Schlagwort: Freundschaft (Seite 1 von 2)

Robert Bolt, Fred Zinnemann: Ein Mann zu jeder Jahreszeit (Film, 1966)

Passiver Widerstand aus Gewissensgründen glaubwürdig dargestellt

Der Film schildert eindrucksvoll, wie Thomas Morus versucht, den Anforderungen der Obrigkeit einfach aus dem Weg zu gehen und sie nicht zu reizen. Thomas Morus ist kein Held vom billigen Format, der die Gefahr sucht. Aber die Obrigkeit wird gerade durch dieses Verhalten dazu gereizt, ihn herauszufordern, von ihm Bestätigung zu verlangen, ihn Schritt um Schritt in die Enge zu drängen, um ihn zu unterwerfen. Ähnliches hörte man schon von DDR-Dissidenten: Wenn der Staat sie einfach in Ruhe gelassen hätte, wären sie gar keine Dissidenten geworden.

Es ist auch treffend dargestellt, wie Morus sich bewusst von seinen Freunden distanziert, um sie nicht ins Schlamassel mit hineinzuziehen. Es ist gut zu sehen, wie die Menschen um Morus von ihm Abstand nehmen, ihn sogar verraten oder persönliche Rache nehmen. Man sieht, wie schwer es ist, einen Standpunkt gegen die herrschende Meinung einzunehmen, welche sozialen Mechanismen plötzlich greifen und zu wirken beginnen, um den Dissidenten zu isolieren und zu zerstören.

Und es ist gut zu sehen, wie die Macht unter dem Deckmantel der Galanterie plump und brutal ist, im Gegensatz zur Tochter von Morus, die gebildet und feinsinnig ist.

Das alles ist kein Historienfilm, der eine historische Begebenheit dröge ableiert. Das ist ein Menschheitsdrama.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2008)

Robert Silverberg: Gilgamesch The King (1984)

Gelungenes Sinuhe-Remake für die sumerische Kultur

Mit seinem Buch „Gilgamesch – The King“ hat Robert Silverberg eine Art Remake des Klassikers „Sinuhe der Ägypter“ von Mika Waltari vorgelegt. Wie dort auch läuft vor den Augen des Lesers eine Art psychedelischer Lebensfilm des Protagonisten ab, der gewissermaßen die Innensicht und die weltanschauliche Perspektive eines antiken Menschen nachzubilden versucht, von der Wiege bis zur Bahre. Auf diese Weise wird ein besonders intensiver Einblick in die jeweilige Zeit und Kultur gegeben. War es bei Waltari das alte Ägypten, ist es bei Silverberg die sumerische Kultur.

Das Remake ist gelungen: Wer nach der Lektüre nach Informationen über die alten Sumerer sucht, wird finden, dass Silverberg die wesentlichen Elemente dieser Kultur verarbeitet hat, und zwar gut verarbeitet. Historische Exaktheit darf man natürlich nicht erwarten, das ist nicht der Sinn der Sache, zumal die Forschung bei diesen frühen Kulturen immer noch sehr in Fluss ist. Es steht das Literarische und Menschliche im Vordergrund; in der alten Kultur spiegeln sich Einsichten, die sehr wohl auch für die Gegenwart gelten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2012)

Honoré de Balzac: Die Frau von dreißig Jahren (1842)

Ein Frauenleben zu Balzacs Zeiten – nur begrenzt auf heute übertragbar

Balzac durchleuchtet mit diesem Buch den typischen Werdegang einer Frau seiner Zeit vom Jugendalter bis zum Tod (insofern ist der Titel irreführend). Dieser Werdegang, der eine fortgesetzte Lebenskatastrophe ist, wurde damals durch das Institut der Ehe bestimmt, die offenbar praktisch unauflöslich war. Aus diesem Umstand ergeben sich eine ganze Reihe von zwangsläufigen Konsequenzen.

Am Anfang allen Übels steht die enthusiastische Wahl eines oberflächlich beeindruckenden Ehegatten. Dieser entpuppt sich jedoch schon bald als Langweiler und Dummkopf. Doch die Ehe ist ein für allemal geschlossen. Abwechslung bietet eine ältere, erfahrene Freundin. Doch diese stirbt alsbald. Abwechslung bietet ein Kind. Doch es ist kein Kind der Liebe. Abwechslung bietet auch ein Liebhaber. Doch die Ehe verhindert, dass aus dieser Beziehung eine ernste Sache werden kann. Der Liebhaber stirbt tragisch, es kommt der nächste Liebhaber. Die Erwartungen und der Schwatz der Gesellschaft sind unerträglich, ebenso die außerehelichen Ausschweifungen des Ehegatten. Vor einem Notar muss Normalität geheuchelt werden. Die Tochter läuft irgendwann davon, weil sie genau spürt, dass sie nicht geliebt wurde. Eine andere Tochter wird glücklich verheiratet, und für ihr Glück wird am Ende alles Eigene geopfert. Kurz: Ein Frauenleben als durchgängige Tragödie vom Anfang bis zum Ende.

