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Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow (1879/80)

Dostojewskis größtes Werk: Der Seelenzustand Russlands vor Gericht

Der Roman „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte und zugleich der großartigste Roman von Fjodor Dostojewski, in dem alle Themen seiner früheren Romane wiederkehren und zu neuen Höhen geführt werden.

Ort der Handlung ist eine russische Kleinstadt mit ihren Bewohnern, in denen sich Russland wiederspiegelt. Russland spiegelt sich auch in der Familie Karamasow wieder, die aus dem Vater Fjodor Pawlowitsch, den drei Söhnen Dimitri, Iwan und Alexei, sowie dem unehelichen Sohn Smerdiakov besteht. Die Mütter sind bereits alle verstorben. Im Vater zeigt sich der Verfall der russischen Familie, die ihre Kinder vernachlässigt. Dimitri (Mitja) ist die unverfälschte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit, ein Schuft und ein Ehrenmann zugleich. Iwan ist der Intellektuelle, der von der westlichen Aufklärung zu Materialismus, Sozialismus und Zynismus verführt wurde und über den daraus folgenden Konsequenzen in seiner Seele zerrissen ist und nervlich zu Tode erkrankt. Smerdiakov ist ungeliebt, herabgesetzt, halbgebildet und selbstverliebt, und begeht den Mord an seinem Vater, nachdem er sich von Iwan auf psychologisch subtile Weise dessen unbewusstes Einverständnis besorgt hat. Alexei (Aljoscha) ist schließlich eine sanfte und offenherzige Seele, ein Gottesnarr, der immer nur das Gute will und immer nur die Wahrheit sagt. Von ihm heißt es, er habe sich in einer Fluchtbewegung vor den Schrecken der Aufklärung dem Glauben der russischen Orthodoxie zugewandt. Seine Gefahr sei es deshalb, dem Mystizismus und Chauvinismus (Nationalismus) zu verfallen, was vielleicht noch schlimmer sei als die Irrtümer der westlichen Aufklärung, wie es im Roman heißt.

Dennoch ist Aljoscha die heilste Seele von allen. Von seinem geliebten Staretz, der zu Beginn der Handlung verstirbt, wird Aljoscha angewiesen, nicht Mönch zu werden, sondern in der Welt zu leben. Den ganzen Roman über eilt Aljoscha von Ort zu Ort, um sich mit diesem oder jenem zu treffen und etwas zu besprechen. Immer hat er noch etwas zu erledigen und muss schnell weiter. Es ist offensichtlich, dass Aljoscha die Rolle eines Vermittlers und Heilers einnimmt, an dessen Wesen Russland genesen soll. Deshalb umgibt sich Aljoscha auch mit Kindern, die eine große Rolle in diesem Roman spielen. Die Kinder sind die Zukunft, und die Erinnerung an schöne Erlebnisse in der Kindheit sind ein Mittel zur Rettung vor dem Bösen, das ist ganz klar die Botschaft. Nicht umsonst wird Aljoscha schon im Vorwort als der eigentliche Held des Romans angekündigt, gerade weil er in seiner Naivität etwas sonderlich ist, und obwohl der heilende Effekt seines Wirkens unbestimmt erscheint.

Nach einer sehr langen Vorbereitung kommt es in diesem sehr langen Roman schließlich zu einem Mord und zu einem Gerichtsprozess gegen den Angeklagten Dimitri: Es ist klar, dass hier Russland vor Gericht steht. Die Plädoyers von Ankläger und Verteidiger sind präzise Analysen der russischen Seele der damaligen Zeit anhand der Brüder Karamasow. Der Angeklagte steht unschuldig vor Gericht, und wird zu Unrecht verurteilt, doch das Urteil des Autors fällt milde aus: Trotz mancher Schuld und einigen Ungestüms hat kein Mord stattgefunden.

