

Die Corona-Warn-App war ebenfalls ein Flopp. Es war sehr schnell klar, dass sie überhaupt nichts nützt. Richtig war allerdings, dass nur eine solche App Akzeptanz finden würde, die datensicher ist. – Man hätte auch erwartet, dass der Staat damit beginnt, Gesundheitstipps zu verbreiten. Viele wissen nicht, dass man gegen eine Erkältungskrankheit nicht nur Vitamin C sondern auch Vitamin D braucht. Dafür hätte man Werbung machen können. Außerdem war schnell klar, dass Übergewicht ein Risikofaktor ist. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Werbung für mehr Bewegung und Abnehmen zu machen. Doch nichts geschah. Seltsam.

Während der Pandemie las man dann, dass Intensiv-Betten abgebaut werden. Und dass die Krankenhäuser unterbelegt sind. Weil viele Operationen verschoben wurden. Und man fragte sich, ob das nicht etwas übertrieben ist: Sollten die Krankenhäuser nicht wenigstens normal ausgelastet sein? „Flatten the Curve“ sollte die Krankenhäuser vor einer Überlastung schützen, aber nicht zu einer Unterbelegung führen.

Im öffentlichen Raum verengte sich die Debatte um Corona extrem schnell auf ganz wenige Personen, vor allem Drosten und Streeck. Kekulé war auch noch dabei, wurde aber marginalisiert. Eine Initiative wie der Offene Brief im Spiegel von Boris Palmer, Juli Zeh, Alexander Kekulé und Julian Nida-Rümelin wurde zwar gedruckt (immerhin), aber in der Debatte praktisch ignoriert. Hin und wieder meldete sich der Ethikrat mit seiner unsäglichen Vorsitzenden Alena Buyx zu Wort, und sagte immer genau das, wohin der mediale Zeitgeist gerade steuerte, statt ethische Dilemmata aufzuzeigen und Widerspruch anzumelden. Die Ministerpräsidenten Söder und Kretschmann spielten Team Vorsicht.

Die ganze Pandemie über gab es Schwurbler und Covidioten. Leute, die ganz offensichtlich falsche Dinge erzählten. Dinge, die so nicht sein konnten. Oder Leute, die sich im Ton vergriffen. Ich hatte mehrfach versucht, mir Videos von Bakhdi anzusehen. Der Mann war ein Schwätzer vor dem Herrn und kam nie zum Punkt. Ich hatte es dann aufgegeben, seinen Punkt zu verstehen. Die Corona-Kritiker konnten nie Glaubwürdigkeit aufbauen.

Ein Sonderfall war Gunnar Kaiser. Ein gebildeter Kritiker mit Stil, der allerdings leider manchmal ganz bewusst herumschwurbelte, so dass Ironie und Ernst nicht immer hinreichend zu unterscheiden waren. Unvergessen seine Lesung der „Pest in Bergamo“ von Jens Peter Jacobsen aus dem Jahr 1881. Gunnar Kaiser starb 2023 an Krebs.

Am Anfang war Drosten sehr glaubwürdig. dann immer mehr Alexander Kekulé. Bei Kekulé war klar, dass er die Dinge nach menschlichem Maß abwog, er war kein Ideologe und versuchte, das Ganze zu sehen. Er konnte seine Thesen nicht immer gut begründen, was manchmal unglaubwürdig erschien, aber am Ende hatte meistens Kekulé Recht, und nicht Drosten mit seinem Tunnelblick. Das wurde im Laufe der Zeit immer klarer. Auch jetzt, 2024, hat Alexander Kekulé ziemlich vernünftige Ansichten zum Thema Aufarbeitung.

Dann hörte man täglich von Inzidenz-Werten. Also von absoluten Fallzahlen festgestellter Corona-Infektionen. Jeden Tag in der Tagesschau. Aber diese Inzidenzzahlen hätten natürlich mit der Anzahl der durchgeführten Tests abgeglichen werden müssen, denn je mehr man testet, desto mehr findet man natürlich auch. Doch das geschah nicht, bis zum Ende der Pandemie nicht. Völlig sinnlose Zahlen wurden täglich zum Zentrum der Tagesschau gemacht.

Irgendwann wurde klar, dass bei den Todeszahlen nicht unterschieden wurde, ob ein Patient „an“ oder nur „mit“ Corona verstorben war. Man hätte erwartet, dass diese Statistik schleunigst umgestellt wird, und sei es nur nach grober Einschätzung der behandelnden Ärzte, damit mehr Klarheit herrscht. Doch es geschah nicht. Bis zum Ende nicht. Unfasslich.

Von Schweden hörte man zunächst, dass dort mehr Menschen als in Deutschland sterben, aber dann sickerte irgendwann durch, dass in Schweden – trotz lockerer Maßnahmen – deutlich weniger Menschen gestorben waren. Ähnliches hörte man dann auch aus den USA, im direkten Vergleich von verschiedenen Bundesstaaten. Aber die deutsche Politik und Medienöffentlichkeit reagierte auf solche Informationen nicht. Solche Informationen gab es nur unter der Hand. Bei den „Schwurblern“ und „Rechten“.

Es war sehr schnell klar, dass Kinder und Jugendliche kaum durch das Virus gefährdet sind. Es wäre eine sinnvolle Strategie gewesen, die Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung gezielt anzustreben. Aber dem stand das Argument „Long Covid“ entgegen. Doch auch hier wurde man systematisch im Unklaren gelassen, wie oft dieses Phänomen eigentlich auftritt. Wir wissen heute: Bei Kindern und Jugendlichen selten genug. Außerdem war immer klar, dass das Virus irgendwann jeden erreichen wird. Fragt sich nur, ob vor oder nach einer Impfung. Und eine symptomlose oder milde Infektion mit dem Originalvirus ist natürlich die beste, natürlichste Impfung, die man sich wünschen kann.

Man fragte sich, je länger die Pandemie dauerte, ob den Politikern keine anderen und besseren Maßnahmen einfallen, als immer nur Lockdowns? Oder ob man Lockdowns nicht abwechslungsreicher hätte gestalten müssen: Lieber eine kurze Zeit einen strengen Lockdown, und dann wieder für eine gewisse Zeit größere Freiheit genießen, als einen endlosen, depressiv machenden Dreiviertelslockdown? Boris Palmer hatte in Tübungen auch einige gute Ideen, für die sich sonst niemand interessierte. Und warum mussten immer alle Bundesländer im Gleichschritt marschieren? Das machte doch gar keinen Sinn, da die Pandemie regional sehr unterschiedlich ausfiel. Gerade in der Pandemie hätte der Föderalismus seine Stärken ausspielen können. In den USA geschah das. Warum nicht bei uns? Hatte man etwa Angst, dass manche Länder besser abschneiden würden als andere? So wie beim Bildungsföderalismus, wo man auch versucht, jeden Vergleich zu vermeiden?!

Obskur auch die Gesetze, die gemacht wurden: Natürlich muss es möglich sein, bei einer gefährlichen Krankheit auch Grundrechte außer Kraft zu setzen, um die Bevölkerung zu schützen. Aber ohne jede Kontrollinstanz, einfach mit einem Federstrich der Regierung? Das erscheint wenig demokratisch. – Obskur auch die Übertragung von erstaunlichen Kompetenzen an die WHO im Falle einer kommenden Pandemie. Denn weder ist die WHO demokratisch, noch haben sich übernationale Organisationen in der Pandemie als handlungsfähig erwiesen. Das Heft hatten die Nationalstaaten in der Hand. Vermutlich ist die Übertragung von Kompetenzen an die WHO auch nicht völlig ernst gemeint. Aber sollte man Gesetze machen, die nicht völlig ernst gemeint sind? Was sagt das über die Gesetzestreue der Parlamentarier aus? Und über den Zustand unseres Rechtsstaates insgesamt?!

Im Vorfeld des zweiten Corona-Sommers kam eine völlig verrückte Diskussion auf, ob das Virus im Sommer nachlassen würde. Dabei hatte man schon im Sommer zuvor gesehen, dass das der Fall war. Wieso sollte es jetzt anders sein? Wozu diese irre Debatte?

Im Fernsehen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – zelebrierte der Bundespräsident eine seltsame Trauerfeier für die Corona-Toten. Doch wie viele waren es nun eigentlich? Darüber konnte niemand eine klare Auskunft erteilen. Im eigenen Umfeld kannte man niemanden, der an Corona gestorben war, und man kannte auch niemanden, der jemand kannte. Es war völlig surreal.

Und dann gab es die Zero-Covid-Idioten, die besonders scharfe Maßnahmen forderten, weil sie glaubten, das Virus ausrotten zu können. Doch das kann man nicht. Oder weil sie ein völlig falsches Verständnis von Risiko und Verhältnismäßigkeit hatten. Es sind dieselben Leute, die auch in ökologischen Fragen jedes Maß an Verhältnismäßigkeit und Realismus verloren haben. Irgendwie schafften diese Zero-Covid-Idioten es, die Debatte zu beherrschen, mithilfe sympathisierender Journalisten und gewissen fragwürdigen Aussagen von Drosten, auch wenn die Politik zum Glück kein völliges Null-Covid-Programm durchzog. Es war sonnenklar, dass diese Leute von einem autoritären Furor geleitet waren. Sie machten oft keinen Hehl daraus, dass sie auch die Klima-Problematik gerne autoritär „lösen“ würden, wenn man sie ließe. Das war sehr undemokratisch gedacht.

Die Impfung für alle erschien zunächst der logisch einzige Weg aus der Pandemie heraus. Mai Thi hatte auch dazu das richtige Video mit überzeugenden Argumenten. Jetzt sagte sie das, was ich mir schon am Anfang der Pandemie ausgerechnet hatte: „Flatten the Curve“ dauert ewig. Allerdings: Mai Thi sagte das erst nach der Wahl.

Doch irgendwann sickerte durch: Die Impfung verhindert eine Infektion gar nicht, und sie verhindert auch nicht die Weitergabe des Virus. Ein respiratorischer Virus kann durch eine Impfung gar nicht völlig abgewehrt werden, weil er die Schleimhäute immer erreicht. Die Impfung reduziert lediglich das Risiko eines schweren Verlaufs. Das ist nicht wenig, aber damit ging es nur noch um Eigenschutz, nicht mehr um Fremdschutz. Und damit fiel jedes Argument für eine Impfpflicht weg. Doch niemand diskutierte das. Man tat so, als gäbe es diese Schlussfolgerung nicht.

Und diese Information sickerte nur langsam durch, so wie viele Informationen und Wahrheiten in dieser Pandemie leider nur durchsickerten: Niemals stellte sich ein Politiker oder ein Drosten hin und verkündete, dass man bisher auf dem falschen Dampfer war und ab sofort neue Einsichten gelten. Sondern man veränderte die Positionen schrittweise und ganz heimlich, still und leise.

Später dann bekam Mai Thi ihre eigene Show im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen, und hier zeigte sie dann ihr wahres Gesicht: Ursprünglich hatte sie noch einen gewissen Anspruch. Sie war natürlich, vernünftig und menschlich, auch wo sie irrte. Doch dann gab sie sich für höchst einseitige Darstellungen her. Und dass sie in ihrem Impf-Video von einem Fremdschutz ausging, den es nie gab, dazu hat sie sich nie geäußert. Ebenso hat sie sich nie dazu geäußert, dass die Pandemie am Ende nicht durch die Impfung, sondern durch Omikron beendet wurde. Mai Thi könnte ja sagen, dass sie sich geirrt hat. Das wäre OK. Aber da kam nichts.

Unklar war auch, wie lange man eigentlich immun ist. Sowohl durch die Impfung, als auch durch eine durchgemachte Infektion. Bei Grippeviren dachte man immer, man sei auf Jahre immun, bei Corona waren es plötzlich nur 3-6 Monate. Wegen der Varianten. Aber es gibt doch Kreuzimmunitäten? Das alles war sehr verwirrend.

Schließlich sickerte auch die Information durch, dass die Impfung entgegen ersten Behauptungen auch Nebenwirkungen haben kann. Und dass so manches „Long Covid“ in Wahrheit wohl eher ein PostVac-Syndrom ist. AstraZeneca wurde schon während der Pandemie diskutiert, andere Probleme aber nicht. Die mRNA-Impfung scheint insbesondere ein Problem damit zu haben, zu kontrollieren, wie lange die Spike-Proteine zur Anregung einer Impfreaktion produziert werden. Und die Impf-Lipide mit der mRNA verteilen sich im ganzen Körper. Das alles ist bis heute ein einziges Dunkelfeld. Denn irgendwie scheint es keiner so genau wissen zu wollen.

Am Ende der Pandemie sickerte wiederum nur langsam durch, dass die Omikron-Variante des Virus nicht die große Katastrophe ist, sondern die Lösung des Problems. Doch diese Wahrheit wurde nicht ausgesprochen, und die Maßnahmen blieben noch lange in Kraft, obwohl Omikron das in keiner Weise mehr rechtfertigte. Im Ausland begann man über die Deutschen zu lachen, wie so oft in diesen Tagen, nicht nur wegen Corona.

Weitere Beobachtungen am Rande

Das sture Festhalten der Politik an den immergleichen Maßnahmen erinnerte an das Verhalten der Politik in vielen anderen Krisen: Auch in der Euro-Krise hieß es am Anfang, es gäbe ein einziges Griechenlandrettungspaket, und dann, wenn die Märkte sich beruhigt haben, würde alles geordnet abgewickelt. Schön und gut. Die geordnete Abwicklung kam aber nie, sondern es kam ein neues Griechenlandsrettungspaket nach dem anderen, bis man die Griechen mit soviel Krediten zuschüttete, dass die Krise heute gelöst erscheint. Sie ist es nicht. – In der Migrationskrise 2015 ging es anfangs nur um einige tausend Migranten am Budapester Bahnhof. Schön und gut. Danach kamen aber immer mehr und mehr. Merkel bekam die Tür nicht mehr zu. Sie wollte die Tür nicht mehr zu bekommen. Es ging immer weiter. Verrückt! Bis die Osteuropäer gegen den Willen Merkels die Tür dann schlossen. – Im Ukraine-Krieg ging es anfangs darum, dass Putins Aggression nicht belohnt werden darf, und dass wir die Ukraine mit Waffenlieferungen in eine Position der Stärke für Verhandlungen versetzen wollen. Schön und gut. Verhandelt wurde dann aber nie, sondern es wurden immer nur weitere Waffen geliefert, ohne eine Strategie, wohin das genau führen soll. – Und genau nach diesem Schema lief es auch bei Corona.

Plötzlich waren die Nationalstaaten wieder handlungsfähig. Sie nahmen das Heft des Handelns einfach in die Hand. Weil nur der Nationalstaat auch tatsächlich handlungsfähig ist, weil nur er einen politische Diskursraum für Demokratie bietet. Carl Schmitt lässt grüßen. – Angela Merkel konnte sogar plötzlich Deutschlands Grenzen schließen, was sie zuvor für unmöglich erklärt hatte. Es wurden sogar Grenzen zwischen Bundesländern aufgezogen, was eigentlich absurd ist. – Und es wurde auch eine Hackordnung der Nationalstaaten in der Welt sichtbar, von der man sonst wenig hört: Denn wer bekam die Impfstoffe zuerst? Natürlich die Angelsachsen. Erst danach die Kontinentaleuropäer. Das ist keine Kritik, es ist nur eine Beobachtung. So ist die Welt eben, und vielleicht ist es sogar gut, dass es so ist.

Die deutschen „Gutmenschen“ haben in der Pandemie einmal mehr ihr hässliches Gesicht gezeigt: Während sie sich sonst als die guten Europäer gerieren, stoppten sie aus reinem Eigennutz eine Lieferung von Masken nach Italien. Die Italiener, die zu dieser Zeit von Corona besonders betroffen waren, werden das sicher nicht gut aufgenommen haben. Immerhin übernahm man später einige Patienten aus Italien. – Etwas seltsam war auch, dass einige Parlamentarier, die die schnelle Beschaffung von Masken aus dem Ausland organisieren halfen und dafür handelsübliche Beraterhonorare nahmen, gekreuzigt wurden. Hätte man ihnen nicht danken müssen? Korruption und Bereicherung wäre es gewesen, wenn die Honorare nicht den üblichen Gepflogenheiten entsprochen hätten. – Die Briten wiederum stellten Gedankenspiele an, einen AstraZeneca-Impfstoff, der in den Niederlanden lagerte und von den Niederländern nicht herausgegeben wurde, mit militärischen Mitteln nach Großbritannien zu holen. Davon erfuhr man natürlich erst sehr viel später.

Auch die parteiliche Unfairness der Politik – und damit auch der Polizei – gegenüber Demonstranten verschiedener Art zeigte sich in der Pandemie besonders auffällig: Während man linksradikale Black-Lives-Matter-Demonstranten ohne Maske und auf engstem Raum demonstrieren ließ, wurden Demonstrationen von Corona-Kritikern unter strenge Auflagen gestellt und oft genug aufgelöst. Teilweise soll die Polizei die Corona-Kritiker so eingepfercht haben, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten konnten, was ihnen dann zum Vorwurf gemacht wurde. Schließlich schockieren heute noch die Bilder von Polizisten, die normale und friedliche Bürger, teils ältere Leute, brutal zu Boden stoßen. Oder mit Wasserwerfern bearbeiten. Es war immer klar, dass die Polizei politisch gesteuert wird und nicht jede Demonstration gleich behandelt. Aber so krass hat man es selten gesehen.

Last but not least entlarvte die Corona-Pandemie auch, wie sehr Deutschland schon in migrantische Parallelgesellschaften zerfällt. Denn ein großer Teil der Impfverweigerer waren gar keine Impfverweigerer. Es waren vielmehr Menschen mit Migrationshintergrund, die geistig-medial nicht in Deutschland leben, sondern in einem ganz anderen Land. Sie haben die Impfung oft einfach deshalb nicht mitgemacht, weil sie von ihr nichts gehört hatten. Es gab immer wieder größere Corona-Ausbrüche in Migranten-Communities, weil sich dort keiner an die Regeln hielt. Deshalb auch die Vorschläge, mit Impfbussen in die entsprechenden Viertel zu fahren. Einem Impfverweigerer ist mit einem solchen Angebot nicht beizukommen. Einem Impf-Ignoranten, der geistig-medial nicht „bei uns“ ist, jedoch schon. Im März 2021 las man, dass die Corona-Patienten auf den Intensivstationen weit überproportional Migrationshintergrund hätten. – Natürlich wurde dieses Problem wie immer vertuscht und kleingeredet, und es wurden natürlich keine Konsequenzen daraus gezogen. Wie Seyran Ates in ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ schon 2007 feststellte, scheitert die Lösung von Problemen in Deutschland oft schon daran, dass über die Probleme nicht gesprochen werden darf.

Dieses Buch bietet Erklärungen und mehr

Viele der oben aufgezählten Beobachtungen werden in diesem Buch bestätigt. Die Beobachtungen waren richtig. Und für manche der oben genannten Fragen wird eine überzeugende Erklärung geboten.

Im Zentrum stehen völlige falsche Anreizsysteme für die Beteiligten:

  • Gewählte Politiker achten generell nicht auf medizinische Argumente, sondern immer nur auf die Stimmung im Land und vor allem auf die Stimmung unter den Journalisten, die meinungsmächtig sind. Dieser Regierungsstil ist gerade von Angela Merkel zur Perfektion gebracht worden. Politiker haben kein Interesse an genauen Daten und Statistiken. Diese stören nur beim Regieren nach Stimmung.
  • Beamte wiederum flüchten sich nur allzu leicht in den Gehorsam gegenüber der Regierung. Hier diffundiert die Verantwortung zwischen Dienstherr und untergebenen Fachexperten, die es zwar besser wissen, aber nichts zu entscheiden haben. Beamte, die die Scharaden der Politik nicht mitmachen wollen, werden schnell gefeuert und geächtet, wie das Beispiel Hans-Georg Maaßen zeigt.
  • Mitglieder von Beraterstäben und Gremien wie der Leopoldina Wissenschaftsakademie oder dem Ethikrat haben ein Interesse daran, der Politik und der Stimmung im Land nicht zu sehr zu missfallen, um ihren Beraterposten zu behalten und ihre Karriere nicht zu gefährden.
  • Die etablierten Medien verfolgten wie immer eine linksliberale Agenda mit leicht autoritären Zügen: Gegen Corona-Schwurbler, gegen „rrrrächz“. Dadurch wird die gesellschaftliche Debatte in ein enges Korsett gepresst. In der Pandemie führte das zu einer Kommunikationskatastrophe. Legitime alternative Meinungen wurden nicht gehört, Menschen wurden ausgegrenzt, ein demokratisch absolut unerlässlicher Diskurs fand nicht statt, eine Korrektur von Irrtümern war nicht möglich. Es sind inzwischen diverse Absprachen und Einflussnahmen bekannt geworden, die den Ruf der Unabhängigkeit mancher Medien schwer beschädigt haben.
  • Und die Krankenhäuser nutzten die Gelegenheit, sich gesundzustoßen: Sie rechneten Intensivbetten rauf und runter und kassierten für Betten ab, die es gar nicht gab bzw. die allenfalls verpackt im Keller standen. Die Politik ließ es durch Wegschauen geschehen.

Das Buch macht gleich am Anfang klar, dass es in Deutschland zu keinen Engpässen in den Krankenhäusern gekommen ist. Außerdem gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen Ländern und Regionen mit harten oder lockeren Maßnahmen, und zwar bei durchaus vergleichbaren Regionen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig waren. Sie waren es – zumindest in dieser Form – ganz offensichtlich nicht.

Masken nützen durchaus: Gut, dass dieses Buch diese Tatsache festhält. Allerdings wird die Wirksamkeit der Masken dann zu sehr kleingeredet.

In diesem Buch wird Klarheit geschaffen darüber, dass die Laborthese für den Ursprung des Corona-Virus keinesfalls vom Tisch ist, wie Drosten behauptete, sondern höchstwahrscheinlich zutrifft, wie Professor Wiesendanger anhand vieler starker Indizien zeigen konnte. Dahinter steckt ein Netzwerk von Virenforschern, Pharmafirmen, des Pentagon, sowie von Philanthropen wie Bill Gates und seiner Stiftung. Diese Lobby betrieb eine gefährliche Virenforschung, die man zur Abwehr von Viren, aber auch für Biowaffen verwenden könnte. Diese Forschung fand in Wuhan statt, und das Corona-Virus „Sars-Cov-2“ entspricht ganz den Plänen und Patenten dieser Virenforschung. Man fasst es nicht. Es ist völlig naheliegend, dass das Virus in Wuhan aus dem Labor entwischt ist. Die Indizien dafür sind erdrückend. Es handelt sich um einen klassischen Laborunfall. Der Autor spricht völlig zurecht vom Tschernobyl der Virenforschung. Genau das ist es.

Zugleich forschte diese Lobby aber auch an neuartigen Impfstoffen auf der Basis der mRNA-Technologie: Der Impfstoff enthält nicht mehr die Proteine des Erregers selbst, wie bei klassischen Impfstoffen, sondern der Impfstoff enthält den Bauplan für diese Proteine, so dass der menschliche Körper diese Proteine dann selbst erzeugt. Was sich theoretisch gut anhört, hat in der Praxis aber noch nie funktioniert. Die Lobby hatte deshalb Pläne geschmiedet, die Gelegenheit der nächsten größeren Grippe-Pandemie dafür zu nutzen, um einen Hype auszulösen, der die Politik dazu bringen würde, die Hürden für die Zulassung der mRNA-Impfstoffe zu senken. Genau das geschah dann auch in der Corona-Pandemie: Die Gelegenheit wurde genutzt. – Allerdings ist zu beachten: Anders als geplant, war Corona mehr als nur eine größere Grippe. Es wäre möglich, dass der böse Plan in diesem Fall unfreiwillig seine Bosheit verlor, weil die moralische Abwägung in diesem Fall vielleicht doch zugunsten des Impfstoffs ausfiel. So viel Differenzierung muss sein. Dazu unten mehr

Was ich vor der Lektüre des Buches noch nie gelesen hatte: Dass ein Impfen in zu kurzen Abständen zu einer Desensibilisierung führen kann. Ein zu häufiges Impfen mit Corona-Impfstoffen kann das Immunsystem gegen Corona schwächen statt stärken. Ein sehr bedenkenswertes Argument, das glaubwürdig genug klingt, um zumindest öffentlich diskutiert zu werden. Dass ich davon zuvor noch nichts gehört hatte, ist sozusagen der eigentliche Skandal, unabhängig davon, wie viel am Ende an der These dran ist.