Der Roman war für seine Zeit bedeutsam, es fällt jedoch schwer, die Situation ohne weiteres auf die heutige Zeit zu übertragen. Viele Einzelaspekte dieser Tragödie zeigen sich natürlich auch in unseren Tagen, doch der zentrale Zwang der Ehe ist heute nicht mehr in gleicher Weise vorhanden. Aus heutiger Sicht wäre es z.B. interessant gewesen zu lesen, wie die Protagonistin nach ihrer Eheschließung schrittweise bemerkt, dass ihr enthusiastisch verehrter Ehemann ein Dummkopf ist. Man hätte es dann mit dem Hintergedanken lesen können: Woran merkt sie es, und hätte man es nicht schon vorher merken können? Doch genau diesen Vorgang der Erkenntnis überspringt Balzac komplett. Im einen Moment ist die Protagonistin noch enthusiastisch verliebt, im nächsten Kapitel ist sie schon die enttäuschte Ehefrau ein Jahr später.

Der Verlauf der Handlung ist zudem nicht rund. Insbesondere zum Ende hin wird viel gesprungen. Man liest, dass Balzac hier verschiedene Erzählungen zu einer vereinigte. Diese Vereinigung ist leider nicht gut gelungen.

Interessant eine Episode am Rande:

Der Notar Alexandre Crottat ist ein Anaisthetos, also ein Mensch, der für soziale Empfindlichkeiten, Gefühle und unterschwellige Signale nicht empfänglich ist. Dieser Crottat schwadroniert in Gegenwart der Familie d’Aiglemont – Ehemann, Ehefrau und Liebhaber mitsamt ehelichen und außerehelichen Kindern – ehrlich und direkt über die schier unglaublichen Rechtsfälle in Ehesachen in der Gesellschaft, und bemerkt gar nicht, dass er damit genau die Situation der Menschen trifft, in deren Gegenwart er redet. In gewissem Sinn ist er der moralischste, glaubwürdigste Charakter in diesem Buch. Man kann es ihm noch nicht einmal als einen Fehler ankreiden, dass er sich „unmöglich“ benimmt, denn „unmöglich“ sind ja in Wahrheit die anderen, nicht er. Allerdings wäre er klug beraten, zu schweigen, denn die anderen lernen durch seine richtigen Reden nichts, und er schadet sich nur selbst. Man würde ihm diese Einsicht und mehr Gespür wünschen zu schweigen, dann könnte er ein Weiser sein. Jedenfalls ist es unzureichend, diesen Menschen als dick und dumm zu charakterisieren, wie es anscheinend geschieht. Seine „Dummheit“ erscheint nur vor dem Hintergrund einer verlogenen Gesellschaft „dumm“.

Besser hat es der alte Dorfpfarrer gemacht, der versuchte, die Protagonistin zu belehren: Erstens spricht er die Protagonistin unter vier Augen an, zweitens kann er durch das Beispiel seines eigenen Leidens Eindruck machen, und drittens spürt er irgendwann, dass er nicht weiterkommt, und stellt daraufhin seine Bemühungen stillschweigend ein.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Dezember 2020)

Per Petterson: Pferde stehlen (2003)

Reiches, atmosphärisches Buch über Väter, Einsamkeit, das Leben schlechthin

Es ist die Geschichte eines Jungen und seines Vaters, die beide 1948 einen Sommer auf einer Hütte in der norwegischen Provinz nahe der schwedischen Grenze verbringen. Es ist ein Sommer voller Abenteuer für den Jungen, ein Leben in und mit der Natur, einsam, arbeitsam und einfach, ein Leben mit glücklichen und tragischen Momenten. Vater und Sohn kommen sich dabei so nahe wie nie, und der Sohn beginnt zum Mann zu werden.

Doch was der Sohn nicht weiß: Sein Vater war schon einmal hier, im Krieg, und hatte Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden geholfen. Und sich dabei verliebt. Es ist der letzte Sommer, den Vater und Sohn gemeinsam verbringen, bevor der Vater die Familie endgültig verlassen und ohne Wiederkehr zu seiner Geliebten gehen wird.