Im Rahmen dieser weit gespannten Handlung finden sich zahllose größere und kleinere Szenen, die diesen Roman zu einem Füllhorn an Gedanken machen, an denen man sich ein Leben lang abarbeiten kann, so z.B.:

  • Der Staretz, das Klosterleben, das einfache russische Volk. Die russische Orthodoxie als solche: Die Kirche muss zum Staat werden, nicht der Staat zur Kirche. Die Idee, dass die Rettung des Christentums aus dem Osten kommt. Der Katholizismus, in dem der römische Staat weiterlebt und die Kirche in sich abgetötet hat, sei hingegen schuld an der westlichen Aufklärung, die von Dostojewski kurzerhand mit Materialismus und Sozialismus in eins gesetzt wird.
  • Die Rede des Staretz über seinen kranken Bruder, und dass alle Menschen Schuld aneinander haben. Dazu die Geschichten von dem seltsamen Duell und von dem Fremden, der seine Schuld offenbaren muss, um davon frei zu werden. Dass alle Menschen Schuld aneinander haben, erkennt später auch Dimitri voller Reue. Ein Grundthema bei Dostojewski.
  • In Smerdiakov kehrt die Figur des Raskolnikov wieder: Er mordet aus zynischem Kalkül, kann aber mit seiner Tat nicht leben. Reue verspürt er dabei keineswegs und begeht Suizid, ohne seine Schuld zu bekennen.
  • Im Stabskapitän und dessen sterbenden Sohn Iljuscha wird das völlige Scheitern, die völlige soziale Erniedrigung und die völlige Hoffnungslosigkeit gezeigt. Sehr berührend. Und doch lässt Dostojewski aus dem vergeblichen Aufstand des kleinen Iljuscha am Ende die Gemeinschaft von Aljoscha mit den Kindern erwachsen.
  • Kolja Krassotkin ist der Prototyp des „verdorbenen“ Jugendlichen, d.h. eines altklugen, ideologisch früh verblendeten, hochnäsigen, gnadenlosen Menschen, der alle rücksichtslos quält und nur an sich denkt. Mathematik und Naturwissenschaften findet er sinnvoll, das Studium der Weltgeschichte und der klassischen Sprachen hält er hingegen für überflüssig (ist aber gut in Latein!): Sehr bezeichnend. Er ist Sozialist und wäre sicherlich ein gnadenloser Funktionär geworden, wenn er nicht durch Aljoscha pädagogisch gerettet worden wäre.
  • Miussoff ist ein selbstgefälliger, egoistischer Liberaler, Rakitin ein weiterer zynischer Sozialist.
  • Erkenntnis: „Heutzutage fürchten sich fast alle begabten Menschen am meisten vor der Lächerlichkeit“. Und: „…nur soll man nicht so sein, wie alle sind, das ist es!“
  • Lise, Gruschenka: Liebenswerte Frauen, die plötzlich aus einer Laune heraus auf böse „umschalten“.
  • Der „russische Candide“: Iwan rechnet in seiner „Empörung“ mit den sinnlosen Verbrechen ab, die in der russischen Gesellschaft an unschuldigen Kindern geschehen, die darüber vergeblich im Glauben Schutz suchen.
  • Iwans Poem „Der Großinquisitor“. Eine Polemik gegen die katholische Art des Christentums, aus dem Dostojewski die westliche Aufklärung mit Materialismus und Sozialismus entspringen sah. Aber nicht nur das.
  • Der Alptraum Iwans: Die Aufdeckung seiner Seele durch den Teufel, den seine seelische Krankheit als Abspaltung seiner selbst ins Zimmer projiziert.
  • Viele offenherzige Reden, in denen Menschen ihr Herz ausschütten, wie Marmeladow in „Schuld und Sühne“. Unübertroffen Frau Chochlakowa, die ständig neben sich steht und so manche Wahrheit über das Verhältnis von Männern und Frauen zu verkünden hat.
  • Es gibt auch einiges zu lachen in diesem Roman.
  • Wiederholt wird Schiller zitiert, ganze Passagen aus: Die Räuber. Das Eleusische Fest. Ode an die Freude.
  • Einige Seitenhiebe gegen die Deutschen und ihre Kultur: Die Deutschen seien autoritätshörig, aber gut in Wissenschaften. Deutsche Kleidung habe ein schmutziges Aussehen. Der deutsche Witz ist kartoffelig und fröhlich-selbstzufrieden.
  • Thomas Mann hat sich für seine Romane, speziell für den „Zauberberg“ offensichtlich bei Dostojewski bedient: Parallelen sind u.a. ein Duellant, der nicht schießen will, oder Träume, die Erkenntnis bringen, oder eine Romanfigur als Repräsentant eines Landes und seiner Seele.

