Schlagwort: Genie

Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand (2009)

Einblick in den Geisteshaushalt eines Genies

Das Bedeutsame am Roman „Die Frau für die ich den Computer erfand“ von F. C. Delius ist nicht so sehr die Lebensgeschichte von Konrad Zuse, dem Erfinder des Computers, noch dessen platonisch-historische Liebschaft zu Ada Lovelace, sondern vielmehr ganz allgemein der Einblick in den inneren Geisteshaushalt eines Genies. Es könnte irgendein Genie sein.

Wie sieht es aus im Kopf eines genialen Menschen? Was treibt ihn an? Was denkt er über seine nichtgenialen Mitmenschen? Die Fiktion des Romans ist, dass Konrad Zuse seine Gedanken einen ganzen Abend und eine ganze Nacht lang frei fließend und assoziierend auf das Tonband eines Journalisten spricht. Dabei kommt man der wirklichen Denkökonomie eines Genies sehr nahe.

Folgende Elemente finden sich in den geäußerten Gedanken: Eine Angetriebenheit durch die Defintion des Dichters nach Rilke, das „Ich muss“ des echten Dichters umgemünzt auf den echten Erfinder. Ständige höchst eigenwillige aber durchaus treffende Selbstvergleiche zu Goethes Faust und den zugehörigen Mephisto. Eine autosuggestive, „hinan“ ziehende platonisch-historische Liebe zur mutmaßlich ersten Programmierin Ada Lovelace, die 150 Jahre vor Zuses Zeit lebte. Dann Deutschsein in Form von Pflicht, Verwurzeltheit, Ordnung, Bescheidenheit, Zurückhaltung. Außerdem ein überlegenes Herabsehen insbesondere auf den beschränkten Verstand von Journalisten und Politikern. Eine realistische Amerikafreundlichkeit. Vergleiche, wie schwer man es damals hatte, wie leicht es andere heute haben. Stolz auf das Erreichte, Schöpfen von Lebenskraft aus Anerkennung, Enttäuschung über fehlende Anerkennung. Vorsicht, wegen unverstandener Genialität nicht von den gewöhnlichen Menschen für verrückt gehalten zu werden. Einsamkeit.

Alles in allem ein einziger Lesegenuss für Menschen, die Idealismus, Realismus und Eigenwilligkeit schätzen, die Ingredienzien von Genialität. Dieses Buch ist nichts für Träumer ohne Bodenhaftung und bildungsferne Computerfreaks.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06.08.2012)

Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797 / 99)

Hölderlins lesenswertes Genie-Drama mit fragwürdigem Ausgang

Hölderlins Briefroman „Hyperion“ will das Ganze des erhellten Menschen und seines Sinnes in der Welt fassen. Das Leben des Hyperion wird dazu in seinen verschiedenen Phasen nachgezeichnet, und die großen Themen des Werkes angeschlagen: Unerfahrene Jugend, die von einem Lebenslehrer (Adamas) zum Erwachsenenleben hinaufgezogen wird. Wahre Freundschaft, Zerstreitung, Wiederfindung und Versöhnung (Alabanda). Liebe zu einer Seele, die einen versteht (Diotima). Die Notwendigkeit der Hoffnung für das Leben. Der Wert der Begeisterung, der Harmonie mit dem Ganzen. Klage über das Fehlen eines solchen Geistes bei den Philistern von Smyrna oder den Deutschen. Skepsis gegen romantisches Schwärmen, harte Selbstkritik, Abwehr falscher Hoffnungen und allzu einfachen Glaubens. Abschied, Tod, Sinnlosigkeit. Das klassische Athen als Quelle der Erkenntnis für alle Weisheiten und Einsichten.

Hölderlin hat mit „Hyperion“ ein Werk voller Einsichten geschaffen, das den genialen Menschen in der Welt umfassend durchleuchtet und nicht zufällig in Griechenland angesiedelt ist. In einer schönen, klaren, oft schwärmerisch erscheinenden Sprache führt sich in Briefen ein keinesfalls willkürlich schwärmendes Leben vor Augen. Mehr als alles andere aber steht der begeisterungsfähige und intelligente Mensch, der natürlich-geniale Geist, in seiner Unverstandenheit bei seinen allzu praktischen oder allzu gläubigen Mitmenschen im Mittelpunkt. Nur wenige sind so, und nur wenige werden deshalb Hölderlins Hyperion begreifen können.

Gegen Ende des Romans entgleist Hölderlin die Situation und er scheitert daran, ein wirklich großes Werk geschrieben zu haben:

Was für Hyperion von Wert war in dieser Welt, zerrinnt ihm unter den Händen (Diotima, Alabanda), und er flüchtet sich aus Griechenland ins Land der geistlosen Deutschen in einen nun leider doch schwärmerisch zu nennenden Naturglauben: In der Natur sieht er alles aufgehoben, der Tod ist nichts vor der Natur. Mit diesem Naturglauben kehrt er dann als Eremit nach Griechenland zurück. Diese schwärmerische Wendung, diese Flucht ins Wünschenswerte, für dessen Realität er aber keinen Beleg und kein Argument bringt, außer der geahnten Geisterstimme von Diotima im Säuseln der Natur, nimmt dem Werk etwas von dem guten Eindruck, den es die meiste Zeit macht, denn die gesunde Skepsis wurde über Bord geworfen und Hoffnung ist hier nur für den Schwärmer zu sehen. Für intelligente Menschen, denen ihr Leben zerbricht, hat Hölderlin nur bedingt eine Antwort.

Goethes Faust II endet ebenfalls mit einer Aufgehobenheit nach dem Tode und einer Begrüßung durch das „Weibliche“, aber es ist eindeutig philosophischer und symbolischer, während Hölderlin zu konkret und zu oberflächlich bleibt. Zwischen philosophischer Metaphysik einerseits und schwärmerischer Esoterik andererseits ist eine feine aber wichtige Grenzlinie gezogen, die Hölderlin leider nicht beachtet. Es fragt sich, ob Hölderlin eher auf Athen oder eher auf die „Natur“ gesetzt hätte, hätte er wählen müssen, und wie weit Hölderlins Schwärmerei für die Natur die guten Einsichten, die er dem wirklichen Athen verdankt, überlagert haben.

Man fragt sich auch, was aus Hyperions Plan geworden ist, ein Erzieher des Volkes der Griechen zu werden, den er in Athen gemeinsam mit Diotima fasste. Und der Tod der Diotima aus „Verwelken“ ist ebenfalls ziemlich fragwürdig, wie immer man ihn auch deuten mag; sie hätte mit Hyperion ins Ausland gehen können und dort seine Rolle als Volkserzieher unterstützen – statt dessen stirbt sie mutwillig dahin, weil sie sich „verwelkt“ fühlt; diese Selbstbezogenheit und Pflichtvergessenheit gegenüber der Welt ist nicht nachvollziehbar. Alles in allem ein großes Werk, doch der ganz große Wurf ist gescheitert.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Dezember 2012)