Die Geschichte wird aus der Perspektive des Sohnes erzählt, wie er nun seinerseits als alter Mann erneut in eine Hütte in derselben Gegend zieht, um seine letzten Jahre in jener arbeitsamen Einsamkeit zu verbringen, die er damals von seinem Vater kennengelernt hatte. Auch jetzt sind Glück und Tragik nahe beieinander: Ehefrau und Schwester sind gestorben, aber seine Tochter besucht ihn überraschend. Die Einsamkeit tut gut und wird mit der Lektüre von Charles Dickens abgerundet, sie wird aber auch als Risiko empfunden. Aber da ist noch sein Hund Lyra, und ein guter Nachbar, den er noch aus dem Sommer 1948 im Zusammenhang mit tragischen Ereignissen kennt.

Per Petterson ist ein sehr atmosphärisches, ruhiges Buch gelungen, das den Leser teilhaben lässt an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten. Ein Buch über Väter und Söhne, über Einsamkeit und Freundschaft, über Liebe und Verlassenheit, über Stadt und Land, über Krieg und Frieden, über Jugend und Alter, über unmittelbares Erleben und späteres Erinnern, über das Leben schlechthin, kurz: Es ist ein sehr reiches Buch.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2018)

Hermann Hesse: Narziss und Goldmund (1930)

Durchspielen von Sinnlichkeit und Geistigkeit – Kritik am typisch „Deutschen“

Der Roman „Narziss und Goldmund“ schildert die Freundschaft zweier Klosterschüler, von denen der eine radikal sinnlich, der andere radikal geistig lebt. Narziss lebt ein Leben der Gelehrsamkeit, bleibt immer nur im Kloster, steigt zum Abt auf, und hat einen rationalen Durchblick durch die Zusammenhänge der Welt. Goldmund hingegen verlässt das Kloster, zieht wandernd durch die Lande, legt eine Frau nach der anderen flach, wird zum bildenden Künstler, und kehrt am Ende ins Kloster zurück. Während die Figur des Goldmund den Roman beherrscht, taucht Narziss nur am Anfang und Ende auf, und steht – obwohl ebenbürtig – nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Hermann Hesse wollte hier ganz offensichtlich zwei Charaktereigenschaften an zwei Menschen durchspielen, indem er sie jeweils völlig einseitig gestaltet und miteinander in freundschaftliche Verbindung bringt. Narziss muss Goldmund anfangs erst zur Erkenntnis seiner selbst befreien, bevor dieser hemmungslos sinnlich werden kann. Goldmund hingegen lässt Narziss zweifeln, ob ein rein geistiges Leben wirklich gut ist. Narziss hat Goldmund am Ende voraus, dass er dessen Sinnlichkeit anfanghaft versteht. Goldmund hingegen versteht die geistige Welt des Narziss noch nicht einmal im Ansatz. Goldmund bleibt bis zuletzt ein großes Kind, kuriert eine gefährliche Verletzung nicht aus, und stirbt blöde lächelnd (Hirnschlag?), ohne die Mehrzahl der von ihm geplanten Werke geschaffen zu haben. Narziss bleibt zweifelnd zurück.

Bedingt durch Bildungsmangel und die Irrtümer des Zeitgeistes fassen viele Leser diesen Roman falsch auf. Der erste Irrtum ist die Lesart als Lebensratgeber. Wie wenn Hermann Hesse dem Leser hätte sagen wollen: „Enthemme Dich, fick Dich durch’s Leben, die Rationalen sind die Dummen.“ Doch das ist nicht der Fall. Beide Charaktere sind gleich in ihrer Würde. Und beide Charaktere taugen nicht als Vorbild. Vorbildlich wäre eine richtige Mischung aus beidem. Der zweite verbreitete Irrtum ist die Lesart als homoerotischer Roman. Auch das ist Unfug. Die Liebe zwischen Narziss und Goldmund ist die Liebe von Mensch zu Mensch, jenseits aller Geschlechtlichkeit. Wer das nicht erkennt, hat etwas verpasst.

Thema Sinnlichkeit: Hier spielt das Bild der „Mutter“ eine große Rolle. Zunächst die eigene, verlorene Mutter, dann das Bild der „großen“ Mutter. Die Mutter als Verkörperung von Leben und Tod zugleich. Goldmund verfällt dieser Vorstellung völlig und wird von ihr in den Tod gezogen. Narziss sind solche Gedanken und Gefühle fremd.