Fazit

In seinem geistigen Kampf gegen den Materialismus ist Dostojewski in diesem Roman noch einmal zur Hochform aufgelaufen und hat zugleich ein wenig Optimismus für die Zukunft gewagt. Die Analysen und Warnungen Dostojewskis sind natürlich richtig und haben sich in der Zeit der kommunistischen Diktatur vielfach bewahrheitet. Auch heute ist die Gefahr keineswegs gebannt, weshalb der Roman auch für unsere Zeit gültige Wahrheiten und Warnungen zu bieten hat.

Allerdings hat Dostojewski für unsere Zeit – und wohl auch schon für seine Zeit – zu wenige konstruktive Vorschläge zu machen. Ein Zurück zur christlichen Religion und speziell zur russischen Orthodoxie ist weder intellektuell redlich vertretbar noch sind die Probleme des organisierten Christentums übersehbar, und das nicht nur bei der von Dostojewski so schwer kritisierten katholischen Kirche. – Der Gedanke, dass alle voreinander schuldig sind, ist zwar richtig, aber für sich allein genommen nicht zielführend sondern nur erdrückend. Hier ist Albert Schweitzer mit seiner Maxime „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ vielleicht zielführender. – Schließlich ist die Sicht auf die Aufklärung zu einseitig. Ja, die Aufklärung hat auch Materialismus und Sozialismus hervorgebracht. Sie hat aber noch viel mehr hervorgebracht. Die geistige Bewegung der Aufklärung kann nicht über einen Kamm geschoren werden.

Immerhin finden sich folgende konkrete Punkte: Zum einen die klassische Bildung, konkret werden Schiller, das Studium der Geschichte und der klassischen Sprachen genannt, aber immer wieder auch russische Klassiker. Zum anderen die Familie als Ort der gegenseitigen sittlichen Bildung von Mann, Frau und Kindern in Liebe. Und vielleicht könnte man Dostojewski mit der Aufklärung versöhnen, wenn man sie als nahtlose Fortsetzung des klassischen Humanismus deuten würde? Auf dieser Grundlage ließe sich dann leichter unterscheiden, welche Aspekte der Aufklärung humanistisch sind, und welche nicht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. November 2021)

Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand (2009)

Einblick in den Geisteshaushalt eines Genies

Das Bedeutsame am Roman „Die Frau für die ich den Computer erfand“ von F. C. Delius ist nicht so sehr die Lebensgeschichte von Konrad Zuse, dem Erfinder des Computers, noch dessen platonisch-historische Liebschaft zu Ada Lovelace, sondern vielmehr ganz allgemein der Einblick in den inneren Geisteshaushalt eines Genies. Es könnte irgendein Genie sein.

Wie sieht es aus im Kopf eines genialen Menschen? Was treibt ihn an? Was denkt er über seine nichtgenialen Mitmenschen? Die Fiktion des Romans ist, dass Konrad Zuse seine Gedanken einen ganzen Abend und eine ganze Nacht lang frei fließend und assoziierend auf das Tonband eines Journalisten spricht. Dabei kommt man der wirklichen Denkökonomie eines Genies sehr nahe.

Folgende Elemente finden sich in den geäußerten Gedanken: Eine Angetriebenheit durch die Defintion des Dichters nach Rilke, das „Ich muss“ des echten Dichters umgemünzt auf den echten Erfinder. Ständige höchst eigenwillige aber durchaus treffende Selbstvergleiche zu Goethes Faust und den zugehörigen Mephisto. Eine autosuggestive, „hinan“ ziehende platonisch-historische Liebe zur mutmaßlich ersten Programmierin Ada Lovelace, die 150 Jahre vor Zuses Zeit lebte. Dann Deutschsein in Form von Pflicht, Verwurzeltheit, Ordnung, Bescheidenheit, Zurückhaltung. Außerdem ein überlegenes Herabsehen insbesondere auf den beschränkten Verstand von Journalisten und Politikern. Eine realistische Amerikafreundlichkeit. Vergleiche, wie schwer man es damals hatte, wie leicht es andere heute haben. Stolz auf das Erreichte, Schöpfen von Lebenskraft aus Anerkennung, Enttäuschung über fehlende Anerkennung. Vorsicht, wegen unverstandener Genialität nicht von den gewöhnlichen Menschen für verrückt gehalten zu werden. Einsamkeit.

