Schlagwort: Julian Nida-Rümelin

Gunter Frank: Das Staatsverbrechen – Warum die Corona-Krise erst dann endet, wenn die Verantwortlichen vor Gericht stehen (2023)

Annäherung an die Wahrheit zu Corona anhand eines „Viertelsschwurbler“-Buches

Die Fronten zu Corona (Covid-19, Sars-Cov-2) sind verhärtet. Der normaldenkende Mensch hat die Erfahrung gemacht, dass beide Seiten mit Halbwahrheiten arbeiten. Schwurbler überall! Was soll man da glauben? Wie soll man sich da orientieren?

Der Frage nach der Corona-Wahrheit wollen wir hier anhand des Buches „Das Staatsverbrechen“ von Gunter Frank näherkommen. Auch Gunter Frank argumentiert nicht perfekt, aber sein Buch zeichnet sich durch ein hohes Maß an Faktizität und Rationalität aus. Gunter Frank schwurbelt fast nie um den Punkt herum, er kommt zum Punkt. Dabei liegt er nicht immer richtig. Aber er liegt vermutlich näher an der Wahrheit, als andere. Er ist sozusagen ein „Viertelsschwurbler“. Das ist in diesem Fall durchaus als Kompliment gemeint. Deshalb liefert sein Buch einen brauchbaren Ausgangspunkt für eine rationale Debatte.

Beginnen wir aber mit einer Chronologie eigener Beobachtungen und Gedanken während der Pandemie: Wir alle starten unsere Überlegungen nicht bei Null, und so soll auch hier zunächst aufgezeigt werden, was der Rezensent zu Corona dachte und wusste, bevor er dieses Buch las. Auf dieser Grundlage gehen wir danach auf das Buch ein.

Eigene Beobachtungen, chronologisch

Am Anfang der Pandemie war man mit den Corona-Maßnahmen der Regierung noch im Reinen: Offenbar hatte der Virus eine höhere Sterblichkeitsrate, wie man vor allem durch Berichte von Ärzten aus Bergamo erfuhr (09.02.2024). Bergamo war die Initialzündung zur Corona-Panik. Angela Merkel hielt ihre Fernsehansprache zu Corona praktisch zeitgleich zu den berühmt-berüchtigten „Bildern aus Bergamo“, die eine Kolonne von Militärlastwagen zeigten, die Särge abtransportierten (18.03.2020). Heute wissen wir: In Bergamo wurden massive Behandlungsfehler begangen. Aber das wusste man damals noch nicht. – Die Wissenschafts-Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim hatte zudem wunderbar erklärt, wie das mit „Flatten the Curve“ funktioniert: Man muss die Erkrankungsrate senken, um das Gesundheitswesen zu schonen, indem nicht zuviele Menschen auf einmal an Corona erkranken.

Was Mai Thi nicht ausgerechnet hatte, war die Zeit, wie lange man „Flatten the Curve“ betreiben müsste, um alle Menschen nach und nach durch die Erkrankung und – anteilig – durch das Gesundheitswesen zu schleusen: Mein eigenes Rechenergebnis sagte mir, dass es viele Jahre sein würden. Bei Alexander Kekulé fand ich diese Erkenntnis später bestätigt. Damit war mir aus damaliger Sicht klar, dass die Pandemie durch eine Impfung beendet werden musste, und dass es eine Pflichtimpfung sein würde. Denn man kann die Gesellschaft nicht für viele Jahre in den Lockdown schicken, und die Impfung würde nur helfen, wenn sehr viele sie bekommen würden. – Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Die Impfung würde gar nicht wie eine klassische Impfung wirken. Und: Eine Pandemie kann auch durch eine mildere Variante des Virus beendet werden.

Meine Erwartung war also, dass die Politik die Menschen auf eine Impfpflicht vorbereiten würde. Doch das geschah nicht. Im Gegenteil verkündeten alle Politiker und Journalisten unisono, dass der Gedanke an eine Impfpflicht eine Verschwörungstheorie von Schwurblern und bösen „Rechten“ wäre. Nach der Bundestagswahl 2021 schalteten die Politiker dann plötzlich reihenweise auf Impfpflicht um: Das war maximal unglaubwürdig, sehr undemokratisch und sehr entlarvend.

