Schlagwort: Ehe (Seite 3 von 3)

Hans Erich Nossack: Das Testament des Lucius Eurinus (1964)

Problemanalyse einer aufkommenden Religion – ohne angemessene Lösung

Das Testament des Lucius Eurinus von Hans Erich Nossack ist eine genaue Selbstanalyse der eigenen, persönlichen Situation des spätrömischen Politikers Lucius Eurinus. Zentrales Problem seiner Zeit ist das Aufkommen des Christentums. Dieses wird unter allen Gesichtspunkten beleuchtet: Die tieferen und durchaus verschiedenen Motivationen von gebildeten und ungebildeten Menschen, von Männern und Frauen, sich dem neuen Glauben anzuschließen; die Schwäche der eigenen Kultur; die Einfalt der meisten Christen; die Unmöglichkeit, mit Christen rational zu diskutieren; die Hilflosigkeit ihrer Borniertheit gegenüber; deren Heroisierung des Leidens und Opferseins, der Hang zum Beleidigtsein, und deren Habitus des Unterdrückten; deren Kollektivismus („wir“). Schließlich die Möglichkeiten, politisch darauf zu reagieren.

In einem Gespräch mit einem gebildeten Christen wird die Widersprüchlichkeit der neuen Bewegung deutlich: Wie der gebildete Christ selbst immer wieder die Irrtümer und Dummheiten der meisten seiner Glaubensbrüder verurteilen und tadeln muss. Wie er also einem Ideal von Christentum anhängt, das in der Realität schlicht nicht stattfindet. Es wird die Perspektive eröffnet, was es für das Christentum bedeuten wird, wenn es sich gesellschaftlich durchsetzt: Die Anpassung an die Notwendigkeiten, die Gestaltung des Glaubens nach dem Politischen. Am Ende wird das Christentum vielleicht dieselbe Funktion erfüllen wie seine Vorgängerkulte. Der gebildete Christ hat nicht mehr zu bieten als ein Erschrecken über dieser Perspektive.

Die Reflexion des Lucius Eurinus geht aber noch tiefer ins Persönliche hinein: Seine eigene Frau ist – fast beiläufig – Christin geworden, und für den römischen Beamten bricht damit eine Welt zusammen. Wie sich diese scheinbar kleine Veränderung gewaltig auf dessen Konzeption von Leben auswirkt, bis ins Privateste hinein, ist ebenfalls Thema. Die Ehe und das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau werden unter einer seltenen Perspektive in den Blick genommen, was wertvoll ist. Am Ende seiner Überlegungen zieht Lucius Eurinus den Schluss aus seinen Überlegungen: In Stille aus einem Leben zu verschwinden, das nicht mehr das Seine ist.

Als Nossack diesen Text 1963 schrieb, dachte er wohl kaum an das Aufkommen des Islam in Deutschland, doch genau diese Perspektive gibt dem Büchlein heute (2012) eine Aktualität, die aufhorchen lässt. Schritt für Schritt begegnen dem heutigen Leser Gedanken und Probleme, die er aus seiner Gegenwart kennt.

Sehr problematisch ist die vorschnelle Resignation und Lebensverneinung, die in Nossacks Werk zum Ausdruck kommt. Auch wenn eine Lage schwierig ist, zum Davonlaufen ist sie deshalb nicht unbedingt. Man hätte gerne erfahren, welcher Philosophie und Weltanschauung Lucius Eurinus selbst anhängt, aus der er seine eigene Kraft schöpft; eine solche muss es doch offensichtlich geben, denn auf welcher Grundlage würde Lucius Eurinus die neue Religion sonst kritisieren? – Wenn Lucius Eurinus wirklich von seiner eigenen Weltanschauung überzeugt ist, dann würde er der neuen Religion gegenüber geistig standgehalten haben, und daran geglaubt haben, dass sich das Wahre und Gute langfristig durchsetzen wird – oder aber: dass sich das Wahre noch nie durchgesetzt hat und niemals durchsetzen wird, sondern immer eine Sache von Wenigen war. Also in jedem Fall kein Grund für Weltuntergangsstimmung. Lucius Eurinus denkt teilweise wie ein heutiger ungebildeter Islamkritiker, der vor lauter Jammern über den Untergang seiner Kultur und das Aufkommen einer „unbehauenen“ Kultur nicht zu einer konstruktiven Bewältigung der Situation kommt.