Das Buch schafft aber auch ein Bewusstsein dafür, wieviele Menschen völlig unverhältnismäßig geschädigt worden sind. Teilweise liegen die Zahlen im Dunkeln, aber die Schäden sind groß, das ist klar:

  • Die Zwangsimpfung für Pflegepersonal, Ärzte und Soldaten stürzte in Gewissensnöte und zerstörte Karrieren, obwohl die Impfung eine Übertragung des Virus nicht verhinderte und damit jeder Grund für eine Impfpflicht entfiel.
  • Der Lockdown bedeutete für viele Berufe ein Berufsverbot. Existenzen wurden vernichtet. Soldaten sitzen jetzt noch (Oktober 2024) im Gefängnis, weil sie die Impfung verweigern.
  • Es wurde extrem viel Geld ausgegeben, um Menschen das Nichtstun zu ermöglichen. Dafür muss natürlich der Steuerzahler aufkommen.
  • Kritiker wurden pauschal als Schwurbler und Rechtsradikale verunglimpft und ausgegrenzt. Ihnen wurde zudem die Schuld an Lockdown und Tod zugewiesen, sprich: Es wurde gegen sie gehetzt.
  • Kindern wurde Angst eingejagt, sie könnten ihre Großeltern anstecken.
  • Schüler mussten einen ganzen Schultag mit FFP2-Masken verbringen: Eine Tortur.
  • Im Lockdown wurden Kinder isoliert und es kam vermehrt zu häuslicher Gewalt.
  • Menschen mit PostVac-Syndrom werden bis heute mit ihren Problemen allein gelassen.

Es ist auch erschreckend zu sehen, wie Humanismus und Aufklärung in der Gesellschaft zusammenbrachen:

  • Diverse Argumente und Thesen wurden öffentlich vertreten und blieben in den etablierten Medien unhinterfragt stehen, obwohl sie bereits mit wenig Aufwand als unzureichend oder glatt falsch hätten erkannt werden können.
  • Wir erfahren von vielen warnenden Stimmen von Professoren, Beamten, Politikern und Ärzten, die Einspruch zu erheben wagten und dafür verleumdet und mundtot gemacht wurden, von ihren Institutionen Redeverbot bekamen oder gleich ganz rausgeworfen wurden: Es sind erschreckend viele! Es gab auch einige Suizide in diesem Zusammenhang. Wie konnte es in einer aufgeklärten Gesellschaft zu einer solchen Cancel Culture kommen? Widerspruch muss ertragen werden, ohne dem Andersdenkenden an die Existenz zu gehen. Diese Gesellschaft ist nicht mehr so aufgeklärt, wie sie tut.
  • Ärztliche Atteste wurden schlicht ignoriert, ja sogar verlacht.
  • Ärzte, die Maskenbefreiung u.a. Maßnahmen verschrieben, mussten mit dem Staatsanwalt rechnen.
  • Lehrer benahmen sich gnadenlos gegenüber ihren schutzbefohlenen Schülern.
  • Menschen mussten einsam sterben, Angehörige wurden nicht vorgelassen.
  • Viel zu viele Politiker, Ärzte, Gesundheitsfunktionäre, Beamte haben die Verantwortung, die sie hatten, einfach abgeschoben bzw. sich die Verantwortung allzu leicht nehmen lassen.
  • Der Ethikrat hatte völlig versagt, eine Farce.
  • Die Kirchen machten zu statt auf, ließen die Leute alleine, und stellten sich an die Seite der Mächtigen, gegen Kritiker. Sie versagten genauso wie der Ethikrat.
  • Besonders schlimm waren die Verhältnisse in Altenheimen oder Waisenhäusern. Alte und Kinder wurden gnadenlos isoliert, mussten einsam und verlassen sterben oder blieben tage- und wochenlang ohne notwendige Zuwendung. Hauptsache, die Vorschriften wurden eingehalten.
  • Korruption blieb von den etablierten Medien unbeachtet: So bekam der Ehemann von Ursula von der Leyen einen gutbezahlten Job bei der Pharmafirma Orgenesis, die von der EU Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds bekam.

Die Aufarbeitung der Probleme kommt nur schleppend voran:

  • Eine systematische Aufarbeitung z.B. durch einen Untersuchungsausschuss des Parlamentes ist bis jetzt nicht zustande gekommen.
  • Transparenz muss bis heute abgetrotzt werden, durch Klagen vor Gericht oder durch Wistleblower (z.B. RKI-Files).
  • Politiker, Journalisten und Mediziner beginnen zurückzurudern, ziehen sich dabei aber auf ein Standardargument zurück, das oft nicht haltbar ist: Dass man es anfangs nicht besser hätte wissen können. Teilweise konnte man das aber doch, wie dieses Buch aufzeigt.
  • Zugegeben wurde z.B. bereits, dass die langen Schulschließungen ein Fehler waren. Aber ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte.
  • In Mediatheken und Zeitungsarchiven verschwinden plötzlich Beiträge, die ex post betrachtet keinen guten Eindruck machen.

Kritik an diesem Buch

Kommen wir nun zu der Frage, was an diesem Buch übertrieben oder falsch ist. Es ist dabei interessant zu wissen, dass der Autor Gunter Frank, der als Hausarzt arbeitet, schon lange vor Corona ein Medizinkritiker war und manchmal in Talkshows auftrat. Seine Kritik richtete sich insbesondere gegen falsche ökonomische Anreize im Gesundheitswesen: So geschieht es z.B., dass sich die Pharma-Lobby durch die Senkung von Normwerten neue Patienten erschließt, die gewissermaßen krank definiert werden, statt wirklich krank zu sein. Der Autor äußerte sich auch zu der sattsam bekannten Fragestellung, welche Vorsorgeuntersuchungen sinnvoll sind, und wie oft. Oder zur Frage der Notwendigkeit von FSME-Impfungen gegen Zeckenbisse: Weil die Zahl der Schadensfälle sehr gering ist, stellt sich auch hier die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Genau dieselben Fragestellungen tauchen beim Thema Corona natürlich ebenfalls auf.

Kritik: Statistik

Mit statistischen Aussagen ist in der Corona-Pandemie von allen Seiten extrem viel Schindluder betrieben worden. Teilweise mag dies auch auf echte Denkfehler zurückzuführen sein, denn Statistik ist nicht jedermanns Sache. Es wäre zu wünschen, dass jemand eine Internet-Seite aufmacht, auf der er alle typischen Statistik-Irrtümer der Corona-Pandemie systematisch aufgelistet und widerlegt werden. Ein Klassiker ist z.B. die Aussage, dass mehr Geimpfte als Ungeimpfte im Krankenhaus liegen, verbunden mit der irrigen Schlussfolgerung, dass die Impfung wohl die Ursache dafür sein müsse. Ebenfalls klassisch ist der Irrtum sowohl von Corona-Kritikern als auch des etablierten Narrativs: Während die Corona-Kritiker oft nicht verstanden haben, dass Corona am Anfang tatsächlich etwas schlimmer war als eine Grippe-Welle, haben die Anhänger des etablierten Narrativs oft nicht verstanden, dass Corona mit dem Auftreten der Omikron-Variante harmlos geworden war. Auch dieses Buch ist nicht frei von derartigen Irrtümern.

Was der Autor dieses Buches völlig ungesagt lässt, ist der Umstand, dass Länder und Regionen, in denen es keine Zwangsmaßnahmen gab, dennoch sehr wohl Maßnahmen durchführten, nur eben lockere und freiwillige Maßnahmen. So begannen in Deutschland viele Bürger und Organisationen schon vor dem ersten Lockdown mit einer freiwilligen, Panik-getriebenen Isolation, weshalb die Infektionszahlen schon vor dem Lockdown zu fallen begannen. Das heißt aber nicht, dass die Maßnahmen, die der Lockdown verpflichtend machte, nichts nützen würden. Es scheint vielmehr so zu sein, dass es zwischen freiwilligen, lockeren Maßnahmen und strengen Zwangsmaßnahmen keinen signifikanten Unterschied im Effekt zu geben scheint. Länder „ohne Maßnahmen“ waren eben keine Länder ohne Maßnahmen, sondern Länder „mit“ Maßnahmen, nämlich mit freiwilligen Maßnahmen. – Es ist deshalb richtig, die strengen Zwangsmaßnahmen zu kritisieren und auf Freiwilligkeit zu setzen, es ist aber nicht richtig, so zu tun, als hätten die Maßnahmen überhaupt nichts genützt. Das ist falsch.

Der Autor stellt mit Recht fest, dass es im ersten Corona-Jahr keine Übersterblichkeit gegeben hatte, während man heute noch überall lesen kann, dass es angeblich eine Übersterblichkeit von mehr als 70.000 Toten gegeben habe, was falsch ist. Aber der Autor macht es sich zu einfach. Denn es muss bedacht werden, dass es sehr wohl eine hohe Sterblichkeit durch Corona gab, die allerdings durch die Maßnahmen ausgeglichen wurde (weniger Unfalltote, weniger Herzinfarkte, verschobene Operationen usw.), so dass es nur unter dem Strich keine Übersterblichkeit gab. – Im Oktober 2021 stellte eine Forschergruppe der Universität Duisburg-Essen eine demographisch bereinigte Übersterblichkeitsrechnung vor, derzufolge es 34.000 Corona-Tote im Jahr 2020 gab. Das ist deutlich mehr als eine normale Grippewelle, die jährlich knapp 20.000 Tote fordert. Zum Vergleich: Die Asiatische Grippe von 1957 forderte 30.000 Tote in Westdeutschland, die Hongkong-Grippe von 1968 ca. 50.000 Toten in Ost- und Westdeutschland zusammen. Beide Grippewellen rauschten damals ohne größere Maßnahmen durchs Land. Vielleicht muss man die Zahl von 34.000 Corona-Toten auch noch durch zwei teilen (ähnlich wie es der Autor des Buches mit Corona-Fallzahlen tut), um den wahren Wert nahezukommen. Dann wäre man mit ca. 17.000 Corona-Toten ziemlich genau auf dem Niveau einer normalen Grippe-Welle. – ABER: Hätte man keinerlei Maßnahmen ergriffen, wären die Zahlen natürlich deutlich höher ausgefallen als nur 34.000 (oder 17.000) Tote. Zu beachten ist auch, dass die Zahl der Toten am Anfang unnötig hoch war, weil eine falsche Behandlung angewendet wurde. Allerdings muss demgegenüber wiederum bedacht werden, dass diese falsche Behandlung nun einmal leider angewendet wurde, und die Zahl der Toten deshalb nicht nur rein rechnerisch so hoch lag, sondern ganz real, und dass diese Toten deshalb auch real verhindernswert waren. In Deutschland scheint die Behandlung recht schnell besser geworden zu sein. So schlimm wie in Bergamo war es in Deutschland nie. – Der Autor irrt also, wenn er Corona nur als „mittlere Grippe“ einstuft. Es war schlimmer, wenn auch nicht so schlimm, wie manche damals meinten, sondern etwas dazwischen. Auf dieses „dazwischen“ scheinen sich beide Seiten nicht einigen zu können. – Es ist richtig, die Unterbelegung der Krankenhäuser und die strengen Maßnahmen zu kritisieren, aber die bessere Alternative hätte nicht in gar keinen Maßnahmen bestanden, sondern z.B. in abgestuften und freiwilligen, lockeren Maßnahmen, die zu einer richtigen Balance bei der Auslastung der Krankenhäuser geführt hätten.

Die Zahlen der Phase-III-Zulassungsstudie von Pfizer / BionTech werden vom Autor falsch interpretiert. Dabei gab es zwei Testgruppen zu je ca. 22.000 Personen. Die eine Gruppe bekam die Impfung, die anderen Gruppe nur ein Placebo. In der Placebo-Gruppe wurden daraufhin 162 Corona-Fälle gezählt, in der Impf-Gruppe hingegen nur 8. Daraus schloss Pfizer auf einen Schutz vor Corona von 95%, weil 8 : 162 = 5%. Der Autor rechnet nun so, dass er zunächst die vermiedenen Fälle berechnet: 162 – 8 = 154, und dann die 154 durch die Gesamtzahl der Gruppenteilnehmer von 22.000 teilt, also 154 : 22.000 = 0,7%. Diese Zahl nennt er die „Wirksamkeit“ (S. 120). – Doch diese Rechnung ist falsch, wie wir gleich sehen werden. Vielmehr ist die Rechnung von Pfizer durchaus richtig, es wurde im Prinzip ein Schutz von 95% erzielt. Die richtige Kritik an Pfizer lautet so: Man muss die kleinen Zahlen bedenken, auf denen diese Kalkulation beruht, nämlich nur 8 bzw. 162 Fälle. Das spricht für einen hohen statistischen Fehler. Es wäre z.B. durchaus möglich, dass der Schutz nur bei 75% liegt. Das ist die richtige Kritik an den Zahlen von Pfizer. – Die Rechnung des Autors ist hingegen unsinnig. Es lässt sich vermuten, dass er diese Rechnung analog zu einer Rechnung konstruiert hat, die er in einer Talkshow zum Thema Brustkrebsvorsorge vorgeführt hat (Talk 3nach9, Radio Bremen, 2014): Dort gab es auch zwei Gruppen von Patienten zu je 1000 Teilnehmern. In der Vorsorgegruppe starben 6 an Brustkrebs, in der Gruppe ohne Vorsorge starben 8. Die Befürworter der Vorsorgeuntersuchung sagen, dass das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, durch die Vorsorgeuntersuchung um 25% gesenkt würde (von 8 auf 6). Das stimmt auch, wenn auch mit großer statistischer Unsicherheit aufgrund der kleinen Zahlen. Der Autor hingegen sagt, dass das Risiko in absoluten Zahlen nur um 0,2% gesenkt wurde, nämlich von 8 : 1000 auf 6 : 1000, also von 0,8% auf 0,6%. Auch diese Aussage stimmt, der Autor hat Recht: Für die Brustkrebsvorsorge stimmen diese Zahlen. Aber man darf diese Überlegung nicht auf die Corona-Impfung übertragen. Denn die meisten der zweimal 1000 Teilnehmer der Brustkrebsuntersuchung werden nie Brustkrebs bekommen. Die zweimal 22.000 Teilnehmer der Corona-Impfstudie werden jedoch alle früher oder später Corona bekommen.

Dass die Zulassung des Impfstoffs mit heißer Nadel gestrickt war, war allen denkenden Menschen klar. Der Autor lässt allerdings unerwähnt, dass die israelische Bevölkerung den Impfstoff auch deshalb als erste bekam, weil sich Israel gewissermaßen als Testlabor für die Impfung zur Verfügung gestellt hatte. Als der Impfstoff dann in Deutschland ausgerollt wurde, konnte man sagen, dass alle kurz- und mittelfristigen Risiken bereits bekannt waren. Sie waren klein genug, um die Ausrollung des Impfstoffs zu wagen. Denn man muss das Risiko der vulnerablen Gruppen, an Corona zu versterben, dagegen stellen. Dieses Risiko wurde durch den Impfstoff gesenkt. – Richtig ist allerdings, dass ein Ausrollen des Impfstoffs an nicht-vulnerable Gruppen oder gar eine Impfpflicht auf dieser Grundlage keine Rechtfertigung hat. Der Autor hat sehr wohl gute Punkte, es ist allerdings nicht immer ganz so dramatisch, wie er meint. Es ist aber immer noch dramatisch genug.

Die These, dass man nicht in eine Infektionswelle hinein impft, ist sicher richtig, aber gilt sie auch in jedem Fall? Die Impfung half bekanntlich beim Eigenschutz der vulnerablen Gruppen. Es gab also auch Gründe für die Impfung während einer laufenden Infektionswelle. Am Ende hätte man beide Effekte gegeneinander abwägen müssen. Wir wissen nicht, wie diese Abwägung ausfallen würde.

Zu den Folgeschäden der Impfung (PostVac-Syndrom) kann der Autor nur Indizien aufzählen. Ob es wirklich ein größeres Problem gibt, ist unklar. Klar ist auch, dass die Corona-Impfung viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als irgendeine andere Impfung. Auch deshalb gibt es viel mehr Meldungen, von denen sich sehr viele – anders als bei anderen Impfungen – als falscher Alarm erweisen. Die Berichte darüber, dass man auch hier gar nicht wissen will, wie die Wahrheit aussieht, sind allerdings sehr bedenklich. – Richtig ist also, dass die Frage nach den Folgeschäden der Impfung vermauschelt wird und offensiv angegangen werden müsste. Was dabei herauskäme, wissen wir jedoch nicht.

Der Rückgang der Geburtenrate dürfte kaum mit gesundheitlichen Schäden durch das Corona-Virus oder durch die Impfung zusammenhängen. Hier sind Zahlen aus der Schweiz hilfreich: Der Rückgang der Geburtenrate, den es tatsächlich gibt, hat z.B. damit zu tun, dass sich während Corona viele Paare für ein Kind entschieden, die jetzt unmittelbar nach Corona natürlich nicht sofort noch ein Kind bekommen möchten. Auch die Fertilitätsrate ist nicht gesunken. Es gibt keine Zunahme von Patienten mit unerfülltem Kinderwunsch. – Bedenklich sind die klaren Zahlen von Frühgeburten bei geimpften Schwangeren.

Kritik: Nicht Verschwörung sondern Lobby – Nicht Verbrechen sondern Versagen

Es hat fraglos eine „Verschwörung“ einer gewissen Lobby zur Vertuschung der Laborherkunft des Virus und zur Durchsetzung der mRNA-Impfstoffe gegeben. Allerdings stellt sich die Frage, ob das jetzt was ganz Großes und Neues ist. Denn eigentlich ist das nicht so. Dass sich gewisse Lobbies aufbauen, um irgendetwas durchzusetzen, kennen wir aus zahllosen Fällen. Man denke nur an die Graichen-Connections zur Durchsetzung Erneuerbarer Energien, die kürzlich enthüllt wurden: Von US-Milliardären bis hin zu deutschen NGOs hängt dort alles mit drin, und es geht um gigantische ökonomische Verschiebungen zuungunsten der Menschen. Dasselbe ließe sich über die Migrationslobby von „Seenotrettern“ und Multikultifanatikern sagen. Man könnte auch noch BlackRock nennen, die mithilfe des „Drehtüreffekts“ ehemalige Mitarbeiter in die Politik schleusen, und dort Lobbyarbeit für BlackRock betreiben. Kurz: Es gibt zahllose Beispiele. – Und die Vorgänge um Corona sind hier (leider) nur ein weiteres Beispiel. Ja, es ist ein Skandal, man sollte ihn aber auch nicht zu hoch hängen.

Man sollte sich auch klarmachen, dass die „Verschwörung“ nur halb so schlimm ist, wie es aussieht: Das Virus wurde nicht mit Absicht aus dem Labor in Wuhan freigesetzt. Es war ein Unfall. Der Vergleich zu Tschernobyl ist sehr treffend. Die Ursache für solche Unfälle sind ein Versagen des Staates und der Gesellschaft. Die „Verschwörung“ bezieht sich auf die Fahrlässigkeit vor dem Unfall und auf die Vertuschung des Unfalls, nicht auf den Unfall selbst.

Und auch bei der mRNA-Impfung ist der Schaden womöglich geringer, als gedacht. Denn wie oben schon gesagt: Die Verschwörer hatten zwar einen üblen Plan für eine vereinfachte Zulassung von mRNA-Impfstoffen, den sie anlässlich einer größeren Grippe-Welle ausführen wollten. Doch anders als geplant, war Corona mehr als nur eine größere Grippe. Es wäre deshalb möglich, dass der böse Plan in diesem Fall unfreiwillig seine Bosheit verlor, weil die moralische Abwägung in diesem Fall vielleicht doch zugunsten des Impfstoffs ausfällt. So viel Differenzierung muss sein. Der Impfstoff hatte immerhin die Funktion des Eigenschutzes, in dem das Risiko eines schweren Verlaufes reduziert wurde. Es ist möglich, dass Zehntausende Menschen ihr Leben dem Impfstoff verdanken. Das ist nicht wenig, und muss gegen Impfrisiken aufgewogen werden.

Und jenseits der Virenforschungslobby gab es nur das übliche Versagen, aufgrund der genannten Mechanismen, wie oben dargestellt. Auch systemische Fehlanreize entschuldigen kein Fehlverhalten, aber ein Versagen ist nun einmal nur ein Versagen und kein geplantes Verbrechen. Das Wort „Verbrechen“ ist in diesem Zusammenhang irreführend. Natürlich ist auch ein Versagen teilweise strafrechtlich relevant. Aber es fehlt die gezielte Absicht, der verschwörerische Plan. Der Titel des Buches „Staatsverbrechen“ ist deshalb schlecht gewählt. Besser hätte man von einem „Zusammenspiel von Lobby und Staatsversagen“ gesprochen: Das war es.

Dieselbe Übertreibung im Inneren des Buches: Unter der Überschrift „Der Hype wird zum Menschheitsverbrechen“ (S. 180) wird zunächst berichtet, dass Bill Gates, Anthony Fauci und ein Virenforschungslobbyist oft gemeinsam auf Fotos zu sehen sind. Damit mogelt sich der Autor um Belege herum, was diese drei nun im Einzelnen wirklich getan haben. Das ist nämlich unklar. – Weiter ist von einer strategischen Planung die Rede zur Einteilung der Menschen in Geimpft und Ungeimpft. Solche Pläne gab es, doch ist ihre lokale Implementierung aufgrund dieser Pläne fraglich. Die lokalen Behörden sind keine Befehlsempfänger einer Weltzentrale, wie sich in der Corona-Pandemie klar gezeigt hat. – Schließlich: „Zusammen mit dem Genimpfzwang hebt dies die Covid-Impfkampagne von einem organisierten Verbrechen in die Dimension eines Verbrechens gegen die Menschheit.“ – Und hier muss man sagen: Nein, so geht das nicht. Die Wahrheit sieht erheblich komplizierter aus.

Man könnte vielleicht sagen, dass die Virenforschung in Wuhan, die Tschernobyl-artig schiefging, ein Menschheitsverbrechen war. Gut. Aber weder wurde das Virus absichtlich freigesetzt. Noch waren die mRNA-Impfstoffe nutzlos. Die Probleme liegen in den vom Autor genannten Punkten nicht im Großen und Ganzen, sondern in Teilfragen: Warum hat man nicht nur die vulnerablen Gruppen geimpft, sondern auch junge und gesunde Menschen? Wie sieht die Nutzen-Schaden-Abwägung der Impfstoffe wirklich aus? Warum waren die staatlichen Akteure so schlecht aufgestellt, dass sie vielen Fehlanreizen unterlagen? Warum haben manche Staaten freiwillige Maßnahmen erlassen, andere hingegen Zwangsmaßnahmen? Es gibt Probleme und auch Straftaten, aber diese sind alle eine Nummer kleiner, als der Autor annimmt. Nur die Virenforschung in Wuhan an sich könnte als Verbrechen größeren Ausmaßes eingestuft werden. Das alles muss unterschieden werden.

Kritik: Aufarbeitung durch Strafverfolgung?

Der Wunsch nach Strafverfolgung ist verständlich: Es sind ja auch tatsächlich strafbare Handlungen geschehen. Außerdem könnte man durch eine Strafverfolgung ein Zeichen für die Zukunft setzen: So nicht!

Aber der Wunsch nach einer Aufarbeitung durch Strafverfolgung ist politisch unklug. Denn auch hier muss man eine Abwägung vornehmen: Wie wahrscheinlich wird es eine Aufarbeitung geben, wenn Strafverfolgung droht? Wahrscheinlich eher nicht. Es wäre klug, einen Deal zu machen: Wahrheit und Transparenz („Alles auf den Tisch“) sowie Rehabilitierung gegen Verzicht auf Strafverfolgung. Das hätte eine größere Chance. Wichtiger als Bestrafung ist Transparenz und die Beschämung für alles, was falsch lief. Diese Beschämung setzt den Maßstab, weniger eine Strafe. Eine Strafe könnte auch nie den angerichteten Schaden wiedergutmachen.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für einen weitgehenden Verzicht auf Strafverfolgung: Denn viele Akteure haben nicht mit direkter Absicht getan, was sie getan haben, sondern weil die systemischen Anreize sie dazu verleitet hatten. Und weil die systemische Auslese des Personals in Deutschland inzwischen so schlecht ist. Inkompetenz im Amt kann man schlecht mit der Strafjustiz bekämpfen.

Eine Strafverfolgung sollte man für besonders schwere Delikte vorbehalten, in denen auch klar mit Vorsatz gehandelt wurde. „Kleine“ und „große“ Delikte klug voneinander abzugrenzen wäre eine der Aufgaben, die eine gelungene Aufarbeitung zu leisten hat.

Kritik: Verschiedenes

Manche wichtige Information wird in diesem Buch nur am Rande gegeben, und es fehlen Belege. So z.B. die Behauptung, dass die Spike-Proteine des Virus bei einer milden Infektion nicht in den Körper eindringen würden, während sie das bei einer Impfung in jedem Fall tun und im Extremfall überall im Körper auftreten würden. Ob man das wirklich so klar voneinander trennen kann? Kommen schwere Verläufe der Infektion seltener vor als eine aus dem Ruder gelaufene Impfung? Das ist die Frage. Sie wird in diesem Buch nicht beantwortet.

Die These, dass eine Impfung gegen Corona nur für kurze Zeit wirkt, ist fraglich. Es ist sicher richtig, dass die Impfung gegen neue Varianten weniger wirkt. Aber dass sich der Impfschutz in wenigen Monaten komplett verliert, ist unglaubwürdig. So läuft es bei normalen Grippe-Viren ja auch nicht: Die Immunität bleibt viele Jahre erhalten.