Alles in allem ein einziger Lesegenuss für Menschen, die Idealismus, Realismus und Eigenwilligkeit schätzen, die Ingredienzien von Genialität. Dieses Buch ist nichts für Träumer ohne Bodenhaftung und bildungsferne Computerfreaks.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06.08.2012)

Stefan Zweig: Die Kunst ohne Sorgen zu leben – Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe (2023)

Stefan Zweig en miniature

Dieses schmale Insel-Bändchen versammelt einige kurze Texte, die Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren verfasste, die aber bislang nirgendwo greifbar veröffentlicht worden waren. Es handelt sich um einige weitere Perlen aus der Feder des Verfassers, ganz im Stile der „Welt von gestern“, an der er zur selben Zeit arbeitete.

Einige Texte sind Charakterstudien und Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Da ist der Habenichts Anton in Salzburg, der sich aber nützlich zu machen weiß und sich dadurch Dank und Anerkennung verdient, mehr noch als materielle Gegenleistungen, die er souverän nur nach Bedarf in Anspruch nimmt. Die Schilderung der Erlebnisse mit diesem Lebenskünstler gab dem Büchlein den Titel. Ein anderer Text reflektiert die Beobachtung, dass menschlicher Zuspruch spontan und sofort erfolgen sollte. Da ist auch die wunderbare Begegnung mit dem Künstler Rodin, bei dem Stefan Zweig lernte, dass wahre Kunst nur aus der völligen Versenkung in Konzentration auf die Sache erwächst. Oder es ist die tröstliche Geschichte von den Anglern an der Seine, die uns zeigt, dass kein Mensch das Geschehen in seiner Gegenwart ständig mit voller Anteilnahme verfolgen kann, sondern dass ein „Abschalten“ und der Rückzug ins Private hin und wieder eine innere Notwendigkeit sind. Die Inflation lehrte Zweig, dass Geld an sich keinen Wert hat, sondern nur das, was wir sind. Auch die Totenrede auf Alfonso Hernández-Catá ist enthalten, von der es im Nachwort heißt, dass sich Stefan Zweig in dieser Rede auch unfreiwillig selbst portraitiert habe.

Schließlich sind noch drei Stücke zum Nationalsozialismus von 1940, 1941 und 1942 enthalten. Stefan Zweig macht darauf aufmerksam, dass Diktatur Schweigen bedeutet, und wie bedrückend dieses Schweigen ist, und dass er sich anstelle derer zum Reden verpflichtet fühlt, die schweigen müssen. Er verteidigt auch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gegen ihre Beschmutzung durch den Nationalsozialismus. Schließlich weist Stefan Zweig darauf hin, dass der Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez schon 1916 in seinem Roman „Los cuatro jinetes del apocalipsis“ mit der Romanfigur Hartrott einen Charakter erschuf, dessen wahnwitzige Ideologie die Ideologie Hitlers vorwegnahm. Was als absurde Satire gedacht war, traf die kommende Wirklichkeit nur zu gut.

Es fällt auf, dass in allen drei Stücken kein Wort über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu finden ist. Obwohl Stefan Zweig in Freiheit lebte und die westliche Presse nicht damit sparte, dem Feind jedes nur erdenkliche Übel zuzuschreiben, wusste damals offenbar niemand von diesem Verbrechen. Auch Hannah Arendt hielt 1945 die ersten Berichte von US-Korrespondenten aus befreiten KZs für alliierte Propaganda, bis sie begriff, dass es die Wahrheit ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Thomas Mann: Der Zauberberg (1924)

Aufforderung zur politisch-weltanschaulichen Selbstprüfung mit Neigung zu Liebe und Liberalismus

Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erscheint zunächst als Bildungsroman im klassischen Sinn, doch entpuppt er sich im Laufe der Handlung immer mehr als eine Aufforderung des Autors an seine Zeitgenossen, ihre politisch-weltanschaulichen Ansichten zu überprüfen.

