Schlagwort: Irrationalität (Seite 1 von 2)

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit (1511)

Rundumschlag quer durchs Leben, gelungen und doch irreführend

Erasmus lässt die personifizierte Torheit eine Lobrede auf sich selbst halten. Versteckt hinter der Maske der Torheit und der Ironie kann Erasmus die Fehler der großen und kleinen Leute durchsprechen. Teilweise ist das anregend und witzig und auch für die heutige Zeit oft gut getroffen.

Teilweise ist es aber auch sehr unübersichtlich: Dummheit als Hauptthema einer Arbeit eröffnet ein viel zu weites Feld, als dass noch ein gemeinsames Band hinter allem zum Vorschein käme.

Teilweise ist es auch irreführend. Die Torheit redet teils so überzeugend und doppelt-ironisch, dass der Leser an manchen Stellen wirklich nicht mehr wissen kann, was Erasmus nun selbst ernst meint, und was er nur ironisch meint. Weniger gebildete Leser werden so manchen Rat der Torheit ernst nehmen und ihn entweder als Provokation empfinden oder sogar gutheißen! Das zynische Klischee des Weisen, der am Leben vorbeilebt und von den Frauen verschmäht wird, das Klischee von den Frauen, für die man sich zum lächerlichen Narren machen müsse, um sie zu gewinnen, das Klischee vom erfolgreichen Toren und dem erfolglosen Weisen (leidvolle Erfahrungen von Erasmus?): Sie sind wenig hilfreich und polarisieren die Leser, statt zu differenzieren.

Teilweise ist so manches, was die Torheit als Torheit hinstellt, in Wahrheit gar nicht töricht, wodurch das Werk schiefe und halbwahre Aussagen trifft. Witz, Ironie und Höflichkeit als Dummheiten hinzustellen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde, ist irrig. Ebenso irrig ist es, das „Ich weiß dass ich nichts weiß“ des Sokrates für töricht zu halten.

Gegen Ende des Werkes kommt Erasmus auf die Vernunftlogik des Glaubens zu sprechen, die in den Augen der Nichtgläubigen Torheit ist (Paulus: Wir sind Narren um Christi willen; Gott lässt die Weisheit der Weisen zuschanden werden und offenbart sich in Torheit). Dass die Worte des Paulus nicht vernunftfeindlich gemeint sind, sondern lediglich besagen, dass man mit derselben Vernunft zu anderen Schlüssen kommt, wenn man von anderen Voraussetzungen ausgeht (Jesus lebt, oder eben auch nicht), kommt nicht zum Ausdruck. Die Verwirrung zwischen Torheit und Vernunft ist perfekt.

Der eigentliche Wert des Werkes liegt vermutlich weniger in dieser oder jener Aussage, sondern in der Provokation selbst. Diese ist zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht gelungen. Die Frage ist, ob Erasmus es mit der Provokation nicht übertrieben hat, und wohin die Provokation führen soll, da es doch teilweise an Klarheit mangelt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Werk stark an Wert. Das „Lob der Torheit“ ist ein Querschläger, der schief und krumm in der Landschaft herumsteht, und viel Nebel verbreitet. Auch die heutigen Interpreten sind sich nicht völlig einig darin, was Erasmus eigentlich wollte, jeder sieht es wieder ein wenig anders.

Teilweise ist der Mangel an Klarheit auch dem Umstand geschuldet, dass Erasmus mit diesem Werk die politische Korrektheit seiner Zeit unterlief und unter der Maske der Torheit Dinge aussprach, die man nicht ungestraft sagen konnte. Erasmus soll durch dieses Büchlein das Aufbrechen von Tabus gelungen sein, so dass er als Wegbereiter der Reformation gilt.

Es finden sich interessante Reformgedanken zum Christentum, bis hin zu historisch-kritischen Denkweisen: Zum einen in der Feststellung, dass die Apostel einst kaum über das theologisch spitzfindige Wissen der Theologen aus Erasmus‘ Zeit verfügt haben werden, und was für einen Sinn es dann haben sollte? Zum anderen z.B. in der Feststellung, dass auch der Apostel Paulus die Altarinschrift für den unbekannten Gott in Athen zu seinen Gunsten zurechtbog. Beides erstaunliche Gedanken, die das scholastische Christentum massiv hinterfragen.

Die Anzahl der antiken Anekdoten, die Erasmus einbaut, ist erstaunlich. Die Interpreten sagen, die Torheit würde mit ihnen nur so um sich werfen, weil sie selbst sage, dass die Toren mit Zitaten nur so um sich werfen. Aber gleichzeitig kann Erasmus so seine Belesenheit beweisen, ohne selbst als töricht zu gelten.

Fazit

Eine geschickte und wirkmächtige, aber leider auch teils undurchsichtige Provokation, die das mittelalterliche Denken ordentlich durchschüttelte und bis an seine Grenzen in Richtung der Moderne dehnte. Nebenbei auch mancher Ratschlag, manche Einsicht der Lebensklugheit und Menschenkenntnis, die auch heute noch von Wert ist.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Januar 2014)

Ledio Albani: Haltungen (2021)

Wokismus von Rechtsaußen in 430 Aphorismen

Das Buch „Haltungen“ folgt dem üblichen Schema von aphoristischen Werken: In verschiedenen Kapiteln werden Aphorismen zu verschiedenen Themen präsentiert, darunter Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, Literatur, Tradition, Krieg, Blut, Kunst, Ritual, Götter, Glaube, Wissenschaft, Musik, Gleichheit, Revolution, Untergang. Das Buch ist stilistisch anspruchsvoll gestaltet: Auf einem schwarzen Einband prangt eine einzelne griechische Säule in Weiß. Das Buch liegt gut in der Hand, das Papier ist schwer, die Drucktype gediegen, der Satz edel.

Die Aphorismen sind sprachlich gut gelungen. Doch leider nur das. Inhaltlich sind sie das Zeugnis einer wenig vernünftigen philosophischen und politischen Grundhaltung. Vernunft und Wahrheit werden mit Skepsis betrachtet und abgelehnt, das Irrationale wird gefeiert. Ebenso wird die Niederlage und das Besiegtsein als der eigentliche Sieg bezeichnet – aber warum für einen Sieg kämpfen, wenn doch angeblich die Niederlage der Sieg ist? Ordnung sei Chaos, und Chaos Ordnung. Es finden sich tausend Selbstwidersprüche. Obwohl ständig gegen Ratio und Logik gewettert wird, werden die Gesetze der Mathematik für unerschütterlich gehalten. Manche Aphorismen zu Suizid oder dem Blut als Quelle von kulturellen Leistungen gehen an die Schmerzgrenze des Erträglichen.

Vielleicht 5% der Aphorismen sind zustimmungsfähig, weitere 10% regen noch ein wertvolles Nachdenken an. Doch der große Rest der Aphorismen ist einfach nur sachlich falsch und moralisch schlecht. Die Falschheit des Geistes, die den Leser aus dieser Aphorismensammlung anweht, zeigt sich u.a. auch in der Meinung über die Antike:

Nr. 352: „Dass die Antiken uns noch etwas zu sagen hätten, behaupten nur die Ahnungslosen und die Untalentierten. Jene, um fremdes Unwissen zu verschleiern, diese, um eigenes Unvermögen aufzudecken.“

Wie kann ein halbwegs gebildeter und vernünftiger Mensch so einen Unsinn verzapfen?! Das ist ein Anschlag auf unsere Kultur, nichts anderes. Das ist nicht Humanismus und nicht Aufklärung, sondern die Verherrlichung der Barbarei. Man fragt sich, was die griechische Säule auf dem Umschlag soll, wenn uns die Antike angeblich nicht zu sagen hätte?! Der Autor führt den Leser konsequent an der Nase herum:

Nr. 127: „Sich in Widersprüchlichkeiten ergehen und nicht mehr zu dem halten, was man noch gestern für wesentlich erachtete, täglich seine Ansichten ändern, seine Vorliebe, seinen Geschmack, seinen Glauben … keinen Charakter haben, das ist es!“

Nr. 429: „Wenn sich meine Merksätze mit einem Mal in ihr Gegenteil verkehrten, so würde sich an ihnen und an dem vorliegenden Band nur Unwesentliches geändert haben.“

Was wir in diesem Buch vor Augen geführt bekommen, ist nichts anderes als Wokismus von Rechtsaußen. Aus derselben Quelle, aus der die linken Woken ihren antihumanistischen Postmodernismus geschöpft haben, aus Nietzsche und Heidegger, schöpft auch der Ungeist dieses Buches. Es ist dieselbe Ablehnung von Vernunft, Realismus und Kultur wie bei den linken Woken. Ein Hang zur Nekrophilie ist nicht übersehbar. Würde man dieses Büchlein, versehen mit einem Regenbogen-Einband, Claudia Roth in die Hand drücken, sie fände vieles darin entzückend.