Wir finden hier also eine gute Aufbereitung eines Problems, aber keine befriedigende Antwort darauf. Das ist für gute Literatur zu wenig. – Richtig störend ist, dass Lucius Eurinus die Christen ständig als „religionslos“ und „Atheisten“ anredet, weil sie seine römische Religion ablehnen. Für den modernen Leser ist das kaum verständlich, dass hätte Nossack anders machen müssen.

Fazit: Sehr interessant und lesenswert, aber nicht gut genug.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. November 2012)

Martin Walser: Mein Jenseits – Novelle (2010)

Kein Jenseits, kein Glaube, sondern nur die üblichen inneren Kämpfe

Die Handlung des Büchleins ist kurz erzählt. Es geht um Augustin Feinlein, der einst verliebt und verlobt war mit Eva Maria. Doch dann wurde ihm die Freundin von einem Bekannten (Wagner-Fan, NS-Familie mit Schloss) im Handstreich ausgespannt und vor der Nase weggeheiratet. Eva Maria schreibt ihm dann noch Postkarten: „in Liebe“. Später dann, als Feinlein Direktor des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Scherblingen war, heiratete Eva Maria zum zweiten Mal, aber wieder nicht ihn, sondern ausgerechnet Dr. Bruderhofer, einen Arzt am selben Krankenhaus, der Augustin Feinlein als Direktor beerben möchte und Schritt für Schritt gegen ihn arbeitet. So macht sich Dr. Bruderhofer lustig über die Reliquienforschung von Feinlein. Als Maßnahme gegen Dr. Bruderhofer (verwirrt im inneren Kampf) stiehlt Feinlein eine Reliquie, wird überführt, und überlässt Dr. Bruderhofer, entlarvt als verwirrter alter Mann, schließlich seinen Posten: Die Niederlage ist komplett.

Wie bei Martin Walser üblich geht es um die inneren Kämpfe, die der Protagonist gegen einen Kontrahenten führt, dem er hoffnungslos unterlegen ist. Der Kampf findet kaum auf der Handlungsebene statt, sondern vor allem im Inneren des Protagonisten, dem man beim Denken zusieht: Wie er sich ausmalt, was er alles gegen seinen Kontrahenten tun könnte, wie er sich seinem Kontrahenten gegenüberstellen könnte. Aber es bleibt fast alles Phantasie. Und es geht um die innere Einstellung zum aussichtslosen Kampf, um die Interpretation einer Niederlage als insgeheimem Sieg, um das Schönreden von Verlust als bereichernder Entsagung. Am Ende bleibt dennoch die Erkenntnis, dass man sich was vormacht. Auf der praktischen Ebene bleibt nur eine hilflose, symbolische Handlung übrig, mit der sich der Protagonist vollends lächerlich macht.

Im Hintergrund dieses Büchleins schwelt die Ur-Niederlage, dass Feinlein für Eva Maria nicht als Mann infrage kommt. Dass er tun und sein kann, was er will, und dennoch nicht infrage kommt. Andere hingegen schon. Schließlich stürzt er sich in den selbstbetrügerischen Glauben an die Wahrheit von Eva Marias Postkarten-Floskel: „in Liebe“. Dieses Thema wird ständig mit den anderen Konflikten und Themen verschränkt. Aber auch solches kennen wir aus anderen Werken.

Ganz neu ist in diesem Buch vielleicht der Aspekt des Glaubens. Der Glaube als Helfer in der Not, in der Not der Ausweglosigkeit und der hoffnungslosen Niederlage. So wird der Glaube für die Vorfahren beschrieben, so nimmt der Protagonist auch den Glauben für sich in Anspruch. So wird auch der Glaube an die Reliquien verhandelt: Es gehe nicht darum, dass die Reliquie echt sei, sondern dass der Glaube echt sei. So findet z.B. auch der alljährliche Blutritt statt, obwohl die Reliquie gestohlen ist – niemand merkt es, die Kirche nimmt einfach eine ähnlich aussehende Monstranz. Glaube heiße, sich die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist. Hier dichtet Walser sogar einen eigenen Psalm der selbstbetrügerischen Hoffnung (S. 113 f.). Aber am Ende wird man durch das „Unerklärliche“ doch völlig zurückgewiesen und alleingelassen. Das Unerklärliche: Gemeint ist nicht Gott, sondern dass er, Feinlein, für Eva Maria nicht infrage kam. Damit war sein Leben aus den Angeln gehoben und seine Existenz gescheitert. Unerklärlich. Endgültig. Kafkaesk. „Ich ging immer an einer Wand entlang, die würde aufhören, dann begänne das Leben, die volle Berührung. Das war ein Irrtum. Die Wand war das Leben.“