Inhalt

Hauptperson ist der junge Hans Castorp, der einen jugendlich-unreifen „Herrn Jedermann“ aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg repräsentiert. Unverkennbar sind Züge Kaiser Wilhelms II. eingearbeitet. Gewisse nekrophile Züge aufgrund von Naivität und Nostalgie sind ebenfalls vorhanden. Dieser Hans Castorp reist zu Besuch in ein Tuberkulose-Sanatorium nach Davos, bleibt dann aber wegen vermeintlicher Krankheit volle sieben Jahre dort.

Hans Castorp durchläuft in diesen sieben Jahren nur wenige eindeutige Entwicklungsschritte seiner Persönlichkeit; in der ersten Hälfte des Buches dominiert die Begegnung mit Madame Chauchat, der Hans Castorp als erster Frau in seinem Leben seine Liebe gesteht. Er entwickelt Eigeninitiative und besucht Sterbende. In der zweiten Hälfte des Werkes geht er unerlaubterweise Skifahren und findet in dem berühmten Schneetraum für sich die Formel, dass der Tod zum Leben gehört, und Leben und Liebe über den Tod zu stellen sind. Diese Entscheidung wird im Rahmen einer Séance noch einmal deutlich erneuert und bekräftigt. Schließlich übt Hans Castorp eine gewisse Autorität auf die übrigen Bewohner des Sanatoriums aus.

In der Hauptsache werden im Laufe der Handlung verschiedene Charaktere vorgestellt, die als Lehrer und Vorbilder Einfluss auf die Hauptperson auszuüben versuchen. Dabei handelt es sich zunächst um den klassischen Liberalen Settembrini, der Rationalität, Demokratie, Marktwirtschaft und einen etwas naiven Fortschrittsglauben vertritt, und um Naphta, einen zum Katholizismus konvertierten Juden, der als Jesuit und Fortschrittsskeptiker die geschlossenen Weltbilder der Religion oder des Kommunismus lobt. Es ist recht interessant zu lesen, wie Naphta die Positionen Settembrinis geschickt zu unterlaufen versucht. Man könnte Naphta auch als einen Vertreter des Absoluten, Settembrini als einen Vertreter des Relativen sehen – deren Standpunkte bei tieferem Denken vielleicht zusammen fallen würden. Man könnte sie grob als konservativ vs. progressiv sehen (sofern man den Kommunismus nicht als progressiv in die Rechnung nimmt), oder als „links“ gegen „rechts“ (wobei sehr die Frage wäre, wer von beiden hier eigentlich was wäre!). Das ungewöhnliche Duell der beiden am Ende des Buches bringt deren Positionen in ungeahnter Weise auf die Spitze.

Als gelungene Überraschung präsentiert Thomas Mann als dritten Charakter Mynheer Peeperkorn, der überhaupt keinen rational fassbaren Standpunkt vertritt, sondern ganz aus seinem Gefühl heraus lebt. Er nimmt alle Menschen um ihn herum durch sein Charisma für sich ein, redet aber praktisch ohne Inhalt und Zusammenhang. Er ist ist einerseits ganz Gentleman, andererseits übt er auch unausgesprochenen Zwang auf die ihm ergebene Gesellschaft aus, unter anderem auch durch seine Freigiebigkeit. Und er hat keine Hemmungen gegen inhumane Gefühlsregungen. Das Gespräch von Settembrini und Naphta verstummt in seiner Gegenwart – sie denken, aber er lenkt, und kümmert sich nicht um Gründe, Argumente und Bedenken. In moderner Sprache ist Mynheer Peeperkorn gut in der inhaltsleeren, einwickelnden Sprache der „Sozialen Kompetenz“. Und in der Tat: Er ist ein erfolgreicher Manager. Auch seine Freundin, Madame Chauchat, ist anti-rational: Sie mag Settembrini nicht. Was die Persönlichkeit anbetrifft, kann Hans Castorp von Mynheer Peeperkorn zwar eine Menge lernen, aber wo Mynheer Peeperkorn ist, da leiden die beiden alten Freunde von Hans Castorp, Settembrini und Naphta.

