Schlagwort: Gesellschaft

Edith Wharton: The House of Mirth (1905)

Drama eines erwachenden Menschen in einer kalten, langweiligen Gesellschaft

Oberflächlich betrachtet ist dieser Roman ein feministisches Buch, in dem eine Frau daran zugrunde geht, dass Frauen in der Welt von 1900 nur durch Männer an Geld kommen. Doch diese Betrachtungsweise greift entschieden zu kurz. In diesem Roman sind auch Frauen Täter und Männer Opfer, wie explizit gesagt wird. Und die besondere Konstellation der Protagonistin ist ein zeitloses Problem: Ein Mensch wird durch seine Eltern auf ein bestimmtes Gleis gesetzt, doch nach und nach bemerkt dieser Mensch, dass der für ihn vorgesehene Weg falsch und für ihn nicht gangbar ist.

Der Roman spielt im New York um 1900, und es geht um die Gesellschaft des Geldadels von New York. Die High Society trifft sich mal auf diesem, mal auf jenem Landsitz, oder fährt mit der eigenen Jacht nach Monte Carlo. Wer eingeladen ist, ist dabei, und die schöne und intelligente Lily Bart ist ständig eingeladen. Ohne eigenes Vermögen wurde sie von ihrer Mutter auf das Lebensziel hin erzogen, einen Millionär zu heiraten. Doch Lily schreckt immer im letzten Moment zurück. Sie kann es nicht. Sie liebt diese Männer nicht. In Lawrence Selden hat sie einen Komplizen, der die Gesellschaft durchschaut hat. Sie hat Gefühle für ihn. Doch er ist kein Millionär. Und er respektiert ihre Ziele.

Weil sie dauerhaft keinen Mann findet, beginnt Lily Bart „Fehler“ zu machen und sich in dem Haifischbecken dieser „feinen“ Gesellschaft aus Intrigen, Ansprüchen, Neid, Begehrlichkeiten und übler Nachrede zu verlieren. Männer, die ihr finanziell aushelfen, erwarten Gegenleistungen, die sie nicht erbringen will, was sie in Schulden stürzt. Frauen, die sie zur Ablenkung ihrer Männer benutzen, machen sie hinterher zum Sündenbock, was zu ihrer Ausladung aus der Gesellschaft führt. Lily beginnt, die soziale Leiter herabzusteigen, bis zu Armut und Elend. Dabei erkennt sie immer mehr, welchen gedankenlosen Irrtümern sie als Mitglied der High Society unterlegen war.

Lily erhält zwar Hilfe von Freunden, doch es fällt ihr schwer zu erkennen, dass das für sie vorgesehene Lebensziel falsch war. Die Liebe zwischen Lily und Selden kommt bis zuletzt nicht zum Durchbruch, bis es zu spät ist.

Das Buch ist in einer sehr schönen Sprache geschrieben und enthält zahlreiche Dialoge und Situationen, die grundlegende Einsichten mit Esprit gestalten, und zum Merken und Wiederlesen einladen. Es gibt zwar einige Zufälle in diesem Buch, die allzu zufällig sind, aber um der Parabel willen, die das Buch ja sein soll, kann man sich das gefallen lassen. Teilweise werden die Ursachen dafür, dass jemand gesellschaftlich in Ungnade fällt, nur angedeutet, was das Verständnis manchmal etwas erschwert; es ist wirklich eine „hochfeine“ Gesellschaft. Aber allein um einen Einblick in diese Gesellschaft zu erhalten, ist der Roman absolut lesenswert, der sie in allen Details und allen ihren Funktionen und Fehlern beschreibt. Überhaupt handelt es sich um ein wohlkonstruiertes Stück Literatur, ein Drama von antiker Qualität, ein Meisterwerk eigener Art.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. September 2019)

Jostein Gaarder: Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht (2018)