Es erscheint wenig hilfreich, dass dieses Buch auffällig plakativ mit den Worten „Biowaffe“ und „Gentherapie“ arbeitet. Beide sind nicht völlig falsch. Aber der Corona-Virus war keine Biowaffe. Die Impfung ebenfalls nicht. Und das Wort „Gene“ triggert nur weniger gebildete Menschen. Mit solchen Triggerworten sollte man nicht arbeiten, wenn man zur Sache spricht.

Zusammenfassung

Der Autor ist oft zu knapp in seiner Argumentation und etwas zu forsch in seinen Schlussfolgerungen. Es ist zwar meistens etwas dran an seiner Kritik, aber oft stellt es sich dann als nicht ganz so dramatisch dar, wie es zunächst den Anschein hat. Es ist aber immer noch dramatisch genug. Der Autor hat sich das Prädikat „Viertelsschwurbler“ deshalb redlich verdient, im Guten wie im Bösen.

Damit ist dieses Buch eine gute Vorlage, noch einmal gründlich alles zum Thema Corona zu überdenken. Man sollte es jedoch nicht unreflektiert für bare Münze nehmen. Die Wahrheit liegt zwischen den Extremen. Nicht immer in der Mitte, aber dazwischen. Alle Seiten sollten „abrüsten“ und sich auf die Suche nach diesem „dazwischen“ machen.

Eine Aufarbeitung sollte beginnen. Diese sollte sich Transparenz, Beschämung und Rehabilitierung als oberstes Ziel setzen, nicht jedoch Strafe. Und sie sollte Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Strukturen und Abläufen im Staat erarbeiten. Denn offenbar hat es ein Staatsversagen gegeben, dem durch Reformen von politischen und behördlichen Strukturen begegnet werden muss.

Diese Reform weist weit über das Thema Corona hinaus, denn inzwischen sehen wir ein Staatsversagen in allen Bereichen, Stichwort: Merkelismus. Nicht nur Strukturen sind falsch, sondern der Geist ist falsch und muss erneuert werden. Die Corona-Krise ist in diesem Sinne nur eine von mehreren Teil-Krisen einer viel größeren Krise, die unser Gemeinwesen erfasst hat. Symbolisch steht dafür in unseren Tagen der Zustand der Deutschen Bahn. Man muss sich die Corona-Politik wie eine Bahnfahrt durch ganz Deutschland unter den aktuellen Bedingungen und Zuständen der Deutschen Bahn vorstellen.

Forschungsfrage zum Schluss

Bekanntlich wurde die Corona-Pandemie nicht durch die Impfung, sondern durch die Omikron-Variante des Virus beendet, die sich durch einen meist milden Verlauf der Krankheit auszeichnete. Die Frage ist, ob diese Variante durch Zufall entstanden ist? Denn immerhin stammte das ursprüngliche Virus aus dem Labor. Dort ging es auch um Biowaffenforschung. Es ist absolut plausibel davon auszugehen, dass man im Rahmen dieser Forschung auch der Frage nachging, ob man eine Pandemie durch eine künstlich erzeugte milde Variante eines Virus stoppen kann. Das würde die Frage aufwerfen, ob die Omikron-Variante womöglich gar nicht auf natürlichem Weg entstand, sondern gezielt erzeugt wurde, um die Pandemie zu stoppen? Diese Frage ist natürlich Spekulation. Aber es ist eine berechtigte Frage.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Platon: Die Apologie des Sokrates (4. Jhdt. v. Chr.)

Der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation

Platons Apologie des Sokrates ist der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Viele werden jetzt fragen: Ist das nicht zuviel gesagt? Ist nicht die Bibel der Grundlagentext der westlichen Zivilisation? Und wieso überhaupt die Apologie? Die kennt doch so gut wie niemand? Und wie kann ein so kurzer Text so wichtig sein?

Nun, die Bibel ist natürlich ebenfalls ein unverzichtbarer Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Aber die Bibel gab es schon lange bevor die spezifisch westliche Zivilisation mit Renaissance und Aufklärung ins Leben trat. Deshalb kann die Bibel nicht Zentrum und Ursache sein, sondern nur Wegbereiterin. Demgegenüber war die Apologie des Sokrates das ganze Mittelalter über verloren gewesen. Erst mit der Renaissance wurde der Text wieder verfügbar, und zwar präzise mit der ersten lateinischen Übersetzung von Platons Gesamtwerk durch Marsilio Ficino in den Jahren 1484/85. Erst von diesem Zeitpunkt an konnte die Apologie des Sokrates ihre Wirkung neu entfalten.

Der Geist der Apologie

Aber was war das für eine Wirkung? Um was geht es in der Apologie? Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede des Sokrates in jenem Prozess, an dessen Ende er wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend zum Tode verurteilt wurde. Zu Rechtfertigung seiner „Missetaten“ erzählt Sokrates, wie er zur Philosophie kam und was es damit auf sich hat. Wir lernen dabei folgendes:

  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss sich zunächst einmal klar machen, wie wenig er weiß. Im streng philosophischen Sinne des Wortes „Wissen“ wissen wir Menschen so gut wie gar nichts. Viel zu viele Menschen jedoch bilden sich ein, dass sie etwas wüssten. Doch fast immer, wenn Sokrates damit anfängt, nachzufragen, stellt sich heraus: Die Leute wissen nicht, was sie zu wissen glauben, und ihre Meinungen sind haltlos.
  • Wer sich der Wahrheit nähern will, muss in einen Dialog verschiedener Meinungen eintreten. Genau das tut Sokrates immer wieder und wieder. Denn erst in dem Dialog verschiedener Meinungen lässt sich eine neue und bessere Meinung entwickeln, die näher und näher an die Wahrheit herankommt. An die Stelle von „Wissen“ im Vollsinn des Wortes treten Meinungen, die möglichst gut begründet sein sollten. Je nach dem Grad der Begründetheit haben diese Meinungen eine hohe oder niedrige Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und sind dann entweder Überzeugungen auf der Grundlage von guten Argumenten, oder doch nur „bloße“ Meinungen.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss seine Meinung zur Debatte stellen. Denn auch eine wohlbegründete Meinung ist kein sicheres Wissen. Immer ist es möglich, dass weitere Aspekte auftauchen, die noch nicht bedacht wurden. – Sokrates blieb nicht beim Nichtwissen stehen, sondern begann, im Dialog mit Freunden und Gegnern verschiedene Thesen zu entwickeln, die tragfähig waren. Um dieses Werk fortzusetzen gründete Platon später eine Philosophenschule vor den Toren Athens, im Hain des Akademos. Platons Schüler strickten an dem neuen Erkenntnisgebäude weiter, darunter auch Aristoteles. Daraus entstand die Wissenschaft.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss respektlos vor Autoritäten sein. Wir sehen, wie Sokrates auch vor angesehenen Politikern nicht haltmacht und auch diese befragt, was sie denn eigentlich wissen. Und es stellte sich heraus: Von allen Menschen wissen die Politiker am wenigsten, während die Handwerker, die praktischen Menschen, sich immerhin auf ihr praktisches Handwerk verstehen. Aber auch die Religion blieb von den Fragen des Sokrates nicht verschont.

Das ist das Zentrum unserer westlichen Welt: Sokrates und Platon haben eine Revolution der Erkenntnisgewinnung eingeläutet und auf diese Weise unser Denken für immer verändert. Es ist der Siegeszug der Rationalität. Und mit ihm auch der Siegeszug der Liberalität, denn nur freie Bürger können sich erlauben, respektlose Fragen zu stellen und gefährlich ins Offene und Unbekannte hinein zu denken. Dieser Geist begann ab 1484/85 wieder zu wirken.

Die Apologie heute

Es ist wahr, dass die Apologie des Sokrates heute kaum noch jemandem bekannt ist. Die Reduktion der humanistischen Bildung quer durch alle Schulfächer bis hin zur Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichtes hat ganze Arbeit geleistet. Damals hieß es, man könne doch auch Übersetzungen lesen. Das ist wahr. Aber Lehrpläne, die die Lektüre dieser Übersetzungen vorsahen, wurden nie erstellt.

Ich selbst habe den wunderlichen Sokrates durch meinen Deutsch- und Geschichtslehrer Bruno Epple kennengelernt, der als Mundartdichter unseres Bodensee-alemannischen Dialektes bekannt war. Es war beeindruckend, wie er zwischen den Schulbänken auf und ab tigerte und ein ums andere mal ausrief: „Die waren doch verrrrrückt! Diese alten Griechen: Verrrrückt! Was die für komische Fragen gestellt haben! Das muss man sich mal vorstellen: Was die sich herausgenommen haben! Lauter Verrrrückte! usw.“ – Das war im siebten Schuljahr, um 1985, auf einem baden-württembergischen Gymnasium. Man muss dazu wissen: Bruno Epple hielt sich selten an die Vorgaben der Lehrpläne und setzte eigene, eher traditionelle Schwerpunkte. Womöglich sind andere Lehrer zur gleichen Zeit ohne viel Aufhebens über Sokrates hinweggegangen. Im Schulbuch waren Sokrates anderthalb Seiten gewidmet, seiner Befragung der Mitbürger aber nur ein Absatz. Den Originaltext der Apologie des Sokrates haben wir an der Schule nie gelesen. Auch in höheren Klassenstufen nicht. Und das, obwohl sich dieser Text aufgrund seiner Kürze als Schullektüre hervorragend eignen würde.

Heute kennt in der Tat kaum noch jemand die Apologie des Sokrates. Und das könnte ein wichtiger Teil der Probleme unserer Zeit sein. Denn heute geschehen schier unglaubliche Dinge, die niemand akzeptieren kann, der einmal vom Geist der Apologie ergriffen wurde:

  • Wir haben öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die nicht nur behaupten, kompetent zu sein (das wäre noch in Ordnung, wenn’s denn nur wahr wäre), sondern die doch tatsächlich auch noch behaupten, objektiv zu sein! Natürlich sollte jeder danach streben, so objektiv wie möglich zu sein, aber wir alle nähern uns der Wahrheit von verschiedenen Seiten her an. Es ist grundsätzlich nicht möglich, dass jemand auftritt und legitim sagen kann, er wäre der Verkünder objektiven Wissens. Das konnte einst die Kirche im Mittelalter tun. Aber in einer modernen Gesellschaft sollte das nicht mehr möglich sein.
  • Ständig werden wir dazu aufgefordert, irgendwelchen „Experten“ zu glauben. „Follow the Science“ ist ein beliebter Slogan. Aber es gibt doch gar nicht „den Experten“, der uns objektives Wissen verkünden könnte, denn verschiedene Experten vertreten verschiedene Meinungen. Und auch „die Wissenschaft“ gibt es so nicht, denn die Wissenschaft lebt davon, dass sich verschiedene Meinungen im freien Dialog miteinander befinden.
  • Sogenannte „Faktenfinder“ tragen „Fakten“ zu komplexen Fragen zusammen, und jubeln uns ihre Urteile als unumstößliche „Fakten“ unter. Nicht selten tragen solche Faktenfinder eine durchaus hilfreiche Sammlung von Informationen zusammen. Aber würde man sich sein Urteil nicht lieber selbst bilden?
  • In den sozialen Netzwerken des Internet werden aus den „Faktenfindern“ die berüchtigten „Faktenchecker“, die ihre Urteile als Verurteilungen auch gleich in die Tat umsetzen: Im Auftrag der sozialen Netzwerke bzw. der Regierungen unterdrücken sie unliebsame Meinungen, auch wenn diese gar nicht strafbar sind. Sie tun diese durch die Markierung von Beiträgen, durch die Drosselung der Reichweite, durch Shadow-Banning, durch die vollständige Sperrung einzelner Beiträge, durch Demonetarisierung oder durch die Sperrung von ganzen Kanälen und Accounts. Aber woher nehmen diese „Faktenchecker“ die übermenschliche Weisheit, zu wissen, was „wahr“ und was „falsch“ ist?
  • Carolin Ehmcke wurde 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Jahr 2024 sprach sie sich auf der Konferenz „re:publica“ allen Ernstes und unter frenetischem Beifall des „progressiven“ Publikums gegen Pro- und Contra-Formate in den Medien aus. Ehmcke glaubt, dass die Experten in vielen Fragen schon wissen würden, was die „richtige“ Wahrheit ist. Deshalb würde ein Pro- und Contra-Format die Menschen nur verwirren, denn dort würde die „richtige“ Wahrheit einer „falschen“ Wahrheit gleichberechtigt gegenübergestellt. Das ist schön gedacht. Aber weiß Carolin Ehmcke wirklich, welche Experten die „richtige“ Wahrheit besitzen? Eine dermaßen „richtige“ Wahrheit, dass man keine Fragen mehr stellen darf? Und wie kann sie sich sicher sein, dass nicht doch eines Tages eine Frage auftaucht, an die keiner gedacht hatte? Sollte die „richtige“ Wahrheit nicht triumphal überzeugen, wenn sie einer „falschen“ Wahrheit tatsächlich völlig gleichberechtigt gegenübergestellt wird? Und bezieht die „richtige“ Meinung nicht gerade daraus ihre Legitimität als „richtige“ Meinung, dass sie gegen andere Meinungen bestehen kann? Wie steht es denn um die Legitimität einer „richtigen“ Meinung, wenn sie der Konfrontation mit anderen Meinungen systematisch aus dem Weg geht?
  • Unsere Universitäten folgten einst dem Ideal des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt, dass Forschung und Lehre so miteinander verwoben sein sollten, dass die Studenten das Fragen und Hinterfragen lernen. Doch mit den Bologna-Reformen ist davon nicht viel übrig geblieben. Ob Preußen oder die humanistische Bildung: Mit solchen „ewiggestrigen“ Dingen will man heute nichts mehr zu tun haben, denn man will „progressiv“ sein. Aber ist es denn wirklich progressiv?
  • Die einflussreiche Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeitet nach dem Prinzip des „neutralen Standpunktes“. Gemeint ist in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Objektivität, wie Wikipedia immer noch festlegt („möglichst objektiv“). Die Darstellung verschiedener Meinungen soll nach Möglichkeit vermieden werden. Auch wenn die heutige Version des Wikipedia-Artikels „Neutraler Standpunkt“ viel von der Darstellung verschiedener Meinungen spricht, ist das früher sehr viel schärfer formulierte Prinzip eines möglichst einheitlichen, objektiven Standpunktes immer noch das Ziel. Objektivität ist für Menschen aber nicht zu erreichen. In der Praxis führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabgewürdigt oder als unwürdig ausgeblendet werden. Diese Praxis entspricht zwar lexikographischer Tradition, aber sollte ein modernes Lexikon nicht besser den Standpunkt eines Beschreibers der Gesamtwirklichkeit einnehmen? Dieser würde es sich zur Aufgabe machen, überhaupt keine Meinung zu vertreten, also wirklich neutral zu sein, sondern alle existierenden Standpunkte wertfrei darzustellen. Eine legitime Unterscheidung verschiedener Standpunkte wäre der Grad ihrer Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit: Erst stellt man Unstrittiges dar, dann die Mehrheitsmeinung, und zuletzt – etwas kleiner, aber wertfrei – Minderheitsmeinungen. Wer seinen Mitmenschen „Wissen“ vermitteln will, dabei aber immer nur eine einzige Meinung mitteilt, statt verschiedener Meinungen und ihrer Begründungen, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Denn die Legitimität einer „richtigen“ Meinung beruht zentral darauf, dass sie die Konfrontation mit anderen Meinungen überlebt. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder.

Wer einmal mit Sokrates durch Athen gegangen ist und gesehen hat, wie Sokrates Handwerker, Händler und Politiker in Dialoge verwickelte, um herauszufinden, was sie wirklich wissen und was wirklich die Wahrheit ist, sofern sich dies überhaupt herausfinden lässt, der erkennt den Unsinn unserer Tage mit einem Blick. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir die Texte, die einst Renaissance und Aufklärung entfachten, nicht mehr lesen, dann versteht es sich von selbst, dass uns die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung langsam wieder abhanden kommen. Wenn der Westen sich wieder auf sich selbst besinnen will, dann muss er zurück zu den Quellen: Ad fontes!

Anderes

Die Apologie hat noch mehr zu bieten: Sie zeigt Sokrates als einen Weisen, der nicht nur in Worten philosophiert, sondern seiner Philosophie auch mit großer Konsequenz Taten folgen lässt. Sokrates gibt seinen Anklägern nicht nach und geht auch keine faulen Kompromisse ein. Das Todesurteil am Endes des Prozesses nimmt er gelassen auf sich und nutzt auch diese Gelegenheit noch einmal, um seine Philosophie zu bekräftigen: Andersdenkende aus dem Weg zu räumen, ist weder schön, noch wird es Erfolg haben.

Die Rede ist außerdem voller Ironie und deshalb sehr vergnüglich zu lesen. Ein weiteres Thema ist die Schwierigkeit, Menschen zum Umdenken zu bewegen, nachdem sie über lange Zeit mit einer bestimmten Meinung indoktriniert wurden. Das Verhältnis von Bürger und Staat wird beleuchtet. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Rede vor Gericht, weshalb sich auch manche Weisheit und Einsicht rund um die Juristerei finden lässt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Christopher de Bellaigue: The Islamic Enlightenment – The Modern Struggle Between Faith and Reason (2017)

Modernisierungsgeschichte der islamischen Welt – Wichtig zum Verständnis der Verhältnisse

Christopher de Bellaigue hat mit „The Islamic Enlightenment“ (deutscher Titel: „Die Islamische Aufklärung“) einen äußerst wertvollen Beitrag zum Verständnis der islamischen Welt geliefert. Im Westen denkt man über die islamische Welt oft, dass sich dort in 1400 Jahren nichts verändert hätte. Und auch nichts verändern könne. Weil dass der Islam nicht zulasse, der seinerseits seit 1400 Jahren unverändert sei. Doch das alles ist falsch. Dieses Buch zeigt die dramatische Modernisierungsgeschichte des Nahen Ostens an den Beispielen Ägypten, Türkei und Iran.

Diese Modernisierungsgeschichte beginnt im Jahr 1798 mit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten und dessen Sieg über die Mameluken in der Schlacht bei den Pyramiden. In diesem Moment wurde den Menschen in der islamischen Welt schlaglichtartig klar, dass sie den Europäern hoffnungslos unterlegen sind und dass sie Europa in der kulturellen Entwicklung um Jahrhunderte hinterher hinken. Symbolisch steht dafür die Druckerpresse, die um 1450 in Europa erfunden wurde und zu einer fortwährenden geistigen Revolution geführt hatte – in der islamischen Welt war die Druckerpresse aufgrund einer religiösen Fatwa bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten.

Der Beginn der Modernisierung

Die treibende Kraft hinter der Modernisierung war am Anfang die Notwendigkeit, sich gegen moderne europäische Armeen verteidigen zu können. Denn so wie Ägypten gegen Napoleon, so hatten auch das Osmanische Reich und der Iran in dieser Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen Russland einzustecken.

Überall begann die Modernisierung mit der rigorosen Beseitigung konservativer Kräfte. In Ägypten war die bis dahin herrschende Schicht der Mameluken bereits durch Napoleons Sieg in der Schlacht bei den Pyramiden buchstäblich vernichtet worden. Der neue Herrscher Ägyptens, Muhammad Ali Pascha (regierte 1805-1848), führte zudem eine großflächige Enteigung von Land durch, wodurch er die Machtbasis des islamischen Klerus beseitigte. Von Klerikern angeführte Rebellionen wurden niedergeschlagen. (S. 23) – Im Osmanischen Reich blockierten die Janitscharen jede Reform, woraufhin Sultan Mahmud II. (regierte 1808-1839) im Jahr 1826 die Janitscharen zu tausenden massakrieren ließ und auf diese Weise die große Tradition der Janitscharen zu einem Ende brachte. (S. 59)

In allen drei Regionen – Ägypten, Türkei und Iran – spielte die Aussendung von jungen Gelehrten und Studenten in westliche Länder eine große Rolle im Modernisierungsprozess. Von Bedeutung waren insbesondere deren Reiseberichte aus Europa, die in tausend Einzelheiten die Unterschiede zwischen West und Ost beschrieben, und die von zahllosen Lesern verschlungen wurden und so moderne Gedanken weit verbreiteten. In Ägypten war dies insbesondere Rifaa al-Tahtawi, der fünf Jahre in Paris verbrachte. (S. 34-36) Aus dem Iran kam Mirza Saleh Schirazi nach England. (S. 118-125) Die Reisenden lernten aber auch Medizin und Technik, die sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatländern zu implementieren begannen, unterstützt von den Kontakten zu westlichen Gelehrten, die sie geknüpft hatten.

Eindrücklich werden die Verhältnisse beschrieben, bei denen die Reformen beginnen mussten. So verursachten die hygienischen Verhältnisse regelmäßige Seuchen. Der religiöse Fatalismus, der das Treffen von Vorsorge verhinderte, muss weit verbreitet gewesen sein. (S. 65 ff.) Frauen waren verschleiert und vegetierten ohne jede Ausbildung in ihren Harems dahin. (S. 175 ff.) Entsprechend war Homosexualität unter Männern extrem weit verbreitet, offenbar als eine Folge der Schwierigkeit, an Frauen heranzukommen. (S. 195 ff.) Auch die Sklaverei existierte noch, allerdings in teilweise milderer Form, als manche meinen, insofern der Islam die Freilassung von Sklaven motiviert. (S. 188 ff.)

Einzelne Modernisierungen

In rasendem Tempo wurde alles eingeführt, was man für nützlich hielt und sich von Europa abschaute, darunter Militär- und Ingenieurschulen, die Druckerpresse, Dampfschiffe, Industrie, Hygienemaßnahmen, Wasserbauten, nicht zuletzt der Bau des Suez-Kanals 1859-69. Sultan Mahmud II. brachte auch preußische Militärberater nach Istanbul, u.a. Helmut von Moltke. (S. 61) Ibrahim Schinasi publizierte 1860 die erste unabhängige Zeitung im Osmanischen Reich und trug durch seine Artikel maßgeblich zur Formung der modernen türkischen Sprache bei. (S. 77) In Ägypten startete Tahtawi eine große Übersetzungsbewegung, die westliches Schrifttum verfügbar machte. Zugleich erwachte das Bewusstsein für die ägyptischen Altertümer, deren Abtransport ins Ausland von nun an erschwert wurde. Man begann, ein eigenes ägyptisches Museum einzurichten. (S. 43)

Um 1830 wurde das Millet-System abgeschafft, das jeder Religion ihr eigenes Recht zugesprochen hatte, so dass alle Bürger des Osmanischen Reiches zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden. (S. 69 ff.) Im Jahr 1843 wurde auch der Wechsel der Religion offiziell erlaubt. (S. 72) Die praktische Durchsetzung dieses Erlasses steht auf einem anderen Blatt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, spät, aber noch vor den USA. (S. 188 ff.) In Tunis musste sich der Konsul der USA über die Vorzüge der Abschaffung der Sklaverei belehren lassen. (S. 191 f.) Schließlich wurden Verfassungen erlassen, die mal mehr, mal weniger demokratisch waren. (S. 103) Teilweise hatte sich das Volk diese Freiheiten auch selbst erkämpft, so z.B. im Urabi-Aufstand in Ägypten um 1880 oder in der „Konstitutionellen Revolution“ des Iran von 1905/06, wo die Geistlichen – ja! – das Volk unterstützten und ein Geist der Freiheit im Volk zu herrschen begann, der beeindruckend ist. (S. 210-213, 237 ff.)

Es bildeten sich politische Parteien, in der Türkei z.B. 1907 das Komitee für Einheit und Fortschritt, in dem die fortschrittlichen „Jungtürken“ den Ton angaben, oder 1908/09 die „Gesellschaft Mohammeds“ der konservativen Gegenkräfte (S. 261-268) Mit Ziya Gökalp (1876-1924) entstand der türkische Nationalismus im Gegensatz zum imperialen Gedanken des Osmanischen Reiches, das viele Völker unter einer autoritären Herrschaft umfasst hatte.