Dann war da noch die sehr frühe Studie des Virologen Hendrik Streeck zu Heinsberg, die u.a. das Ergebnis brachte, dass die Sterblichkeitsrate doch nicht so hoch war, wie man zunächst befürchten musste. Man hätte erwartet, dass diese Ergebnisse Beachtung bei den Maßnahmen finden. Es geschah jedoch nicht. Vielmehr wurde versucht, Streeck schlechtzureden. Man gewann den Eindruck, dass man gar nicht daran interessiert war, die wahre Sterblichkeitsrate des Virus näher zu bestimmen: Dabei hing daran doch alles!

Zum Thema Masken hatte ich gleich am Anfang der Pandemie ein Youtube-Interview mit einem südkoreanischen Arzt gehört. In Südkorea hatte man bereits 2015 Erfahrungen mit einer MERS-Pandemie gesammelt und musste also Bescheid wissen. Der südkoreanische Arzt sagte klipp und klar, dass Masken sehr wohl nützen. Sie reduzieren das Risiko. Natürlich nicht auf Null. Und es ging um medizinische Masken, auch als OP-Masken bekannt. – Als dann später die FFP2-Masken Pflicht wurden, fragte man sich, wie man solche Masken einen ganzen Tag lang tragen soll. Schulkinder und Angestellte mit Kundenkontakt wurden dazu gezwungen. Man selbst litt schon, wenn man ein paar Stunden damit in der Bahn saß. Da Masken das Risiko nicht auf Null reduzieren, dürfte die Nutzen-Schaden-Abwägung bei FFP2-Masken nicht positiv gewesen sein.

Christian Drosten erschien am Anfang der Pandemie recht überzeugend, weil er gut reden konnte. – Doch zu Anfang der Pandemie sagte er, dass Masken nichts nützen würden. Das sagte er natürlich deshalb, weil wir zu wenige Masken in Deutschland hatten und er nicht wollte, dass nun ein Run auf die Masken beginnt, so dass am Ende keine Masken mehr für das Gesundheitswesen übrig bleiben. Man kann das als eine verständliche Notlüge interpretieren. Allerdings wäre mir bis heute nicht zu Ohren gekommen, dass Drosten sich zu dieser Notlüge je bekannt hätte. – Heute, nach der Pandemie, hört man, dass Drosten sagt: Er wäre immer der Auffassung gewesen, dass Masken nichts nützen. Verrückt! Denn er hatte in der Pandemie ganz klar Masken propagiert. – Auch sonst will Drosten hinterher nicht so richtig dabei gewesen sein, wie man hört: Sehr fragwürdig! Zudem fabuliert er davon, in einer nächsten Pandemie die Meinungsfreiheit beschneiden zu wollen, weil Andersdenkende den Erfolg der Maßnahmen gefährden würden. Meint er. Drosten scheint ein tragischer Fall zu sein. Aber das alles wusste man erst hinterher.

Sehr schwer wiegt auch, dass Drosten gleich am Anfang der Pandemie behauptete, dass die These vom Laborunfall „vom Tisch“ sei. Sie war natürlich nicht vom Tisch, wie wir heute wissen. Als das Anfang 2022 klar wurde, war das eine weitere, schwere Erschütterung der Glaubwürdigkeit von Drosten, auf dessen Expertise ich in diesem Punkt vertraut hatte.

Seltsam war auch, dass der deutsche Staat nicht genügend Masken vorrätig hatte, und sich auch schwer tat, sie im Ausland zu beschaffen. Man lebt ja in der Vorstellung, dass der Staat Katastrophenschutzpläne in der Schublade hat und auch das nötige Material auf Vorrat hält. So wie die Feldbetten, die bei jeder Katastrophe verfügbar sind. Aber offenbar war das nicht der Fall. – Man hatte generell den Eindruck, dass es überhaupt keine Pläne für eine Pandemie gab, sondern alles ad hoc entschieden wurde. Statt planvollem Vorgehen nach Vorgaben von Experten z.B. des Robert-Koch-Instituts (RKI) hatten wir einen Hühnerhaufen von profilierungssüchtigen Politikern, besserwisserischen Journalisten und ein paar wenigen Star-Virologen.