Zuletzt stimmt auch die Form nicht: Es finden sich überraschend viele Kommafehler, die so manchen Aphorismus zur ungewollten Stilblüte werden lässt. Schwer wiegt auch, dass die Aphorismen leider nicht in Kapitel mit jenen Überschriften eingeteilt sind, die oben genannt wurden: Tod, Niederlage, Scheitern, Skepsis, usw. usf. – Nein, dieses Büchlein teilt die Aphorismen lediglich in fünf Kapitel mit höchst nichtssagenden Überschriften ein. Und schließlich hat dieses sich edel gebende Büchlein leider kein Lesebändchen. An sich eine Bagatelle, aber angesichts der Fallhöhe, die das Büchlein ausstrahlen will, ein echtes Versäumnis.

Fazit: Weg damit. Nur ansehen, um auch so etwas einmal gesehen zu haben. Und dann einfach nur weg damit. Möge der Autor, der diesen Text in jungen Jahren verfasst hat, mit zunehmendem Alter zu besseren Gedanken kommen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

Johan Bargum: Nachsommer (1993)

Trost- und Lachbuch für vielgeplagte „stille“ Brüder

Das Buch erzählt von einem ungleichen Brüderpaar, das sich nach langer Zeit am Sterbebett der Mutter wiedertrifft. Einer der Brüder ist eher „still“ und zurückhaltend, der andere aggressiv und rücksichtslos. Der eine unbeholfen und scheinbar ein Versager, der andere ein „Macher“ und scheinbar ein Erfolgsmensch. Der eine lebt dauerhaft einsam, der andere hat Familie. In Retrospektive wird das Verhältnis der beiden nachgezeichnet, sowie das Verhältnis zur Mutter, zum Stiefvater („Onkel“), und zur Ehefrau und den Kindern des einen Bruders.

Johan Bargum schafft es, in knappen Worten kurze Episoden zu Papier zu bringen, die den Charakter der beiden Brüder subtil und präzise auf den Punkt bringen. Bargum muss so eine Situation selbst erlebt oder sehr genau beobachtet haben, denn er kann auch die untergründigen Beweggründe der Beteiligten bestens nachzeichnen. Angefangen von der unfasslichen Ignoranz des „Macher“-Bruders und seines Kotzbrocken-Sohnes in ihrer ganzen lächerlichen Tragikomik, über die erlernte Hilflosigkeit des systematisch entmutigten „stillen“ Bruders, bis hin zur Mutter, die über sich selbst keine Klarheit erlangen zu können scheint und unwahrhaftig bis zur Heuchelei ist: Während sie den „Macher“-Bruder offiziell hasst, zieht sie ihn in Wahrheit dem „stillen“ Bruder immer wieder vor, angefangen vom ewig einseitig geäußerten „Schieb die Schuld nicht auf Deinen Bruder!“ bis hin zu dem Umstand, dass er selbst noch beim Erbe benachteiligt wird.

Es ist fast schon eine Satire über allzumenschliche Verhältnisse. Eine Satire, die von der Realität bisweilen überholt wird. Wer selbst in einer ähnlichen Situation lebt, wird sie wiedererkennen, und darin Trost und Ermutigung finden. Wer einer solchen Situation entronnen ist, wird herzlich darüber lachen können. Zeile für Zeile, Wort für Wort wird ein Volltreffer nach dem anderen gelandet. Der faule Zauber der ignoranten „Macher“ und der unklaren Unwahrhaftigen, hier wird er entlarvt. Das Büchlein ist kurz, aber sehr dicht und sehr reich. Es ist ein Plädoyer für rationale Klarheit und unverfälschte Menschenfreundlichkeit ex negativo.

Kritik ist an der Darstellung der Begebenheiten rund um die Ehefrau des „Macher“-Bruders, Klara, angebracht. Es ist unglaubwürdig, dass sie aus Unsicherheit über ihre Beziehung zum „Macher“-Bruder spontan mit dem „stillen“ Bruder ins Bett geht. So sind die Ehefrauen von „Machern“ nicht. Und es ist ebenso unglaubwürdig, dass der „stille“ Bruder dies geschehen lässt, ohne dass sie sich von ihrer Beziehung zum „Macher“-Bruder losgesagt hätte. So sind „stille“ Brüder nicht. Treffender wäre es gewesen, wenn der „Macher“-Bruder dem „stillen“ Bruder die Freundin ausgespannt hätte.

Auch das Ende des Buches, wo sich Klara wieder dem „stillen“ Bruder zuneigt, ist unglaubwürdig. So läuft es in Wirklichkeit nicht. Solche „Macher“-Menschen haben einen inneren Abwehrmechanismus gegen alles, was sie zum Nachdenken und zum Zweifeln bringen könnte. Deshalb kann es auch kein Umdenken geben. Nachdenken und Zweifeln gilt ihnen schon als verdächtig, als seelische Krankheit, als Aussatz der Aussätzigen, dem man sich am besten gar nicht erst aussetzt. Wegschauen ist in diesen Kreisen Trumpf. Solche Menschen huldigen der Oberflächlichkeit und dem Aufgehen in einem Mainstream-Denken als dem wahren Glück. Sie verwechseln Vernunft mit „common sense“ und sind notorisch gut drauf. Probleme umgeht man, indem man sie einfach nicht hat (weil man vom Glück und den Umständen begünstigt wird, womöglich auf Kosten anderer, worüber man aber nicht nachdenkt), oder indem man ihre Wahrnehmung aktiv unterdrückt, bis es zu spät ist (und dann sind andere schuld, oder man spricht cool von „Pech“, obwohl man selbst schuld ist, was man aber niemals zugeben würde, nicht einmal vor sich selbst).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Oktober 2018)

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1970)

Den Rationalismus schärfen, festigen und im Niveau heben

Das Buch „Wider den Methodenzwang“ von Paul Feyerabend und seine Kritik am Rationalismus, vor allem an Karl Popper, ist ein wichtiges Werk zur Wissenschaftstheorie. Allerdings nicht deshalb, weil es Feyerabend gelingen würde, den Rationalismus zu widerlegen, sondern deshalb, weil dieses Werk für jeden Rationalisten eine große Hilfe dabei sein kann, die Denkfallen eines allzu einfach gedachten Rationalismus zu überwinden.

Die Kritik

Feyerabend wendet sich gegen die falsche Auffassung, dass man neue Erkenntnisse gewissermaßen zwangsläufig „ausrechnen“ könnte, wenn man nur von den Gegebenheiten ausgehend rational regelgerecht – methodengerecht – weiterdenken würde. Vielmehr sind neue Erkenntnisse gerade dadurch entstanden, dass Forscher die rationalen Regeln ihrer Zeit gebrochen hatten. Rationalität sei gewissermaßen abhängig vom Sprach- und Weltanschauungssystem: Was nach dem alten Paradigma rational war, ist es nach dem neuen nicht mehr, und umgekehrt. Sehr lesenswert Feyerabends Ausführungen zum Welt- und Menschenbild der homerischen Epen. Feyerabend zeigt auch sehr überzeugend, dass die Theorie der Hexenprozesse im Rahmen der damaligen Theologie und Philosophie sehr rational war. Auch heute unterscheide sich die Wissenschaft nach Auffassung von Feyerabend im Kern nicht von der Kirche und habe ihre Dogmen.

