Schlagwort: Gentleman

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Charles Dickens: A Tale Of Two Cities (1859)

Charakter ist alles, die Handlung ist nichts

Der Roman „A tale of two cities“ von Charles Dickens soll eines der am weitesten verbreiteten Bücher überhaupt sein. Vom Inhalt her ist das nicht gerechtfertigt. Der Inhalt ist nämlich ein wenig einfach gestrickt. Es geht um Franzosen, die noch vor der Revolution zunächst in London Zuflucht vor dem Ancien Regime finden, dann zurückkehren, und in die Mühlen der Revolution geraten. Dabei kommt es zu einem spektakulären Platztausch: Einer geht anstelle eines anderen unter die Guillotine. Der Titel ist eher irreführend, London und Paris sind nur die Schauplätze, werden aber nicht tiefergehend gegeneinander ausgespielt.

Der Roman zeichnet sowohl Ancien Regime als auch Revolution etwas simpel. Im Hintergrund steht unausgesprochen die Theorie, dass Adlige und Nichtadlige sich gegenseitig als rassisch verschieden ansehen. Die Adligen betrachten die Nichtadligen als „Hunde“, die Nichtadligen wollen hingegen auch die Kinder von Adligen töten, weil sie eben von deren Blut seien. Es gab diese rassische Theorie damals wirklich, aber angeblich soll sie eher am Rande eine Rolle gespielt haben. Vermutlich hat der Schrecken der Revolution in England dazu geführt, dass man die französische Revolution in der Wahrnehmung in diesem Sinne überzeichnete.

Der eigentliche Wert des Romans liegt wohl eher in seinen Charakterzeichnungen, und den Wertsetzungen, die damit verbunden sind. Der Roman ist gewissermaßen eine Schule des englischen Charakters und eine Erziehung zum Gentleman. Charakter und Moral scheinen überhaupt Themen von Charles Dickens zu sein, wie man auch an seinem „Christmas Carol“ sehen kann. Außerdem entfaltet sich der unverwechselbare Stil von Dickens, mit seinen Kaskaden von Attributen, die er immer wieder effektvoll anbringt, um eine dramatische Betonung auf etwas zu setzen, was ihm wichtig ist.

Fazit:

Alles in allem lesenswert bzw. hörenswert als ein wichtiges Werk englischer Literatur. Man achte dabei aber weniger auf die Handlung und die Historie, als vielmehr auf die Charakterstudien.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Geschrieben 21. August 2017)