Völlig obskur war die Argumentation, dass die Rettung auch nur eines einzigen Menschenlebens jede Maßnahme rechtfertigen würde. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann berief sich dazu auf Immanuel Kant, ohne das näher zu begründen. Wolfgang Schäuble hat das schon im April 2020 hinterfragt, da Menschenwürde und Menschenleben nicht dasselbe seien, drang aber nicht durch. Ebenfalls im April 2020 äußerte Boris Palmer denselben Gedanken („Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“) und wurde für diesen Satz stellvertretend für alle Andersdenkenden öffentlich niedergemacht. Man blieb beim radikalen Schutzanspruch. Etwas anderes durfte nicht gedacht werden. Es war erschütternd zu sehen, auf welch‘ niedrigem intellektuellen Niveau die Debatte verlief. Es war derselbe flache Dogmatismus, den man schon von den Debatten um Krieg, Migration, Folter oder finalem Rettungsschuss her kannte. Man kann es kaum eine Debatte nennen, es war ein Vertuschen und ein Wegbeißen von Andersdenkenden.

Die Corona-Warn-App war ebenfalls ein Flopp. Es war sehr schnell klar, dass sie überhaupt nichts nützt. Richtig war allerdings, dass nur eine solche App Akzeptanz finden würde, die datensicher ist. – Man hätte auch erwartet, dass der Staat damit beginnt, Gesundheitstipps zu verbreiten. Viele wissen nicht, dass man gegen eine Erkältungskrankheit nicht nur Vitamin C sondern auch Vitamin D braucht. Dafür hätte man Werbung machen können. Außerdem war schnell klar, dass Übergewicht ein Risikofaktor ist. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, Werbung für mehr Bewegung und Abnehmen zu machen. Doch nichts geschah. Seltsam.

Während der Pandemie las man dann, dass Intensiv-Betten abgebaut werden. Und dass die Krankenhäuser unterbelegt sind. Weil viele Operationen verschoben wurden. Und man fragte sich, ob das nicht etwas übertrieben ist: Sollten die Krankenhäuser nicht wenigstens normal ausgelastet sein? „Flatten the Curve“ sollte die Krankenhäuser vor einer Überlastung schützen, aber nicht zu einer Unterbelegung führen.

Im öffentlichen Raum verengte sich die Debatte um Corona extrem schnell auf ganz wenige Personen, vor allem Drosten und Streeck. Kekulé war auch noch dabei, wurde aber marginalisiert. Eine Initiative wie der Offene Brief im Spiegel von Boris Palmer, Juli Zeh, Alexander Kekulé und Julian Nida-Rümelin wurde zwar gedruckt (immerhin), aber in der Debatte praktisch ignoriert. Hin und wieder meldete sich der Ethikrat mit seiner unsäglichen Vorsitzenden Alena Buyx zu Wort, und sagte immer genau das, wohin der mediale Zeitgeist gerade steuerte, statt ethische Dilemmata aufzuzeigen und Widerspruch anzumelden. Die Ministerpräsidenten Söder und Kretschmann spielten Team Vorsicht.

Die ganze Pandemie über gab es Schwurbler und Covidioten. Leute, die ganz offensichtlich falsche Dinge erzählten. Dinge, die so nicht sein konnten. Oder Leute, die sich im Ton vergriffen. Ich hatte mehrfach versucht, mir Videos von Bakhdi anzusehen. Der Mann war ein Schwätzer vor dem Herrn und kam nie zum Punkt. Ich hatte es dann aufgegeben, seinen Punkt zu verstehen. Die Corona-Kritiker konnten nie Glaubwürdigkeit aufbauen.

Ein Sonderfall war Gunnar Kaiser. Ein gebildeter Kritiker mit Stil, der allerdings leider manchmal ganz bewusst herumschwurbelte, so dass Ironie und Ernst nicht immer hinreichend zu unterscheiden waren. Unvergessen seine Lesung der „Pest in Bergamo“ von Jens Peter Jacobsen aus dem Jahr 1881. Gunnar Kaiser starb 2023 an Krebs.

Am Anfang war Drosten sehr glaubwürdig. dann immer mehr Alexander Kekulé. Bei Kekulé war klar, dass er die Dinge nach menschlichem Maß abwog, er war kein Ideologe und versuchte, das Ganze zu sehen. Er konnte seine Thesen nicht immer gut begründen, was manchmal unglaubwürdig erschien, aber am Ende hatte meistens Kekulé Recht, und nicht Drosten mit seinem Tunnelblick. Das wurde im Laufe der Zeit immer klarer. Auch jetzt, 2024, hat Alexander Kekulé ziemlich vernünftige Ansichten zum Thema Aufarbeitung.