In Ägypten wurden Frauen zu Geburtshelferinnen ausgebildet. 1901 wurden die ersten Mädchen zur höheren Bildung nach Europa geschickt. Frauenzeitschriften verbreiteten sich. Um 1900 beginnt die Debatte um die Verschleierung der Frau, die damals noch allgemein verbreitet war. (S. 183 ff.) 1899 erschien das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ des Ägypters Qasim Amin. (S. 185 f.) Europäische Moden und Umgangsformen hielten Einzug. Der Umgang zwischen den Geschlechtern veränderte sich. Es wurden auch neue Worte eingeführt, um die neuen Verhältnisse abzubilden, z.B. „familiya“. (S. 169 f.) Und es entstand eine Romankultur, die sich an der europäischen Romankultur orientierte. In diesen Romanen wurden die neuen Verhältnisse gespiegelt und gesellschaftliche Konflikte verhandelt. Bekannte Autoren waren der Libanese Ahmad Faris al-Shidyaq oder Ahmet Midhat Efendi. (S. 167-172)

Optimismus zur Reform des Islam

Die Modernisierung wurde teilweise mit despotischer Gewalt durchgesetzt, auch gegen Religionsgelehrte (S. 23). Teilweise wurden die islamischen Religionsgelehrten aber auch mit Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht, ihre Zustimmung zu geben. Es gab aber auch islamische Gelehrte, die als Modernisierer wirkten, so z.B. der spätere Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo Hassan al-Attar, oder im Osmanischen Reich Sanizadeh Ataulla: Sie führten das Sezieren von Leichen für medizinische Zwecke ein, indem sie die Studenten schrittweise daran gewöhnten. (S. 30 f., 62-64) Zuguterletzt geschah es auch häufig, dass die islamischen Religionsgelehrten ihre Zustimmung zu einer Maßnahme im Nachhinein gaben, nachdem für alle zu sehen war, welchen Nutzen die Maßnahme hatte. (S. 67)

Generell herrschte bei führenden Intellektuellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein großer Optimismus vor, dass Moderne und Islam miteinander vereinbar wären. So z.B. bei Hassan al-Attar (1766-1835), der auch Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo wurde. (S. 26 ff.) – Oder bei Rifaa al-Tahtawi (1801-1873), der an vielen Stellen als Reformer wirkte, vor allem als Übersetzer: Er meinte, dass sich der Islam, anders als das Christentum, leicht mit der Moderne vereinbaren lassen würde, weil der Islam so rational sei. Tahtawi übersetzte u.a. auch das Buch „Principes du droit naturel“ des Schweizer Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), demzufolge Gott hinter den natürlichen Gesetzen steht. (S. 38-46) Tahtawi plante auch die Ausbildung von Mädchen, kam aber zu seiner Zeit nicht mehr dazu. – Optimismus sehen wir auch bei Namik Kemal (1840-1888), einem Schriftsteller, der nach Paris und London reiste. Kemal sah keinen Grund, warum Moderne und Scharia nicht vereinbar sein sollten. Die Scharia bestand für ihn als gebildeten Menschen natürlich nicht aus einer Sammlung überlieferter Detailregeln, sondern repräsentierte das abstrakte Gute.

Fortschritt trotz Rückschlägen

Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab es ein ständiges hü und hott der Modernisierung: Mal ging es voran, dann stockte der Prozess wieder. Manchmal ging es auch rückwärts. Aber aufs Ganze gesehen ging es doch stetig voran, und alle Rückschläge waren nur temporär. Es kam dabei auf den jeweiligen Herrscher an, ob er sich für Modernisierung einsetzte oder lieber auf die Jagd ging. Und es kam auf die außenpolitische Konstellation der Kolonialmächte an: Mal wurde die Modernisierung als nützlich empfunden, mal wurde sie unterbunden. Und mal paktierte der Herrscher mit den Konservativen, um ein Ziel zu erreichen, mal konnte er ohne sie regieren.

Christopher de Bellaigue diagnostiziert: „Islam did not show any more opposition to modernisation than Judaeo-Christian culture had done to its earlier iteration in the West.“ (S. xxv) Das kann man auch gut an der Reaktion des ägyptischen Religionsgelehrten Abd ar-Rahman al-Dschabarti (ca. 1753-1825) ablesen, von dem uns ein Bericht über die Franzosen in Ägypten erhalten ist. Seine Argumente gegen die Modernisierung gleichen aufs Haar den Argumenten, die katholische Priester gegen die Veränderungen der französischen Revolution vorbrachten: Wie könne es sein, so fragt er z.B., dass die Menschen gleich sind, wo Gott doch bestimmte Menschen zum Herrschen ausersehen hat? (S. 5-13) Hundert Jahre nach al-Dschabarti stellte niemand mehr diese Frage, auch Islamisten nicht.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte hie und da übergriffig wurden – z.B. durch eine nicht unabsichtlich herbeigeführte Überschuldung der islamischen Staaten mit nachfolgender Abhängigkeit, oder indem die Briten Ägypten nach dem Urabi-Aufstand besetzten, um sich den Suez-Kanal zu sichern – blieb der Westen vorläufig dennoch das unangefochtene Vorbild für Modernisierung. (S. 159 f.) 1869 hatte der ägyptische Khedive Ismail Pascha den Suez-Kanals mit einer großen Show feierlich eröffnet, für die Giuseppe Verdi (angeblich) die Oper Aida komponierte, und 1878 erklärte er, dass Ägypten nicht länger in Afrika liege, sondern zu Europa gehöre. (S. 51) Tatsächlich hatte Ägypten in dem Wettlauf um Modernisierung lange Zeit die Nase vorn, noch vor der Türkei.

Dennoch begann eine langsame Umorientierung gegen Europa als Vorbild. So rückte z.B. Japan immer mehr als Vorbild in den Blick als Beispiel einer Nation, die sich modernisierte, ohne ihre Kultur aufzugeben. Als die Kolonialmacht Russland 1905 ihre Flotte gegen Japan verlor, erregte das große Freude im Nahen Osten. (S. 231 f.)

Der große Anlauf zur Reform des Islam

Die Modernisierungen des 19. Jahrhunderts waren zuerst weltlich motiviert. Dennoch betrafen sie in vielerlei Hinsicht auch den Islam. Doch zunächst blieb alles Denken in bezug auf den Islam nur Stückwerk, wenn auch viel Optimismus vorhanden war. Wie immer in der Geschichte, folgt die Modernisierung der Religion als der letzte Schritt am Ende von gesellschaftlichen Reformen. So auch hier. Der große Anlauf zur Reform des Islam selbst lässt sich an den folgenden Namen festmachen, mit denen die „kritische Masse“ für einen Durchbruch der Reformen erreicht war.

Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897): Dschamal ad-Din wuchs im Iran auf, wo er in den Seminaren des Schia-Islams auch Philosophie lernte. Dann ging er nach Ägypten und lehrte an der Al-Azhar Universität.

Dschamal ad-Din entwickelte praktisch alle Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reform des Islam. Er erneuerte das Wissen um den islamischen Rationalismus (Mutazila), bezog auch die menschliche Geschichte und ihre Errungenschaften vor Mohammed in sein Denken ein, und machte die Sunniten mit der neuplatonischen Philosophie bekannt. Dschamal ad-Din lehrte, dass Glück aus Vernunft und Einsicht rührt, und forderte Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit. Seine Kritiker beklagten: „(his) interest in philosophy, his advocacy of certain Mutazilite principles, his prohibition of traditional interpretation, his call for the study of modern sciences, his preference for the science of the Franks.“

Dschamal ad-Din förderte ein pan-islamisches Bewusstsein der Muslime, für das er unermüdlich durch die islamische Welt reiste und eine vielgelesene Zeitschrift publizierte, wandte sich gegen den Einfluss der europäischen Kolonialmächte, und soll auch an einem Attentat auf den Schah von Persien beteiligt gewesen sein. Dschamal ad-Din gilt damit als der Vater des politischen Islams. Allerdings wollte Dschamal ad-Din einen modernisierten Islam als politischen Islam, keinen rückwärtsgewandten Islam. (S. 203-208, 217-219, 228-230)

Muhammad Abduh (1849-1905): Abduh war ein Anhänger von Dschamal ad-Din al-Afghani und gilt als der Gipfelpunkt der damaligen Reformbewegung. Er lehrte in Ägypten und wurde 1899 zum Großmufti von Ägypten ernannt (nicht zu verwechseln mit dem Großimam der Al-Azhar Universität). Als Großmufti setzte er Reformen in der Al-Azhar Universität durch. Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel „Die Theologie der Einheit“ und wurde in der ganzen islamischen Welt rezipiert.

Abduh sah die Rationalität bestens in der islamischen Religion begründet und bedauerte, dass so viel Obskurantismus im Namen des Islams entstanden war. Er wandte sich gegen das Prinzip der bloßen Nachahmung (Taqlid) und für das Prinzip der individuellen Entscheidung mithilfe der Vernunft auf Grundlage der islamischen Quellen (Idschtihad). Wie die Mutaziliten hielt Abduh den Koran für geschaffen und damit offen für die Interpretation nach den Umständen. Der Koran als geschaffenes Werk könnte sogar Fehler enthalten, die von Menschen in ihn hineingetragen wurden. Abduh sprach sich für die Evolutionslehre aus, gegen die Mehrehe, und gegen eine Vorsehungslehre, die die Eigeninitiative lähmt. Auch Zinsen sah er nicht als Problem, weil das Gemeinwohl oberste Richtschnur sei.

Die ersten Muslime, die Salafs (Vorfahren), waren für Abduh maßgebend – aber nicht im Sinne einer blinden Nachahmung, wie heutige (Pseudo-)Salafisten das verstehen, sondern im gegenteiligen Sinne: Denn aus dem Koranvers, dass die Juden den Islam deshalb ablehnten, weil sie an der Lehre ihrer Vorväter festhielten, leitete Abduh folgerichtig ab, dass das blinde Festhalten an der Lehre der Vorväter nicht richtig sein kann und auch nicht dem Verhalten der Salafs entsprach, die von der Lehre ihrer Vorväter abwichen und sich für den Islam öffneten.

Abduh war umfassend gebildet. Er las Goethe und Schiller auf Französisch, außerdem den damals vorherrschenden Philosophen Herbert Spencer (1820-1903), der die Evolutionslehre erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete. Er zitierte aber auch aus der Korrespondenz von Kaiser Friedrich II. mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Sabin (ca. 1217-1271). Abduh hatte eine freundliche Stimme und Erscheinung, die ihm ein Charisma verliehen, mit dem er seine Zuhörer faszinierte. – Muhammad Abduh wurde allerdings von der britischen Kolonialmacht, speziell von Lord Cromer, dem britischen Gouverneur in Ägypten, protegiert. Das brachte ihm Anfeindungen ein und war ein Hinderungsgrund für das weitere Wirksamwerden seine Reformideen. (S. 280-288)

Qasim Amin (1863-1908): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Wie wir oben schon sahen, verfasste Amin 1899 das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ (S. 185 f.)

Raschid Rida (1865-1935): Ein libanesischer Schüler Abduhs, der dessen Reformtheologie weiterführte. Raschid Rida plädierte für eine Überwindung der Trennung der Muslime nach Rechtsschulen, und für ein Verständnis von Dschihad nur als Verteidigungskampf. Raschid Rida wollte außerdem die Tötung von Apostaten weitgehend einschränken, indem er sie nur noch für Fälle von offensivem Glaubensabfall vorsah. (S. 284)

Ali Abdel Razeq (1887/8-1966): Ein ägyptischer Schüler Abduhs, der als Vater des islamischen Säkularismus gilt. In seinem Buch „Das Kalifat und die Souveränität der Nation“ sprach er sich für eine klare Trennung von Staat und Religion aus. Außerdem betonte er, dass der Prophet Mohammed eben nur das war: ein Prophet, während seine weltliche Herrschaft rein weltlich war. Deshalb sollte man eine weltliche Gesetzgebung für eine weltliche Herrschaft nicht in der Offenbarung des Islam suchen. (S. 294)

Taha Hussain (1889-1973): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Einerseits der bedeutendste arabische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Andererseits der Begründer einer skeptischen Geschichtsschreibung des Islams. Taha Hussain betrachtete den Koran erstmals als ein literarisches Werk und forderte eine kritische Betrachtung überlieferter Texte. 1950-52 war er Erziehungsminister in Ägypten. (S. 294)

Jäher Abbruch der religiösen Reformen

Doch leider kam es nicht zum Durchbruch des religiösen Reformdenkens. Vielmehr wurde das religiöse Reformdenken mit dem Ersten Weltkrieg buchstäblich abgewürgt. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich:

Zum einen war die Übergriffigkeit der europäischen Kolonialmächte mit dem Ersten Weltkrieg zu groß geworden, um keine negative Reaktion hervorzurufen. Der ganze Nahe Osten – außer der Türkei, die Atatürk erfolgreich verteidigte – wurde von Briten und Franzosen besetzt. Grenzen wurden willkürlich gezogen und Regierungen nach Belieben ein- oder abgesetzt. Es kam zu Massakern und Bombardierungen. Auch die sich anbahnende Gründung Israels wurde als Willkür der Kolonialmächte gedeutet, auch wenn dieses Ereignis damals nicht im Zentrum stand. – Man hatte im Nahen Osten ganz wie in Deutschland auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Woodrow Wilson gehofft, und ganz wie in Deutschland war man auch im Nahen Osten schmerzlich enttäuscht, als Woodrow Wilson sich nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges einfach wieder zurückzog. (S. 297) Den neuen Völkerbund verstand man nur noch als verlängerten Arm der Kolonialmächte.

Das alles war zuviel. Das Pendel der Sympathie schlug nun gegen Europa und den Westen aus, und damit taugte der Westen auch nicht mehr als Vorbild für weitere Reformen. Ob Liberalismus, Rationalismus oder Demokratie: Alles trug nun den Makel der kolonialen Übergriffigkeit an sich.

Der andere Grund war, dass die Eliten in Nahost oft keinen Reformislam anstrebten, sondern ihre Verbindung zur Religion gleich ganz kappten. Man las damals Darwin, Haeckel, Schopenhauer, Poincaré oder Herbert Spencer, spekulierte über die Seele als mechanischen Apparat und lancierte Polemiken gegen den Klerus. Von türkischen Medizinstudenten ist überliefert, dass sie Atheisten waren und das Buch „L’homme machine“ von d’Holbach wie den Koran als heiliges Buch aufgeschlagen im Zimmer stehen hatten. (S. 74 f., 276-279)

In der Türkei und im Iran wurden die Reformen nach dem Ersten Weltkrieg deshalb von Kemal Atatürk und Reza Schah ohne die Religion und gegen die Religion fortgesetzt. An einer Islamreform bestand schlicht kein Interesse, es gab auch kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Reform. Religion wurde beiseitegeschoben, unterdrückt und nur in einer streng reglementierten Form zugelassen. Das kam eher einer Kastration als einer Reform der Religion gleich. Auch in Ägypten feierten die Eliten in Kairo und Alexandria hemmungslose Parties, ohne sich um die Armut der religiösen Landbevölkerung zu kümmern. (S. 301-306)

Der Islamismus als Reaktion

Diese Zustände führten zur Herausbildung des Islamismus in Gestalt der „Muslimbrüder“, die von den beiden ägyptischen Lehrern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb gegründet und geprägt wurden. Der Islamismus wurde von zwei Motiven getrieben: Man wollte die eigene Kultur und Freiheit gegen die Übergriffigkeit der Kolonialmächte verteidigen. Zu dieser Kultur gehörte der Islam fest dazu. (S. 306 ff.) Und man wollte gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen. (S. 309, 317) Kurz: Der Islamismus entstand praktisch als Aufstand der vergessenen kleinen Leute gegen eine Elite, die sich geistig völlig von ihren eigenen kulturellen Wurzeln entfernt hatte.

Diese durchaus verständlichen Motive wurden leider ins Extrem gezogen, so dass eine Karikatur von Islam entstand. Der Islamismus ist nicht einfach eine Rückkehr zum traditionalistischen Islam, sondern stellt einen höchst seltsamen Synkretismus von traditionellen und modernen Ideen und Vorstellungen dar:

  • Getragen wird der Islamismus von Laien-Brüdern. Es ist also kein Islam der Religionsgelehrten, wie es früher einmal war. Zwar schlossen sich auch manche Religionsgelehrte dem Islamismus an, doch waren sie nicht die treibende Kraft.
  • Die islamistische Deutung des Islam ist denkbar oberflächlich und allzu wörtlich, wie man es von Laien erwarten kann. Dieser Islam hat sämtliche Denktraditionen des Islams abgeschnitten, sei es Mystik oder Rationalismus, und auch von der traditionellen Rezeption der antiken Philosophie ist nichts mehr übrig geblieben. Manchmal hat man das Gefühl, die islamistische Deutung des Islam orientiert sich an der Deutung westlicher Islamhasser: Wie wenn man aus Trotz die schwarzgemalte Islamdeutung der Islamhasser bestätigen wollte.
  • Die karitative Tätigkeit und Gemeinschaftsbildung der Muslimbrüder ist ebenfalls nicht traditionell islamisch, sondern ist natürlich durch den oben beschriebenen sozialen Konflikt motiviert. In der Praxis haben sich die Muslimbrüder eine Menge von der karitativen Tätigkeit der christlichen Missionaren abgeschaut, die damals in Ägypten tätig waren.
  • Kennzeichnend für den Islamismus ist auch ein übersteigerter Hass auf die Juden, den es in dieser Form – bei allen Problemen – im traditionellen Islam nicht gegeben hatte. (Dieser Punkt bleibt in diesem Buch allerdings unerwähnt.)
  • Weil man sich vom Westen nichts sagen lassen wollte, wurde großspurig behauptet, dass sich alle Gesetze für einen guten Staat in der islamischen Überlieferung finden würden, was natürlich genauso unsinnig ist, wie wenn man dasselbe über die Bibel behaupten würde.
  • Trotz allem finden sich zahllose moderne, „westliche“ Elemente im Islamismus. Allerdings auf eine völlig verklemmte Weise, was anzeigt, dass der Islamismus mit sich selbst nicht im Reinen ist: Irgendwie möchte man doch demokratisch sein und ein Parlament haben, nur soll die Scharia Vorrang haben. Wobei im Einzelnen völlig unklar bleibt und der reinen Willkür unterliegt, was man unter Scharia verstehen will. Frauen sollen irgendwie gleichberechtigt sein, aber doch nicht ganz, und bitte nur mit Kopftuch. Die westliche Technik übernimmt man gerne, aber die westliche Wissenschaftsfreiheit möchte man nicht haben. Und auch die Idee der Nation hat man übernommen, wobei man zugleich pan-islamisch sein möchte, was aber nie so richtig funktioniert hat. (Vgl. S. 330, 344 f.)

Christopher de Bellaigue schreibt, dass die Muslimbrüder sich heute etwas gemäßigt hätten. So würden sie heute z.B. den „Takfirismus“ ablehnen. Unter takfir versteht man die Erklärung eines Muslims zum Apostaten, was die Erlaubnis, diesen zu töten, zur Folge hat. (S. 328)

In Ägypten kam Präsident Nasser 1952 mithilfe der Muslimbrüder an die Macht. Zwei Jahre später bootete er die Muslimbrüder aus, was zu deren Radikalisierung beitrug. (S. 323)

Im Iran soll es der Schah mit der Unterdrückung der Religion und der radikalen Verwestlichung der Kultur völlig übertrieben haben. Damals sollen 25.000 Amerikaner im Iran gewesen sein, um alle Bereiche der Gesellschaft nach westlichem Muster umzugestalten, so dass nichts mehr von der angestammten Kultur übrig blieb, nicht einmal in der Architektur. (S. 332 f., 342)

Das rief die Kritik von Intellektuellen hervor: Dschalal Al-e Ahmad (1923-1969) schrieb das berühmte Buch „Gharbzadegi“, dessen Titel man mit „Westvergiftung“ übersetzen könnte. Darin wird eine nostalgische Kritik an der Moderne geübt, die naiv und undifferenziert ist, wie wenn früher alles besser gewesen wäre: Solches kennt man auch aus dem Westen. Und wie so oft war auch hier der Autor solcher Ideen selbst ein durchaus moderner Mensch. (S. 334 ff.) – Ali Schariati (1933-1977) hatte an der Universität in Paris den westlichen Antikolonialismus kennengelernt, den er nun mit dem Schia-Islam verband: Islam wolle, so meinte er, eine freie und klassenlose Gesellschaft. Das Volk erinnere sich nicht an die große Zeit des Perserreiches, die der Schah beschwor, sondern nur an den Schia-Islam. Diesen stellte sich Ali Schariati aber – verrückt! – ohne Klerus vor. (S. 342 ff.)

Als es zu ökonomischen Verwerfungen und schlussendlich zur Revolution im Iran kam, bootete Khomeini alle anderen Kritiker des Schah-Regimes aus und errichtete einen klerikalen Staat, den es in dieser Form noch nie zuvor in der Geschichte des Islams gegeben hatte. Doch obwohl die Religionsgelehrten im Iran eine große Rolle bei der Herausbildung des iranischen Islamismus gespielt hatten, sind auch die schiitischen Religionsgelehrten in ihrer Haltung zum Islamismus gespalten. Khomeini war übrigens auch nicht der höchste schiitische Geistliche. Der höchste schiitische Geistliche Ali as-Sistani (1930-) residiert in Nadschaf im Irak, der Stadt mit dem höchsten schiitischen Heiligtum, und lehnt die Idee eines Gottesstaates ab.

Abschluss: Das große Wendejahr 1979

Für Christopher de Bellaigue ist 1979 das große Wendejahr hin zum Islamismus. In diesem Jahr kam im Iran Khomeini an die Macht. Im selben Jahr marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, wo islamistische Kämpfer Kampferfahrung sammeln konnten. In diesem Jahr wurde auch die islamistische Gruppe al-Dschihad gegründet, die zwei Jahre später Sadat ermordete. Und schließlich fand 1980 ein Militärputsch in der Türkei statt, der die politische Linke dermaßen dezimierte, dass anschließend (angeblich) der Weg frei war für den Aufstieg der Islamisten bis hin zu Erdogan. (S. 345 f.)

Nur am Rande erwähnt wird der Wahhabismus aus Saudi-Arabien, der sich durch die üppig fließenden Öl-Milliarden in der islamischen Welt ausbreitet. Der Ausblick auf die Zukunft am Ende des Buches ist eher düster.

Kritik

Christopher de Bellaigue hat ein großartiges Buch vorgelegt. Dennoch muss manches daran kritisiert und ergänzt werden. Das wollen wir im folgenden auf konstruktive Weise tun.

Kritik: Religion nicht ernst genommen?

Natürlich möchte der Autor den Islam ernst nehmen, aber an zwei Stellen überkommt den Leser das Gefühl, dass der Autor das nicht wirklich tut. Das eine ist der Untertitel des Buches: „The Modern Struggle Between Faith and Reason“. Ist es wirklich klug, Glaube und Vernunft als Gegensätze einander gegenüberzustellen? Geht es nicht darum zu zeigen, dass Glaube und Vernunft eben gerade keine Gegensätze sind? Hätte man nicht besser „Das Ringen um die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt“ als Untertitel wählen sollen?

Die zweite Stelle ist ein Satz in der Conclusion des Buches: „people … who, while respecting the moral precepts they have received from their forebears, are lax in matters of observance. … in their secular world view and relatively liberal values they represent the successful part of the Islamic Enlightenment.“ (S. 350) – Menschen, die ihre Religion lax handhaben, mögen vielleicht in gewisser Weise aufgeklärt sein, aber eine „islamische Aufklärung“ ist das nicht! Eine islamische Aufklärung bestünde darin, dass die Religion des Islam selbst aufgeklärt wird, so dass Liberalität nicht durch Laxheit in der Beachtung der Regeln entsteht, sondern dadurch, dass die Regeln selbst liberal werden, soweit dies möglich ist. Ein großer Unterschied!

Kritik: Islamische Geschichte

Der Autor möchte mit diesem Buch vor allem zeigen, dass die islamische Welt zur Moderne fähig ist. Dazu liefert aber auch die islamische Geschichte vor dem Jahr 1798 reichlich Anschauungsmaterial – doch dieses Thema hechelt der Autor nur sehr kurz angebunden im Vorwort durch. Man hätte besser ein eigenes Kapitel daraus gemacht.

Zudem bleibt die neuere historisch-kritische Forschung zu den Anfängen des Islams unerwähnt. Wir wissen heute, dass die Anfänge des Islams anders waren, als es die Legenden überliefern. Das „zerstört“ den Islam keineswegs, sondern eröffnet im Gegenteil neue Möglichkeiten für eine Reformierung des Islams im Einklang mit dessen Ursprung.

Kritik: Zu trüber Ausblick

Am Ende des Buches wird ein etwas trüber Ausblick gegeben. Dafür gibt es aber keinen Grund. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und wer die Wendungen der Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, der weiß, dass vieles möglich ist.

Zu kurz gekommen sind in diesem Buch Entwicklungen außerhalb der Zentren der islamischen Welt: Die Ölstaaten, Marokko, Indien oder Indonesien, aber auch die Muslime in den westlichen Ländern stricken an der Gesamtentwicklung des Islams in der Welt mit.

Manches hätte noch in einem Ausblick Erwähnung finden können. So z.B. auch das Werk „Die Kritik der arabischen Vernuft“ von Mohammed Abed Al Jabri (1935-2010) aus dem Jahr 1984, oder die Bemühungen um eine historisch-kritisch geerdete „Theologie der Barmherzigkeit“ von Mouhanad Khorchide in Münster.

Kritik: Linker Bias

Christopher de Bellaigue scheint einem politischen Bias zu unterliegen, einem linken Bias. Vielleicht verdankt sich der linke Bias teilweise auch der Notwendigkeit, Lippenbekenntnisse für das derzeit im Westen vorherrschende intellektuelle Milieu abzugeben, gerade auch bei diesem Thema. Der Wert des Buches wird dadurch kaum geschmälert, auch wenn manches fehlt.

Kritik Linker Bias: Selbstkritik des Westens

Christopher de Bellaigue spart nicht mit Kritik an den westlichen Kolonialmächten. Aber an einigen Stellen lässt Christopher de Bellaigue durchblicken, dass es noch eine andere Kritik am Westen gibt: Der Westen des 20. Jahrhunderts war nicht mehr so attraktiv zur Nachahmung wie der Westen des 19. Jahrhunderts.

