Ein Meisterwerk der Erzählkunst – eine Warnung vor schrankenlosem Multikulti
Der Roman „Die dunkle Seite der Liebe“ von Rafik Schami ist ein Glanzstück erzählerischer Prosa und sprachlich ein wahrer Hochgenuß. Voller Geduld und in aller Seelenruhe entspinnt sich vor den Augen des Lesers ein gigantisches Geflecht von ineinander greifenden Einzelerzählungen, die sich unendlich langsam aber doch beharrlich zu einem gewaltigen Gesamtbild zusammenfügen. In weiten Bögen schweift die Erzählung vom roten Faden ab, verliert sich scheinbar im Unendlichen, und kommt doch immer wieder überraschend treffsicher zum Ausgangspunkt zurück. Durch dieses Umkreisen und Vor- und Zurückblenden entfaltet sich ein großer Bilderbogen der arabischen Kultur in Syrien Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieser Roman ist eine wahre Bereicherung der deutschen Literatur durch die Synthese von orientalischer Erzählkunst und der deutschen Sprache.
Handlung des Romans ist eine Familienfehde zwischen zwei christlichen arabischen Clans über mehrere Generationen hinweg, die die Liebe zwischen Farid und Rana, die jeweils einem der beiden Clans angehören, zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit macht.
Thema des Romans ist damit die Familiensoziologie der arabischen Kultur. Und hier ist alles drin: Ob Ehrenmord oder Zwangsverheiratung, nicht nur an Frauen, auch an Männern, ob Verhätschelung des Sohnes und Demütigung der Tochter, ob Machokultur und Patriarchat oder Verrat der Mütter an ihren Töchtern, ob Familienfehde oder Blutrache über Jahrzehnte hinweg, ob unhinterfragte Religiosität oder Aufklärungsfeindlichkeit: Hier ist einfach alles drin. Es ist eine schlichtweg verrückte Welt, ein einziges Irrenhaus, und je aufgeklärter die Protagonisten im Roman sind, desto mehr empfinden sie es ebenso: Es ist eine einzige Katastrophe, einfach nur zum Davonlaufen.
Interessant für den europäischen Leser ist, dass sich hier in christlichen Familien all die Phänomene wieder finden lassen, die man sonst eher in islamischen Familien vermuten würde. Die Ursache für solche Zustände ist ein Gesamtkonglomerat aus unaufgeklärter Religiosität und kulturellem Traditionalismus, Bildungsferne und dem Leben in einem islamisch dominierten Land. Das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung ist das Hauptproblem.
Interessant ist auch, wie sich die syrische Gesellschaft aufspaltet: Es sind dort nicht alles traditionalistische Muslime, wie manche vielleicht meinen, sondern es gibt dort alle politischen und weltanschaulichen Schattierungen, die es auch im Westen gibt. Nur, dass das Spektrum anders proportioniert ist, so dass moderate, aufgeklärte Demokraten keine Chance haben.
Viele europäische Intellektuelle scheinen diesen Roman falsch verstanden zu haben: Sie loben ihn als Werk des Multikulturalismus, der uns durch orientalische Sprache bereichere und der zeige, dass in der islamischen Welt auch vernünftige Menschen lebten bzw. dass auch Christen traditionalistisch sein können. Das ist alles nicht falsch, aber doch haarscharf an der Wahrheit vorbei gedacht: Der Roman zeigt doch vielmehr, dass man Christentum und Islam nicht gegeneinander ausspielen sollte, sondern unabhängig von der Väterreligion das Fehlen von Aufklärung und humanistischer Bildung das Problem sind.
Man kann diesen Roman auch als eine Warnung an Europa lesen, die von europäischen Intellektuellen gerne übersehen wird: Wollen wir wirklich tatenlos dabei zusehen, dass sich im Namen der Toleranz und der kulturellen Vielfalt auch diese arabische Familienkultur bei uns einnistet? Vor der so viele arabische Intellektuelle zu uns geflohen sind, darunter auch der Autor dieses Romans, Rafik Schami? Wollen wir Zufluchtsort sein, oder ein Ort, von dem man flüchtet?
Der Leser sollte für dieses Werk viel Zeit mitbringen: Das ganze erste Drittel des Romans ist der Vorgeschichte der beiden Clans gewidmet, es ist eine einzige schier endlose Orgie aus Ehrenmorden und Zwangsheiraten. Danach folgt bis zur Mitte des Romans die Kindheit der Hauptperson. Bis zu diesem Punkt muss man einfach durchhalten, die Schönheit der Sprache wird es einem erleichtern. Und es lohnt sich! Denn auf dieser notwendigen Grundlage kommt die Geschichte dann in Fahrt.
Bewertung: 5 von 5 Sternen.
Geschrieben 27. November 2001.