Die rationalistische Lehre von der Falsifikation von Thesen würde zu Dogmen führen, wenn eine Falsifikation schwierig ist, auch wenn vieles für andere Thesen spräche, die genauso wenig falsifizierbar seien, aber das Pech haben, nicht etabliert zu sein oder nicht dieselbe Zeit zur Entwicklung eingeräumt bekommen zu haben. Manche Auffassung hat sich dadurch durchgesetzt, dass die Forscher bewusst mogelten und geschickt darin waren, eine gute Propaganda für ihre neuen Thesen zu machen. Hier verweist Feyerabend z.B. auf Galileo Galilei. Nicht alles neue ist auch besser. Feyerabend lobt hier die Traditionelle Chinesische Medizin gegenüber der Schulmedizin.

Die Kritik der Kritik

Viele der Kritiken Feyerabends sind berechtigt und geben wertvolle Hinweise darauf, wie Wissenschaft funktionieren sollte – und wie nicht. Im Kern jedoch scheint Feyerabend seine Kritik auf einem falschen Verständnis von Rationalismus aufgebaut zu haben.

Was die Regelüberschreitung und die Begrenzung durch Sprache und Weltanschauung anbelangt, so ist es der Standpunkt des Rationalismus im Sinne Poppers, dass neue Thesen mithilfe von Phantasie geboren werden. Darin, in der Phantasie, ist jede mögliche Überschreitung von Regeln praktisch bereits enthalten. Dass die Vernunft in sich eine gewisse abstrakte, kulturunabhängige Regelhaftigkeit hat, hätte man bei Feyerabend gerne gelesen („Dass da eins zum anderen passt“ könnte man als die innerste Regel der Rationalität formulieren), doch Feyerabend schweigt dazu. Die Auffassung, es gäbe nicht die eine Vernunft, ist falsch; was verschieden ist, sind die Ausgangspunkte, auf die man sie anwendet, die Vernunft ist aber immer dieselbe.

Feyerabend tut so, als glaubten Rationalisten, dass sie völlig rationale Wesen seien. Nicht dass sie Vernunft hätten, sondern dass sie Vernunft seien. Doch das ist falsch. Der Mensch ist keine Vernunft, er hat Vernunft; und er kann sie gebrauchen oder auch nicht. Und er kann sie nur auf dieses anwenden oder nur auf jenes oder auch auf alles. Vor allem aber hat der Mensch auch noch andere Fähigkeiten, z.B. Phantasie. Der Mensch sollte eben versuchen, diese andere Dimension und die Vernunft in Einklang zu bringen. Es ist das alte Ideal des Weisen. Aus diesem steten Wechselspiel erwächst dann ein Erkenntnisfortschritt.

Bei Feyerabend hat man öfter den unabweisbaren Eindruck, er plädiere für völlige Irrationalität, für haltlose Anarchie. Doch wenn Phantasie und Kreativität, die auch vorübergehend gegen vermeintlich rationale Sichtweisen verstoßen dürfen, nicht immer wieder mit der Vernunft eingefangen und zu einem neuen rationalen System konsolidiert werden, kommt dabei auf Dauer keine Erkenntnis, sondern Chaos heraus. Erst das ständige, nie endende Wechselspiel beider Seiten, das Bemühen, beidem gerecht zu werden, macht die Erkenntnis aus und hält den Prozess lebendig.

Auch ist der Rationalismus nicht auf eine simple Scheidung der Erkenntnis in Wissen und Unwissen festgelegt. Vielmehr zeigt sich gute, rationale Wissenschaft häufig gerade daran, wie sie mit verschiedenen Graden von Ungewissheit umgeht und vernünftige Abwägungen trifft, indem sie einzelne Unwägbarkeiten gegeneinander abgleicht und zu einem plausiblen, wahrscheinlichen Gesamtbild integriert. Richtig ist allerdings auch, dass es viele „rationale“ Menschen gibt, die nur „hartes Wissen“ gelten lassen wollen, und damit in die Irre laufen, denn je sicherer das Wissen, desto seltener ist es.

Wenn Feyerabend kritisiert, dass sich die Wissenschaft gerne Dogmen schafft und alternative Thesen nicht in angemessener Weise würdigt, kritisiert er eher den real existierenden Wissenschaftsbetrieb als die Idee der Wissenschaft. Natürlich ist es richtig, dass eine Theorie nicht deshalb besser ist, weil sie etabliert ist, weil sie zuerst da war oder weil sie die größere Zahl an Fürsprechern hat, die gar nicht daran denken, ernsthaft nach einer Falsifikation zu suchen, weil eine Falsifikation ihren Status gefährden würde. Und natürlich ist es völlig richtig, dass man einer alternativen Theorie auch Zeit zur Entwicklung geben muss: Man muss eine Hypothese, die man zunächst nicht belegen kann und die wackeliger aussieht als andere Thesen, auch eine Zeitlang in der Schwebe halten und an ihr arbeiten und mit ihr spielen können. Aus diesen Überlegungen kann man Maßnahmen zur Ausbildung von Wissenschaftlern und zur Organisation des real existierenden Wissenschaftsbetriebes ableiten, damit die nötige Weite des Geistes (oder wenigstens Toleranz) herrscht. Eine Kritik am Rationalismus ist das jedoch nicht.

Die Kritik Feyerabends am real existierenden Wissenschaftsbetrieb ist im Übrigen zu hart und gerät teilweise rabulistisch. Die Gleichsetzung mit der Kirche ist doch stark übertrieben. Es gibt zwar auch in der Wissenschaft Phasen der Erstarrung und der Wissenschaftsgläubigkeit, aber diese Phasen sind meist auf eine Generation beschränkt, was eine grundsätzliche Reformfähigkeit belegt. Die Kirche jedoch kann ihre Dogmen über Jahrhunderte durchhalten, wenn die Umstände ihr kein Um- und Weiterdenken aufzwingen. Feyerabends Einschätzung des Prozesses von Galilei, dass nämlich die Kirche im damaligen Rahmen durchaus rational und richtig urteilte, während Galileo noch zu schwache Argumente hatte, mag zwar in Ordnung sein, aber Feyerabend hätte klarer hinzufügen sollen, dass es unabhängig von der Frage der Richtigkeit des Urteils ein Problem ist, wenn sich die Kirche ein solches Urteil anmaßt und Denkverbote erlässt.

Sehr unappetittlich ist es, dass Paul Feyerabend sein 1970 veröffentlichtes Buch mit längeren Zitaten von Lenin beginnt. Auch Engels, Ilja Ehrenburg und Mao kommen zu Wort. Es ist grausig, diese naive Unbefangenheit gegenüber mehr oder weniger verbrecherischen Charakteren zu sehen, die offenbar aus einer linksideologischen Verblendung Feyerabends herrührt: Hegel und Marcuse werden auch zitiert. Hier zeigt sich, dass Paul Feyerabend nicht immer erfolgreich darin gewesen sein kann, enge Denksysteme zu überwinden, sonst hätte er wenigstens eine menschenfreundliche Distanz gewahrt. Zudem handelt es sich um Zitate, die man in dieser Form und mit diesem Sinn sicher auch und besser bei anderen und gewiss größeren Persönlichkeiten gefunden hätte. In der bei Linken üblichen Weise unausgegoren ist auch Feyerabends Idee einer Instanz, die nach den sozialen Folgen von Wahrheit fragt; von der Liebe zur Wahrheit oder von einer Sensibilität gegen subtile Zensurmechanismen zeugt dies leider nicht. Wenn man die Unbekümmertheit von Feyerabends Linksdrall betrachtet, bekommt seine heillose Relativierung der Vernunft einen gefährlichen Zug; hatte nicht auch Lenin ein weltverneinendes Faible für Dada, eine Grundverzweiflung an Ordnung und Sinn? Aus dem Urgrund der Seele erwächst unvermutet das Böse.