Zur Reise von Sayyid Qutb in die USA wird angemerkt, dass die Permissivität der sexuellen Sitten, für die das Jahr 1968 schlaglichtartig steht, Muslime eher abschreckt. (S. 322) Zur radikalen Vewestlichung des Iran durch den Schah wird angemerkt, dass die damals herrschende westliche Kultur banal sei. (S. 333) Treffend wird kritisiert, dass die westliche Architektur Teheran „into a version of everywhere else“ verwandelte. (S. 337) Dieses Phänomen kennen wir aus unseren eigenen, westlichen Städten nur allzu gut. Sayyid Qutb soll gesagt haben, dass er keinen Zusammenhang sehe zwischen den Menschen, denen er in den USA begegnete, und den Errungenschaften des Westens. (S. 322)

Leider führt der Autor diese Kritik nicht weiter aus. Denn womöglich hatte Sayyid Qutb wenigstens teilweise Recht: Der Westen hat tatsächlich kulturell teilweise abgebaut und sich darüber teilweise selbst verloren. Immerhin wird der Gedanke auf der allerletzten Seite des Buches noch einmal aufgegriffen (S. 352): Christopher de Bellaigue hat also verstanden, dass hier ein wichtiges Thema lauert, das bearbeitet werden müsste. Es wäre aber eine konservative Kritik, die hier geübt werden müsste. Vielleicht hat er das Thema deshalb nur angedeutet.

Kritik Linker Bias: Verharmlosung

An manchen Stellen verharmlost der Autor islamische Verhältnisse zu sehr. So z.B. die Sklaverei im Islam. Es ist sicher richtig, dass der Islam auch einen Beitrag zur Milderung von Sklaverei geleistet hat und Sklaverei im Islam anders verstanden wurde als z.B. in den Südstaaten der USA. Dennoch erscheint die Darstellung zu weich gezeichnet. (S. 188 ff.) – Ähnliches gilt für die Homosexualität im Islam. Insbesondere der Gedanke, ob die sexuelle Toleranz der alten Zeit nicht besser war als die spätere Ächtung von Homosexualität unter dem Einfluss des viktorianischen Westen, ist völlig irreführend: Diese angebliche Toleranz war vielmehr eine Ausweich- und Ersatzhandlung und eine große Heuchelei. Eine Toleranz gegenüber Homosexualität, die diesen Namen verdient, hat erst der Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. (S. 195 ff.)

Ebenfalls eine Verharmlosung ist die Behauptung, dass nur eine kleine Minderheit der Migranten, die aktuell aus islamischen Ländern nach Europa kommen, islamisch motiviert wären. (S. 352) Natürlich kommen die wenigsten mit der Absicht, eine Moschee zu gründen oder ein islamistisches Attentat zu verüben. Aber sehr viele kommen eben doch mit dem Mindset eines traditionalistischen bzw. islamistischen Verständnisses von Islam. Und das allein ist ein großes Problem, das man nicht unterschlagen darf. – Schließlich werden auch die islamistischen Selbstmordattentäter verharmlost: Dass sie oft keine Ahnung vom Islam hätten usw. usf. (S. 351) Es mag zwar richtig sein, dass sie oft nur wenig Ahnung haben, aber es ist der traditionalistische bzw. islamistische Mindset, der sie anfällig sein lässt für islamistische Propaganda, und in diesem Sinne sind diese Selbstmordattentäter sehr wohl Muslime und Islamisten, und nicht nur verwirrte Jugendliche.

Kritik Linker Bias: Mode-Themen

Die Beschaffung von Altertümern aus Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens durch westliche Antiquare und Wissenschaftler wird wiederholt „loot“ genannt, also „Beute“ oder „Plünderung“. (S. 35, 43) Das ist in dieser Pauschalität natürlich falsch. Kultur gehört zunächst einmal immer demjenigen, der sich für sie interessiert und sie zu schätzen weiß. Und insofern ein solches Bewusstsein in diesen Ländern damals nicht vorhanden war, kann man nicht einfach von „loot“ sprechen, sondern man sollte die Dinge differenzierter sehen.

Völlig obskur und „woke“ ist ein Satz, der „multiculturalism“ mit „black slaves“ in Verbindung bringt. (S. 121) Hier wird so getan, als ob die Hautfarbe von Menschen kulturelle Vielfalt bedeuten würde. Das ist aber falsch. Hautfarbe und Kultur sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Gleich mehrfach falsch ist auch dieser Satz über die Migrationsbewegung ab dem Jahr 2015: „civil war in Syria, Libya and elsewhere, along with poverty and climate change, pushed millions of Muslims into Europe“ (S. 352) – Die größte Unwahrheit des Satzes liegt in dem Wort „push“: Denn die Migranten kommen vor allem deshalb nach Europa, weil Europa sie kommen lässt, statt sie zurückzuweisen, und dazu werden noch soziale Wohltaten verteilt, die eine große Anziehungskraft entfalten. Die pull-Faktoren sind entscheidend, nicht die push-Faktoren, sonst wären schon das ganze 20. Jahrhundert über die Armen nach Europa geströmt. Aber selbst heute machen sich gerade die Ärmsten der Armen nicht auf den Weg nach Europa: Dass es um Armut ginge, ist die zweite Unwahrheit. Die dritte Unwahrheit liegt in der angeblichen Fluchtursache „climate change“: Dass Menschen aus islamischen Ländern in Massen nach Europa kommen, weil sich das Klima gewandelt habe, glauben nur hartgesottene Ideologen.

Kritik Linker Bias: NS-Vergangenheit ausgeblendet

Seltsamerweise wird die Beeinflussung des Islamismus durch den Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt. Weder die engen Verbindungen des palästinensischen Muftis von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1896-1974) mit den Nationalsozialisten, noch die bosnische SS-Division „Handschar“, noch die arabischsprachige Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Dabei soll der nationalsozialistische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des spezifisch islamistischen Judenhasses gespielt haben. Im traditionellen Islam gab es – bei allen Problemen – keinen derartigen Judenhass wie im Islamismus.

Wir können nur vermuten, dass Christopher de Bellaigue diesen Aspekt der Geschichte des Islamismus aufgrund irgendwelcher falscher Rücksichtnahmen vollständig ausgeblendet hat. So etwas sollte man natürlich nicht tun.

Kritik Linker Bias: Versagen der Linken kleingeredet

Ganz am Rande wird erwähnt, dass die erfolgreiche Nasser-Regierung in Ägypten die Regierungen in anderen Ländern inspirierte, darunter Algerien, Syrien und der Irak. (S. 324) Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass diese Regime sich als sozialistische Regime verstanden („Baath-Partei“). Insofern auch das ein Beitrag zum Fortschritt in die Moderne war, bräuchte man das auch gar nicht verstecken. Es wird in diesem Buch aber dennoch versteckt. – Der Grund liegt wohl darin, dass diese linken Regime am Ende keine allzu rühmliche Rolle spielten. Ebenso wie Kemal Atatürk und der Schah von Persien strebten sie eine Modernisierung ohne und gegen die Religion an. Und nicht selten verkamen sie zu Diktaturen, wie in Syrien und Irak, aber auch Ägypten. Auch der Bürgerkrieg im Libanon soll sich linken Kräften verdanken.

Ebenfalls kaum beleuchtet wird der Umstand, dass sehr viele Intellektuelle der islamischen Welt direkt von linken Ideologien beeinflusst waren, die an europäischen Universitäten im Umlauf waren. Es wird nur erwähnt, dass der Iraner Ali Schariati vom Antikolonialismus der französischen Universität beeinflusst war (S. 342 ff). Solches galt natürlich nicht nur für Ali Schariati, sondern auch für viele andere Intellektuelle des islamischen Raumes. – Man hätte auch Mohamed Arkoun erwähnen können, der die postmoderne Philosophie auf den Islam münzte. Oder Michel Foucault, der die islamische Revolution von Khomeini begrüßte. Dieses falsche postmoderne Denken hat bis heute Hochkonjunktur im Westen.

Es wird auch die fatale Rolle von Mossadegh im Iran zu weich gezeichnet. (S. 331 ff.) Vielleicht war Mossadegh eben doch ein Steigbügelhalter der Kommunisten? Ganz gewiss waren seine Anhänger später Steigbügelhalter für Khomeini. – Und stimmt es wirklich, dass die Islamisten in der Türkei deshalb an die Macht kamen, weil zuvor die Linken in einem Putsch ausgeschaltet worden waren? (S. 346) Wird hier die Rolle der Linken nicht völlig überhöht? Ist es nicht vielmehr so, dass die Islamisten in der Türkei vor allem durch die demographische Entwicklung zur Mehrheit wurden? – Und man hätte auch gerne etwas von der Erfahrung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal gelesen: Laut Boualem Sansal war Algerien früher ein linkes Land. Als die ersten islamistischen Prediger eintrafen, verlachte man sie als die „Narren Allahs“ und nahm sie nicht ernst. Wenige Jahrzehnte später befand sich Algerien in einem blutigen Bürgerkrieg mit dem Islamismus.

Immer wieder stoßen wir darauf, dass die völlige Unfähigkeit der Linken, die Religion ernstzunehmen und einzubinden, in die Katastrophe führte. Christopher de Bellaigue schweigt dazu weitgehend.

Kritik Linker Bias: Irak-Krieg von George W. Bush

Den Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush von 2003 beschreibt Christopher de Bellaigue mit kurzen Worten als „failure of the Anglo-American occupation of Iraq“ (S. 349)

Doch war es wirklich nur ein „failure“? Hat man nicht den Diktator effektiv beseitigt, anders als z.B. in Syrien? Hat man nicht sichergestellt, dass der Diktator weder über Giftgas noch über sonstige Massenvernichtungswaffen verfügt? Und damit auch den Massenmord Saddam Husseins an Schiiten und Kurden ein für allemal unterbunden? Und war es wirklich nur eine „occupation“?! Wurden nicht Schiiten und Kurden, die immerhin 80% der Bevölkerung des Irak ausmachen, tatsächlich von der Herrschaft der sunnitischen Minderheit befreit? Haben wir nicht alle die Bilder gesehen, wie die westlichen Truppen von Schiiten und Kurden jubelnd begrüßt wurden? Der Schuh-Werfer auf George W. Bush war jedenfalls ein Sunnit aus der Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger. Und „Anglo-American“? Es waren über 40 Nationen am Irak-Krieg beteiligt. Nur Frankreich und Russland blieben fern. Aber das waren ja die Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein, die sich in Ölkonzessionen hatten bezahlen lassen. Und Deutschland war so dumm, sich diesen beiden anzuschließen. Und hatte Bush nicht erreicht, dass die Terrorwelle im Irak am Ende abebbte? Und war die eigentliche Katastrophe nicht erst der Truppenabzug durch Obama und Obamas Syrienkrieg? Und existiert die formale Demokratie, die George W. Bush 2003 im Irak etablierte, nicht immer noch? Trotz allem immer noch? Und wer hat jetzt eigentlich Zugriff auf das irakische Öl bekommen? Der US-Konzern „Hölliburton“? Nein, sondern ein norwegisch-chinesisches Konsortium.

Christopher de Bellaigue hätte George W. Bush unbedingt für dessen Weitsichtigkeit loben müssen! Aber vielleicht konnte er das nicht, aus Rücksicht auf gewisse Milieus. Und weil de Bellaigue das versäumt hat, wollen wir dies hier nachholen, indem wir einige Worte aus einer Rede von George W. Bush vom 06. November 2003 zitieren, die ihre Kraft bis heute nicht verloren haben:

„Time after time, observers have questioned whether this country, or that people, or this group, are „ready“ for democracy … It should be clear to all that Islam – the faith of one-fifth of humanity – is consistent with democratic rule. … As we watch and encourage reforms in the region, we are mindful that modernization is not the same as Westernization. Representative governments in the Middle East will reflect their own cultures. They will not, and should not, look like us. … And working democracies always need time to develop – as did our own. … There are, however, essential principles common to every successful society, in every culture. …

Iraqi democracy will succeed – and that success will send forth the news, from Damascus to Teheran – that freedom can be the future of every nation. … Sixty years of Western nations excusing and accommodating the lack of freedom in the Middle East did nothing to make us safe – because in the long run, stability cannot be purchased at the expense of liberty. As long as the Middle East remains a place where freedom does not flourish, it will remain a place of stagnation, resentment, and violence ready for export.“

Und wer jetzt sagt: „Es ist doch schiefgegangen im Irak!“, der hat nichts verstanden. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird erst dann zu Ende sein, wenn das Happy End erreicht ist. George W. Bush hatte das erkannt. Obama nicht.

Fazit

Mit seinem Buch „The Islamic Enlightenment“ hat Christopher de Bellaigue eindrucksvoll seine zentrale Botschaft untermauert: Die islamische Welt verharrt nicht statisch im Mittelalter, sondern hat in den letzten 200 Jahren massive Modernisierungen durchlaufen und ist grundsätzlich auch zu weitergehenden Modernisierungen fähig. Es gibt gute und verstehbare Gründe, warum die Modernisierung bis heute nicht vollständig geglückt ist. Eine grundsätzliche Modernisierungsunfähigkeit der islamischen Welt ist jedenfalls nicht der Grund.

Allerdings gilt: Diese Modernisierung ist kein Selbstläufer. Man darf sich nicht zurücklehnen und glauben, dass mit der Zeit schon alles von selbst gut werden würde. Modernisierung muss aktiv herbeigeführt werden. Und auch Rückfälle sind jederzeit möglich. Übrigens auch in der westlichen Welt. Auch deren Modernität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann verloren gehen.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse für unsere heutige Zeit können aus diesem Buch gezogen werden? Hier eine kurze Liste von Vorschlägen. Dabei gilt: Es ist immer leichter gesagt als getan.

  • Der Westen muss wieder zu sich selbst kommen, damit er wieder die Anziehungskraft von früher entfalten kann. Liberalismus und Rationalismus müssen wieder zum Leuchten gebracht werden. Eine Rückbesinnung auf nationale und regionale Traditionen ist erforderlich. Außerdem eine Neubesinnung auf religiös-weltanschauliche Traditionen, namentlich Christentum, klassischer Humanismus und Aufklärung.
  • Der Westen sollte sich nicht dafür schämen, dass er fortschrittlicher als die islamische Welt war. Nicht alle Aspekte des Kolonialismus waren schlecht und falsch. (Einiges davon aber schon, aber das ist nichts Neues.)
  • Die islamische Welt muss akzeptieren, dass sie an dem ganzen Schlamassel vor allem selbst schuld ist. Denn es war die islamische Welt, die mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung verschlafen und sich auf diese Weise angreifbar gemacht hatte. Das, und nichts anderes, ist das Urübel.
  • Die islamische Welt muss verstehen, dass vieles von dem, was geschehen ist, jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn es einst Unrecht war. Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht auslöschen. Ein Vorbild kann hier Europa sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Begleichung alter Rechnungen verzichtete.
  • Alle beteiligten Akteure, ob religiös oder nicht religiös, ob westlich oder östlich, müssen begreifen, dass es eine nachhaltige Modernisierung nur mit dem Islam geben kann, nicht gegen den Islam.
  • Die Modernisierung des Islam muss dort fortgeführt werden, wo sie um 1900 liegengeblieben ist. Eine Modernisierung des Islam „zerstört“ oder „verfälscht“ den Islam nicht, solange sie mit Vernunft, Wahrhaftigkeit und ohne Eifer durchgeführt wird. Ein Vorbild kann die Modernisierungsgeschichte der katholischen Kirche sein, die sich dabei ebenfalls nicht selbst aufgegeben hat. Reformen sind erst dann dauerhaft tragfähig, wenn sie auch von der Mehrheit der Konservativen mitgetragen werden.
  • Offenbar leidet der Islam heute auch daran, dass seine historisch gewachsenen Strukturen zerstört worden sind. Der Islam muss wieder eine Struktur von Religionsgelehrten aufbauen, die legitim und authentisch für den Islam sprechen können und von staatlichen Einflüssen unabhängig sind. Irgendjemand muss die Reformen schließlich tragen und durchführen. Irgendjemand muss sagen können: Diese Reform gilt jetzt, und diese nicht.
  • Muslime werden damit leben müssen, dass es dauerhaft verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie ein moderner Islam aussieht. Hier ist mehr Toleranz und friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Auffassungen notwendig.
  • Linke müssen damit aufhören, die Muslime und die islamische Welt für ihre linken politischen Zwecke zu vereinnahmen, Islamismus und islamischen Traditionalismus zu verharmlosen, und den Westen in seiner Fortschrittlichkeit zu verteufeln. Vielmehr müssen Linke ihre eigene Geschichte von Schuld, Missbrauch und Versäumnissen in bezug auf den Islam und die islamische Welt, aber auch in bezug auf Christentum, klassischen Humanismus, die Aufklärung und die westliche Welt, aufarbeiten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Hans Magnus Enzensberger: Z – Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (2014)

Enzensbergers Lebensweisheiten und Zeitgeistkritik in nuce

In einem Park taucht immer wieder Herr Z auf und beginnt Gespräche mit zufällig Anwesenden. Es entwickelt sich eine lose Runde. Das Buch soll einige dieser Gespräche aus der Erinnerung von Anwesenden wiedergeben.

In 259 nummerierten kurzen Abschnitten werden die verschiedensten Themen angeschnitten. Grundthema sind Lebensweisheiten und Kritik am Zeitgeist. Enzensberger in nuce, und vermutlich auch ein wenig zum Abschied, denn am Ende verabschiedet sich Herr Z und ward nicht mehr gesehen.

Sehr empfehlenswert. Man kann es von Anfang bis Ende durchlesen. Man kann aber auch eine beliebige Seite aufschlagen und zu lesen anfangen. Und man wird das Büchlein immer wieder zur Hand nehmen. Gewissermaßen eine kleine Mao-Bibel des Z’schen Denkens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2021)

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Xenophon: Das Gastmahl (4. Jhdt. v.Chr.)

Eine Party als lebendiges Sinnbild des Humanismus

Xenophon macht uns in dieser Schrift zu Zeugen einer Party, und so müsste auch eine korrekte Übersetzung des Titels in modernes Deutsch lauten: „Die Party“. An sich ist eine Party ja nichts außergewöhnliches, aber diese Party fand bereits vor 2500 Jahren statt – und ist dennoch erfrischender und moderner als so manche Party unserer Tage. Neugierig geworden?

Wir erleben mit, wie die Partygäste sich einfinden, gemeinsam plaudern, lachen, scherzen, sich auf das Essen stürzen, Kleinkunst bewundern, und am Ende voller Freude, Elan und guter Ideen wieder auseinander gehen. Auch Sokrates ist zu dieser Party geladen, aber wer erdenschwere philosophische Monologe erwartet, wird angenehm enttäuscht: Xenophon schreibt ganz anders als Platon, und so regieren nicht Ernst und Gedankenschwere, sondern Witz und Esprit diesen Text. Hier findet man keine von der Lebenswirklichkeit isolierten Gedankengänge, sondern das pralle Leben.

Doch es ist eben nicht nur das pralle Leben, sondern auf subtile Weise auch der Geist, der aus diesen uralten und doch so jungen Zeilen spricht: Der Geist des klassischen Athen, der eine völlig neue und noch nie dagewesene Welt hervorbrachte: Die Lust am Leben, an der Natur, am Spielerischen, an der Freiheit des Ausprobierens, an der Vernunft, am Denken selbst; das also, was sich an Lebendigem hinter Begriffen wie „Humanismus“ oder „Aufklärung“ verbirgt.

Wer eintauchen will in die Ursuppe der Moderne und verstehen will, aus was sich das alles zusammengebraut hat, der sollte seine Schuhe schnüren und sich auf den Weg machen, um teilzunehmen an dieser einmaligen Party, die die Leser Xenophons nun schon seit 2500 Jahren begeistert feiern.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juni 2010)

Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig: Nie zweimal in denselben Fluss (2018)

Versuch einer sachlichen Rezension – Kein gutes Urteil

Über Björn Höcke wird viel Unsinn geschrieben. Meistens erklärt man ihn mit haltlosen Gründen zum Rechtsradikalen. So meinten anfangs manche, Höcke wäre deshalb als Rechtsradikaler erkennbar, weil er davon sprach, dass Deutschland schon 1000 Jahre alt sei und noch 1000 Jahre Bestand haben möge. Sie sahen darin eine Anspielung an das „tausendjährige Reich“. Das ist so natürlich Unsinn, denn Deutschland ist tatsächlich 1000 Jahre alt, und wenn das alles wäre, was seine Gegner gegen ihn ins Feld führen könnten, dann wäre Höcke natürlich kein Rechtsradikaler. So dachte damals auch der Autor dieser Rezension, der sich in diesem Urteil auch dadurch bestärkt sah, dass der vermeintliche Konservative Alexander Gauland Björn Höcke „meinen Freund“ nannte.

Inzwischen ist wesentlich mehr von Björn Höcke bekannt, und auch Alexander Gauland wurde als ein pseudo-konservativer Preußenfeind erkannt (siehe die Rezension zu dessen Konservativ-Buch). Es bleibt die Aufgabe, eine Rezension zu Björn Höcke zu schreiben, die versucht, ohne Zorn und Eifer herauszuarbeiten, dass es tatsächlich Probleme mit Björn Höcke gibt, und welche es sind – dennoch ist natürlich auch diese Rezension letztlich ein persönlicher Kommentar. Der Leser wird wie bei jeder Rezension sehen müssen, wo er mitgehen kann und was er davon mitnimmt.

Wo Höcke Recht hat und Sympathien sammelt

Das vorliegende Buch ist ein Marathon-Interview mit Björn Höcke, das sich entlang seiner Lebensgeschichte von Thema zu Thema hangelt, von der Kindheit und Jugend über die Zeit als Lehrer bis zum Engagement als Politiker, um schließlich mit der Frage nach Höckes Zukunftsvisionen für Deutschland und Europa zu enden.

Wie jede Biographie hat auch die Lebensgeschichte von Björn Höcke jenseits der Politik manchen sympathischen und menschlichen Zug zu bieten. Darauf werden wir hier nicht weiter eingehen, aber um das Bewusstsein nicht zu verlieren, dass hinter dem Politiker auch ein Mensch steht, lohnt sich die Lektüre. Darüber hinaus streut Höcke natürlich viel berechtigte Kritik an den etablierten Parteien und deren Politik ein. Darum soll es in dieser Rezension aber gerade nicht gehen, denn dass die etablierten Parteien der AfD viele wichtige und richtige Themen überlassen und sie auf diese Weise stark gemacht haben, ist jedem Beobachter sowieso klar. Die eigentliche Frage, um die es nur gehen kann, ist, ob Björn Höcke und seiner AfD zu trauen ist: Sind sie demokratisch oder sind sie rechtsradikal?

Höcke zeigt sich belesen und intellektuell und jongliert mit zahlreichen Namen namhafter Denker aller Couleur. Darunter sind z.B. Karl Popper (S. 57), Dietrich Bonhoeffer (S. 60, 77, 291), Theodor Fontane (S. 63), Carl Gustav Jung (S. 63), Jakob Böhme (S. 72), Schopenhauer (S. 73), Ludwig Klages (S. 77), Martin Heidegger (S. 77), Martin Luther (S. 212), Caspar David Friedrich (S. 80), Martin Buber (S. 83 ff.), Thomas Hobbes (S. 119), Georg Christoph Lichtenberg (S. 123), Ortega y Gasset (S. 148), Josef Isensee (S. 152), Macchiavelli (S. 226), Friedrich Naumann (S. 281) sowie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Schelling und Hegel (S. 75). Neben Klassikern ist auch vielfach von der Antike die Rede, so z.B. von Vergil (S. 62) oder von der antiken Idee, dass sich die Verfassung eines Staates in Zyklen entwickelt (S. 225). Das Wandern wird als die deutsche Form der antiken griechischen Peripatetiker bezeichnet (S. 80), und schließlich wird die Bildung als solche „klassisch“ genannt, und dass man sich für alle Sichtweisen offenhalten sollte (S. 148).

Viele Themen werden sehr „weich“ gehandhabt. Patriotismus wird z.B. als eine psychologisch notwendige Selbstbefreundung, die zudem unspektakulär sein sollte, vorgestellt (S. 121). An solchen Thesen ist nichts auszusetzen.

Erster Widerspruch: Dialog oder Durchregieren?

Generell versprüht Björn Höcke in diesem Buch viel jugendliche Lebensfreude, Optimismus und Gestaltungskraft, und immer wieder betont er – ganz wohlwollender Lehrer und Pädagoge – dass er sich mit seinen politischen Gegnern offen aussprechen möchte, um zu gemeinsamen Lösungen und zu einem Ausgleich zu kommen (z.B. S. 85, 249). Hier beeindrucken vor allem auch seine Ausführungen zum dialogischen Wesen des Menschen nach Martin Buber (S. 83 ff.). Höcke will angeblich Reformen, keine Revolution (S. 213) und gestaltet lieber, als immer nur dagegen zu sein (S. 287). Ein einzelner Führer könne die nötige Umgestaltung nicht bewerkstelligen, sondern dazu bedürfe es der Pluralität und der Abstimmung mit dem Volk (S. 286). Parteien seien ihrem Namen nach – pars – immer nur Teil, nie das Ganze (S. 149). Der nötige Neubau der Gesellschaft könne nicht von oben angeordnet werden, sondern müsse in Aussprache ermittelt werden (S. 265).