Es handelt sich natürlich um eine völlig unterbelichtete Sichtweise auf den Glauben. Am Anfang denkt man noch, es gehe darum, dem Unerklärlichen vorsichtig nachzuspüren, dem Glauben einen gewissen Raum zu geben. Auch um nostalgischen Katholizismus scheint es anfangs zu gehen, der in katholischen Symbolen, Ritualen und Kirchenräumen Kontakt zu einem wie auch immer gearteten „Jenseits“ bekommt. In Rom geht Feinlein immer in die Augustinus-Kirche und betrachtet dort ein Madonnenbild von Caravaggio. In Scherblingen sitzt er gerne in der Kirche und genießt die Atmosphäre. Doch im Laufe der Geschichte wird klar, dass es überhaupt nicht um Glaube und Jenseits geht, sondern um eine schnöde Indienstnahme des Glaubens als irrationale Ausflucht und gewissermaßen „Opium des Volkes“ vor der schrecklichen Welt. Mehr nicht. Der selbstbetrügerische Glaube an das Gute im Täter und in dem, was einem angetan wurde, wird hier zur höchsten Form der Niederlage. Dass es tatsächlich metaphysische Wahrheiten geben könnte, darum geht es in diesem Büchlein keine Sekunde lang. Im Gegenteil, es ist sogar regelrecht ausgeschlossen, denn nur dann ist die Ausweglosigkeit, in der sich Walser hier suhlt, wirklich völlig ausweglos.

Fazit:

Was die Kämpfe und Niederlagen anbelangt, ist es ein echter Walser, und man kann alles wie immer mit der eigenen Lebenserfahrung abgleichen, manches wiedererkennen, und so sein eigenes Scheitern besser verstehen und tragen. Was das Glaubensthema anbelangt, ist es unter Niveau und enttäuschend. Immerhin nimmt sich Walser auch ein klein wenig selbst auf die Schippe: Seine subtilen inneren Kämpfe und Befindlichkeiten wiesen ihn als „Luxustyp“ aus. Und am Anfang wird beschrieben, wie man im Dorf mit jemand umgeht, der „komisch“ wird. Das war’s dann aber auch. Kein wirklich gutes Buch. – Es soll sich übrigens um einen „ausgelagertes“ Kapitel des Romans „Muttersohn“ handeln, ein Versuchsballon, ob die Leser ein „Glaubensbuch“ von Walser akzeptieren würden. Nun, es ist ja gar kein Glaubensbuch. Es tut nur so.

Bewertung: 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 2. Oktober 2020)

Paolo Cognetti: Acht Berge (2016)

Gelebtes Leben, aber ohne Sinn und Ziel

Im Roman „Acht Berge“ von Paolo Cognetti geht es um Pietro, der als Kind von seinen Eltern immer wieder mit in die Berge genommen wird, wo sie ganze Sommer lang in einem halb verfallenen Bergbauerndorf in den italienischen Alpen leben und hohe Berge besteigen. Pietro freundet sich dabei mit dem Bergbauernsohn Bruno an. Die erste Hälfte des Romans dreht sich um diese Kindheitserinnerungen und die Eltern, um das Erwachsenwerden und den Tod des Vaters. Auf einem Grundstück hoch oben im Tal, das der Vater Pietro hinterlässt, bauen Bruno und Pietro eine einfache Berghütte. Bis hierhin ist es ein typischer Familienroman, der dem Leser vielerlei Möglichkeiten zur Identifikation bietet. Auch die Beschreibung des Lebens in den Alpen ist gut gelungen.

Doch dann entwickeln sich die Dinge zum Schlechten. Pietro studiert nicht, wie es sein Vater gewollt hatte, sondern lebt ein armes Leben als Filmemacher. Sinn- und ziellos irrt er durch die Welt und kommt dabei auch nach Nepal, wo er wiederum Berge besteigt. Frauen lässt er nur kurzzeitig in sein Leben. Eine davon wird später zur Gefährtin von Bruno. Bruno baut hoffnungsfroh eine Käserei auf und handelt damit erfrischend konstruktiv. Zusammen mit der ehemaligen Freundin von Pietro hat er ein Kind. Doch die Käserei geht pleite, ein konstruktiver Umgang mit dem Versagen unterbleibt, und die Partnerschaft zerbricht. Pietro spielt Seelentröster, ändern tut das aber nichts. Später wird Bruno in den Bergen vermisst. Vermutlich Suizid.