Fazit

Ein wichtiges Buch für alle Rationalisten, um ihren Rationalismus zu schärfen, zu festigen und im Niveau zu heben: Vernunft ist nicht alles, aber ohne Vernunft ist alles nichts. Letztlich ist es trotz vieler richtiger Einzeleinsichten ein aufs Ganze gesehen irriges Buch.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2012)

Knut Hamsun: Pan – Aus Leutnant Glahns Papieren (1894)

Hymne auf den faschistischen Charakter – ein schreckliches Buch

Die Erzählung „Pan“ von Knut Hamsun ist keine Liebesgeschichte, wie vielfach behauptet wird, sondern die Geschichte eines äußerst merkwürdigen jungen Mannes. Es geht um Leutnant Thomas Glahn, Ende 20, der im größten Teil des Buches im Norden Norwegens gezeigt wird: Bei einem offenbar monatelang ausgedehnten Aufenthalt auf einer Hütte am Waldrand, nahe einer kleinen Ansammlung von Häusern „in the middle of nowhere“.

Am Anfang finden wir Thomas Glahn in einsamer Harmonie mit der Natur. Doch fragt sich der Leser, wie denn ein junger Mann Ende 20 ein solches Leben führen kann?! Monatelanges Nichtstun! Diese Form des Lebens eignet sich für Kinder, die geistig noch nicht erwacht sind, oder für Rentner, die in ihrem Leben schon genug geleistet haben, um gelassen darauf zurückblicken zu können. Aber so lebt und denkt doch kein lediger junger Mann Ende 20! Ein solcher sollte tunlichst einen inneren Drang danach verspüren, etwas zu werden und zu bewegen und zu erreichen in der Welt. Man fühlt sich spontan an den „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset erinnert, der als eines der Symptome des Heraufdämmerns des Faschismus in Europa den „zufriedenen jungen Herrn“ nennt. Einen solchen sollte es nämlich eigentlich gar nicht geben, und wo es ihn doch gibt, da ist er ein Symptom für eine Krankheit der Gesellschaft.

Dann finden wir Glahn verliebt in Edvarda, die Tochter des örtlichen Kleinkrämers. Diese Liebesgeschichte nimmt sich jedoch sehr merkwürdig aus. Sie ist etwa 16, er kurz vor 30, also ungefähr doppelt so alt. Dieser Altersunterschied ist in jungen Jahren von einigem Gewicht. Im Grunde „vernarrt“ sich Glahn in die junge Frau, „Liebe“ ist das falsche Wort. Es entwickelt sich eine Art von Liebelei, aber er kommt nicht richtig aus sich heraus, und sie ignoriert ihn immer wieder systematisch, und man weiß nicht, warum. Das ganze macht schon einen sehr verklemmten Eindruck. Von beiden Seiten.

Nach dem ersten Drittel des Buches erfährt man, dass Edvarda in Wahrheit 20 Jahre alt sein soll. Sie sei ein ungezogener Charakter und liebt es angeblich, sich die Wirklichkeit irrational zurechtzubiegen, und ihre Umgebung zu manipulieren und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Doch gegen Ende des Buches erfährt man, dass Edvarda während des Sommers gewachsen war: Sie kann also nicht 20 gewesen sein, sondern wohl doch eher 16. Da der Erzähler in diesem Teil Glahn selbst ist, hat er uns wohl angelogen.

Glahn nimmt die Frauen wie im Flug für sich ein, und es sind jeweils die Frauen, die den ersten Schritt auf ihn zu machen. Neben Edvarda entwickelt sich auch eine Liebelei mit Eva, der Tochter des Schmieds, die sich als die Ehefrau des Schmieds entpuppen wird, und ganz am Rande auch noch eine Henriette, von der wir nicht viel erfahren. Es ist mit diesen Liebeleien ein ewiges Hin-und-her, auch Eifersucht spielt natürlich hinein, doch teilweise vergisst Glahn seine Freundinnen auch erstaunlich schnell wieder. Frauen tauchen in diesem Buch durchweg als dienstbare Geister ihrer Väter und Ehemänner auf; selbständiges Denken ist hingegen nicht gefragt, aber das ist bei diesem Buch auch kein Wunder, wie wir gleich sehen werden.

Eine weitere Merkwürdigkeit ist Glahns Unfähigkeit, sich in Gesellschaft geschickt zu benehmen. Doch dabei bleibt es nicht: Glahn begeht wiederholt völlig aus dem Ruder laufende Unvernünftigkeiten:

  • Glahn wirft unvermittelt den Schuh von Edvarda vor aller Augen ins Wasser, und im nächsten Moment weiß er selbst nicht mehr, was das sollte.
  • Glahn schießt sich buchstäblich selbst in den Fuß, mutwillig und sinnlos.
  • Glahn spuckt einem Baron vor aller Augen unvermittelt ins Ohr.
  • Glahn nimmt eine sinnlose Sprengung vor, durch die Eva zu Tode kommt.
  • Glahn erschießt seinen treuen Hund (So ein A…loch!), um ihn dann wie versprochen (allein das schon unsinnig) an seine inzwischen zu Eis erkaltete Liebe Edvarda zu verschenken.

Und in seiner Rückschau, als die die Erzählung angelegt ist, schreibt uns Glahn, dass er über alle diese Dinge schreibe, weil es ihm „Vergnügen“ (!) mache, als Zeitvertreib, weil er angeblich – schon wieder – nichts besseres zu tun habe.

Hier geht es nicht um sinnreiche Themen wie z.B. Schüchternheit und Ungeschick im gesellschaftlichen Umgang, die durch Ermunterung, Humor und eine geänderte Einstellung überwunden werden. Oder gar um das Thema des eigenwilligen, klugen Menschen, der mit der Gesellschaft naturgemäß im Clinch liegt, und sich einen Platz in der Gesellschaft als geduldeter Exzentriker, gefragter Querdenker oder bewunderter Erfolgsmensch erobern muss. Das alles ist es nicht.

Es ist vielmehr eine Art Krankheit, eine pathologische Charakterschwäche, eine psychische Gestörtheit. Glahn ist ein kindischer Tiermensch mit „Tierblick“, ein irrationales Wesen, dessen Willkür und Emotionalität nicht durch Rationalität und Pflichtbewusstsein gezähmt und gezügelt worden sind. Glahn ist irre und wild, letztlich barbarisch. Die glatte Gegenthese zu Humanität und Aufklärung. Im Schlussteil des Buches erfahren wir, dass Leutnant Thomas Glahn auch andernorts in dieser Art fortfährt, in irrer Willkür zu handeln, bis er schließlich einen Kameraden provoziert, ihn zu erschießen.

Der zentrale Satz des Buches lautet: „Ach, es war kein klarer Gedanke in meinem Kopf.“ (S. 120), und ein häufig verwendetes Adjektiv ist „berauscht“. Glahn „fühlt“ in der Natur auch Gott in allen Dingen. Dies ist kein philosophisches Weltbild, kein Pantheismus des Gedankens, sondern eher ein Schamanismus des religiösen Gefühls, eine abergläubische Ideologie.

Und hier sind wir am Kern der Sache:

Knut Hamsun feiert in „Pan“ das barbarische „Denken“, den „freien“ Geist als Gegenthese zu Humanismus und Rationalität. Der knorrige Pan ist der Tiermensch aus den Wäldern, der Inbegriff des von jeder Zivilisation „verschonten“ Barbaren schlechthin, dem rauschhaften Gotte Dionysos zugehörig. Dionysos ist traditionell der Gegenspieler zu Apollon, dem Gott der Vernunft und der Ordnung, des Wahren und des Schönen, dem die Musen zugehörig sind.