Dann hörte man täglich von Inzidenz-Werten. Also von absoluten Fallzahlen festgestellter Corona-Infektionen. Jeden Tag in der Tagesschau. Aber diese Inzidenzzahlen hätten natürlich mit der Anzahl der durchgeführten Tests abgeglichen werden müssen, denn je mehr man testet, desto mehr findet man natürlich auch. Doch das geschah nicht, bis zum Ende der Pandemie nicht. Völlig sinnlose Zahlen wurden täglich zum Zentrum der Tagesschau gemacht.

Irgendwann wurde klar, dass bei den Todeszahlen nicht unterschieden wurde, ob ein Patient „an“ oder nur „mit“ Corona verstorben war. Man hätte erwartet, dass diese Statistik schleunigst umgestellt wird, und sei es nur nach grober Einschätzung der behandelnden Ärzte, damit mehr Klarheit herrscht. Doch es geschah nicht. Bis zum Ende nicht. Unfasslich.

Von Schweden hörte man zunächst, dass dort mehr Menschen als in Deutschland sterben, aber dann sickerte irgendwann durch, dass in Schweden – trotz lockerer Maßnahmen – deutlich weniger Menschen gestorben waren. Ähnliches hörte man dann auch aus den USA, im direkten Vergleich von verschiedenen Bundesstaaten. Aber die deutsche Politik und Medienöffentlichkeit reagierte auf solche Informationen nicht. Solche Informationen gab es nur unter der Hand. Bei den „Schwurblern“ und „Rechten“.

Es war sehr schnell klar, dass Kinder und Jugendliche kaum durch das Virus gefährdet sind. Es wäre eine sinnvolle Strategie gewesen, die Durchseuchung der jüngeren Bevölkerung gezielt anzustreben. Aber dem stand das Argument „Long Covid“ entgegen. Doch auch hier wurde man systematisch im Unklaren gelassen, wie oft dieses Phänomen eigentlich auftritt. Wir wissen heute: Bei Kindern und Jugendlichen selten genug. Außerdem war immer klar, dass das Virus irgendwann jeden erreichen wird. Fragt sich nur, ob vor oder nach einer Impfung. Und eine symptomlose oder milde Infektion mit dem Originalvirus ist natürlich die beste, natürlichste Impfung, die man sich wünschen kann.

Man fragte sich, je länger die Pandemie dauerte, ob den Politikern keine anderen und besseren Maßnahmen einfallen, als immer nur Lockdowns? Oder ob man Lockdowns nicht abwechslungsreicher hätte gestalten müssen: Lieber eine kurze Zeit einen strengen Lockdown, und dann wieder für eine gewisse Zeit größere Freiheit genießen, als einen endlosen, depressiv machenden Dreiviertelslockdown? Boris Palmer hatte in Tübungen auch einige gute Ideen, für die sich sonst niemand interessierte. Und warum mussten immer alle Bundesländer im Gleichschritt marschieren? Das machte doch gar keinen Sinn, da die Pandemie regional sehr unterschiedlich ausfiel. Gerade in der Pandemie hätte der Föderalismus seine Stärken ausspielen können. In den USA geschah das. Warum nicht bei uns? Hatte man etwa Angst, dass manche Länder besser abschneiden würden als andere? So wie beim Bildungsföderalismus, wo man auch versucht, jeden Vergleich zu vermeiden?!

Obskur auch die Gesetze, die gemacht wurden: Natürlich muss es möglich sein, bei einer gefährlichen Krankheit auch Grundrechte außer Kraft zu setzen, um die Bevölkerung zu schützen. Aber ohne jede Kontrollinstanz, einfach mit einem Federstrich der Regierung? Das erscheint wenig demokratisch. – Obskur auch die Übertragung von erstaunlichen Kompetenzen an die WHO im Falle einer kommenden Pandemie. Denn weder ist die WHO demokratisch, noch haben sich übernationale Organisationen in der Pandemie als handlungsfähig erwiesen. Das Heft hatten die Nationalstaaten in der Hand. Vermutlich ist die Übertragung von Kompetenzen an die WHO auch nicht völlig ernst gemeint. Aber sollte man Gesetze machen, die nicht völlig ernst gemeint sind? Was sagt das über die Gesetzestreue der Parlamentarier aus? Und über den Zustand unseres Rechtsstaates insgesamt?!

Im Vorfeld des zweiten Corona-Sommers kam eine völlig verrückte Diskussion auf, ob das Virus im Sommer nachlassen würde. Dabei hatte man schon im Sommer zuvor gesehen, dass das der Fall war. Wieso sollte es jetzt anders sein? Wozu diese irre Debatte?