Alles in allem ein Roman, der eine überraschend deprimierende Wendung nimmt, und das ohne jeden Sinn und Zweck. Was will dieser Roman sagen? Wir bekommen Charaktere vor Augen geführt, die aus eigener Schuld versagen. Und irgendwie hat man das Gefühl, dass der Romanautor möchte, dass man darin doch noch einen Sinn erblickt – dass wir diese Versager und ihr gelebtes Leben irgendwie doch noch anerkennen. Dem muss sich der aufgeklärte Leser jedoch konsequent verweigern. Überzeugend ist einzig die Nebenfigur der Freundin, die einen der beiden nach dem anderen – aus guten Gründen – verlässt, und mit Kind ihr eigenes Leben vernunftgeleitet lebt.

Auch dramaturgisch ist das Buch misslungen. Die Verknüpfung der nepalesischen Legende von den Acht Bergen mit der Handlung bleibt höchst unklar. Die Legende stellt die Frage, ob die Besteigung des Heimatberges oder die Besteigung von acht fernen Bergen die größere Tat ist. Doch hier hat keiner der beiden „seinen“ Berg wirklich bestiegen. Nach dem Tod von Bruno wird eine dünne Verbindungslinie zu Pietros Vater gezogen, der ebenfalls nicht zu den Bergen seiner Jugend zurückkehren wollte, wegen dunkler Erinnerungen. Mehr als ein einziger Satz wird dazu aber nicht gesagt. Ganz am Ende ist dann noch von einem Geheimnis die Rede, dass es zwischen Bruno und Pietro gegeben hätte. Der Leser ist ratlos.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2022)

Martin Mosebach: Westend (1992)

Frankfurter Buddenbrooks: Leben und Fall zweier Familien im Westend 1945-1960

Der Roman „Westend“ hat gewisse Ähnlichkeiten zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. Es wird das Leben und der Verfall zweier alteingesessener Frankfurter Familien von ca. 1945 bis 1960 beschrieben.

Handlung

Da ist zum einen die Familie Labonté, die aus zwei Tanten und dem elternlosen Großneffen Alfred besteht, den die beiden großziehen. Diese Familie repräsentiert die Tradition. Im Haus Labonté scheint die Zeit stehen geblieben. Vom Mobiliar über die Lieblingsbeschäftigungen der Tanten bis hin zur Haushälterin Fräulein Emig ist alles so wie zu Kaisers Zeiten, als die Welt „noch in Ordnung“ war. Man fühlt sich an Joseph Roths „Radetzkymarsch“ erinnert. – Zum anderen ist da die Familie Olenschläger-Has: Die verstorbene Patriarchin Olenschläger hat den Vetter Fred Olenschläger zum Verwalter des Familienvermögens bestimmt, von dem der Haupterbe Eduard Has nur Renten ausgezahlt bekommt.

Die Familie Labonté entwickelt sich bürgerlich und abwartend. Im wesentlichen sieht man Alfred älter werden und seine Beobachtungen machen. – Eduard Has hingegen treibt es toll: Er luchst dem Kunsthändler Guggisheim die Ehefrau Dorothée ab (bzw. sie läuft zu ihm aus gewissen Gründen über), baut mithilfe von Guggisheim eine bedeutende Sammlung expressionistischer Gemälde auf, und lässt die alte Familienvilla im Westend abreißen und durch einen modernen, kalten Glastempel ersetzen, in dem er die Sammlung aufhängt. Nebenher hat er ein Verhältnis mit Etelka, der verstoßenen Ehefrau des Schrotthändlers Kalkofen. In die Familie drängt sich mehr und mehr der steirische Architekt Szépregyi, der ein Verhältnis mit Has‘ Tochter Lilly beginnt.

Am Ende scheitert Has völlig: Er kann sich nicht mehr von Etelka lösen, Dorothée lässt sich von ihm scheiden, Fred Olenschläger jubelt ihm durch Winkelzüge soviel Schulden unter, dass er seine Gemäldesammlung wieder abgeben muss, und seine geliebte Tochter brennt mit Szépregyi durch.

Alfred hingegen muss erleben, wie seine heile Welt sturzartig in sich zusammenbricht, als jene der beiden Tanten stirbt, die ihn eigentlich geliebt hatte. Denn die verbliebene andere Tante – von der wir durch die Blume erfahren, dass sie einst für Hitler war – macht reinen Tisch: Der Haushalt in der Westend-Villa wird aufgelöst, alle vertrauten alten Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstände verkauft, die Haushälterin entlassen, und die Tante zieht in ein Altersheim nach Kronberg, während Alfred allein und verlassen in der Mansarde der leeren Westend-Villa zurückbleibt.