Offenbar wird Knut Hamsun mit Recht als ein faschistischer Autor eingeordnet. Hamsun begrüßte den Aufstieg von Hitler, dessen Weltanschauung und Charakter genau denselben Gesetzen gehorchte, die wir bei Thomas Glahn finden. Und wir finden dieses „Denken“ auch bei Richard Wagner, dem Vorbild Hitlers. Es stimmt alles überein, bis hin zum nekrophilen Charakter und der Selbsttötung. Wir sehen hier nicht den Triumph eines rationalen Willens, sondern den Triumph einer barbarischen Willkür, die letztlich ins Verderben führen muss, und eigentlich nur lächerlich ist. Offenbar nicht für Knut Hamsun.

Ein weiterer Fingerzeig auf Hamsuns Einstellung ist sein Vorsprechen bei Hitler, um die Greueltaten der Nationalsozialisten in Norwegen, deren Anwesenheit Hamsun grundsätzlich begrüßte, zu mildern. Was eine Heldentat hätte sein können, denn Hamsun war einer der ganz wenigen, die Hitler ins Angesicht widerstanden, war natürlich einfach nur der naive Schildbürgerstreich eines politischen Kleingeistes. Was dabei aber auffällt, ist die Wortwahl Hamsuns. Hamsun zu Hitler: „Die Methoden des Reichskommissars eignen sich nicht für uns, seine ‚Preußerei‘ ist bei uns unannehmbar, und dann die Hinrichtungen – wir wollen nicht mehr!“

Die Methoden der Nazis als „Preußerei“ zu bezeichnen ist wahrlich der Gipfel. Wenn es denn nur „preußisch“ zugegangen wäre in Norwegen! Denn Preußen steht (auch) für Immanuel Kant, den Eckstein des Rationalismus, oder für Friedrich den Großen, der die Aufklärung in Deutschland populär machte, oder für Karl Friedrich Schinkel, der Berlin in ein „Spree-Athen“ verwandelte, oder für Wilhelm von Humboldt, der mit Gymnasium und Universität die Institutionen für die humanistische Bildung schuf und zudem den politischen Liberalismus begründete, oder für Alexander von Humboldt, der für Menschenrechte und Wissenschaft steht. Preußen steht für eine Rezeption der Antike im Hinblick auf Humanismus und Aufklärung, sowie für Selbstdisziplin und Rechtsstaatlichkeit. Selbst ein verunglückter Charakter wie Kaiser Wilhelm II. widerstand noch den Nationalsozialisten und ihren Umwerbungsversuchen in seinem Exil. Und noch Marcel Reich-Ranicki fand wiederholt lobende Worte für das „preußische Gymnasium“ mitten im Nationalsozialismus, während er negative Geschehnisse lieber mit dem Wort „deutsch“ charakterisierte. Wer Preußen in einen Topf mit den Nationalsozialisten und ihren Untaten wirft, hat intellektuell schon verloren. Der derbe Pöbelgeist des Faschismus und ein moderner, liberaler Konservativismus sind eben nicht dasselbe, sondern grundverschieden. Doch Knut Hamsuns Irrtum ist noch verrückter: Denn für ihn ist Preußen das Böse, und der Nationalsozialismus das Gute. Verkehrte Welt …

Literarisch gelungen sind an diesem Buch lediglich die Passagen, die Leutnant Glahn in seiner einsamen Verbundenheit mit der Natur zeigen. Die Harmonie, Zeitverlorenheit und die Geborgenheit, die Glahn inmitten der Natur erlebt, wird gut geschildert, und ist auch schön zu lesen. Ebenfalls noch literarisch gekonnt ist die Schilderung, wie diese Harmonie verloren geht, als Glahn Edvarda kennenlernt, noch bevor er sich bewusst wird, dass er sie liebt. Danach kommt nichts mehr. Die Erzählung ist als Gedankenschau Glahns angelegt. Teils erzählt er für sich selbst, teils gibt er unvermittelt Dialoge wieder. Das eine geht fließend ins andere über. Es ist oft schwerfällig zu lesen, hölzern und unlebendig. Hamsun benutzt außerdem Mythen, Märchen, Metaphern und dunkle Andeutungen. Rational fassbare Dinge kann man von diesem Autor wohl eher nicht erwarten.

Fazit

Ein schreckliches Buch! Wie dtv mit dem Spruch „eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur“ Werbung dafür machen kann, erschließt sich nicht.

Empfehlung einer besseren Alternative

Wer über Harmonie mit der Natur lesen möchte, wer ein strebendes Leben ohne Müßiggang erleben möchte, wer eine schöne, schwungvolle, geistig niveauvolle Liebesgeschichte vorgeführt bekommen möchte, und wer ein tragisches Ende sehen will, aber tragisch im Vollsinn des Wortes, d.h. unter bejahender Annahme des Schicksals, dem sei unbedingt „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ von Friedrich Hölderlin empfohlen! Das ist wirksames Gegengift.

Nicht zufällig schrieb einer der großen Hölderlin-Kenner, Pierre Bertaux, auch eine Rede zum 200. Todestag von Friedrich dem Großen für eine Feier auf Schloss Hohenzollern. Er charakterisierte diesen Preußenkönig als „Philosophen im französischen Sinn“, denn er habe „Vernunft als gesunden Menschenverstand kultiviert.“ – Der knorrige Pan jedoch, und diese verkrüppelte Geschichte des finsteren Herrn Hamsun, sie sollen uns gestohlen bleiben! Weg damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. Dezember 2018)

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)

Tristesse des alternden, egozentrischen Materialisten – Ohne konstruktive Perspektive

Der Roman „Homo faber“ von Max Frisch zeigt den Schweizer Ingenieur Walter Faber im Alter von 50 Jahren, der für die Unesco Turbinen in Mittelamerika montiert, und der für seine Arbeit in New York wohnt und dabei auch nach Paris zu Konferenzen fliegt. Technisches Jet-Set sozusagen. Das Wort „faber“ bedeutet auf Lateinisch Handwerker oder Arbeiter.

Ein Hauptthema des Buches ist die bloß rationale, technische Intelligenz des egozentrischen Protagonisten. Für Faber gibt es praktisch keine Gefühle. Er ist immer sachlich. Alles ist planbar und erklärbar. Der Mensch ist für ihn eine schlecht konstruierte biologische Maschine. Roboter werden bald vieles besser können als der Mensch. Wenn nicht alles. Abtreibung ist für ihn eine Notwendigkeit zur Geburtenregelung, moralische Fragen nur sachfremd und störend. Literatur liest er keine. Er ist der perfekte Praktiker und Materialist. Die Welt des Geistes ist ihm verschlossen. Damit ist er natürlich auch etwas egozentrisch.

Das Buch ist als endloser Monolog gestaltet, den Walter Faber mit sich selbst führt, während er die Ereignisse aus der Erinnerung heraus nacherlebt. Dabei geht es immer praktisch zu. Und alles ist von einer gewissen Tristesse. Faber sieht das Schöne und Interessante nicht. Immer nur die Sache. Wir erleben die Tristesse des Fliegens und der Flughäfen, die Tristesse des mexikanischen Niemandslandes, wo seine Maschine notlandet, die Tristesse des Regenwaldes im Grenzgebiet von Mexiko und Guatemala, die Tristesse des Zusammenlebens mit dem geistlosen Mode-Flittchen Ivy in New York, die Tristesse der Party mit Arbeitskollegen. Immer wieder werden auch ekelhafte Bilder eingestreut, so z.B. die Zerreißung eines Eselkadavers durch Zopilote-Vögel.