Hans Castorp entscheidet sich weder für noch gegen eine der drei Positionen, sondern zeigt sich allen drei gegenüber offen, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Am Ende des Romans findet er in dem Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ sein Credo beschlossen: Leben und Tod gehören zusammen, das Leben steht über dem Tod. Dann entschwindet Hans Castorp in den Wirren des Ersten Weltkrieges, und der Leser bleibt mit der Frage zurück, was der Roman ihm sagen will, ähnlich dem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, an dessen Ende das Publikum aufgefordert wird, sich selbst eine Lösung für die gezeigten Probleme zu suchen.

Aussage

Es gibt genügend Fingerzeige und Tendenzen, die die Aussage des Romans erschließen. Ganz offensichtlich will Thomas Mann mit diesem Roman (1924) eine Mitteilung an die deutsche Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg machen, die in der Person von Hans Castorp repräsentiert wird. Thomas Mann verlangt, dass die Untertanen von einst erwachsen werden, dass sie in ihrer Persönlichkeit reifen. Er zeigt, dass in dem Widerstreit der verschiedenen politisch-weltanschaulichen Richtungen ein Wert an sich liegt, und dass es eine Gefahr ist, dass ein Mynheer Peeperkorn kommen könnte, der diesen nützlichen Streit beendet und offene Rationalität durch zwingendes Gefühl ersetzt: Ein Tyrann, der weder Rechts noch Links ist, dem sich die Deutschen unterwerfen. Was Naphta und Settembrini anbetrifft, neigt Thomas Mann ganz eindeutig eher zu Settembrini, denn dieser wird wesentlich sympathischer gezeichnet. Er ist nicht auf kalte Weise rational, sondern hat ganz offensichtlich auch ein gutes Herz. Er wird als erster eingeführt, er hat nie aufgehört, an Hans Castorp zu glauben, und er ist der einzige der drei Charaktere, der am Ende noch lebt und Hans Castorp ins Leben verabschiedet.

Literarisches

Der Zauberberg liest sich wesentlich flüssiger als Buddenbrooks, und es ist eindeutig das bedeutendere Werk Thomas Manns. Angeblich hat Thomas Mann den Nobelpreis in Wahrheit für den Zauberberg erhalten, und nur wegen des Einspruchs eines Jury-Mitgliedes verlieh man den Preis offiziell für den Buddenbrooks.

Thomas Mann hat dieses Werk ursprünglich als Kurzgeschichte geplant, und wie man es von vielen Kurzgeschichten her kennt, hat jedes Wort eine Bedeutung, und alles steht mit allem in einem symbolischen Zusammenhang. Weil diese Kurzgeschichte nun aber 1000 Seiten umfasst, ist die Zahl der Anspielungen schier unausschöpflich. Man wird vermutlich auch bei einem dritten und vierten Lesen nicht alles entschlüsseln können. Es gibt viele Anspielungen auf Goethes Faust. Aber auch auf die Völker Europas und ihre Charaktere und Besonderheiten. Die Rolle der Musik. Oder der Gegensatz von Bergwelt und Flachland (nicht zufällig kommt Mynheer Peeperkorn aus dem flachesten aller Flachländer). Jede Kleinigkeit bekommt in diesem Roman eine symbolische Bedeutung, selbst so unbedeutende Dinge wie die Betätigung eines Lichtschalters oder die Wahl des Picknickplatzes. Es ist wirklich unglaublich.

Bemerkenswert sind die immer wiederkehrenden Betrachtungen zum Thema Zeit. Thomas Mann experimentiert literarisch mit verschiedenen Zeiterfahrungen und Zeitbetrachtungen, und nimmt den Leser in diese mit hinein.