Doch es gibt einen Lichtblick: Alle Verwicklungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass Lilly am Ende Alfred zufällt, und Alfred entschlossen zugreift, und beide ein neues Leben beginnen können, losgelöst von den Trümmern der Vergangenheit. Dieses Happy End wird allerdings nur angedeutet. Und auch hier gilt: Es ist offenbar nicht reine Liebe, sondern Lilly fällt Alfred zu, weil sich anderes zerschlägt. Zudem ist Alfred überzeugt, dass Lilly flach und albern ist.

Zeitbezüge

Sehr interessant ist die Phase unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir erfahren von Bombennächten, Zerstörungen im Krieg, Einweisungen der Ausgebombten, dem neu aufblühenden Leben in den Ruinen, und nicht zuletzt auch von Vertriebenen: Schlesier sind zweimal ein Thema. Einmal in der Person der Kehrfrau Scharnhorst, eine verkniffene, Wagnersche Zwergenfigur. Und einmal bei der Suche nach einer Köchin, wo man zur Not auch eine Schlesierin nehmen würde … – Sie kommen also nicht gut weg, die Schlesier. Immerhin wird Eduard Has kräftig auf die Schippe genommen, als er Etelka gegenüber von „Pack aus dem Osten“ spricht, denn Etelka selbst kommt ebenfalls aus dem Osten, in ihrem Fall aus Zoppot in Westpreußen.

Zur Entwicklung des Westends erfährt man, wie die Menschen damals die historistische Architektur der alten Gründerzeit-Villen geringschätzten, und die Politik die Immobilienspekulation im Westend anheizte. Kunsthistoriker verachteten die Villen als eklektisch. Mancher schlug die Ornamente von der Fassade, warf seine alten Möbel hinaus, und schaffte sich Nierentische an. Geduldet durch die Politik bildete sich ein Straßenstrich, Villen verfielen, Gastarbeiter wurden einquartiert, Schimmel und Ratten breiteten sich aus: Man versuchte, die restlichen Bewohner zu vertreiben. Hochfliegende Pläne einer „Bürostadt Schubertstraße“ wurden geschmiedet. – Doch dann schwenkte die Politik unter dem Druck der Bürger um, und die Immobilienspekulation ging schief. Die Kunsthistoriker passten ihr Urteil flugs der Zeit an.

Wir lernen durch dieses Buch auch, dass es nicht erst die 1968er waren, die mit den Traditionen brachen und sich von ihrer Vorgängergeneration abwandten. Das geschah schon eine Generation zuvor! Die 1968er haben in diesem Sinne eher zu Ende geführt, was ihre Elterngeneration im Grunde auch wollte. Wie so oft war diese Jugendbewegung keine reine Jugendbewegung, sondern führte lediglich das aus, was die Elterngeneration ihr mit auf den Weg gegeben hatte, und rannte damit offene Türen ein. Der Bruch von 1968, er muss also mindestens 1945 angesetzt werden. – Aber auch die Nazis waren schon ein Bruch mit der Tradition und der Vergangenheit, auch hier schon eine Generation in Ablösung von einer verpönten Vergangenheit. Im Grunde muss man wohl das Jahr 1918 als das große Jahr des Traditionsbruchs ansetzen, und 1968 ist sozuagen die letzte Konsequenz von 1918.

Bürgerlichkeit

Interessant sind die verschiedenen Auffassungen von Bürgerlichkeit: Im Hause Labonté ist man ganz klar bildungsbürgerlich orientiert und hat eine Vorstellung von Weltanschauung. Um Geld geht es nicht. Man fühlt sich aufgeklärt und ist nur noch pro forma Mitglied in der Kirche. Labonté senior war Freimaurer und einst an der Gründung des Vereins für Feuerbestattung beteiligt. Die konservativen Tanten werden als „atheistische Beginen“ beschrieben. Bei der Haushaltsauflösung bekommen wir zu hören, welche Bücher in „solchen“ Haushalten üblicherweise zu finden sind:

  • Die Heine-Ausgabe von 1890.
  • Haeckels „Welträtsel“.
  • Die Novellen von Paul Heyse.
  • Brehms Tierleben.
  • Heykings „Briefe, die ihn nicht erreichten“.
  • Das Herrnhuter Gesangsbuch.