Die geordnete Welt von Faber bekommt aber Risse: Die Tristesse richtet sich auf Erinnerungen und wird dann melancholisch. Seinen Jugendfreund Joachim trifft er erhängt im Regenwald von Guatemala. Wie er erfährt, hatte dieser einst seine Jugendfreundin Hanna geheiratet. Es kommen ihm Erinnerungen an das Aneinandervorbeireden mit Hanna, die Philologie studierte und ihn „homo faber“ nannte. Und wie Hanna – die Irrationalität in Person – ihn nicht heiraten wollte und sie schließlich voneinander schieden mit der Entscheidung, dass das gemeinsame Kind abgetrieben werden sollte. Außerdem beginnt der zuverlässige Ingenieur Faber, vor seinen Pflichten zu fliehen: In Houston versucht er spontan, das Flugzeug absichtlich zu verpassen. In Mexiko fährt er spontan zu seinem Jugendfreund statt zur Montage. In Rom begleitet er spontan das Mädchen Sabeth auf ihrem Trip nach Südfrankreich, Italien, Griechenland, wo deren Mutter lebt. In Avignon schläft er einmal mit ihr. Faber erlebt halbwegs frohe Tage.

Das zweite große Thema des Buch ist das Altern. Faber ist 50 geworden, und versucht mit Sabeth eine Art zweiten Frühling. Doch er bemerkt, dass er die Jugend nicht mehr richtig versteht. Es gibt keinen zweiten Frühling. Zweimal heißt es: Wir können nicht unsere eigenen Kinder heiraten. Man kann nicht unverändert leben, das Altern gehört zum Leben dazu.

In Griechenland erleidet Sabeth einen unnötigen Unfall und stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie das nicht abgetriebene gemeinsame Kind mit Hanna war, die er nun in Griechenland wiedertrifft. Hanna arbeitet als Archäologin und Faber staunt, dass man davon leben kann. Die Situation ist schal und trist: Faber war also in seine eigene Tochter verliebt. Und Faber ist zwar nicht wirklich schuld am Tod der gemeinsamen Tochter, doch sein Wiederauftauchen im Leben von Hanna fällt mit diesem Ereignis zusammen. Hanna lässt Faber trotzdem bei sich wohnen. Faber will sein Leben ändern. Es bleibt aber unklar, wie. Schließlich muss sich Faber wegen eines Magenleidens einer Operation unterziehen. Er tut dies in Griechenland, bei Hanna. Zwei gescheiterte Existenzen nähern sich einander an.

Nebenthemen

Der Deutsche Herbert blamiert sich als Nachkriegsdeutscher vor dem Schweizer. Walter Faber mag die Deutschen nicht.

Es gibt antiamerikanische Passagen: Die Amerikaner würden angeblich die Welt kolonisieren und aus allem einen Highway machen. Sie seien fett, ungebildet, und herrschten mit ihren Dollars. Amerikaner seien geschminkt, und ihre Leuchtreklame bloße Kulisse und Kitsch. „Aber wir leben von ihren Dollars.“ – Intelligente Kritik an Amerika gibt es in diesem Buch nicht.

Mindestens zweimal wird das intuitive Verhalten von Frauen „weibisch“ genannt. Für die Toilettenfrau am Flughafen in Houston und für die Huren in Havanna wird das Wort „Neger“ verwendet. Damit wäre auch Max Frisch für den aktuell herrschenden hysterischen Zeitgeist nicht mehr akzeptabel.

Kritik

Literarisch und sprachlich ist das Buch sehr gut gelungen. Jeder Satz sitzt. Jede Stimmung wird verlässlich eingefangen. Rück- und Vorblenden sind geschickt ineinander verwoben. Unpassend vielleicht, dass das Zusammentreffen mit Sabeth ein literarisch schlecht motivierter, unglaubwürdiger Zufall ist, nachdem Faber bereits zuvor durch einen ebensolchen Zufall auf seinen alten Jugendfreund gestoßen war.

Die Frage ist, was das Buch aussagen will. Die Bearbeitung des Themas Altern ist zumindest nicht originell. Besser steht es um die Kritik an der allzu praktischen, materialistischen Einstellung des Protagonisten. Aber auch hier werden Alternativen nur angedeutet. Die Irrationalität der Frauen, speziell von Hanna, wird auch keiner Lösung zugeführt. Beide sind gescheiterte Existenzen, Faber und Hanna: Der eine ist an seiner ausschließlichen Rationalität, die andere ist an ihrer ausschließlichen Irrationalität gescheitert. Ein gelungenes Leben wäre es gewesen, so liest sich dieser Roman ex negativo, wenn sie geheiratet und das gemeinsame Kind gemeinsam aufgezogen hätten. Doch das ist nicht mehr rückholbar und alle leiden nur noch melancholisch daran, anstatt konstruktiv zu werden.

Das Buch hinterlässt den Leser eher ratlos als bereichert. Da hilft auch die literarische Qualität nicht. Max Frisch scheint ein guter Beobachter aber ein schlechter Denker zu sein. Etliche Elemente des Romans sind offensichtlich autobiographisch motiviert. Das Leben von Max Frisch liefert genauso gutes Anschauungsmaterial und ist genauso wenig überzeugend wie dieser Roman.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 08. August 2020)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher (2014)

Sehr persönlicher Einblick in jüngere jüdische Geistesgeschichte

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chimen Abramsky. „Chimen“ ist dabei eine verballhornte Schreibung von Shimon. Er wurde geboren in Russland, wo jüdische Kultur und Gelehrsamkeit jahrhundertelang im Ansiedlungsrayon blühte, bis Pogrome und Holocaust dem ein Ende bereiteten. Er war Sohn eines international bedeutenden jüdischen Gelehrten, dessen Familie aus Russland nach London floh und an dessen Beerdigung in Israel zehntausende orthodoxer Juden teilnahmen. In London heiratete Chimen in eine jüdische Buchhandlung ein, und wurde aus Angst vor dem Nationalsozialismus Kommunist, ja sogar Stalinist. Später bekehrte er sich zu einer liberaleren Weltsicht und war mit Isaiah Berlin befreundet.

Chimen Abramsky baute in seinem Privathaus im Hillway 5 in London eine gewaltige Sammlung von Manuskripten und Büchern zu den Themen Sozialismus und Judentum auf. Chimen war ein weltweit anerkannter Experte für alte Schriften und Drucke, wurde zum Ratgeber für Sotheby’s, und schließlich Hochschulprofessor, ohne je selbst studiert zu haben. In seinem Haus trafen sich ohne Unterlass Intellektuelle, Künstler und Gelehrte, immer gut bewirtet von seiner Ehefrau Mimi.

Erzählt wird uns dies alles von einem Enkel von Chimen Abramsky. Wir dürfen auf diese Weise teilhaben an einem sehr persönlichen und erhellenden Blick auf jüdische Schicksale und jüdisches Denken (und Umdenken) im 20. Jahrhundert. Es ist bedenkenswert, wenn der Autor die Gelehrsamkeit des (Ex-)Kommunisten Chimen Abramsky mit der Gelehrsamkeit der jüdischen Religionsgelehrten aller Jahrhunderte vergleicht. Oder bei der Bewirtung der zahllosen Gäste im Hillway durch dessen Ehefrau Mimi an die Salons jüdischer intellektueller Damen im 19. Jahrhundert denkt. Es ist interessant zu sehen, wie im Hillway jüdische Speisevorschriften u.a. religiöse Rituale beachtet wurden, obwohl Chimen und Mimi gar nicht religiös waren. Nach seinem Abfall vom Kommunismus findet Chimen nicht mehr zu einer geschlossenen Weltanschauung zurück, und bleibt ein Wanderer zwischen den Welten. Eine Tendenz zu Spinozas Pantheismus war erkennbar.

Chimen scheint es mit dem Sammeln von Büchern teils übertrieben zu haben. Fotos zeigen das Haus in einem Zustand, der an das Phänomen des „Messie“ erinnert. Bezeichnend ist auch, dass Chimen trotz seines anerkannten Wissens praktisch nicht in der Lage war, sein Wissen zu ordnen und in Buchform zu bringen. Chimen scheint eine sehr assoziative, ungeordnete und sprunghafte Geistesorganisation gehabt zu haben, also ein Mensch, der in vielem nicht rational war, und Rationalität vielfach auch gar nicht anstrebte, sondern – vielleicht – lieber träumte.

Auch die Themen Krankheit und Tod werden bearbeitet. Gerade in diesen Passagen ist es ein sehr persönliches Buch.