Doch hier stoßen wir zum ersten Mal auf einen unaufgelösten Widerspruch in Höckes Ausführungen. Denn während er immer wieder seinen Willen zum Dialog betont, betont Höcke gleichzeitig auch immer wieder seine Kompromisslosigkeit. Höcke träumt von einem „konsequenten Durchregieren“ (S. 234) und legt sich fest: „Ein wie auch immer geartetes Arrangement wird es mit mir nicht geben“ (S. 221). Wenn es nicht friedlich gehen wird, dann „wird ein neuer Karl Martell vonnöten sein, um Europa zu retten.“ (S. 252). Mit denen, die aus seiner Sicht das gemeinsame Haus komplett abreißen wollen, will er nicht diskutieren (S. 95). Für Höcke gehören eine „gewisse Unbedingtheit, Kühnheit und Wirklichkeitsverachtung“ dazu (S. 61). Eine Zusammenarbeit gibt es nur bei einer grundlegenden Richtungsänderung im Sinne Höckes (S. 224). Höcke kokettiert auch mit der Eigenschaft der Deutschen, Dinge ohne Rücksicht auf Verluste radikal bis zum Ende durchzuziehen (S. 258, vgl. auch S. 215), statt diesen Charakterzug zu kritisieren. Politik versteht Höcke nach dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt (S. 274). Nach dem gelungenen Machtwechsel will Höcke aber „Gnade“ walten lassen (S. 223): Das impliziert natürlich eine Art von Unterwerfung, denn Gnade übt man nur bei Besiegten, nicht unter gleichrangigen Partnern.

Der Widerspruch zwischen einem Regieren durch Dialog oder einem Durchregieren zieht sich durch das ganze Buch hindurch und bleibt bis zuletzt unaufgelöst bestehen.

Ebenfalls bedenklich ist die Aussage gegen eine „falsche konservative Loyalität zu Institutionen, die die Zukunft unseres Volkes gefährden“ (S. 239) als Antwort auf Bedenken, dass die AfD extremistisch sei. Hier hätte an erster Stelle ein Bekenntnis zur Erhaltung der Demokratie und ihrer grundlegenden Institutionen stehen müssen. Es mag zwar auch institutionellen Reformbedarf im Detail und in Randbereichen unserer Demokratie geben, z.B. Amtszeitbegrenzungen oder die Medienordnung, aber wo die Frage nach dem Extremismus gestellt wird, muss ein Bekenntnis zur Demokratie und ihren Kerninstitutionen an erster Stelle stehen. Und das ist hier nicht der Fall.

Moralisch bedenkliche Aussagen

Auch mit der Moral hat Björn Höcke offenbar gewisse Schwierigkeiten, wie vor allem einige Passagen auf den Seiten 254 und 255 zeigen. Dort wird eine „wohltemperierte Grausamkeit“ angekündigt, die „so human wie irgend möglich, aber auch so konsequent wie nötig“ ist. Die Regierenden, die solche Anordnungen treffen, würden laut Höcke „schwere moralische Spannungen“ auszuhalten haben, weil sie „Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“.

Hier stellt sich zunächst die Frage, wovon Höcke eigentlich konkret spricht? Denn die gesetzlich vorgeschriebene Ausweisung von Illegalen im Wege normaler polizeilicher Maßnahmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen, mag vielleicht manchmal „hart“ sein, doch „grausam“ ist sie keinesfalls, und „Grausamkeit“ ist dazu auch gar nicht nötig. Auch „schwere moralische Spannungen“ entstehen durch solche Maßnahmen nicht. Höcke muss etwas anderes meinen, sagt aber nicht, was.

Höcke sieht offenbar einen Widerspruch zwischen Konsequenz und Humanität, sonst würde er nicht von moralischen Spannungen sprechen. Er hat also keine Vorstellung von Humanität und Moral, die auch dann noch trägt, wenn es hart auf hart kommt und Entscheidungen im Sinne eines kleineren Übels getroffen werden müssen. Denn auch die Entscheidung für ein kleineres Übel ist immer noch eine moralische Entscheidung, die moralische Grenzen kennt. Statt dessen sind für Höcke „Grausamkeiten“ gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ denkbar. Der Terminus „Grausamkeit“ für sich allein genommen wäre vielleicht noch kein Problem, weil man auch umgangssprachlich von „Grausamkeiten“ spricht. Aber indem diese „Grausamkeiten“ als Gegensatz zu „humanem“ Vorgehen verstanden werden, sowie in Kombination mit der Aussage, dass gegen das „eigentliche moralische Empfinden“ gehandelt werden soll, kann man sich nur noch schlecht mit einer bloß sprichwörtlichen Bedeutung im übertragenen Sinn herausreden. Zumal der vorliegende Text kein spontanes Presseinterview ist, sondern ein gedrucktes Buch. Wenn das eine unglückliche Formulierung war, dann war sie sehr, sehr unglücklich.

Wie würden es Konservative sagen? Vergleichen wir anhand des konkreten Beispiels der Abschiebung Illegaler. Für Konservative bleiben Humanität und Moral immer Grundlage der Abwägung, doch Höcke sieht hier einen Gegensatz zur Humanität. Das hört sich an, wie wenn es hier zu Entgleisungen und Grenzüberschreitungen kommen würde. Und genau diese werden von Höcke ja auch explizit angedeutet, nämlich durch „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“. Ein Konservativer würde so etwas niemals sagen. Ein Konservativer würde von „Härte“ und „Konsequenz“ sprechen, die „moralisch geboten“ ist (und deshalb immer noch moralische Grenzen kennt), und keinesfalls von „Grausamkeiten“, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwider laufen“ (so dass also keine moralischen Grenzen mehr da sind, denn die sind ja dann schon überschritten).

Höcke bestätigt diese Deutung durch eine weitere Argumentation: Denn Höcke will die Schuld für die „Grausamkeiten“, die dem moralischen Empfinden zuwiderlaufen, einfach auf andere abwälzen, nämlich auf die verfehlte Politik der Etablierten, die solche Maßnahmen notwendig werden ließen (S. 255). Doch auch das ist sichtlich nicht moralisch gedacht. Denn es ist zwar wahr, dass die verfehlte Politik die Verantwortung für die Zuspitzung der Lage trägt, und es ist wahr, dass eine zugespitzte Lage harte Maßnahmen erfordert. Doch auch in einer zugespitzten Lage bleibt die Moral in Geltung und die handelnden Personen dürfen zwar im Rahmen eines moralischen Kalküls durchaus vieles aber nicht alles tun, um die Lage zu bewältigen. „Grausamkeiten“ gegen das moralische Empfinden sind keine Option.

Zwei historische Beispiele: In der AfD wurde einmal debattiert, ob man zur Schließung von Grenzen von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfe. Weniger gebildete AfDler meinten, das sei so, auch weil man eine Grenze sonst nicht schließen könnte. Der politmediale Mainstream bestärkte diese weniger gebildeten AfDler in dieser Auffassung nach Kräften und diese fielen darauf herein. Die Pointe ist, dass der Gebrauch der Schusswaffe gar nicht nötig ist, um eine Grenze effektiv zu schließen, sofern man es nicht mit bewaffneten Banden zu tun hat! Ob Spanien, Ungarn, Mazedonien oder Griechenland: Alle sind perfekt dazu in der Lage, ihre Grenzen zu schließen, ohne dafür einen einzigen Schuss abgeben zu müssen. – Ein anderes historisches Beispiel ist der Völkermord an den Armeniern durch die Türkei im Ersten Weltkrieg. Zwar ist es richtig, dass die Armenier teilweise eine Art „inneren Feind“ innerhalb der Landesgrenzen der damaligen Türkei darstellten. Doch war ein Völkermord natürlich eine weit über jedes legitime Ziel hinausschießende Maßnahme zur Lösung des Problems.

Es gibt immer moralische Grenzen, auch in zugespitzten Situationen, und wer allen Ernstes sagt, dass er gegen das moralische Empfinden handeln will, muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Merken wir am Rande noch kritisch an, dass Moral hier wie ein Gefühl behandelt wird. Moral ist aber mehr als nur ein Gefühl, sondern vor allem auch harte Rationalität, die man nicht einfach beiseite schieben kann. Moral ist nur für Romantiker ein Gefühl.

Politische Philosophie: Edgar Jung

Wir sahen, dass Höcke z.B. Karl Popper, Martin Buber oder die Klassiker Goethe und Schiller anführte. Doch auf die Frage, welche Denker des 20. Jahrhunderts ihn geprägt haben, nennt er diese vier Namen: Ludwig Klages, Edgar Jung, Dietrich Bonhoeffer, Martin Heidegger (S. 77). Dietrich Bonhoeffer und Ludwig Klages scheinen unproblematisch. Zu Martin Heidegger sagt Höcke nur wenig (S. 59, 77-79). Man könnte kritisieren, dass Höcke das rechtsradikale Gedankengut von Heidegger ungerechtfertigt kleinredet (S. 78). Aber dem Fass den Boden schlägt der Name Edgar Jung aus. Denn Edgar Julius Jung (1894-1934) war eindeutig ein Rechtsradikaler!

Laut Wikipedia gehörte Edgar Jung der Bewegung der „Konservativen Revolution“ an, die bekanntlich mehr revolutionär als konservativ war. Jung wirkte bei der Ermordung des Präsidenten der Autonomen Pfalz Franz Josef Heinz mit. Er traf Adolf Hitler persönlich und verhandelte über seinen Beitrtt zur NSDAP, wozu es wegen Differenzen nicht kam. Den Rassegedanken der Nationalsozialisten lehnte Edgar Jung ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Edgar Jung strebte die Verhängung des Ausnahmezustandes unter Einbeziehung von Hitler und Göring an, die er für weniger radikal hielt als andere NS-Größen. Edgar Jung war gegen die Demokratie, weil sie alle Stimmen gleich zählt, polemisierte gegen Juden, weil diese in seinen Augen für Aufklärung und Individualismus standen, war gegen eine bürgerliche Elite, weil er das Leistungsprinzip ablehnte, und wollte eine neue Aristokratie errichten. 1934 wurde Edgar Jung im Zuge des Röhm-Putsches von den Nationalsozialisten ermordet.

Doch der Sachverhalt bleibt in diesem Buch völlig undiskutiert! Der Name Edgar Jung wird lapidar genannt, sonst nichts. An einer anderen Stelle wird noch eine ungefährliche Binsenweisheit von Edgar Jung zitiert (S. 28). Das war’s.

So geht es nicht. Das ist hochgradig unglaubwürdig. Wenn Höcke ehrlich mit seinen Lesern hätte sein wollen, hätte er den Rechtsradikalismus von Edgar Jung zum Thema machen und sich dazu erklären müssen.

Politische Philosophie: Nietzsche und Schopenhauer

Ebenfalls zentral für Höckes Denken ist ausgerechnet Friedrich Nietzsche. Höcke berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren Nietzsche entdecke: „Mich beeindruckte, wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 56 f.) Höcke bekennt, dass er Nietzsche lesen wird, solange er lebt (S. 73).

Doch Nietzsche ist ein gefährlicher Denker. Er reißt alles nieder, was die westliche Welt ausmacht. Auch die Vernunft. Und an die Stelle Gottes tritt der Übermensch. Auch als Atheist sollte man da Fragen haben. Nicht zuletzt lässt sich auch der aktuelle Wokismus über die französische Postmoderne bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Auf kritische Nachfragen des Interviewers meint Höcke, dass er eben nicht nur konservativ sei (S. 58) und dass er kein „Nietzsche-Jünger“ sei, sondern lediglich gewisse geistige Impulse von Nietzsche empfangen habe (S. 74). Die Frage nach der Irrationalität Nietzsches wiegelt Höcke genauso wie beim Thema Romantik ab: Seiner Meinung nach sei Nietzsche gar nicht so irrational (S. 75).

Durch Nietzsche sei Höcke dann auf Schopenhauer gestoßen, und auch hier ging es Höcke vor allem um Widerstand gegen Autoritäten und Kritik am Establishment (S. 76). Von Schopenhauer habe Höcke auch die Mitleidsethik übernommen, sagt er. Wie der Optimismus, der ihn bei Nietzsche faszinierte, mit dem Pessimismus von Schopenhauer zusammenpasst, sagt Höcke nicht.

Politische Philosophie: Romantik

Ein weiterer weltanschaulicher Schwerpunkt Höckes ist die Romantik. Für Höcke ist sie die „fruchtbarste geistig-literarische Epoche unserer Kulturgeschichte“ (S. 156), womit er die Klassik von Goethe und Schiller auf die Plätze verweist. Höcke wendet sich gegen die Generalkritik an der Romantik, dass sie irrational sei. Für Höcke ist Romantik eine Form der Weltzugewandtheit (S. 25).

Romantik gründe auf der platonischen Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit hinter den Dingen gibt (S. 158). Doch Platon war einer der Begründer des Rationalismus, der die Sphäre des Mythischen, des Unbekannten, durch die Vernunft einhegen wollte, und eine klare Absage an haltlose Irrationalität und Schwärmerei formulierte. – Höcke kritisiert die Aufklärer, die bemängelten, dass Mythen nicht wahr sind: Denn darauf käme es nicht an, meint Höcke, sondern darauf, dass die Mythen Identiät stiften! Mythen müssten nur „authentisch“ sein, im Sinne von George Sorel, und das beschreibt Höcke als die Ermöglichung verschiedener Lesarten (S. 159 f.). Doch seit Platons Zeiten kommt alles darauf an, dass Mythen gut und wahr sind. Die Taten und Worte der Vergangenheit, auf die eine Gemeinschaft ihre Identität stützt, sollten real sein, nicht erfunden. Denn wer, der bei Verstand ist, sollte das dann glauben? Wer sollte es ernst nehmen? Und eine Offenheit für verschiedene Lesarten macht alles nur noch schlimmer, denn wie soll dann eine gemeinsame Identität zustande kommen?!

Höcke meint, dass die Deutschen auch als Romantiker bereits ökonomischen Erfolg gehabt hätten, ohne die Übernahme der Ideen der Angelsachsen, die er „smarte Praktikusse“ nennt (S. 157). Doch das ist sehr fraglich, denn vor der Romantik kam bekanntlich die Klassik mit Goethe und Schiller, und auch die Aufklärung mit Friedrich dem Großen und Immanuel Kant. Preußen wurde durch seine Rationalität bekannt und erfolgreich, nicht durch seine Romantik. Das gilt auch für die Ökonomie. Außerdem stand Preußen damals mit England im Bunde. Schließlich hat Höcke beobachtet, dass auch die Naturwissenschaften sich von einem rein materialistischen Weltbild abwenden und zur Verzauberung der Welt zurückkehren (S. 162 f.). Das ist nicht falsch, doch findet diese „Verzauberung“ natürlich unter den strengen Auspizien der Rationalität statt.

Gegen Romantik wäre nichts einzuwenden, wenn sie unter der klaren Prämisse der Rationalität stünde. Klassik geht vor Romantik. Dann wäre die Gefährlichkeit der Irrationalität gebändigt. Doch genau diese Einhegung der Romantik findet sich bei Höcke nicht.

Politische Philosophie: Antimodernismus

Für Höcke ist der Inbegriff der Moderne die Entstrukturierung, die totale Auflösung von allem, bis hin zur Auflösung von Nationen und Geschlechtern. Die Moderne ist für ihn die Verfallsform der Neuzeit (S. 261-263). Deshalb will er die Moderne beseitigen und eine Nach-Moderne anstreben (S. 258). Er möchte von der Dekomposition zur Re-Komposition kommen (S. 264).

Die Kritik an der völligen Auflösung aller Strukturen in Ehren, aber ist die Zuschreibung der Verantwortung für diese Auflösung ausgerechnet an die Moderne wirklich berechtigt? Die Moderne als Verfallsform der Neuzeit beginnt für Höcke anscheinend mit der Aufklärung und ihrer analytischen Rationalität. Diese Analytik sieht er vermutlich als „auflösend“. So genau sagt er das nicht.

Aber ist es wirklich so, dass der Aufklärung der Drang zur Auflösung aller Strukturen innewohnt? Ist es aufgeklärt und rational, nützliche und sinnvolle und begründbare Gegebenheiten wie Nationen oder Geschlechter aufzulösen? Ist es nicht vielmehr anti-rational und unaufgeklärt? Steckt dahinter nicht etwa die Moderne, sondern vielmehr der sogenannte Postmodernismus und Wokismus? Diese Ideologien formulieren eine Absage an die Vernunft. Für diese Ideologien ist die Rationalität eine koloniale, „weiße“ Beherrschungsstrategie. Dahinter steckt Nietzsche und dessen irrationale Ablehnung von allem, was wahr, gut und schön ist. Jener Nietzsche, von dem Höcke so fasziniert ist.

Und wie will Höcke etwas re-komponieren, wenn nicht mithilfe der Vernunft? Ist es nicht die Vernunft, mit deren Hilfe wir die Welt ordnen? Ist nicht z.B. der Nationalstaat bereits eine Art von Re-komposition der voraufgeklärten Wirklichkeit, die wir der Aufklärung verdanken, also der Moderne?

Politische Philosophie: Nur ein Humanismus des Gefühls?

Höcke schreibt sich selbst eine humanistische Gesinnung zu: „In der irdischen Welt sind Licht und Schatten wild miteinander verwirbelt. Durch alles – also auch durch uns selbst – geht ein ‚tragischer Riss‘. … … … Aus dem Wissen und dem Gefühl über dieses gemeinsame Schicksal speist sich mein tief verankerter Humanismus. Diese Einheit des Menschseins in Anbetracht der inneren Wunde ist elementar.“ (S. 62 f.)

Doch Höcke definiert seinen Humanismus nur vom Gefühl her. Wie wir oben sahen, geht es Höcke um das menschliche Leiden (Schopenhauer) und um moralisches Empfinden (wohltemperierte Grausamkeiten), aber es geht immer nur um Gefühl. Rationalität hingegen findet in Höckes Humanismus eher keine Erwähnung und spielt eine sichtlich zurückgesetzte Rolle. Höcke schwärmt für die Romantik und für Nietzsche, während Klassik und Aufklärung ganz offensichtlich nicht so sehr sein Ding sind. Die Moderne gilt ihm gar als Verfallserscheinung. Platon deutet Höcke nicht als Rationalisten, und ob Mythen auch wahr sind, ist für Höcke nicht entscheidend. An einer Stelle spricht Höcke sogar von „Wirklichkeitsverachtung“ (S. 61).

Ein klassischer Humanist würde das nicht tun, denn ohne Rationalität geht es nicht. Auch wenn Höcke durch name-dropping wiederholt in Richtung Klassik und Vernunft „blinkt“, biegt er doch sichtlich in die andere Richtung ab.

Einzelthemen: Staatsbegriff

Höcke strebt einen Staat in „neuzeitlich-klassischer Form“ an. Es ist „das von uns präferierte Modell eines erneuerten Nationalstaates – von dessen klassischen Modell des 19. Jahrhunderts sicher einiger Ballast abgeworfen werden muss“ (S. 269 f.). Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts ist also nicht (!) das Modell, sondern Höcke geht weiter zurück in der Geschichte. Das entspricht auch seiner Gegnerschaft zur Moderne, die er als Verfallsform der Neuzeit deutet. Die Staaten der Neuzeit waren die ständisch und absolutistisch verfassten Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Es bleibt etwas nebulös, wie sich Höcke einen solchen Staat konkret vorstellt.

Jedenfalls möchte Höcke, dass der Staat „bändigend, ordnend und gestaltend“ wirkt; er will also eine „politisch gesteuerte Nationalökonomie“ und einen „starken Staat“, um die „zerstörerischen Kräfte der Emanzipation in produktive Bahnen zu lenken“ (S. 259-261). – An anderer Stelle meint Höcke, dass der Staat sich auf die Grundlinien der Politik beschränken sollte, und dass Staat und bürgerliche Gesellschaft getrennt sein sollten (S. 272). Auch gehört zu seinem Bild des neuzeitlichen Staates die Entfesselung von Wissenschaften, Technik, Ökonomie und Kultur (S. 259).

Es bleibt unklar, wie diese beiden Ideale von Staat miteinander vereinbar sein sollen, die sich gegenseitig widersprechen: Auf der einen Seite ein steuernder und starker Staat, auf der anderen Seite ein beschränkter Staat, der Freiheit entfesselt.

Einzelthemen: Volkskirche

Höcke möchte eine „neue Volkskirche, die wie das alte Gotteshaus im Dorf in der Mitte der Gemeinschaft steht.“ (S. 268) Diese Volkskirche „müsste die tradierte Volksfrömmigkeit, die sich bis heute in verschiedensten Bräuchen und Ritualen erhalten hat, mit der idealistisch-romantischen Vorstellung einer beseelten Natur und dem ursprünglichen spirituellen Impuls des Christentums verbinden – ohne gleichzeitig im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu geraten.“ (S. 268). Die neue Volkskirche müsste „mit Schopenhauer den allegorischen Charakter der hergebrachten Religion“ akzeptieren und sollte sich ausschließlich auf das Seelenheil konzentrieren, also klar aus der Politik heraushalten (S. 268).

Diese Ideen sind hochproblematisch. Zunächst dürfte es schwierig sein, in einer halbwegs freien Gesellschaft eine gemeinsame Volkskirche aufzubauen, in der alle Mitglied sind. Egal wie attraktiv die Lehre dieser Volkskirche auch sein mag, eine solche religiöse Einheit dürfte freiheitlich kaum herstellbar sein. Das nächste Problem ist der vorgeschlagene Synkretismus: Eine Totgeburt! Denn wer soll eine solche Konstruktion religiös glauben? Höcke meint offenbar, dass der allegorische Charakter genüge, ganz im Sinne seines Glaubens, dass es bei Mythen egal sei, ob sie wahr sind (s.o.). Aber so funktioniert Religion nicht. Religionen wurden zwar schon immer politisch verbogen, aber immer nur graduell und ausgehend von einem bereits vorhandenen Glauben. Die Vorstellung, dass Politik Religion beliebig konstruieren könnte, ist grundfalsch. Es ist nicht ohne Ironie, dass Höcke hinzufügt, dass man „immer die conditio humana im Auge behalten“ müsse, „die sich nicht endlos ohne böse Folgen verbiegen lässt.“ (S. 269) Ohne eine solche Verbiegung wird eine solche Volkskirche nicht möglich sein.

Übrigens führt auch dieser Gedanke einer Volkskirche ideengeschichtlich hinter die Aufklärung zurück, ganz im Sinne von Höckes Deutung von der Moderne als einer Verfallserscheinung der Neuzeit. Für die Staaten der Neuzeit galt „cuius regio eius religio“, d.h. es gab eine einheitliche Religion im ganzen Staatsgebiet. Wer andersgläubig war, musste auswandern, wie z.B. die französischen Hugenotten oder die Salzburger Protestanten.

In einem Punkt hat Höcke allerdings Recht: Ein Gemeinwesen kann sich nicht in Materialismus erschöpfen (S. 162). Der Mensch braucht eine sinnstiftende Weltanschauung. Und eine Gemeinschaft benötigt eine „große Erzählung“, sie benötigt Symbole, Rituale und Mythen. Die Lösung kann aber nicht in einer Volkskirche bestehen, sondern müsste einerseits pluraler ansetzen, andererseits partielle Gemeinsamkeiten suchen.

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist nicht hintergehbar. Man müsste allerdings damit aufhören, nur ganz bestimmte Anschauungen zu fördern, andere aber zu vernachlässigen. Das würde schon viel helfen. Die Gemeinsamkeit liegt ebenfalls auf der Hand: Sie liegt im Humanismus, den es in allen großen Religionen und Weltanschauungen bereits gibt. Die große Forderung müsste deshalb sein, dass sich alle Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, ihre Lehre nach humanistischen Maßstäben zu entfalten, d.h. mit Rationalität und Mitgefühl. Entscheidend ist nicht, welche Religion oder Weltanschauung es ist, sondern entscheidend ist die humanistische Perspektive. Fanatismus jeder Art, ob religiös oder atheistisch, muss hingegen geächtet werden. Der Staat wiederum sollte seine Geschichte und seine Verfassung symbolisch und mythisch zelebrieren. Stichwort Zivilreligion. Natürlich nur mit Mythen, die gut und wahr sind. Unsere Geschichte ist voll davon.

Einzelthemen: Frauen

Es ist in Ordnung, konservative Lebensentwürfe von Frauen und das Familienleben wieder aufzuwerten, aber Björn Höcke bleibt dabei in gewissen Klischees stecken (S. 112-117). Es ist in Ordnung, Männern „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung“ und Frauen „Intuition, Sanftmut und Hingabe“ zuzuschreiben, aber für sich allein klingt das einfach zu holzschnittartig (S. 115). Das Thema endet mit dem Zitat „Die Frau ist stärker als der Mann, wenn sie einen hat.“ (S. 117)

Das ist für einen modernen Konservativismus einfach zu wenig. Höcke befürwortet Emanzipation dort, wo sie „sinnvoll“ ist, was sich nach einer Einschränkung anhört (S. 113). Wenn es ein Islamist wäre, den man so über Frauen reden hören würde, würden sämtliche Alarmglocken schrillen.