Auch Eduard Has prüft überall, wo er hinkommt, welche Bücher er dort vorfindet. Aber sie sind für ihn offenbar immer nur Statussymbol. Man sieht nirgends, dass er selbst liest, oder irgendeine innere weltanschauliche oder moralische Haltung hätte. Offenbar fährt er nach Bayreuth zu den Wagnerfestspielen. Eduard Has ist ein verwöhntes Kind, musste sich offenbar nie anstrengen, scheint auch kein schwieriges Studium oder dergleichen absolviert zu haben, war den Krieg über sicher in der Schweiz untergebracht, und ist völlig unstet in seinem Willen. Geld spielt in der Familie Olenschläger-Has eine große Rolle.

Einzelnes

Es gibt verschiedene Running Gags. So z.B. das Gemälde „Der Aufbruch des Ritters von Cronberg ins Heilige Land“ von Viktor Müller im Hause Labonté. Immer wieder spiegelt sich die Geschichte in der Betrachtung dieses Gemäldes, das am Ende im Städel landet. Man erfährt dabei einiges über die Kronberger Malerschule. Ebenfalls interessant sind wiederkehrende Überlegungen zum Charakter von Privatsammlern, deren Kunsthändlern, deren Verhältnis zueinander, und wie sich eine Sammlung entwickelt. Immer wieder taucht auch Frau Trumfeller, die Sekretärin von Fred Olenschläger auf. Eine Frau mit Haaren auf den Zähnen.

Sexualität wird im ganzen Buch offenbar nirgends unter der Perspektive von Liebe durchbuchstabiert. Es geht bei Sexualität immer um ein Geschäft von Geben und Nehmen bzw. um Unterwerfung oder gar Demütigung. Es hat den Anschein, als sei dies nicht nur die Auffassung der Protagonisten, sondern auch die Auffassung des Autors. Unpassenderweise spricht der Autor heute bei diesem Roman von „Liebesgeschichten“. Klar erkennbar wird die lieblose Haltung z.B. an dem geschäftsmäßigen Umgang mit Gefühlen durch Lilly, und vor allem an Alfreds Erfahrungen bei einer Prostituierten, die ihn zu der aufschlussreichen Überlegung führen, dass es wohl schwierig werden würde, dass Lilly sich zu so etwas herablässt: Denn das ist sein Ziel. Auch Eduard Has denkt nur in Termini von Eroberung und dergleichen. Die Frauen ihrerseits geben sich den Männern ebenfalls nirgends aus Liebe hin, sondern immer nur aus den verschiedensten gefühligen Berechnungen.

Fazit

Das Buch ist zweifelsohne interessant, sowohl was Frankfurt, die Geschichte der BRD und „das Leben“ im allgemeinen anbelangt, aber es ist leider auch sehr freudlos und eine zähe Kost.

Enttäuschungen, schließlich Enttäuschung vom Leben insgesamt, sind ein großes, etwas verborgenes Thema des Buches. Und wie sich die Protagonisten mit ihrer Enttäuschung im Leben einrichten. Wie sie sich mit Situationen und Verbindungen arrangieren, weil ihre Wünsche sich zerschlagen haben, und sie nun nach Schutz und dem kleineren Übel suchen.

Auch formal ist das Buch etwas problematisch. Schon der Einstieg ist ein hartes Brot, da etwas zusammenhang- und ziellos. Es dauert eine Weile, bis der Leser Orientierung findet, und die ein oder andere Perle erkennen kann. Es nerven die ständigen nahtlosen Übergänge zwischen den Handlungssträngen. Zudem sind einige auffällige Rechtschreibfehler zu beklagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Mai 2019)

Ewald Arenz: Alte Sorten (2019)

Zwei beschädigte Seelen treffen aufeinander und finden aneinander Heilung

Die Jugendliche Sally tut sich schwer damit, sich in die „vernünftige“ Welt einzuordnen, ist wahnsinnig misstrauisch gegen alles und jeden, reagiert hysterisch, ritzt sich, wird deshalb von ihren aalglatten und verständnislosen Eltern von Klinik zu Klinik geschickt, und reißt eines Tages aus – da trifft sie auf Liss, die alleinstehend und schon über 40 einen Bauernhof mit allem drum und dran umtreibt. Liss nimmt Sally bei sich auf, sagt nicht viel, lässt sie gleichmütig gewähren und an den Arbeiten des Bauernhofes teilhaben. Sally erfährt zum ersten Mal die Freiheit, die sie benötigt, und beginnt Interesse an dem ihr völlig unbekannten Landleben zu zeigen. Aber Liss ist keineswegs die heile Seele, als die sie zunächst erscheint. Nach und nach zeigen sich ihre Beschädigungen, und nun ist es an Sally, Liss vor dem Abgrund zu retten.