Thema Kunst und Künstler: Der Werdegang von Goldmund zum Künstler, seine Begegnung mit Werken und mit dem Meister, sein innerer Drang, seine Gedanken über Gesehenes und seine inneren Bilderwelten geben dem Leser einen lebendigen Eindruck davon, was es heißt ein Künstler zu sein und Werke zu schaffen.

Thema Lebensweisheit: Der Roman umspannt das ganze Leben zweier Menschen und enthält deshalb auch eine Menge Lebensweisheit zu allen möglichen Themen (Jugend vs. Alter, Wanderschaft vs. Sesshaftigkeit, Lehre vs. Meisterschaft, Leben vs. Tod), die nicht zwingend mit dem Thema des Buches verbunden sind. Es könnte sich lohnen, das Buch mehrfach zu lesen.

Thema Kloster Maulbronn: Hermann Hesse hat das Kloster Mariabronn natürlich nach dem Kloster Maulbronn gestaltet, in dem er als Internatsschüler gescheitert war. Aber überraschenderweise ist die Darstellung der Klosterschule in diesem Roman durchgehend positiv! Das erfreut den Leser, der sich an die Depressivität des Romans „Unterm Rad“ erinnert, in dem Hesse seine negativen Erfahrungen im Kloster Maulbronn verarbeitet hatte.

Thema Mittelalter: Neben dem Kloster wird das ganze mittelalterliche Leben durchgespielt: Dörfer und Höfe, ein Ritter auf seiner Burg, die Bischofsstadt (die angeblich nach Würzburg gestaltet sein soll, aber Würzburg ist viel zu barock), der Statthalter des Kaisers in seiner Residenz.

Thema Pest: Auch die mittelalterliche Pest spielt eine Rolle. Es ist interessant, die heutigen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie mit dieser literarischen Darstellung der Pest zu vergleichen. Es gibt die Angst vor der Ansteckung, das Abstandhalten und Isolieren, die behördlichen Anweisungen, die Geschäftemacher usw.

Typisch „deutsch“:

Hermann Hesse schrieb dieses Buch 1927-1929, also noch vor der Zeit des Nationalsozialismus: „Ich habe mit diesem Buch der Idee von Deutsch­land und deutschem Wesen, die ich seit der Kindheit in mir hatte, einmal Ausdruck gegeben und ihr meine Liebe gestanden – gerade weil ich alles, was heute spezi­fisch ‚deutsch‘ ist, so sehr hasse.“ – Was könnte Hesse damit gemeint haben?

Viele denken an die im Roman geschilderte Verbrennung von Juden als Sündenböcken für die Pest. Narziss sagt, er würde eine Judenverbrennung zwar niemals anordnen, aber es könnte sein, dass er sie geschehen ließe, wenn er sie nicht verhindern könne, denn: „Die Welt ist nicht anders“. – Das mag vielleicht ein Aspekt des typisch Deutschen sein, den Hesse vielleicht auch meinte, aber Hesse schrieb dieses Buch vor der Zeit des Nationalsozialismus, und Judenpogrome waren und sind alles andere als typisch „deutsch“. Die Antwort des Narziss ist außerdem gar nicht so unvernünftig: Nicht mittun ist schon ziemlich viel getan. – Es könnte auch die Rationalität und Gelehrsamkeit des Narziss gemeint sein. Aber dieser kann es nicht allein sein, weil er ebenbürtiger Gegenspieler zu Goldmund ist, und weder Rationalität noch Gelehrsamkeit sind typisch „deutsch“. – Es könnten mit „deutsch“ auch die sesshaften Spießer gemeint sein, gegen die Goldmund als Vagabund polemisiert. Aber das ist nur ein Randthema.

Nein, es ist etwas ganz anderes, was die Menschen von heute nicht sehen, weil sie durch Bildungsmangel und Zeitgeist blind dafür geworden sind. Der Elephant im Raum ist natürlich die zentrale Figur des Goldmund, wie er mit größter Unbekümmertheit und Naivität durch das ganze deutsche Reich wandert, dabei Jung-Siegfriedhaft immer ein Kind bleibt, wie er sich gerne in Raufereien verwickelt und manchmal jemanden totschlägt, wie er die Jüdin Rebecca, die gerade ihre Familie auf dem Scheiterhaufen verloren hat, dämlich dazu auffordert, ihr Leben doch in sinnlicher Lust zu genießen, der sich nicht einmal ansatzweise (!) aufs Denken versteht, und der schließlich dem Todessog der großen Mutter verfällt. Dies ist die große Kritik am deutschen Volk, die Hermann Hesse hier gestaltet hat. Diese Figur ist es, die Hermann Hesse zugleich liebt und hasst. Also gerade das, was manche als positive Lebenslehre aus diesem Roman mitnehmen wollen, ist in Wahrheit die zentrale Kritik des typisch „Deutschen“.