Leider ist es sehr journalistisch geschrieben. Manchmal ist die Sprache flapsig und unangemessen. Leider ist die Darlegung auch sehr unsystematisch und assoziativ. Man findet zu ein und demselben Thema immer wieder ein paar Brocken hie und da verstreut im Buch, wo man sich eine systematische Darstellung gewünscht hätte. Vor allem am Anfang des Buches stört das sehr. Unpassend ist auch die Kritik des Autors an der geheimdienstlichen Überwachung von Chimen Abramsky im nachgetragenen Vorwort. Immerhin war Chimen damals ein in der Wolle gefärbter Stalinist und ein intellektuell einflussreiches Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens mitten im Kalten Krieg!

Das Nachwort von Philipp Blom zu Bibliotheken von Exilanten ist zunächst bedenkenswert, dann aber einfach nur unakzeptabel: Dass ein direkter Weg von Kant zu den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts führt, ist Unsinn.

Fazit

Mit etwas Toleranz für die Schwächen des Buches ist es eine sehr, sehr lesenswerte und bereichernde Lektüre.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. Mai 2018)

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

„Werther für Erwachsene“ – Starker Anfang, starkes Nachlassen, interessante Nebenthemen

Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809 handelt vom Wechselspiel der Gefühle in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen; wie sie sich zu Paaren finden, oder wieder lösen, um sich in anderer Kombination neu zu verbinden, und welche subtilen und teils romantischen, teils unromantischen Antriebe und Motive hinter all dem stecken.

Im ersten Drittel geht es sehr subtil zu, und das ist auch der starke Teil des Romans: Im Zentrum steht das Paar Eduard und Charlotte, die glücklich verheiratet auf einem Schloss wohnen. Doch bereits das Zustandekommen dieser Idylle war nicht geradlinig: Schon als Jugendliche waren sie einander zugetan, dann aber in andere Ehen gekommen, und nur das Schicksal hat es ihnen erlaubt, am Ende doch noch zusammen zu kommen. Dabei hatte Charlotte jedoch zunächst versucht, Eduard mit ihrem jüngeren Patenkind Ottilie zu verkuppeln. Doch Eduard hatte nur Augen für Charlotte, und so kam diese scheinbar perfekte Ehe zustande.

Als Eduard seinen Freund, einen Hauptmann, und Charlotte Ottilie zum dauerhaften Mitwohnen in ihr Schloss einladen, kommt es zu weiteren Wechselfällen der Gefühle: Eduard und Ottilie fühlen sich zueinander hingezogen, und ebenso Charlotte und der Hauptmann. Dabei sind Eduard und Ottilie die eher schlichteren Gemüter, während Charlotte und der Hauptmann sich an Feinsinnigkeit gleichen, und über Eduard und Ottilie lächeln. Dem entsprechend verfallen Eduard und Ottilie ihren Leidenschaften, während Charlotte und der Hauptmann ihre Beziehung platonisch halten.

Der Roman verflacht zusehends, als die Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie irrational aufflammt und gewissermaßen kindisch wird, und bis zum Ende des Romans nicht mehr zur Vernunft kommt, sondern sich auf eine unnötige Weise zu einer überromantischen Tragik steigert. Gegen Ende stört es einfach nur noch, und man möchte nur noch möglichst schnell zum unvermeidlichen und offensichtlichen Ende kommen, wenn die „heilige“ Ottilie sich endlich entschlossen zu haben scheint, auf Eduard zu verzichten, und sie diesen Entschluss dann doch wieder über den Haufen wirft, aber auch das wieder nicht richtig. Oder wenn Charlotte auf die Gefühle von Eduard und Ottilie eine Rücksicht nimmt, die sie nicht verdient haben, die ihnen auch nicht gut tut, und die Charlottens eigenes Schicksal völlig unterpflügt. Das ist dann kein subtiles Seelenleben mehr, sondern Kitsch und Unvernunft. Das ist dann wieder „Werther für weniger erwachsene Leser“, und man fragt sich, warum Goethe seinem Roman diese Wendung gegeben und den größeren Teil seines Romans auf solche Geschehnisse verwendet hat. Hatte er nicht immer darunter gelitten, vor allem als der Autor des „Werther“ zu gelten? Wirklich entfernt davon hätte er sich mit dem größeren Teil dieses Romans nicht.

Vielleicht handelt es sich bei den „Wahlverwandtschaften“ wie bei „Wilhelm Meister“ um einen Roman ohne geradlinigen Plot, der sich spontan und wenig planvoll entwickelt hat, und bei dem zeitweise manches Nebenthema wichtiger wird als die Handlung selbst, so dass sich die Handlung der Präsentation eines Nebenthemas unterordnen muss?

Folgende Nebenthemen werden behandelt:

  • Landschaftsgartenbau. Gärtnerei. Architektur. Wandmalerei. Der Hauptmann. Der Architekt. Der Gärtner.
  • Chemie: Von hier kommt der Begriff der „Wahlverwandtschaften“, der sich in der damaligen Chemie auf Stoffe bezog, die sich einander unwillkürlich anzogen, deshalb aus vorhandenen Bindungen lösten, und miteinander eine neue Bindung eingingen.
  • Diskussion um die Institution der Ehe. Der Graf und die Baronesse. Mittler. Es ist keineswegs ausgemacht, was genau die Meinung Goethes ist.
  • Erziehung. Gebote statt Verbote. Der Gehülfe aus der Pension. Mittler.
  • Gesellschaftliches Leben. Frechheit siegt. Die Tochter Charlottens.
  • Übernatürliche Empfindungen. Wunderglaube. Pendeln. Nanny. Der Begleiter des Lords.
  • Diverses: Tableaux vivants. „Dunkle Kammer“ zur Zeichnung von Landschaftsbildern.

Fazit

Das erste Drittel ist ein starker Einblick in das subtile Seelenleben der Menschen. Die Nebenthemen sind interessant. Es ist jedoch kein runder Roman. Die Stärke des ersten Drittels wird den Roman über nicht durchgehalten, und das Abdriften der Handlung ins allzu Romantische, Irrationale, Kitschige stört den guten Eindruck aus dem ersten Teil doch sehr.

Man beachte: Der Roman ist keinesfalls ein Plädoyer für Beliebigkeit und Laisser-faire, als der er von weniger gebildeten Menschen gerne verstanden wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2022)

Hugo von Hofmannsthal: Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes (1911)

Große Enttäuschung: Offenbar Lieblingsstück primitiver Antikapitalisten

Wer hat nicht schon vom „Jedermann“ gehört? Dieses legendäre Stück, dass immer in Salzburg aufgeführt wird, das nur von den besten Schauspielern gespielt werden darf, dieser Eckstein der weltweiten Theaterkultur: Man muss es gelesen haben! Also ran.

Das Stück „Jedermann: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ ist in Stil und Inhalt ganz in der Art eines Jesuiten-Theaters zur christlichen Belehrung der gläubigen Massen gehalten. Es ist in der Tat eine Adaption frühneuzeitlicher Vorlagen.

Der Inhalt ist überraschend stupide: Ein reicher Mann, um die 40, erfährt, dass er sterben muss, und sucht nun Begleiter in den Tod, die ihn vor Gott rechtfertigen sollen. Doch alle winken ab: Sein Freund ebenso wie seine Verwandten und Knechte. Auch sein eigener Mammon verweigert ihm die Gefolgschaft. Nur die Personifikationen von guten Werken und Glaube retten ihn am Ende, nachdem er sich reumütig zum christlichen Glauben bekehrt hat.

Drei Probleme

Das Stück leidet zunächst an zwei Problemen: Zum einen ist es strikt im Rahmen eines altbackenen christlichen Glaubens gehalten, den es an keiner Stelle symbolisch überhöht oder modern deutet. Noch größer ist jedoch das Problem, dass die zu Beginn des Stückes vorgeführten Sünden des Herrn Jedermann überhaupt keine Sünden sind!