Eine wunderschöne Geschichte von zwei Menschen, die aneinander ihr Glück finden und beste Freunde werden. Es sind genau die richtigen zwei aufeinander gestoßen. So ist es auch im richtigen Leben. Wir wollen und sollen alle freundlich und hilfsbereit zueinander sein, aber das alles muss dennoch an der Oberfläche bleiben. Nur in seltenen Fällen geschieht es, dass sich zwei Seelen treffen, die sich mehr zu sagen haben als das. Und manchmal trifft man eben keine. Dann bleibt man allein. So wie Liss, die immer an die Falschen geriet, und sich daraufhin in ihrem Leben durchaus sinnvoll eingerichtet hatte, soweit es ihr möglich war, mit ihrer Arbeit, mit ihren Büchern, und mit ihrem stoischen Gleichmut.

Der Roman wird ruhig erzählt und entfaltet mit einfachen Worten eine eindrucksvolle Geschichte. Neben dem eigentlichen Thema ist der Leser mindestens genauso fasziniert wie Sally von den Einzelheiten des Landlebens. Ein wahres Lesevergnügen, das zum Nachdenken über das Leben anregt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Verfasst Februar 2022.

Martin Walser: Ehen in Philippsburg (1957)

Die Verlogenheit der „besseren“ Gesellschaft und wie man ihr verfällt

Philippsburg ist eine Chiffre für Stuttgart, und der Roman spiegelt die Erlebnisse von Martin Walser als junger Rundfunkschaffender in Stuttgart. Später sprach Martin Walser von der demütigenden Erfahrung, wie ihm deutlich wurde, dass er niemals in der Stuttgarter „besseren“ Gesellschaft akzeptiert werden würde. (Er wollte dann vermutlich auch gar nicht mehr akzeptiert werden.)

Der Roman handelt von Hans Beumann, der frisch nach der Vollendung seines Studiums nach Philippsburg kommt und dort als Kommunikationschef für den Industriellen Volkmann zu arbeiten beginnt, der Rundfunk- und Fernsehgeräte produziert. Dazu muss er gegen seine Überzeugung auf eine möglichst populäre – sprich: niveaulose – Programmgestaltung der Rundfunksender hinarbeiten, damit möglichst viele Menschen solche Geräte kaufen. Auch muss er die Firma Volkmann bei denen sympathisch machen, die aufsteigen, und darf nicht zu denen loyal sein, die verlieren. Beumann ist sich bewusst, dass er damit seine Ideale verrät, stimmt aber nach kurzen Bedenken zu.

Auf einer Party (am Anfang des Buches), auf der alle Größen der Philippsburger Gesellschaft anwesend sind, wird mit oberflächlichem Lob und geheuchelten Komplimenten nicht gespart. Hans Beumann lässt sich zum Sex mit Anne, der Tochter seines neuen Chefs, verführen. Daraufhin entwickelt sich ein Abtreibungsdrama mit allem drum und dran, wie man es sich für die damalige Zeit eben so vorstellt, und Beumann macht dabei eine sehr dumme Figur. Das alles wird konterkariert durch Rückblenden zu Beumanns Mutter, die ihren Sohn als uneheliches Kind auf die Welt brachte. Als alles vorbei ist, verlobt sich Beumann mit Anne (Verlobungsparty gegen Ende des Buches).

An der Figur des Dr. Benrath wird das Drama des Liebhabers durchgespielt, der ständig heimlich tun muss, der sich nicht von seiner Geliebten lösen kann, der die Geliebte aber auch nie wird heiraten können. Es folgt der Selbstmord der betrogenen Ehefrau und die gefühlskalte Reaktion des Dr. Benrath, der damit auch den Draht zu seiner Geliebten verliert und die Stadt verlassen muss.

An der Figur des Rechtsanwaltes Dr. Alwin und seiner Ehefrau Ilse wird ein Ehepaar gezeigt, das völlig auf Ehrgeiz und die Beförderung der Karriere des Ehemannes getrimmt ist. Die Beziehung zur Ehefrau ist geschäftsmäßig kühl, nebenbei hat Dr. Alwin eine Geliebte. Dr. Alwin ist ein narzisstischer Egomane, der glaubt, sich alles erlauben zu können, und fühlt sich dabei noch großmütig. Er hält sich für einen fürsorglichen Ehemann, weil er nicht vor anderen prahlt, eine Geliebte zu haben. Als er fahrlässig einen Motorradfahrer totfährt, wälzt er die Schuld auf andere ab und sucht Trost bei seiner Geliebten. Manchmal fragt sich Dr. Alwin, wozu er das alles tut: Für ihn besteht der wahre Sinn des Lebens in Faulenzen und Ficken.