Ein Vergleich zu Thomas Manns „Zauberberg“ von 1924 drängt sich auf: Auch hier meinen heute viele irrigerweise, der politisch Radikale Naphta wäre die große Warnung vor dem, was kommt. Doch in Wahrheit ist es der freundliche Herr Peeperkorn, der alle für sich vereinnahmt und nur inhaltsleere Gespräche führt, vor dem Thomas Mann vor allem warnen will. Auch dieses Buch wird in ganz ähnlicher Weise missverstanden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. August 2020.

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels (2006)

Ein Plädoyer für eigenwillige Intellektualität und das unvergänglich Schöne im Leben

Im Zentrum des Romans „Die Eleganz des Igels“ steht eine 54jährige verwitwete Concierge eines Pariser Nobelwohnblocks. Nach außen hin verbirgt sie, dass sie sich im Laufe der Zeit eine hohe Bildung angelesen hat und sich in Literatur, Philosophie, Musik und Kunst bestens auskennt, indem sie die Rolle der mürrischen Concierge spielt und darin bis zur Perfektion gelangt ist. Paloma, die aufgeweckte Dreizehnjährige die ihren Selbstmord plant, und Monsieur Ozu, ein neu zugezogener japanischer Millionär von hoher Bildung, sind die einzigen Bewohner des Blocks, denen die Intellektualität der Concierge nicht entgeht; sie decken ihr Geheimnis auf, befreien sie aus ihrer intellektuellen Einsamkeit und schließen Freundschaft. Doch so glatt geht die Sache am Ende nicht auf, denn das Schicksal ist launenhaft und ungerecht.

Mehr noch als die Handlung stehen philosophische Überlegungen, die sich an Alltagssituationen anknüpfen, im Mittelpunkt des Romans: Aus Banalitäten werden hochintelligente Betrachtungen über das Leben abgeleitet, und hohe Philosophie und Kunst wird direkt mit dem Alltag konfrontiert und auf praktische Tauglichkeit hin überprüft. In diesem Feuerwerk der Assoziationen von Bildung und Alltag liegt ein wesentlicher Teil des Reizes an diesem Buch.

Dieser Roman setzt nicht nur der Pariser Concierge und nicht nur dem ewigen Kleinkrieg zwischen Spießertum und Intellektualität ein literarisches Denkmal, sondern vor allem auch dem Typus des Autodidakten, der durch eigene Lektüre zu einer hohen Bildung gelangt ist. Ohne auf seinem Bildungsweg durch Rücksicht auf Schulen, Moden und Konventionen geformt worden zu sein, kann er seine Bildung und Vernunft frei in eigenwilliger Originalität entfalten und auf alles anwenden, wie es ihm beliebt. Andererseits kann diese Freiheit den Preis der Einsamkeit kosten, der zu Melancholie bis hin zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins führen kann.

Am Ende des Buches behält diese Grundstimmung die Oberhand: Das Schicksal erlaubt es nicht, das die Concierge nach 54 Jahren der Einsamkeit zu einer optimistischen Weltsicht vordringt und mit spät entdeckten Gleichgesinnten zu leben beginnt. Gewiss, dieses Ende ist keineswegs unrealistisch, aber musste das sein? Vielleicht war der Autorin ein einfaches Happy End schlicht zu simpel. Dem Leser zum Trost sei festhalten: Auch ein Happy End wäre selbstverständlich möglich gewesen, das traurige Ende des Romans ergibt sich keinesfalls zwingend; es handelt sich hier also nicht um ein Plädoyer gegen das Streben und für die Ergebenheit in einen schicksalhaften Fatalismus, dem niemand entrinnen könne – ganz im Gegenteil! Paloma sagt es im Schlusskapitel: Es gibt die Möglichkeit, Momente unvergänglicher Schönheit zu erleben und das Schicksal durch Entscheidungen zu beeinflussen – und sie entschließt sich, zu leben!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 04. August 2012)

Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797 / 99)