Im Fernsehen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – zelebrierte der Bundespräsident eine seltsame Trauerfeier für die Corona-Toten. Doch wie viele waren es nun eigentlich? Darüber konnte niemand eine klare Auskunft erteilen. Im eigenen Umfeld kannte man niemanden, der an Corona gestorben war, und man kannte auch niemanden, der jemand kannte. Es war völlig surreal.

Und dann gab es die Zero-Covid-Idioten, die besonders scharfe Maßnahmen forderten, weil sie glaubten, das Virus ausrotten zu können. Doch das kann man nicht. Oder weil sie ein völlig falsches Verständnis von Risiko und Verhältnismäßigkeit hatten. Es sind dieselben Leute, die auch in ökologischen Fragen jedes Maß an Verhältnismäßigkeit und Realismus verloren haben. Irgendwie schafften diese Zero-Covid-Idioten es, die Debatte zu beherrschen, mithilfe sympathisierender Journalisten und gewissen fragwürdigen Aussagen von Drosten, auch wenn die Politik zum Glück kein völliges Null-Covid-Programm durchzog. Es war sonnenklar, dass diese Leute von einem autoritären Furor geleitet waren. Sie machten oft keinen Hehl daraus, dass sie auch die Klima-Problematik gerne autoritär „lösen“ würden, wenn man sie ließe. Das war sehr undemokratisch gedacht.

Die Impfung für alle erschien zunächst der logisch einzige Weg aus der Pandemie heraus. Mai Thi hatte auch dazu das richtige Video mit überzeugenden Argumenten. Jetzt sagte sie das, was ich mir schon am Anfang der Pandemie ausgerechnet hatte: „Flatten the Curve“ dauert ewig. Allerdings: Mai Thi sagte das erst nach der Wahl.

Doch irgendwann sickerte durch: Die Impfung verhindert eine Infektion gar nicht, und sie verhindert auch nicht die Weitergabe des Virus. Ein respiratorischer Virus kann durch eine Impfung gar nicht völlig abgewehrt werden, weil er die Schleimhäute immer erreicht. Die Impfung reduziert lediglich das Risiko eines schweren Verlaufs. Das ist nicht wenig, aber damit ging es nur noch um Eigenschutz, nicht mehr um Fremdschutz. Und damit fiel jedes Argument für eine Impfpflicht weg. Doch niemand diskutierte das. Man tat so, als gäbe es diese Schlussfolgerung nicht.

Und diese Information sickerte nur langsam durch, so wie viele Informationen und Wahrheiten in dieser Pandemie leider nur durchsickerten: Niemals stellte sich ein Politiker oder ein Drosten hin und verkündete, dass man bisher auf dem falschen Dampfer war und ab sofort neue Einsichten gelten. Sondern man veränderte die Positionen schrittweise und ganz heimlich, still und leise.

Später dann bekam Mai Thi ihre eigene Show im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen, und hier zeigte sie dann ihr wahres Gesicht: Ursprünglich hatte sie noch einen gewissen Anspruch. Sie war natürlich, vernünftig und menschlich, auch wo sie irrte. Doch dann gab sie sich für höchst einseitige Darstellungen her. Und dass sie in ihrem Impf-Video von einem Fremdschutz ausging, den es nie gab, dazu hat sie sich nie geäußert. Ebenso hat sie sich nie dazu geäußert, dass die Pandemie am Ende nicht durch die Impfung, sondern durch Omikron beendet wurde. Mai Thi könnte ja sagen, dass sie sich geirrt hat. Das wäre OK. Aber da kam nichts.

Unklar war auch, wie lange man eigentlich immun ist. Sowohl durch die Impfung, als auch durch eine durchgemachte Infektion. Bei Grippeviren dachte man immer, man sei auf Jahre immun, bei Corona waren es plötzlich nur 3-6 Monate. Wegen der Varianten. Aber es gibt doch Kreuzimmunitäten? Das alles war sehr verwirrend.

Schließlich sickerte auch die Information durch, dass die Impfung entgegen ersten Behauptungen auch Nebenwirkungen haben kann. Und dass so manches „Long Covid“ in Wahrheit wohl eher ein PostVac-Syndrom ist. AstraZeneca wurde schon während der Pandemie diskutiert, andere Probleme aber nicht. Die mRNA-Impfung scheint insbesondere ein Problem damit zu haben, zu kontrollieren, wie lange die Spike-Proteine zur Anregung einer Impfreaktion produziert werden. Und die Impf-Lipide mit der mRNA verteilen sich im ganzen Körper. Das alles ist bis heute ein einziges Dunkelfeld. Denn irgendwie scheint es keiner so genau wissen zu wollen.