Am Ende des Romans wird Hans Beumann in den Nachtclub Sebastian eingeführt und feierlich aufgenommen, zu dem nur die „bessere“ Gesellschaft Zutritt hat: Hier trifft man alle Männer, die man zuvor im Roman kennengelernt hat, in ausgelassener Runde wieder. Zu jedem Gast gesellt sich sofort ein Mädchen. – Hans Beumann stellt sich einem ungebetenen Gast aus der niederen Gesellschaft entgegen, in dessen Charakter er den Charakter der Spielkameraden seiner Kindheit wiedererkennt. Er schlägt ihn nieder und wird als Held bejubelt. Im Nachtclub Sebastian trifft Hans Beumann auch Marga wieder, seine wahre Liebe. Anfängliche Bedenken, die Dienste von Marga in Anspruch zu nehmen, wischt der frisch mit Anne verlobte Hans Beumann bald beiseite, und so lässt er sich von Marga – als Kunde – ins Bett ziehen. Dass er sie liebt, bringt er nicht mehr über die Lippen, doch ist Hans Beumann wild entschlossen, noch oft bei Marga vorbeizuschauen, parallel zu seiner Ehe mit Anne. Am Ende des Romans ist Beumann überrascht davon, wie leicht ihm die Lügen vor Anne von den Lippen gehen.

Während des Romans wirft Beumann nach und nach seine moralischen Bedenken ab und verrät auch wiederholt seine Herkunft aus einem Provinznest. Der Kontrast zu Beumann ist Herr Klaff, der nicht einmal als Pförtner akzeptiert wird, Suizid begeht, und Beumann seine Aufzeichnungen hinterlässt („Spielzeit auf Probe“). Diese irritieren Beumann ein wenig, können ihn aber nicht auf seinem Weg stoppen, ein Arschloch unter Arschlöchern zu werden.

Die „bessere“ Gesellschaft beschwört immer wieder Familie und Christlichkeit, lebt selbst aber völlig anders: Ein klarer Fall von „rechts reden, links leben“. Der mächtige Chef der Philippsburger Zeitung Büsgen ist sogar schwul und bringt zu Parties wie selbstverständlich „einen seiner Jünglinge“ mit (der Roman erschien 1957). Die Eliten haben auch eine positive Einstellung zum Militär und pflegen Kriegsrhetorik. – Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Rückkehr zum Christentum nach dem verlorenen Krieg in der „besseren“ Gesellschaft nur geheuchelt und der vorherrschende Konservatismus dumpf und dunkel war. Wie Walser später deutlich machte, geht es aber nicht gegen diese oder gegen jene politische Richtung, sondern vielmehr ist die „bessere“ Gesellschaft immer verlogen, egal ob sie konservativ ist oder nicht. Man kann auch dumpf und dunkel links sein, und „links reden, rechts leben“ ist heute der Hit. Walser: Es kommt für diese Leute nicht darauf an, ob sie links oder rechts sind, sondern darauf, dass sie in der ersten Klasse fahren! (aus dem Gedächtnis zitiert)

In etlichen Passagen findet sich bereits jener Topos, der später beherrschend für Walsers Bücher werden wird: Der tatenlose innere geistige Kampf des Ohnmächtigen angesichts eines Mächtigeren.

Es sind etwas zuviele Metaphern im Text.

Eingestreut in den Roman finden sich viele kleine Miniaturen:

  • Die aufdringlich modern sein wollende Mutter Annes.
  • Die grundsätzliche Unmöglichkeit der Annäherung an andere Menschen.
  • Die Hure Johanna in der Straße der armen Leute.
  • Kleinheitserfahrungen des Neulings angesichts der angeblich „besseren“ Gesellschaft.
  • Die Erfahrung der ersten selbstgekauften guten Klamotten.
  • Eine Karikatur auf damalige Rundfunkstudios.
  • Die Erfahrung, dass Komplimente einen auch dann beeinflussen, wenn man weiß, dass sie geheuchelt sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 10. Januar 2022, mit zensierten Kraftworten)

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