Hölderlins lesenswertes Genie-Drama mit fragwürdigem Ausgang

Hölderlins Briefroman „Hyperion“ will das Ganze des erhellten Menschen und seines Sinnes in der Welt fassen. Das Leben des Hyperion wird dazu in seinen verschiedenen Phasen nachgezeichnet, und die großen Themen des Werkes angeschlagen: Unerfahrene Jugend, die von einem Lebenslehrer (Adamas) zum Erwachsenenleben hinaufgezogen wird. Wahre Freundschaft, Zerstreitung, Wiederfindung und Versöhnung (Alabanda). Liebe zu einer Seele, die einen versteht (Diotima). Die Notwendigkeit der Hoffnung für das Leben. Der Wert der Begeisterung, der Harmonie mit dem Ganzen. Klage über das Fehlen eines solchen Geistes bei den Philistern von Smyrna oder den Deutschen. Skepsis gegen romantisches Schwärmen, harte Selbstkritik, Abwehr falscher Hoffnungen und allzu einfachen Glaubens. Abschied, Tod, Sinnlosigkeit. Das klassische Athen als Quelle der Erkenntnis für alle Weisheiten und Einsichten.

Hölderlin hat mit „Hyperion“ ein Werk voller Einsichten geschaffen, das den genialen Menschen in der Welt umfassend durchleuchtet und nicht zufällig in Griechenland angesiedelt ist. In einer schönen, klaren, oft schwärmerisch erscheinenden Sprache führt sich in Briefen ein keinesfalls willkürlich schwärmendes Leben vor Augen. Mehr als alles andere aber steht der begeisterungsfähige und intelligente Mensch, der natürlich-geniale Geist, in seiner Unverstandenheit bei seinen allzu praktischen oder allzu gläubigen Mitmenschen im Mittelpunkt. Nur wenige sind so, und nur wenige werden deshalb Hölderlins Hyperion begreifen können.

Gegen Ende des Romans entgleist Hölderlin die Situation und er scheitert daran, ein wirklich großes Werk geschrieben zu haben:

Was für Hyperion von Wert war in dieser Welt, zerrinnt ihm unter den Händen (Diotima, Alabanda), und er flüchtet sich aus Griechenland ins Land der geistlosen Deutschen in einen nun leider doch schwärmerisch zu nennenden Naturglauben: In der Natur sieht er alles aufgehoben, der Tod ist nichts vor der Natur. Mit diesem Naturglauben kehrt er dann als Eremit nach Griechenland zurück. Diese schwärmerische Wendung, diese Flucht ins Wünschenswerte, für dessen Realität er aber keinen Beleg und kein Argument bringt, außer der geahnten Geisterstimme von Diotima im Säuseln der Natur, nimmt dem Werk etwas von dem guten Eindruck, den es die meiste Zeit macht, denn die gesunde Skepsis wurde über Bord geworfen und Hoffnung ist hier nur für den Schwärmer zu sehen. Für intelligente Menschen, denen ihr Leben zerbricht, hat Hölderlin nur bedingt eine Antwort.

Goethes Faust II endet ebenfalls mit einer Aufgehobenheit nach dem Tode und einer Begrüßung durch das „Weibliche“, aber es ist eindeutig philosophischer und symbolischer, während Hölderlin zu konkret und zu oberflächlich bleibt. Zwischen philosophischer Metaphysik einerseits und schwärmerischer Esoterik andererseits ist eine feine aber wichtige Grenzlinie gezogen, die Hölderlin leider nicht beachtet. Es fragt sich, ob Hölderlin eher auf Athen oder eher auf die „Natur“ gesetzt hätte, hätte er wählen müssen, und wie weit Hölderlins Schwärmerei für die Natur die guten Einsichten, die er dem wirklichen Athen verdankt, überlagert haben.

Man fragt sich auch, was aus Hyperions Plan geworden ist, ein Erzieher des Volkes der Griechen zu werden, den er in Athen gemeinsam mit Diotima fasste. Und der Tod der Diotima aus „Verwelken“ ist ebenfalls ziemlich fragwürdig, wie immer man ihn auch deuten mag; sie hätte mit Hyperion ins Ausland gehen können und dort seine Rolle als Volkserzieher unterstützen – statt dessen stirbt sie mutwillig dahin, weil sie sich „verwelkt“ fühlt; diese Selbstbezogenheit und Pflichtvergessenheit gegenüber der Welt ist nicht nachvollziehbar. Alles in allem ein großes Werk, doch der ganz große Wurf ist gescheitert.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Dezember 2012)

« Ältere Beiträge