Genau richtige Gedanken zu Sterben und Abschiednehmen

Englischlehrer Albert hat eine tödliche Diagnose bekommen, und da Frau und Kinder weggefahren und außer Haus sind, hat er sich in die typisch norwegische Einsamkeit der Familienhütte an einem kleinen, abgelegenen See zurückgezogen. Dort beginnt er seine Gedanken zu ordnen, und vielleicht wird er gleich noch in derselben Nacht seinem Leiden ein Ende setzen, noch ehe er Frau und Kinder damit belasten muss. Das Buch stellt die Wiedergabe der Gedanken Alberts dar, wie er sie in das Hüttenbuch schreibt. Ein Hüttenbuch ist eine weitere typisch norwegische Eigenheit, es handelt sich um eine Art Logbuch für alle Geschehnisse während des Hüttenaufenthaltes.

Drei Themen werden bearbeitet: Im Rückblick auf sein Leben erkennt Albert, wie so vieles in seinem Leben „genau richtig“ war. – Auch im Universum ist vieles „genau richtig“ eingerichtet, und vielleicht verbindet sich ja damit auch eine Hoffnung auf einen Sinn des Lebens.

Das dritte „genau richtige“ Thema hat Albert aber ganz vergessen, und wie Jostein Gaarder es zur Überraschung von Albert und zur Überraschung des Lesers in die Geschichte einführt, ist genial (und wird hier nicht verraten): Es geht um die Einbindung des Menschen in das Gefüge von Familie, Gesellschaft und Menschheit. Man kann sich eben nicht einfach in eine Hütte zurückziehen und alle Verbindungen zu den Mitmenschen ignorieren und die Sache ausschließlich mit sich allein abmachen. Der Mensch hat eine Rolle zu spielen, auch im Sterben und gewissermaßen auch über den Tod hinaus, und diese Rolle ist sinnvoll und verpflichtend.

Ein sehr schönes, geistreiches, kleines, wertvolles Büchlein. Eben genau richtig.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2020)

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen (1837-43)

Großartiger Bilderbogen der Gesellschaft und Desillusionierungen von bleibendem Wert

Dieses großartige Zeit- und Sittengemälde von Anfang des 19. Jahrhunderts handelt von einem jungen Dichter, der aus der Provinz nach Paris geht, dort aufsteigt und scheitert, und zurück in die Provinz kommt. Dabei muss er mehr und mehr erkennen, nach welchen Mechanismen und Motivationen die Gesellschaft funktioniert. Der Roman ist stark autobiographisch geprägt.

Am Rand dieser Erzählung wird eine Fülle von Themen angeschlagen: Die Spießigkeit der Gesellschaft in der Provinz und in Paris, die Scheidung der Gesellschaft in Adlige und Bürgerliche, in Royalisten und Liberale. Die kalte Ökonomie des Verlagswesen, an der der idealistische Schriftsteller scheitert. Die Willkür und Machtausübung der Journalisten und Zeitungsmacher, und ihr wachsender Einfluss – diese Diskussion erinnert an moderne Diskussionen über die wachsende Macht des Internet. Der damalige Theaterbetrieb, die gekauften Claqueure, und die Situation von Schauspielerinnen, ihren Gönnern und ihren Liebhabern. Das Pariser Leben in vielen Situationen: Die Wohnsituation, das Flanieren im Bois de Bologne, Studentenkneipen und gehobene Restaurants, beim Schneider, Verkaufshallen, Spielhallen, Prostitution, Pfandleiher. Themen sind auch der Zusammenhalt einer Familie und ihrer Dienerschaft, oder die marktfeindlichen Geschäftspraktiken von Konkurrenten. Ein Kreis junger Idealisten wird portraitiert. Schließlich erfährt man auch eine Menge über Papierherstellung, das damalige Druckerhandwerk, das Wechselwesen, das Kreditwesen und das Patentrecht.

Alles in allem ein sehr lesenswerter und belohnender Teil aus dem großen Projekt der „Comédie humaine“ Balzacs, den man lesen kann, ohne die anderen Teile zu kennen, und der einen unterhält und über Zeiten und Menschen und Medien viel zu sagen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 27. April 2015)