Nationalsozialismus

In bezug auf den späteren Nationalsozialismus eröffnet das Werk eine völlig neue Sicht, und man kann sagen, dass es für das Jahr 1924 ein wahrhaft prophetisches Werk ist. Hitler sitzt 1924 gerade im Gefängnis und schreibt an „Mein Kampf“; von seinem späteren Format ist praktisch noch nichts zu sehen. Hitler wird natürlich in der Person von Mynheer Peeperkorn vorausgesehen. Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg wird klar: Alle Interpretationsversuche, Hitler politisch nach Kategorien wie „rechts“ oder „links“ interpretieren zu wollen, müssen fehlschlagen. Wie Mynheer Peeperkorn war Hitler nämlich weder-noch, sondern lebte hauptsächlich anti-rational aus seinem Gefühl heraus. Aus dem vermeintlichen Gefühl seines vermuteten „arischen Blutes“ heraus, könnte man sagen. Hitler sah den Vorzug der „arischen Rasse“ nicht so sehr in einer höheren Intelligenz (wie viele heute fälschlich meinen!), sondern vor allem in dem „richtigen“ Gefühl bzw. Charakter: „Arier“ sind mutig, treu, ehrlich usw., während Slaven, Juden usw. feige, treulos und Hitlers Meinung nach vielleicht gerade wegen ihrer Intelligenz (!) „verschlagen“ seien. Intelligenz-Tests waren für Hitler „jüdische Tests“, ihn interessierte Intelligenz, Rationalität und Bildung nicht nur nicht, er lehnte sie ab!

In einem bekannten Zitat Hitlers kommt die Nähe von Hitler und Peeperkorn besonders zum Ausdruck: „Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. … Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. … Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. … Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. … Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen.“ – Für Hitler zählt der Trieb, das Gefühl, das Leben aus dem Gefühl, das richtige Gefühl, und in keiner Weise Wissen, Intelligenz, Rationalität, Intellektualität, Bildung. Und so wie Hitler das „herrliche Raubtier“ sehen will, so möchte auch Mynheer Peeperkorn im Zauberberg gerne sehen, wie ein herrlicher Adler seine Krallen in ein Beutetier schlägt, wie es seiner Natur entspricht.

Mithilfe des Zauberberges erkennt man nun klarer: Es ist kein Zufall, dass es niemals eine ausformulierte Ideologie des Nationalsozialismus gab. Es kann auch gar keine geben. Vielmehr versprach Hitler wie Mynheer Peeperkorn allen alles, „rechts“ wie „links“ wurden gleichermaßen bedient, was schon der Name „Nationalsozialismus“ andeutet. Zudem wurde mit sozialen Gaben nicht gespart, wie wir heute wissen, woran auch Peeperkorn es nicht fehlen ließ. Das Chaos in der NS-Regierung rührte nicht nur von verqueren Charakteren und Machtkalkül her, sondern auch ganz einfach daher, dass es von Anfang an keinen Plan gab, was „Nationalsozialismus“ eigentlich sein sollte, so dass jeder darin etwas anderes erblickte. Selbst der Plan zur Ermordung der Juden existierte zum Zeitpunkt der Machtergreifung noch nicht, sondern entwickelte sich erst im Laufe der folgenden Jahre. Die Ermordung der Juden kann zudem nur sehr begrenzt rational erklärt werden; es handelt sich vielmehr ganz offensichtlich um eine irrationale Entscheidung, wie so vieles am Nationalsozialismus. Ein anderes Beispiel: Bis heute debattiert man, ob Hitler an Gott glaubte oder nicht, weil widersprüchliche Aussagen dazu von ihm existieren. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man begreift, dass Hitler kein rational wohlgeordnetes Weltbild hatte, sondern es jeweils aus dem Gefühl heraus entschied, was er gerade glaubte.