Am Ende der Pandemie sickerte wiederum nur langsam durch, dass die Omikron-Variante des Virus nicht die große Katastrophe ist, sondern die Lösung des Problems. Doch diese Wahrheit wurde nicht ausgesprochen, und die Maßnahmen blieben noch lange in Kraft, obwohl Omikron das in keiner Weise mehr rechtfertigte. Im Ausland begann man über die Deutschen zu lachen, wie so oft in diesen Tagen, nicht nur wegen Corona.

Weitere Beobachtungen am Rande

Das sture Festhalten der Politik an den immergleichen Maßnahmen erinnerte an das Verhalten der Politik in vielen anderen Krisen: Auch in der Euro-Krise hieß es am Anfang, es gäbe ein einziges Griechenlandrettungspaket, und dann, wenn die Märkte sich beruhigt haben, würde alles geordnet abgewickelt. Schön und gut. Die geordnete Abwicklung kam aber nie, sondern es kam ein neues Griechenlandsrettungspaket nach dem anderen, bis man die Griechen mit soviel Krediten zuschüttete, dass die Krise heute gelöst erscheint. Sie ist es nicht. – In der Migrationskrise 2015 ging es anfangs nur um einige tausend Migranten am Budapester Bahnhof. Schön und gut. Danach kamen aber immer mehr und mehr. Merkel bekam die Tür nicht mehr zu. Sie wollte die Tür nicht mehr zu bekommen. Es ging immer weiter. Verrückt! Bis die Osteuropäer gegen den Willen Merkels die Tür dann schlossen. – Im Ukraine-Krieg ging es anfangs darum, dass Putins Aggression nicht belohnt werden darf, und dass wir die Ukraine mit Waffenlieferungen in eine Position der Stärke für Verhandlungen versetzen wollen. Schön und gut. Verhandelt wurde dann aber nie, sondern es wurden immer nur weitere Waffen geliefert, ohne eine Strategie, wohin das genau führen soll. – Und genau nach diesem Schema lief es auch bei Corona.

Plötzlich waren die Nationalstaaten wieder handlungsfähig. Sie nahmen das Heft des Handelns einfach in die Hand. Weil nur der Nationalstaat auch tatsächlich handlungsfähig ist, weil nur er einen politische Diskursraum für Demokratie bietet. Carl Schmitt lässt grüßen. – Angela Merkel konnte sogar plötzlich Deutschlands Grenzen schließen, was sie zuvor für unmöglich erklärt hatte. Es wurden sogar Grenzen zwischen Bundesländern aufgezogen, was eigentlich absurd ist. – Und es wurde auch eine Hackordnung der Nationalstaaten in der Welt sichtbar, von der man sonst wenig hört: Denn wer bekam die Impfstoffe zuerst? Natürlich die Angelsachsen. Erst danach die Kontinentaleuropäer. Das ist keine Kritik, es ist nur eine Beobachtung. So ist die Welt eben, und vielleicht ist es sogar gut, dass es so ist.

Die deutschen „Gutmenschen“ haben in der Pandemie einmal mehr ihr hässliches Gesicht gezeigt: Während sie sich sonst als die guten Europäer gerieren, stoppten sie aus reinem Eigennutz eine Lieferung von Masken nach Italien. Die Italiener, die zu dieser Zeit von Corona besonders betroffen waren, werden das sicher nicht gut aufgenommen haben. Immerhin übernahm man später einige Patienten aus Italien. – Etwas seltsam war auch, dass einige Parlamentarier, die die schnelle Beschaffung von Masken aus dem Ausland organisieren halfen und dafür handelsübliche Beraterhonorare nahmen, gekreuzigt wurden. Hätte man ihnen nicht danken müssen? Korruption und Bereicherung wäre es gewesen, wenn die Honorare nicht den üblichen Gepflogenheiten entsprochen hätten. – Die Briten wiederum stellten Gedankenspiele an, einen AstraZeneca-Impfstoff, der in den Niederlanden lagerte und von den Niederländern nicht herausgegeben wurde, mit militärischen Mitteln nach Großbritannien zu holen. Davon erfuhr man natürlich erst sehr viel später.