  • „Sünde“ Nr. 1: Ein Bettler kommt zu Jedermann, Jedermann gibt ihm spontan etwas Geld. Doch der Bettler will gleich den ganzen Geldbeutel. Dies weist Jedermann zurück. Wo soll hier eine Sünde sein? Es ist nur vernünftig.
  • „Sünde“ Nr. 2: Ein Schuldner wird in den Schuldturm geworfen. Jedermann findet das richtig, denn der Schuldner hat den Gläubiger schließlich um sein Geld betrogen. Eine Sünde kann man das nicht nennen, denn es ist gerecht. Aber dabei bleibt Jedermann nicht stehen: Jedermann übernimmt für die mittellose Familie des Schuldners Kost und Logis! Das ist keine Sünde, das ist eine soziale Tat!
  • „Sünde“ Nr. 3: Jedermann hat eine Freundin und scheut es, sich in der Ehe zu binden. Er lebt gerne und gut in Geselligkeit mit Freunden. Hier könnte man vielleicht den Unwillen, sich zu binden, kritisieren, aber von einer schweren Sünde ist hier weit und breit nichts zu sehen. Die Toskana-Fraktion der Antikapitalisten lebt nicht anders.
  • „Sünde“ Nr. 4: Jedermann hat Gott und die Erlösertat Christi vergessen. Das ist natürlich eine Todsünde – aber nur im Rahmen eines altbacken christgläubigen Weltbildes! Moderne Menschen können damit nichts anfangen, zumal sich Jedermann durchaus sozial verhält, wie wir sahen.

Fast schon sympathisch ist Jedermanns unfreiwillig herausgerutschter Satz, gemünzt nicht auf seine engeren Freunde, sondern auf andere Gäste seines Hauses:

„Wie Ihr da seid hereingelaufen,
So könnte ich Euch alle kaufen,
Und wiederum verkaufen auch,
Dass es mir nit so nahe ging
Als eines Fingernagels Bruch.“

Sympathisch deshalb, weil Jedermann mit diesen Worten die aus dem Kontext dieser Stelle ersichtlichen wahren Motive jener Gäste entlarvt, die nicht seine Freunde sind, sondern nur von seinem Reichtum an seiner Tafel profitieren wollen.

Das dritte Problem sind diverse Lächerlichkeiten:

Lächerlich wird das Stück, wo Jedermann eines Lebens bezichtigt wird, das dem Klischee des dekadenten, egoistischen Reichen entspricht: Lächerlich deshalb, weil wir doch zuvor sahen, dass es so nicht ist. Jedermann ist nicht Ebenezer Scrooge, sondern zu Almosen und sozialer Unterstützung bereit. Das Stück enthält hier einen eklatanten Selbstwiderspruch.

Lächerlich ist auch der Versuch des Stückes, in der Absage von Freunden, Verwandten und Knechten, Jedermann in den Tod zu begleiten, eine moralische Aussage sehen zu wollen. So ein Unsinn! Man kann selbst vom besten Freund zwar viel verlangen, aber den Tod wohl kaum. Damit wendet sich die Dramatik der Absagen an Jedermann ins Lächerliche. Selbst für einen gläubigen Christen ist der Gedankengang fragwürdig, einen Freund in den Tod zu begleiten. Solches hat man zuletzt von den Sumerern gehört, wo die Könige sich mitsamt ihrem extra zu diesem Zweck getöteten Hofstaat bestatten ließen, und das gilt als barbarisch.

Und übrigens: Wieso sollte ein Freund, der ebenso „sündig“ gelebt hat wie Jedermann, ihm im Jenseits irgendwie helfen können?! Hier ist das Stück auch logisch brüchig.

Woher der Erfolg?

Wie kommt es nun, dass ein so völlig aus unserer Zeit gefallenes und im Grunde lächerliches Stück einen solchen Erfolg feiern konnte? Die Antwort ist einfach: Der einzig mögliche moderne Anknüpfungspunkt ist ein primitiver Antikapitalismus. Jedermann, der – wie wir sahen – eigentlich ganz vernünftig ist, wird gerade deshalb angefeindet, weil er reich ist und Geld hat. Der Reichtum an sich (!) wird bereits verteufelt, und nicht so sehr, wie er verwendet wird.

Während Jedermann sagt:
„Geld ist wie eine andere War‘
Das sind Verträge und Rechte klar“

sagt der Schuldner:
„Geld ist nicht so wie andre War‘
Ist ein verflucht und zaubrisch Wesen, …
Des Satans Fangnetz in der Welt
Hat keinen anderen Nam als Geld.“

Reichtum, Geld, Zinsen: Einfach alles Teufelszeug. Schuldig ist – natürlich! – nicht der, der geliehenes Geld nicht zurückzahlen kann, sondern der, der es verliehen hatte. Das ist nichts anderes als ein primitiver Antikapitalismus, der auf einem fundamentalen Nichtverstehen von ökonomischen Zusammenhängen beruht. Nur das kann den Erfolg dieses Stückes erklären. Hier ist übrigens das üble Klischeebild vom jüdischen Wucherer nicht fern, der die braven Nichtjuden in die „Zinsknechtschaft“ führt. So manche mittelalterliche Judenhatz beruhte auf diesem falschen Denken, und als das Stück zum ersten Mal in Salzburg aufgeführt wurde (1920), meinten nicht wenige mit Karl Marx („Zur Judenfrage“, 1843) eine enge Verbindung von jüdischer Kultur und dem „bösen“ Kapitalismus erkennen zu können. Wir sehen, in welchen Sphären des Geistes wir uns bewegen.

Hier geht das schiefe Bild des Christentums von Reich und Arm eine üble Synthese ein mit modernem sozialistischen Gedankengut. Der Autor Hugo von Hofmannsthal war übrigens kein Sozialist, sondern ein Monarchist und Konservativer. Aber in der Kritik am Kapitalismus treffen sich Christentum und Sozialismus offenbar.

Indem man sich um dieses Stück versammelt, macht man ein politisches Statement. Alle, die sich um es scharen, und es von Jahr zu Jahr als Eckstein der Kultur hochleben lassen, erklären dadurch gleichzeitig jeden, der sich dem Stück verweigert, jeden Befürworter einer sozialen Marktwirtschaft, zu einem kulturellen Banausen. Zu einem unsensiblen Dummkopf, der eben mangels Sensibilität nicht verstanden habe, worauf es in der Welt ankomme.

In diesem Stück wird der Vernünftige zum Bösewicht gemacht, und das Unvernünftige des antikapitalistischen Denkens zur Weihe der höchsten Moral erhoben. Und in der Tat: Wenn man die positiven Amazon-Rezensionen durchliest, findet man immer wieder Aussagen wie die, dass Jedermann selbst Almosen für Bettler verweigern würde. An dieser Falschaussage sieht man, mit welchen Augen das Stück gelesen wird, und welchen falschen Eindruck es bei weniger gebildeten Lesern und Zuschauern hinterlässt.

Schluss

Der einzige Trost für aufgeklärte Menschen ist, dass dieses Stück das Kindische dieser antikapitalistischen Sichtweise durch die bezeichnenderweise gut passende Einbettung in die kindliche Gläubigkeit des Mittelalters unfreiwillig als kindisch entlarvt und mit sich ins Lächerliche zieht.

All diese vernunftwidrigen Pharisäer, die sich den teuren Theaterurlaub in Salzburg gönnen, und sich im Mainstream einer Schickeria von Gleichgesinnten sonnen, während der selbstbestätigende Beifall am Ende dieses antiaufklärerischen Stückes aufbrandet: Ihnen ruft die Stimme der Vernunft hinterher: „Jedermann! Jedermann!“ – Ihnen legt Athene die Frage vor, welche Vernunftleistung sie für ihren Nachruhm sprechen lassen wollen! – Ihnen wird beim Symposion von Sokrates eine Abfuhr erteilt!

Sie sind die wahren Jedermänner!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon ca. April 2014; 31.08.2023 festgestellt, dass die Rezension auf Amazon nirgends mehr zu finden ist.)

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