Im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist es ein Grundirrtum, den Nationalsozialismus mit dem Links-Rechts-Schema erklären zu wollen, und es ist ein noch größerer Irrtum, den Nationalsozialismus einseitig der „rechten“ (oder auch der „linken“) Seite zuschlagen zu wollen. Der Nationalsozialismus im Lichte von Thomas Manns Zauberberg ist nicht diese oder jene erfolgreiche oder irrige Variante von Zivilisation, wie man es von „rechts“ und „links“ sagen könnte, er ist vielmehr der Bruch mit der Zivilisation selbst: Der Streit von Settembrini und Naphta kommt zum Schweigen unter der Wucht von Mynheer Peeperkorn. Auch das Wort „Wucht“, das für die Propaganda von Goebbels eine zentrale Rolle spielte, wird bei Thomas Mann mehrfach im Zusammenhang mit Mynheer Peeperkorn verwendet. Die Voraussicht auf die kommende Gefahr, die Thomas Mann hier 1924 zeigte, ist in der Tat erstaunlich. Interessant allerdings auch, dass das Buch das Kommende nicht verhindern konnte, obwohl es rechtzeitig Aufmerksamkeit bei vielen fand. Die süße Versuchung durch das Gefühl scheint oft stärker zu sein als die Rationalität, wie der Roman selbst sagt.

Man beachte: Die Exzesse des real existierenden Kommunismus können nicht damit entschuldigt werden, dass sie „rationaler“ als die Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen wären. Die Irrationalität lauert hier nur an einer anderen Stelle, in einer anderen Weise. Mordtaten sind stets irrational und ein Zivilisationsbruch, sonst wären es keine Mordtaten. In der Aufteilung von politischen Positionen auf die Charaktere überzeugt Thomas Mann gerade dann nicht ganz, wenn man an den Kommunismus denkt. Weil Thomas Mann ein Dichter und kein Philosoph war, ist mit solchen Schwächen zu rechnen. Hier gilt das Wort Goethes: Literatur kann begleiten, nicht jedoch leiten.

Gegen heutigen Unsinn

Leider sind die genannten Einsichten über den Nationalsozialismus heute verschüttet. Der Nationalsozialismus gilt zur Zeit einseitig als rechtsradikale Ideologie. Die „linken“ Aspekte des Nationalsozialismus werden oft bewusst „übersehen“ oder heruntergespielt. Die Interpretation der damaligen Ereignisse wird heute höchst simpel betrieben, wie wenn „die“ Deutschen oder „die“ Konservativen damals Hitler gewählt hätten, und das mit dem erklärten Ziel, die Juden zu ermorden – was für ein Unsinn! Zudem ist heute ein Leben „aus dem Gefühl heraus“ durchaus in Mode, Rationalität gilt heute gerne als „kalt“ – viele wissen gar nicht, wie nahe sie mit dieser Haltung an Hitler sind. Manche sehen heute in Naphta eine Vorwarnung vor Hitler, doch das ist großer Unsinn.

Unsinn ist es auch, den Zauberberg mit dem Wissen von heute interpretieren zu wollen. Dass gegen Ende des Buches ein Antisemit auftaucht, bedeutet nicht, dass Thomas Mann gerade dies als große Gefahr erkannt hätte; es ist nur eine der Gefahren im Jahr 1924. Dass Thomas Mann in der Beschreibung von Naphta gewisse Vorurteile gegenüber Juden aufgreift, bedeutet nicht, dass Thomas Mann Antisemit gewesen wäre; vor dem Nationalsozialismus bedeutete das Aufgreifen eines Vorurteiles gegenüber Juden etwas anderes als danach. Es ist bedauerlich, dass heute viele solche Zusammenhänge nicht erkennen können oder erkennen wollen. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ist heute von großer Simplizität geprägt, die von politisch interessierter Seite betrieben und ausgeschlachtet wird. Gerade zur Durchbrechung dieser Simplizität kann der Zauberberg einen Beitrag leisten.

Im Zauberberg liegt zudem ein Werk aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus vor, das den Deutschen einen besseren Weg aufzeigt, einen Weg, den Deutschland hätte gehen sollen, aber nicht gegangen ist. Wer die Zukunft Deutschlands nicht primitiv und einzig auf die Negation des Nationalsozialismus aufbauen möchte, sondern nach konstruktiven Werten sucht, die vor dem Nationalsozialismus da waren aber durch diesen verschüttet wurden, der wird hier fündig werden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 09. Juni 2013)

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