Auch die parteiliche Unfairness der Politik – und damit auch der Polizei – gegenüber Demonstranten verschiedener Art zeigte sich in der Pandemie besonders auffällig: Während man linksradikale Black-Lives-Matter-Demonstranten ohne Maske und auf engstem Raum demonstrieren ließ, wurden Demonstrationen von Corona-Kritikern unter strenge Auflagen gestellt und oft genug aufgelöst. Teilweise soll die Polizei die Corona-Kritiker so eingepfercht haben, dass sie die Abstandsregeln nicht einhalten konnten, was ihnen dann zum Vorwurf gemacht wurde. Schließlich schockieren heute noch die Bilder von Polizisten, die normale und friedliche Bürger, teils ältere Leute, brutal zu Boden stoßen. Oder mit Wasserwerfern bearbeiten. Es war immer klar, dass die Polizei politisch gesteuert wird und nicht jede Demonstration gleich behandelt. Aber so krass hat man es selten gesehen.

Last but not least entlarvte die Corona-Pandemie auch, wie sehr Deutschland schon in migrantische Parallelgesellschaften zerfällt. Denn ein großer Teil der Impfverweigerer waren gar keine Impfverweigerer. Es waren vielmehr Menschen mit Migrationshintergrund, die geistig-medial nicht in Deutschland leben, sondern in einem ganz anderen Land. Sie haben die Impfung oft einfach deshalb nicht mitgemacht, weil sie von ihr nichts gehört hatten. Es gab immer wieder größere Corona-Ausbrüche in Migranten-Communities, weil sich dort keiner an die Regeln hielt. Deshalb auch die Vorschläge, mit Impfbussen in die entsprechenden Viertel zu fahren. Einem Impfverweigerer ist mit einem solchen Angebot nicht beizukommen. Einem Impf-Ignoranten, der geistig-medial nicht „bei uns“ ist, jedoch schon. Im März 2021 las man, dass die Corona-Patienten auf den Intensivstationen weit überproportional Migrationshintergrund hätten. – Natürlich wurde dieses Problem wie immer vertuscht und kleingeredet, und es wurden natürlich keine Konsequenzen daraus gezogen. Wie Seyran Ates in ihrem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ schon 2007 feststellte, scheitert die Lösung von Problemen in Deutschland oft schon daran, dass über die Probleme nicht gesprochen werden darf.

Dieses Buch bietet Erklärungen und mehr

Viele der oben aufgezählten Beobachtungen werden in diesem Buch bestätigt. Die Beobachtungen waren richtig. Und für manche der oben genannten Fragen wird eine überzeugende Erklärung geboten.

Im Zentrum stehen völlige falsche Anreizsysteme für die Beteiligten:

  • Gewählte Politiker achten generell nicht auf medizinische Argumente, sondern immer nur auf die Stimmung im Land und vor allem auf die Stimmung unter den Journalisten, die meinungsmächtig sind. Dieser Regierungsstil ist gerade von Angela Merkel zur Perfektion gebracht worden. Politiker haben kein Interesse an genauen Daten und Statistiken. Diese stören nur beim Regieren nach Stimmung.
  • Beamte wiederum flüchten sich nur allzu leicht in den Gehorsam gegenüber der Regierung. Hier diffundiert die Verantwortung zwischen Dienstherr und untergebenen Fachexperten, die es zwar besser wissen, aber nichts zu entscheiden haben. Beamte, die die Scharaden der Politik nicht mitmachen wollen, werden schnell gefeuert und geächtet, wie das Beispiel Hans-Georg Maaßen zeigt.
  • Mitglieder von Beraterstäben und Gremien wie der Leopoldina Wissenschaftsakademie oder dem Ethikrat haben ein Interesse daran, der Politik und der Stimmung im Land nicht zu sehr zu missfallen, um ihren Beraterposten zu behalten und ihre Karriere nicht zu gefährden.
  • Die etablierten Medien verfolgten wie immer eine linksliberale Agenda mit leicht autoritären Zügen: Gegen Corona-Schwurbler, gegen „rrrrächz“. Dadurch wird die gesellschaftliche Debatte in ein enges Korsett gepresst. In der Pandemie führte das zu einer Kommunikationskatastrophe. Legitime alternative Meinungen wurden nicht gehört, Menschen wurden ausgegrenzt, ein demokratisch absolut unerlässlicher Diskurs fand nicht statt, eine Korrektur von Irrtümern war nicht möglich. Es sind inzwischen diverse Absprachen und Einflussnahmen bekannt geworden, die den Ruf der Unabhängigkeit mancher Medien schwer beschädigt haben.
  • Und die Krankenhäuser nutzten die Gelegenheit, sich gesundzustoßen: Sie rechneten Intensivbetten rauf und runter und kassierten für Betten ab, die es gar nicht gab bzw. die allenfalls verpackt im Keller standen. Die Politik ließ es durch Wegschauen geschehen.