Einzelthemen: Islam

Zum Islam nennt Höcke die Islam-Broschüre von Dr. Michael Henkel, die Höckes Thüringer AfD-Fraktion im Jahr 2016 herausgab (S. 174). Die darin enthaltenen Grundthesen werden auch hier von Höcke wiedergegeben: Höcke wendet sich gegen eine „Verwestlichung“ des Islam, sondern vielmehr müsse man das Andersartige achten (S. 196). Die Lösung für die Probleme mit dem Islam in Europa ist für Höcke ganz einfach: „Wir können uns also im Grunde die ganze Islam-Debatte sparen: Hätten wir nicht die Massen an Orientalen und Muslimen in Europa und Deutschland, hätten wir auch kein elementares Problem mit dem Islam.“ (S. 197 f.)

Diese Einstellung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig. Zunächst entspricht diese Haltung dem bekannten Satz des Methusalix aus dem Asterix-Band XXI (Geschenk des Caesars, S. 17): „Nein! Mich stören Fremde nicht, solange sie bleiben wo sie hingehören.“ Diese Einstellung ist dann doch etwas zu plump. Und sie löst auch unsere Probleme nicht. Oder will Höcke etwa ausnahmslos alle Muslime, also auch die Muslime aus der Generation der Gastarbeiter, wieder wegschicken? Höcke will nach eigener Auskunft die Remigration von nicht integrierbaren Migranten (S. 284). Doch je länger die Einwanderung dieser Migranten zurückliegt, desto unglaubwürdiger und schwieriger wird eine Remigration zu bewerkstelligen sein.

Indem Höcke den Islam überhaupt nicht kritisieren sondern sogar „achten“ will, solange er uns fern bleibt, verrät Höcke auch unsere westlichen Werte – oder verrät er unfreiwillig etwas über seine wahren Werte? Jedenfalls enthält der unreformierte Islam in seiner traditionalistischen Form Elemente, die von uns unmöglich geachtet werden können, sondern deutlich kritisiert werden müssen! Jemand, der das unkritisiert lässt, muss sich fragen lassen, wo er selbst steht.

Unsere westlichen Werte sind nämlich nicht nur für den Westen gut, sondern sie sind für alle Menschen gut. Davon sind wir überzeugt, sonst hätten wir diese Werte nicht. Westliche Werte sind keine westliche Folklore, die nur im Westen ihren Platz hätten. Und es geht auch nicht um den Wokismus. Woke Werte sind nicht die westlichen Werte, von denen hier die Rede ist. Ein erfolgreich reformierter Islam wäre in großen Teilen gewiss immer noch so konservativ wie die katholische Kirche.

Mehr noch: Auch das Christentum ist erst durch Reformen „genießbar“ geworden. Es begann mit der Wiederentdeckung der antiken Philosophen und der Erkenntnis, dass Vernunft und Glaube nicht im Widerspruch zueinander stehen können. Früher wurden Hexen und Ketzer einfach verbrannt, das Gottesgnadentum der Könige war kirchlich legitimiert, und natürlich wurde auch die Bibel wesentlich wörtlicher genommen als das heute der Fall ist, bis hin zum Abhacken der Hände von Dieben. Heute bedeckt keine christliche Frau mehr ihr Haupt, obwohl es im Neuen Testament so geboten wird. Die historisch-kritische Lesart überlieferter Texte, auch religiöser Texte, ist ein großer Fortschritt in der richtigen Welterkenntnis und eine zentrale Errungenschaft unserer westlichen Zivilisation. Diesen ganzen Reformprozess verleugnet Höcke implizit durch seine Einstellung zum Islam. Warum sollte man Reformen in der christlichen Welt als große Errungenschaft und unbedingte Notwendigkeit begrüßen, in der islamischen Welt aber mittelalterliche Verhältnisse „achten“, ohne den geringsten Versuch, etwas daran zu verbessern? Das passt logisch nicht zusammen.

Mit der These, dass der Islam zu „achten“ ist, wie er ist, also in seiner aktuell vorherrschenden traditionalistischen und islamistischen Form, ist die AfD keine islamfeindliche Partei mehr, ja sie ist noch nicht einmal mehr eine islamkritische Partei. Im Gegenteil. Mit dieser Grundeinstellung stehen alle Türen für eine Zusammenarbeit der AfD mit Traditionalisten und Islamisten offen! Und mehr noch: Die AfD hält auch nichts von der Unterstützung von Islamreformern, weil sie ja von Islamreformen generell nichts hält („Verwestlichung“). Dabei müsste das doch die klare Entscheidung auf der Grundlage unserer westlichen Werte sein, auch in unserem eigenen, langfristigen Interesse: Der islamischen Welt dabei zu helfen, dieselben Reformprozesse zu durchlaufen, die auch die christliche Welt durchlaufen hat. Genau wie beim Christentum auch, sind die Grundlagen dafür in den islamischen Traditionen selbst zu finden. Im Mittelalter war die islamische Welt sogar zeitweise fortschrittlicher als die christliche Welt.

Natürlich sollte man sich von Islamreformen keine Wunder erwarten. Aber es gibt nicht den geringsten Grund, diesen wichtigen Baustein im Umgang mit dem Islam zu vernachlässigen. Auch und gerade, um uns selbst treu zu bleiben.

(PS 25. April 2024: Der Co-Autor dieses Buches, Sebastian Hennig, konvertierte selbst im Jahr 1990 zum Islam. Er sieht den Islam in Opposition zur rationalen Moderne.)

Einzelthemen: Ökonomisch links

Höcke propagiert bekanntlich einen „Sozialpatriotismus“. In diesem Buch präsentiert sich Höcke als „Antikapitalist“ (S. 250 ff.). Über die Marktwirtschaft spricht er ungefähr so wie Sarah Wagenknecht: Zwar hätte er nichts gegen die Marktwirtschaft, aber dann wird doch deutlich, dass es um einen sehr stark steuernden Staat geht. Davon sprach er ja auch bei seinem Staatsverständnis (s.o.). Höcke erstrebt eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, „ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen.“ (S. 265 f.) Dem Leser drängt sich hier der Gedanke an einen Sozialismus „neuer Machart“ auf.

Höcke erzählt auch, wie er als Jura-Student in Bonn in einschlägige Kneipen ging, um mit Linksradikalen zu diskutieren (S. 144). Der Lebensabschnitt von Höckes Jura-Studium bleibt im ganzen Buch seltsam blass. Sollte Höcke als junger Mensch etwa eine „linke“ Phase gehabt haben? Doch das ist Spekulation.

Einzelthemen: Antiamerikanismus

In zahlreichen Äußerungen Höckes wird deutlich, dass er von den USA nicht viel hält und sich politisch von ihnen absetzen möchte. So spricht er z.B. vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39), was zumindest sehr einseitig ist. Oder dass die Alliierten Deutschland 1945 angeblich als Völkerrechtssubjekt hätten ausschalten wollen und nur wegen des Kalten Krieges nicht dazu kamen (S. 65), was einfach falsch ist, und zwar gerade was die gutmütigen und optimistischen Amerikaner anbelangt. Laut Höcke hätte US-Präsident Roosevelt gesagt, dass man „gegen die Deutschen an sich“ kämpfe (S. 216). Ein entsprechendes Zitat war nicht zu finden. Eine solche Aussage wäre im Kontext der Emotionalisierung des Weltkrieges auch nicht allzu verwunderlich. Die USA haben jedenfalls nicht in diesem Sinne gehandelt. Schließlich spricht Höcke auch noch von dem „alten Wirtschaftskrieg der Seemächte Großbritannien und USA gegen den Kontinent im 20. Jahrhundert“ (S. 279) Der Satz wäre vielleicht noch verständlich, wenn es nur um den Ersten Weltkrieg ginge. Aber der Bezugsrahmen ist das 20. Jahrhundert. Damit wird auch der Zweite Weltkrieg als Wirtschaftskrieg gedeutet. Das will doch etwas gewagt erscheinen.

Höcke hält die deutsche Bundeswehr für völlig fremdbestimmt, sie sei nie eine genuin deutsche Armee gewesen (S. 53). Wie es dann möglich ist, dass diese Bundeswehr durch einsame Entscheidungen von Kanzlerin Merkel gegen den Willen der Amerikaner heruntergewirtschaftet wurde, sagt Höcke nicht. Und dass ein Mangel an deutschem Selbstbewusstsein spätestens nach Ende des Kalten Krieges keine Fremdbestimmung mehr war, sondern selbstverschuldet, fällt bei dieser Analyse auch unter den Tisch.

Höcke wettert gegen die amerikanischen Neocons und deren angebliche Destabilisierungspolitik, und spricht von einer „bewusst geförderten muslimischen Masseneinwanderung nach Europa“ (S. 195). Diese Analyse will doch recht undifferenziert erscheinen: War das Ziel der Neocons wirklich die Destabilisierung? Wenn überhaupt, dann war es ein ungewollter Effekt. Sind alle Amerikaner Neocons? Wohl kaum. Hat z.B. Obama stabilisierend gewirkt, als er den Bürgerkrieg in Syrien anheizte und die Truppen aus dem Irak abzog? Eher nicht. Aber Obama war kein Neocon, und das ist der Punkt. Und waren es nicht Tsipras und Merkel, die 2015 die Migranten nach Europa und Deutschland hereinließen? Oh doch! Und war es nicht Hillary Clinton, eine amerikanische Spitzenpolitikerin, die meinte, die Deutschen sollten die massenhafte Aufnahme von Migranten besser wieder beenden, doch Merkel hörte nicht auf sie? Die Amerikaner schauen genauso staunend auf die „verrückten Deutschen“ wie alle anderen auch. Höcke hat damit eine völlig falsche Analyse der Wirklichkeit. Höcke will jedenfalls keine „Nibelungentreue zur US-geführten NATO“ (S. 279). Schließlich träumt Höcke vom Rückzug der Amerikaner aus Europa (S. 54).

Paradox, dass in diesem Buch auch erwähnt wird, dass die CIA schon 2008 vor diversen Szenarien warnte, die Höcke heute beklagt (S. 204). Wie ist das möglich, wo doch die USA an allem schuld sein sollen? Und selbst Höcke muss einräumen, dass die USA mit Donald Trump sogar einen Präsidenten hatten, der sich gegen manche zeitgeistige Verirrung wandte (S. 207).

Die Frage, wie es möglich sein soll, dass das kleine Deutschland sich in einer Welt von Großmächten souverän behauptet, ohne vereinnahmt zu werden, beantwortet Höcke an keiner Stelle. Die Idee, dass Deutschland sich einer der Großmächte anschließen muss, und dass die USA trotz allem die beste Wahl für einen Hegemon sind, bleibt undiskutiert.

Einzelthemen: Pro Russland und Islamische Welt

Höcke möchte zu einem „dauerhaften Ausgleich mit Russland“ kommen, weil es „einen dauerhaften Frieden in Europa niemals gegen Russland, sondern nur mit Russland geben kann.“ (S. 281) Wie das mit dem Kalten Krieg und der Notwendigkeit, die Freiheit gegen Russland zu verteidigen, zusammenpasst, sagt Höcke nicht. Auch nichts dazu, dass Russland keinen „Ausgleich“ will, sondern Herrschaft, und dass man diesem Bestreben etwas entgegensetzen muss.

An einer Stelle hört es sich sogar so an, als ob Höcke bereits 1945 ein Zusammengehen mit der Sowjetunion gegen die USA befürwortet hätte: „Ein Zusammengehen mit der Sowjetmacht war nach den schrecklichen Begleiterscheinungen des russischen Einmarsches in Ostdeutschland im Volk nicht vermittelbar.“ (S. 38) Ein seltsamer Satz, denn es hört sich tatsächlich so an, als würde sich Höcke wünschen, dass ganz Deutschland zu einer Groß-DDR unter der Führung der Sowjetunion geworden wäre. Man beachte auch, dass die schrecklichen Verbrechen der russischen Armee an der deutschen Zivilbevölkerung als „Begleiterscheinungen“ verharmlost werden, während Höcke gleichzeitig vollmundig vom „anglo-amerikanischen Bombenterror“ (S. 39) spricht.

Höcke träumt von geopolitischen Großräumen, in denen „raumfremde“ Mächte ein Eingriffsverbot haben (S. 283). Hier übersieht Höcke, dass Verbote nicht helfen. Mächte setzen sich durch, oder eben nicht. Auf „Raumfremdheit“ wird dabei leider keine Rücksicht genommen. Nicht Räume sondern Mächte bestimmen, was geschieht, und Deutschland ist ohne die Hilfe der USA an Russland ausgeliefert. Paradoxerweise erwähnt Höcke die Kooperation der osteuropäischen Visegrad-Staaten als Beispiel für die Durchsetzung nationaler Interessen (S. 283). Dass aber die osteuropäischen Staaten aus Angst vor Russland sehr an dem Bündnis mit den USA interessiert sind, sagt Höcke nicht.

Aber auch zur Türkei will sich Höcke in ein gutes Verhältnis setzen, denn sowohl mit Russland als auch mit der Türkei würden wir auf einem Doppelkontinent zusammenleben (S. 279). Mit der islamischen Welt strebt Höcke nach einem „modus vivendi, aber die intransigente Außenpolitik der USA, an die wir sklavisch gekettet zu sein scheinen, verhindert das.“ (S. 194) Höcke sieht eine „Anti-Islam-Koalition“, aus der er gern aussteigen würde (S. 195).

Einzelthemen: Der große Plan der Eliten?

Es ist sicher richtig, dass es einen Zeitgeist gibt, der in bestimmten Milieus besonders wirkt und auch von einem Teil der weltweiten Eliten geteilt und vorangetrieben wird. Ob Klima, Massenmigration, Wokismus oder Transhumanismus. Aber bei Höcke bekommt diese Analyse einen verschwörungstheoretischen Drive. Bei Höcke ist es kein Zeitgeist, sondern ein geheimer Plan, es sind nicht bestimmte Milieus und Teile der Eliten, sondern es ist „die“ Elite, und manche spontane Entscheidung wird zur lange geplanten Absicht umgedeutet.

Höcke sieht eine „geschlossene transatlantische Politelite“ (S. 201), wobei die politische Klasse als „Dienstklasse“ der wahren Eliten dahinter anzusehen ist (S. 206). Diese Politelite habe ein „hartes politisches Programm“, nämlich „die Entnationalisierung der europäischen Völker und die Umwandlung der bisherigen Nationalstaaten in multi-ethnische Gebilde“ (S. 201). Die Politik der Masseneinwanderung sei gezielt gewollt, es gehe um die Minorisierung der autochthonen Völker (S. 185, 187). Die Ereignisse des Jahres 2015 wären nicht geplant gewesen, aber die Eliten hätten die Gunst der Stunde genutzt (S. 206), um ihre Pläne durchzusetzen. Die Globalisten wollten eine Art „ethnische Säuberung“, nämlich den reinen Menschen ohne nationale Identität und ohne Tradition (S. 203).

Höcke spricht nicht davon, dass im Zuge der Euro-Krise 2015 der linksradikale Tsipras an die Regierung in Griechenland kam und daraufhin die EU-Außengrenzen rigoros öffnete, die bis dahin von den griechischen Grenzschützern gut bewacht worden waren. Das ist der wahre Hintergrund von 2015. Aber Tsipras besuchte kurz vorher noch Putin und das möchte Höcke wohl eher ungern diskutieren. – Zwei Beispiele von Aussagen der UN, die Höcke als Beleg für seine Thesen anführt (S. 205, 222), belegen eher etwas anderes: Nämlich dass die Eliten unglaublich naiv sind bezüglich der Integrationsfähigkeit von massenhaft ins Land kommender Zuwanderer.

Diese unglaubliche Naivität und Weltfremdheit von Teilen der Elite, sowie das Konglomerat an sekundären Interessen vieler Nutznießer des Systems, die den Zirkus trotz seiner Sinnlosigkeit am Laufen halten, hätte Höcke analysieren müssen, um zum wahren Kern der Probleme vorzustoßen. Eine Verschwörung von Eliten ist maximal die halbe Wahrheit.

Einzelthemen: Völkisches Denken? Biologismus?

Auf die heikle Frage, wie Höcke „Volk“ versteht, werden einige Seiten des Interviews verwendet (S. 126-134). Höcke versteht ein Volk im wesentlichen kulturell und wendet sich gegen einen „biologischen Reduktionismus“, doch Abstammung sei nun einmal eine biologische Tatsache, die weitgehend innerhalb einer Gruppe geschehe (S. 128). Ein Volk sei aber nicht nur Verwandtschaft (S. 132). Biologistisches Denken gäbe es gerade bei Deutschlandhassern (S. 131).

Soweit hört sich das gut an, doch es ist nicht gut genug. Denn gegen einen biologischen „Reduktionismus“ zu sein heißt nicht, das Biologische für irrelevant zu erklären; erst recht nicht, wenn man gleich hinterherschiebt, dass Abstammung eine Tatsache sei und Gruppen sich angeblich so gut wie nicht mischen würden – was vielleicht so sein mag, doch mit Biologie kann und darf nationale und kulturelle Identität nichts zu tun haben! Auch der Satz, dass ein Volk „nicht nur“ Verwandtschaft sei, betont die Verwandtschaft doch immer noch sehr.

Man hätte sich einen klaren Satz gewünscht, dass allein die Kultur zählt, und die Biologie im Grunde völlig irrelevant ist, jedenfalls für die nationale Identität (für die Vererbung von Intelligenz mag sie eine gewisse Rolle spielen: Ein Thema, das Höcke interessanterweise nirgends anschlägt). Man hätte sich einen Satz gewünscht, dass z.B. ein asiatisches oder schwarzes Waisenkind, das von einer deutschen Familie adoptiert und erzogen wurde, allein aufgrund seiner kulturellen Assimilation vollkommen deutsch ist, ohne wenn und aber und radikal unabhängig von der Biologie. Doch ein Satz in dieser Klarheit fehlt.

Statt dessen finden sich einige Aussagen, die begründet vermuten lassen, dass Höcke der Biologie doch eine größere Rolle bei der Identität von Menschen zuschreibt. Von den USA sagt Höcke, dass sich die Weißen und die Schwarzen vor ihrer Einwanderung nach Amerika „aus mehreren hochdifferenzierten Völkern mit eigenen Identitäten zusammen“ setzten, doch „jetzt sind sie in einer Masse aufgegangen. Diesen Abstieg sollten wir als Europäer vermeiden und die Völker bewahren.“ (S. 133) Hier ignoriert Höcke völlig, dass die Amerikaner in den USA zu einer neuen Nation zusammengewachsen sind, mit eigenen Mythen und eigener Identität, die unseren europäischen Nationen in nichts nachsteht. Und Höcke ignoriert, dass die spezifischen Probleme mit den Schwarzen in den USA natürlich darauf zurückzuführen sind, dass diese erst einmal als Sklaven nach Amerika geholt wurden. Doch Höcke sieht die Vermischung von Menschen verschiedener Herkünfte zu einer neuen Nation anscheinend als ein grundsätzliches Problem und als eine Ursache für „Abstieg“ an. Höcke spricht von „Masse“. Doch sind die USA abgestiegen und identitätslos vermasst? Nein, denn es ist eine der reichsten und mächtigsten Nationen auf Erden, und sie hat nicht weniger Selbstbewusstsein als irgendeine andere Nation!

Höcke meint auch, dass bei einem Versuch, Trumps Veränderungen wieder zurückzudrehen, „ein Aufstand der weißen Arbeiterklasse“ drohe (S. 209). Da fragt man sich: Warum ausgerechnet der „weißen“ Arbeiterklasse? Die US-Republikaner sind jedenfalls immer sehr stolz darauf, dass Trump gerade auch bei den Schwarzen und Latinos der Arbeiterklasse gute Wahlergebnisse erzielt hat, weil es Trump gelungen wäre, das Narrativ der Demokraten zu durchbrechen, dass es Rassenprobleme gäbe, wo es in Wahrheit doch vor allem soziale Probleme seien. Höcke scheint das anders zu sehen.

Schließlich präsentiert Höcke für den Fall eines siegreichen Multikulturalismus die Dystopie des Rückzugs der Deutschen in „gallische Dörfer“ auf dem Land, wo sie gewissermaßen überwintern und eines Tages von dort aus die „Rückeroberung“ starten (S. 253). Das Problem, das hier deutlich wird, ist die völlig Ablehnung jeder kulturellen Veränderung durch Vermischung.

Natürlich bringt der ungesteuerte und ideologisch verblendete Multikulturalismus einen Niedergang der gewachsenen deutschen Kultur mit sich, der ungerecht und schlimm für alle ist, auch für die Zuwanderer. Es ist ja gerade nicht wie in Amerika, wo die Menschen verschiedener Herkünfte eine neue gemeinsame Zukunft, eine neue gemeinsame Nation errichteten, sondern Multikulti heißt, dass jeder seiner Herkunft verhaftet bleibt und unverbundene Parallelgesellschaften entstehen. Ein Land wie Syrien oder der Balkan würde das Ergebnis sein, wo verschiedene Religions- und Volksgruppen sich dermaßen misstrauen, übervorteilen und ja: auch bekämpfen, dass der Gemeinsinn darüber verloren geht. Deshalb muss der Untergang einer gemeinsamen und organisch fortentwickelten, deutschen Kultur zum Wohle aller verhindert werden. Im Idealfall würde die deutsche Kultur durch Zuwanderung so bereichert werden, wie einst Preußen durch die zugewanderten Hugenotten. Das wäre ein lohnendes, gemeinsames Zielbild für Deutsche und Zuwanderer. Dazu müssten sich aber auch die Deutschen ein wenig konstruktiv einbringen. Davon ist bei Höcke aber absolut nichts zu sehen.

Doch auch im Falle von Höckes Dystopie, dass der Multikulturalismus die deutsche Kulturnation zerstören wird, liegt Höcke falsch: Denn irgendwann, nach langen und schlimmen Turbulenzen, werden sich die Bewohner dieses Landes zeitlich und kulturell so weit von ihren Wurzeln entfernt haben, dass sie zu einer neuen Nation, vielleicht auch mehreren neuen Nationen, verschmelzen können. Das wird dann keine deutsche Nation mehr sein, und es mag Jahrhunderte dauern und viele leidvolle Umwälzungen über die Menschen bringen, aber es wird wieder eine Nation sein. Die Geschichte bleibt nicht stehen. Wenn die deutsche Kulturnation tatsächlich verloren sein wird, wird diese Vision die nächstbeste Perspektive sein. Doch ausgerechnet Höcke, der sich immer so gerne konstruktiv einbringen möchte, will sich nicht konstruktiv in diese neu entstehende Nation einbringen, sondern er will sich trotzig in „gallische Dörfer“ auf dem Land zurückziehen, von wo nach Jahrhunderten unvermischte Deutsche zu einer „Rückeroberung“ aufbrechen sollen. Das ist schon ein ziemliches groteskes Bild. In der Praxis würde es wohl darauf hinauslaufen, dass diese zurückgezogenen Deutschen die ewigen Hinterwäldler bleiben und irgendwann aussterben.

Die Geschichte ist kein Wunschkonzert und sollte uns lehren, wie wertvoll die Kultur ist, die wir haben. Sie ist viel leichter zerstört als wieder aufgebaut. Angesichts des Wahnsinns in der Welt ist es überhaupt ein Wunder, wie die westlichen Nationen mit ihren humanistisch entwickelten Nationalkulturen, mit Rationalität, Wissenschaft, Demokratie und Marktwirtschaft, entstehen konnten.

Einzelthemen: Nationalsozialismus

Wir sahen bereits oben, dass sich Höcke Edgar Jung sehr verbunden sieht (S. 77), einem Denker der „Konservativen Revolution“, der mit Hitler über seinen Beitritt zur NSDAP verhandelte. Anders als die Nationalsozialisten lehnte Jung den Rassegedanken ab, weil er auf den Gedanken des Volkstums setzte. Er war zudem undemokratisch und antisemitisch. Man mag Edgar Jung mit einiger Spitzfindigkeit nicht für einen Nationalsozialisten halten, ein Rechtsradikaler war er jedoch in jedem Fall. Wie gesagt, unterbleibt eine genau Diskussion des Verhältnisses von Höcke zu Jung.

Das ganze Buch hindurch kommt es zu einem name-dropping von mehr oder weniger „rechten“ Autoren, so z.B. Carl Schmitt (S. 274, 287), Alain Finkielkraut (S. 201), David Engels (S. 203), Wolfgang Caspart (S. 105), oder eben Edgar Jung (S. 28, 77). Das allein kann aber kein Vorwurf sein. Schon seltsamer ist, dass Höcke vom Faschismus sagt, dass er „eine geschichtlich und räumlich begrenzte Erscheinung gewesen“ sei und „heute in Deutschland nur als bizarrer Fremdkörper existieren“ könne (S. 141). Man beachte, dass es um Faschismus geht, nicht um Nationalsozialismus. Man beachte auch, dass der Faschismus für Höcke „heute“ ein Fremdkörper wäre – damals nicht?

Eine direkte Kritik des Nationalsozialismus wird nicht formuliert, wohl aber eine Kritik am „NS-Imperialismus, der eine Missachtung des Selbstbestimmungsrecht der Völker war und anstelle der nationalen Identitäten das Prinzip der Rasse favorisierte.“ (S. 283) Das ist aber nur eine Kritik an der Außenpolitik des Nationalsozialismus, nicht an dessen Innenpolitik. Und das Wort „favorisierte“ formuliert keine völlige Absage an den Rassegedanken. Außerdem ist auch das nationale oder völkische Prinzip von übel, wenn man es als oberstes Prinzip definiert. Die Nation ist sicher ein hohes Gut, aber es gibt doch noch ein paar Dinge, die noch wichtiger sind. Bei Höcke ist die Nation oder das Volk aber immer oberstes Prinzip.

Für die Deutschen 1945 sieht Höcke einen „Vorsprung der Besiegten“ (S. 64). Damit meint er, dass die Besiegten genötigt sind, an sich zu arbeiten und dadurch aufsteigen, durch einen „Erkenntnisgewinn“, so Höcke – während die Sieger sich satt auf ihren Lorbeeren ausruhen und deshalb abfallen. Doch ist das wirklich die Situation von 1945? Damals war Deutschland nicht nur ökonomisch und militärisch besiegt, sondern insbesondere auch moralisch. Der Erkenntnisgewinn der Deutschen war praktisch gleich null, denn wie Helmut Schmidt treffend formulierte, wusste er auch schon vor dem Nationalsozialismus, dass man nicht töten soll. An dieser Stelle wird implizit deutlich, dass Höcke den Charakter der Niederlage von 1945 nicht verstanden hat. Es hat zwar der Stärkere den Schwächeren besiegt, ja, aber das ist nicht der Punkt.

Ebenfalls höchst peinlich ist Höckes Aussage, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). In Preußen ja. Aber in Österreich? Ganz gewiss nicht! Österreich zerfiel an der Herausbildung der Nationalstaaten und blockierte sie, solange es ging, was ein Grundübel dieser Zeit war. Wie kommt Höcke dazu, so etwas zu sagen? Man kann eine Absicht erkennen, wenn man sich ansieht, dass Höcke hier von Preußen und Österreich als „den beiden deutschen Hauptmächten“ spricht. Es geht ihm also um Deutschland. Und da gehört Österreich für ihn offenbar dazu. Um Österreich in diese Aussage mit aufnehmen zu können, begeht Höcke sogar die historische Unwahrheit, dass der Nationalstaat in Österreich gut funktioniert hätte. – Höcke hätte besser daran getan zu sagen: Mit Preußen war der Nationalstaat in Deutschland erfolgreich. Punkt. Und wenn überhaupt, dann hätte er dies hinzufügen sollen: Österreich gehört seit dem Zeitalter der Nationalstaaten nicht mehr zu Deutschland, wird nie mehr dazu gehören, und war als Nationalstaat im 19. Jahrhundert auch nicht erfolgreich. Aber das war offensichtlich nicht das, was Höcke sagen wollte.

Wenn wir in einem Brainstorming in aller Kürze einige Vergleichspunkte von Höckes Ideenwelt mit dem Nationalsozialismus durchgehen, dann haben wir bis jetzt folgendes gefunden: Zunächst Edgar Jung, der völkisch, antidemokratisch und antisemitisch ist. Einen höheren Wert als die Nation nennt Höcke nicht. Biologistisches Denken wird zwar in die zweite Reihe verbannt, jedoch nicht völlig abgelehnt. Der Humanismus von Höcke ist rein romantisch-gefühlig, keinesfalls vernünftig und aufgeklärt zu verstehen. Höcke will eine post-kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne in einen lähmenden Sozialismus alter Machart zu verfallen. Was sich wie nationaler Sozialismus anhört, nennt er Sozialpatriotismus. Gegen anti-humanistische Strömungen im Islam möchte Höcke keine Einwände erheben und sie „achten“. Nietzsche und die Romantik sind für Höcke sehr wichtig. Und eine Volkskirche soll errichtet werden, die ein wenig an das „positive Christentum“ aus Hitlers Parteiprogramm erinnert.

Und an dieser Stelle erhebt sich die Frage, wie der Titel des Buches eigentlich zu verstehen ist: „Nie zweimal in denselben Fluss“. Höcke beschreibt, wie er von seinem Vater lernte, „dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen könne, und es also ein unmögliches Unterfangen darstelle, vergangene Zustände zu wiederholen“ (S. 24). Wenn wir diesem Gedanken die Aussage Höckes gegenüberstellen, dass der Faschismus „heute“ ein bizarrer Fremdkörper wäre, drängt sich einem der Gedanke auf, dass der Buchtitel wohl sagen soll: Wir sind dieselben von damals, und wir wollen im Grundsatz dasselbe wie damals, aber unter den veränderten historischen Umständen kommen wir mit denselben Grundsätzen zu anderen Schlussfolgerungen und zu einer anderen Politik. Nie zweimal in denselben Fluss eben.

Einzelthema: Preußen

Immer wieder und wieder rekurriert Höcke auf Preußen als ein großes Vorbild. Es sind mindestens fünfzehn Stellen. An einer Stelle des Buches ist von der „Re-Preußifizierung“ Deutschlands die Rede: Für Höcke soll zwar nicht nur aber eben auch der Geist Preußens eine besondere Rolle bei der Rekonstruktion Deutschlands spielen (S. 288). Doch Höcke zeichnet ein höchst einseitiges Bild von Preußen: Bei Höcke geht es vor allem um Härte, Entbehrung und Pflichterfüllung, oder um den Staatsapparat, die Armee und das Bildungswesen (z.B. S. 36, 213, 287-290). Friedrich der Große wird mehrfach dazu herangezogen, um Positionen Höckes zu legitimieren, so z.B. seinen Agnostizismus (S. 50) oder seine Polemik gegen das Links-Rechts-Schema (S. 136). Wobei Friedrich der Große eigentlich kein Agnostiker war, sondern ein philosophischer Theist, aber das nur am Rande.

Völlig ungesagt bleibt, dass Friedrich der Große die Aufklärung in Deutschland maßgeblich vorantrieb, und dass der preußische Philosoph Immanuel Kant den kritischen Rationalismus etablierte. Auch von Wilhelm und Alexander von Humboldt hören wir bei Höcke nichts. Insbesondere hören wir auch nichts zu der glücklichen Rezeption der griechisch-römischen Antike in jener Zeit, ganz im Sinne Goethes. Preußen war eben Klassik und keine Romantik, also das Gegenteil dessen, was Höcke bevorzugt.

Dass Preußen „die Vernunft und das klassische Maß“ repräsentiert, weiß und sagt Höcke auch an einer Stelle (S. 75). Wie das mit seinem Hang zur Romantik zusammenpasst, sagt er jedoch nicht. Schlimmer noch: An genau dieser Stelle wurde die Frage nach der Irrationalität Nietzsches und der Deutschen insgesamt aufgeworfen, und Höcke nennt die Klassik und Preußen als Beispiele, dass die Deutschen doch sehr vernünftig seien – doch Klassik und Preußen sind nur dann ein Gegenmittel gegen Irrationalität und Romantik, wenn man sie der Irrationalität und der Romantik als das Bessere gegenüberstellt! Aber genau das tut Höcke hier nicht. Höcke missbraucht vielmehr die Klassik und Preußen an dieser Stelle, um Bedenken gegen Irrationalität und Romantik zu zerstreuen, indem er von der Existenz irrationaler Strömungen wie der Romantik ablenkt und auf die Klassik und Preußen verweist, wie wenn es Nietzsches Irrationalität und die Romantik nicht gäbe! – Gegen Ende des Buches strebt Höcke eine Synthese des Geistes von Potsdam mit dem Geist von Weimar an (S. 290). Auch diese Forderung bleibt völlig oberflächlich, da unklar bleibt, wie sie mit den Tiefenschichten von Höckes Denken zusammengeht.

Höcke stellt auch die bekannte preußische Toleranzformel, dass jeder nach seiner Façon selig werden soll, auf den Kopf. Er wendet sie nämlich auf traditionalistische und islamistische Formen des Islams an, die wir „achten“ sollten (S.197). Wie wir oben schon sahen, können wir dies nicht, wenn wir unsere eigenen Werte ernst nehmen. Wir können verschiedene Anschauungen nur insoweit tolerieren, insoweit sie humanistischen Maßstäben genügen, also z.B. ein Islam im Sinne der islamischen Humanisten, die es ja gibt. Dass Höcke die preußische Toleranzformel zitiert, um Respekt vor antihumanistischen Vorstellungen einzufordern, ist sehr unpreußisch. Damit werden auch andere Erwähnungen der preußischen Toleranz in diesem Buch fragwürdig, weil man nicht stillschweigend voraussetzen kann, dass Höcke auf dem Boden des preußischen Humanismus steht (S. 31, 32, 288).

An einer Stelle wird deutlich, welche Rolle Preußen für Höcke tatsächlich spielt. Auf die Frage, ob man denn anstelle des „harten“ Nationalsozialismus nicht eine „weiche“ Variante von Faschismus propagieren sollte, zieht Höcke die Parallele zur faschistischen Casa-Pound-Bewegung in Italien, die dort seit 2003 als „soziale Bewegung“ für die Propagierung des Faschismus agiert, und sagt: „Eine ‚Casa Pound-Bewegung‘ … brauchen wir Deutschen aber nicht: wir haben Preußen als positives Leitbild.“ (S. 142)

Damit ist klar: Für Höcke spielt Preußen die Rolle eines ideologischen Bahnbrechers. Höcke rekurriert auf Preußen, weil er darin ein ideales Vehikel sieht, um seine Ideen zu transportieren. Darum geht es. Etwas schärfer formuliert, könnte man die Frage stellen, ob Höcke Preußen nicht einfach als „unverbrannten“ Platzhalter nach vorne schiebt, weil man den Faschismus heute in Deutschland in keiner Form mehr propagieren kann? Im Grunde würde es sich dann wie mit der Reichskriegsflagge der kaiserlichen Marine verhalten: Ursprünglich war die Reichskriegsflagge überhaupt nicht rechtsradikal konnotiert, doch da man die faschistischen Symbole nicht mehr zeigen konnte, suchten sich die Neonazis Ausweichsymbole, und so verfiel man auf die Reichskriegsflagge.

Für Höcke geht es bei Preußen nicht um Preußen, soviel scheint klar. Preußen ist für Höcke nur eine Chiffre, die er benutzt und nach eigenem Gutdünken mit Bedeutung auflädt. Das wird einerseits daran deutlich, dass Höcke eher ein Freund von Nietzsche und der Romantik als der Klassik und Preußens ist. Es wird daran deutlich, was Höcke in Preußen sieht und was nicht (s.o.). Und es wird daran deutlich, dass Höcke an keiner Stelle sagt, dass er Preußen als Bundesland wiederherstellen möchte. Denn das wäre das naheliegendste für jeden Preußenfreund. Doch dazu kein Ton. Es wäre auch verwunderlich. Das reale Preußen würde Höcke gar nicht in den Kram passen. Das reale Preußen wäre keine Chiffre mehr, die man nach Belieben aufladen kann. Zudem wendet sich Höckes Freund Gauland vehement gegen die Wiederherstellung Preußens. Gauland hätte es lieber gesehen, wenn Österreich und nicht Preußen die deutsche Einheit hergestellt hätte. Auch Höckes spiritus rector Götz Kubitschek scheint in dieser Frage Gauland nahe zu stehen. Wir erinnern hier noch einmal an die oben besprochene Aussage Höckes, dass der Nationalstaat „in Preußen und Österreich“ vorbildlich funktioniert habe (S. 259). Kein Preußenfreund würde so einen Unsinn verzapfen.

Höcke missbraucht Preußen, und dieser Missbrauch Preußens wird auch durch den folgenden Umstand sehr deutlich: Wie gesehen, will man Deutschland re-preußifizieren. Doch kein Mensch, der Deutschland verstanden hat, wird Deutschland re-preußifizieren wollen! Denn Deutschland ist in Länder gegliedert, und jedes Land hat seine ganz eigenen Traditionen. Die Bayern würden sich über eine Re-Preußifizierung schön beklagen! Schon Kaiser Wilhelm II. echauffierte sich über die Nationalsozialisten, weil sie nicht begreifen wollten, dass man Deutschland nicht als zentralen Einheitsstaat regieren kann. Was man re-preußifizieren müsste, wäre natürlich Preußen selbst, als ganz normales Bundesland, bestehend aus den Gebieten, die in der ehemaligen DDR liegen – aber genau das kommt bei Höcke nicht vor. Wo Höcke von Preußen spricht, spricht er immer nur von ganz Deutschland, nie von Preußen. Niemand, dem es um Preußen ginge, würde das tun.

Über dieses Buch hinaus

Björn Höcke hat immer wieder durch Reden auf sich aufmerksam gemacht, bei denen er beinahe etwas sagte, es dann aber doch nicht ganz sagte – aber irgendwie doch recht auffällig in eine bestimmte Richtung tendierte. Am Anfang waren es die 1000 Jahre. Für sich allein genommen völlig unauffällig. Dann folgte 2015 eine Rede, in der Afrikanern aufgrund der Evolution ein anderes Fortpflanzungsverhalten unterstellt wurde. Evolution konnte man allerdings auch sozial verstehen, und die Forderung nach einer Veränderung der Politik in Afrika unterstrich, dass es nicht genetisch gemeint war. In seiner sehr bekannt gewordenen Dresdner Rede 2017 sprach Höcke vom Holocaust-Denkmal doppeldeutig als dem „Denkmal der Schande“, und forderte eine 180-Grad-Wende der Vergangenheitspolitik. Im Jahr 2020 wollte Höcke dann unliebsame Parteifreunde aus der AfD „ausschwitzen“. Und 2021 schloss Höcke dann eine Rede mit dem SA-Wahlspruch „Alles für Deutschland“. Jeder einzelne Fall ist für sich allein genommen harmlos oder könnte auch als Versehen oder Doppeldeutigkeit gedeutet werden. In der Serie wird dann aber doch recht deutlich, wohin die Reise geht. Die Methode wird natürlich erst nach einer Reihe von Vorfällen durchschaubar.

An einigen Stellen des Buches verteidigt sich Höcke gegen diverse Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Doch leider nicht erfolgreich. Nicht Höcke, sondern der Interviewer wiegelt Vorwürfe mit der rhetorischen Frage ab: „Wer ist wirklich schon einmal einem echten Nazi begegnet?“ (S. 90) Das ist nun wirklich keine valide Verteidigung. Seine Dresdner Rede versucht Höcke dadurch zu verteidigen, dass er seine 180-Grad-Wende in der Gedenkkultur nicht wörtlich gemeint habe (S. 66 f.). Doch dass eine 180-Grad-Wende eine Wende ins Gegenteil ist, ist allgemein bekannt. Auch die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Denkmal der Schande“ unterschlägt Höcke (S. 68). Höcke betreibt die Verteidigung des Einzelfalls, unterschlägt aber, dass es eine Serie von Einzelfällen ist, die eine Absicht erkennbar werden lässt.

Höcke versucht auch immer wieder, das politische Links-Rechts-Schema auszuhebeln (S. 136, 138, 143 ff., 146 ff.). Mit dieser Technik laviert er sich regelmäßig um die Frage nach seiner Radikalität herum, die ihm auch in diesem Buch gestellt wurde, und vermeidet auch sonst jede Festlegung. Richtig ist allerdings, dass der historische Nationalsozialismus auch nicht einseitig für links oder rechts erklärt werden kann. Er hatte Aspekte von beidem. Aber Höcke wird doch nicht dem historischen Nationalsozialismus nacheifern wollen?

Höcke betont das ganze Buch über seine Verbundenheit zur Pegida-Bewegung (S. 110 f., 113, 210, 233 f., 238). Pegida machte am Anfang mit höchst legitimen Forderungen auf sich aufmerksam, entpuppte sich dann aber als eindeutig zu rechts. Frauke Petry war damals zu einem Gespräch mit den Pegida-Organisatoren gegangen und von dort ernüchtert zurück gekommen. Höcke ist Pegida treu geblieben. – Von Höckes Verbindung zu Götz Kubitschek ist im ganzen Buch nicht die Rede. Kubitschek wird nur einmal beiläufig zitiert (S. 93). Wie so oft, ist auch hier das Schweigen Höckes bezeichnend.

Manche versuchen ein gutes Bild der AfD zu retten, in dem sie Björn Höcke als Einzelfall darstellen. Höcke sei zwar schlimm, die AfD aber im ganzen in Ordnung. Doch Björn Höcke ist nicht irgendwer in der AfD, er ist nicht nur der Platzhirsch in Thüringen. Höcke ist einerseits die beherrschende Figur im sogenannten „Flügel“, einer informellen (und angeblich aufgelösten) innerparteilichen Sammlungsbewegung des rechten Flügels in der AfD. Andererseits nennt Alexander Gauland Björn Höcke immer wieder „seinen Freund“. Und nicht zuletzt ist Höcke eng verbunden mit Götz Kubitschek, den rechten Vordenker, der von Schnellroda die Strippen zieht. An diesen drei, am Flügel, an Alexander Gauland und an Götz Kubitschek kommt in der AfD heute niemand mehr vorbei, und damit nicht an Björn Höcke.

Aufruf zur Selbsterkenntnis

Der ideologische Hauptgegner von Björn Höcke und der AfD sind angeblich die Grünen. Deshalb mag es erkenntnisfördernd sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grünen und die AfD bzw. Björn Höcke sich ähnlicher sind, als beide Seiten wahrhaben wollen. Sie sind perfekte Spiegelbilder und teilweise sogar auf gleicher Linie.

  • Die Grünen mögen die Rationalität nicht. Sie setzen lieber auf Emotionen. Aber das finden wir auch bei Höcke wieder: Romantik und Nietzsches Irrationalität liegen Höcke mehr als die Klassik und die Rationalität Preußens.
  • Höckes Lieblingsphilosoph Nietzsche ist über das Zwischenglied der Postmoderne der große Vordenker des heutigen Wokismus. Es klingt in der Tat sehr woke, wenn Höcke eine gewisse „Wirklichkeitsverachtung“ fordert (S. 61). Man fühlt sich an Robert Habeck erinnert, der sich „von Wirklichkeit umzingelt“ sieht.
  • Sowohl Grüne als auch Rechtsradikale wollen keine Integration von Ausländern. Die Grünen wollen es nicht, weil sie auf Multikulti bzw. „Vielfalt“ setzen, und jede Anpassung von Zuwanderern als Zumutung betrachten. Deshalb sprechen die Grünen heute oft auch von „Inklusion“ statt von „Integration“: Teilhabe ohne jede Anpassung. Die Rechtsradikalen wollen keine Integration, weil sie nur die beiden Extreme Assimilation oder Abschiebung kennen.
  • Beim Islam wollen die Grünen und Höcke von Reformen nichts wissen. Wir Deutschen müssten das Fremde achten wie es ist, lautet die Forderung von beiden. Islamkritik, und sei sie noch so konstruktiv, gilt beiden ein Zeichen mangelnden Respekts vor dem „Fremden“. Islamreformer sind für die Grünen wie für Höcke böse Menschen, die den Islam „verwestlichen“ wollen.
  • Die Grünen und Höcke möchten ansonsten mit dem Islam einfach nichts zu tun haben. Der Unterschied ist lediglich dies: Während Höcke den Islam komplett aus Deutschland verbannen möchte, möchten die Grünen den Islam in eine Parallelgesellschaft in Deutschland verbannen. Alles „Fremde“, was Grüne an einem unreformierten Islam tolerieren möchten, würden sie in ihrem eigenen Umfeld niemals dulden. Und so kommt es, dass es dort, wo die typischen Grün-Wähler wohnen, nur wenig Muslime und keine Moscheen gibt.
  • Die Grünen und Höcke träumen beide von einer Absage an Kapitalismus und Konsum. Beide wollen dazu den starken Staat. Höcke spricht davon, „die Bescheidung im Materiellen“ mit „der Vertiefung des Immateriellen“ zu kompensieren (S. 271). Ein Grüner hätte es nicht besser sagen können.
  • Mit Heidegger ist Höcke gegen „Technikgläubigkeit“ und tritt für die Bewahrung der Natur ein (S. 79). Grüner als grün geht nicht.
  • Und so, wie die Grünen ihre „große Transformation“ der Gesellschaft mit jener unbelehrbaren Rücksichtslosigkeit vorantreiben, die schon immer einer der schlechtesten Charakterzüge des deutschen Wesens war, und so, wie auch Angela Merkel ihre Migrationspolitik auf einem CDU-Parteitag am 14.12.2015 rücksichtslos mit den Worten vorantrieb: „Wie kann sie sagen, wir schaffen das? Und ich antworte Ihnen, ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“, so kokettiert auch Höcke mit diesem schlechten deutschen Charakterzug, „keine halben Sachen“ zu machen (S. 258; vgl. auch S. 215), statt die deutsche Kultur zu mehr Rationalität und Skepsis zu entwickeln: Denn das ist es, was jemand tun müsste, der Deutschland und die deutsche Kultur liebt.

Folgende Ratschläge können dem Leser dieser Rezension zur Überwindung der Irrtümer gegeben werden:

  • Rationalität und Klassik müssen den unbedingten Vorrang vor Romantik und Irrationalität haben. Romantik und Phantasie sind erlaubt und nützlich, aber nur, wenn sie von Rationalität eingehegt stattfinden.
  • Der heilsame Einfluss der griechisch-römischen Antike auf unsere Kultur, mithin der klassische Humanismus, ist vollauf anzuerkennen, noch vor dem Einfluss des Christentums oder irgendeiner anderen traditionellen Religion oder Philosophie.
  • Es muss belletristische Literatur gelesen werden! Nicht nur Philosophen und Politiker. Und wenn Philosophen, dann auch antike Autoren, nicht nur moderne.

Dann wird man wie von selbst auf die richtigen Schlüsse kommen:

  • Nationalismus, Rassismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus: Alles nur Mist.
  • Antikapitalismus und Antiamerikanismus sind olle Kamellen von anno ’68, die abzulegen sind.
  • Die westlichen Werte sind wertvoll und universal und keinesfalls mit Multikulti und Wokismus zu verwechseln.
  • Deutschland wird am ehesten durch Preußen definiert. Weniger durch Sachsen oder Bayern. Und gar nicht durch Österreich. Österreich ist eine eigenständige Nation geworden, die nicht mehr zu Deutschland gehört. Genau wie die Schweiz auch.
  • usw. usf.

Großes Fazit

Kehren wir am Ende dieser Besprechung an den Anfang des Buches zurück, zur Kindheit Björn Höckes (S. 41 f.). Wir lesen, dass Björn Höcke „kein Bücherwurm“ war, „und wenn dann nur sehr unfreiwillig Stubenhocker.“ Er bevorzugte es, in einem Kleinkrieg von Kinderbanden den Bandenführer zu spielen. Er „verbrachte viele Stunden … im Kampf“ und als „Draufgänger“, und wurde von der Kindergärtnerin zur Strafe in die Ecke geschickt. Sie hatte „den Lausbuben“ aber doch ins Herz geschlossen. Wir lesen außerdem immer wieder, dass Björn Höcke „anarchische“ Züge hatte: Autoritäre Verhältnisse waren ihm immer zuwider (S. 47). Auch über seine Zeit bei der Bundeswehr sagt Höcke: „Der Kommiß mit seiner Hierarchie lag mir nicht sehr.“ (S. 52). Und auch an Nietzsche faszinierte den jungen Höcke, „wie Nietzsche … alles gnadenlos hinterfragte: die Moral, die Tradition, die Philosophiegeschichte. In seinem Voluntarismus fand ich meinen eigenen Tatendrang und Optimismus wieder, ebenso die Verachtung gegenüber dem Erstarrten und Verkrusteten.“ (S. 57) Auch bei Schopenhauer ging es Höcke vor allem um den Widerstand gegen Autoritäten und um Kritik am Establishment (S. 76).

Es scheint, als seien wir hier ganz nah am wahren Wesen von Höcke: Höcke war nie ein Bücherwurm, nie ein Mensch der Ordnung, sondern ein Tunichtgut, ein Lausbub, voller anarchischem Tatendrang. Dieses Wesen seiner Kindheit scheint sich Höcke bewahrt zu haben, nur dass er es jetzt polit-philosophisch zu legitimieren weiß. Heute beschwört Höcke eben Nietzsche und die Romantik, und mit Ordnung und Hergebrachtem weiß er auch heute nicht viel anzufangen.

Zum Schluss ein Fehler: Dem Buch ist ein Sinnspruch von Theoderich dem Großen vorangestellt: „Es gilt der Heimat, auch wenn wir nur zu spielen scheinen.“ Im Original lautet dieses Zitat wie folgt: „Sit ergo pro re publica et cum ludere videmur.“ (Cassiodor Variae I 45) Es geht im Original also gar nicht um „Heimat“, was sehr romantisch klingt, sondern um die „res publica“, also um das „Gemeinwesen“ bzw. den „Staat“, was sehr klassisch und preußisch gedacht ist. Wenn der Grundirrtum schon in der Widmung zum Vorschein kommt, ist Umdenken ernstlich angezeigt!

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

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