Das Buch macht gleich am Anfang klar, dass es in Deutschland zu keinen Engpässen in den Krankenhäusern gekommen ist. Außerdem gibt es keine signifikanten Unterschiede zwischen Ländern und Regionen mit harten oder lockeren Maßnahmen, und zwar bei durchaus vergleichbaren Regionen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Maßnahmen verhältnismäßig waren. Sie waren es – zumindest in dieser Form – ganz offensichtlich nicht.

Masken nützen durchaus: Gut, dass dieses Buch diese Tatsache festhält. Allerdings wird die Wirksamkeit der Masken dann zu sehr kleingeredet.

In diesem Buch wird Klarheit geschaffen darüber, dass die Laborthese für den Ursprung des Corona-Virus keinesfalls vom Tisch ist, wie Drosten behauptete, sondern höchstwahrscheinlich zutrifft, wie Professor Wiesendanger anhand vieler starker Indizien zeigen konnte. Dahinter steckt ein Netzwerk von Virenforschern, Pharmafirmen, des Pentagon, sowie von Philanthropen wie Bill Gates und seiner Stiftung. Diese Lobby betrieb eine gefährliche Virenforschung, die man zur Abwehr von Viren, aber auch für Biowaffen verwenden könnte. Diese Forschung fand in Wuhan statt, und das Corona-Virus „Sars-Cov-2“ entspricht ganz den Plänen und Patenten dieser Virenforschung. Man fasst es nicht. Es ist völlig naheliegend, dass das Virus in Wuhan aus dem Labor entwischt ist. Die Indizien dafür sind erdrückend. Es handelt sich um einen klassischen Laborunfall. Der Autor spricht völlig zurecht vom Tschernobyl der Virenforschung. Genau das ist es.

Zugleich forschte diese Lobby aber auch an neuartigen Impfstoffen auf der Basis der mRNA-Technologie: Der Impfstoff enthält nicht mehr die Proteine des Erregers selbst, wie bei klassischen Impfstoffen, sondern der Impfstoff enthält den Bauplan für diese Proteine, so dass der menschliche Körper diese Proteine dann selbst erzeugt. Was sich theoretisch gut anhört, hat in der Praxis aber noch nie funktioniert. Die Lobby hatte deshalb Pläne geschmiedet, die Gelegenheit der nächsten größeren Grippe-Pandemie dafür zu nutzen, um einen Hype auszulösen, der die Politik dazu bringen würde, die Hürden für die Zulassung der mRNA-Impfstoffe zu senken. Genau das geschah dann auch in der Corona-Pandemie: Die Gelegenheit wurde genutzt. – Allerdings ist zu beachten: Anders als geplant, war Corona mehr als nur eine größere Grippe. Es wäre möglich, dass der böse Plan in diesem Fall unfreiwillig seine Bosheit verlor, weil die moralische Abwägung in diesem Fall vielleicht doch zugunsten des Impfstoffs ausfiel. So viel Differenzierung muss sein. Dazu unten mehr

Was ich vor der Lektüre des Buches noch nie gelesen hatte: Dass ein Impfen in zu kurzen Abständen zu einer Desensibilisierung führen kann. Ein zu häufiges Impfen mit Corona-Impfstoffen kann das Immunsystem gegen Corona schwächen statt stärken. Ein sehr bedenkenswertes Argument, das glaubwürdig genug klingt, um zumindest öffentlich diskutiert zu werden. Dass ich davon zuvor noch nichts gehört hatte, ist sozusagen der eigentliche Skandal, unabhängig davon, wie viel am Ende an der These dran ist.

Das Buch schafft aber auch ein Bewusstsein dafür, wieviele Menschen völlig unverhältnismäßig geschädigt worden sind. Teilweise liegen die Zahlen im Dunkeln, aber die Schäden sind groß, das ist klar:

  • Die Zwangsimpfung für Pflegepersonal, Ärzte und Soldaten stürzte in Gewissensnöte und zerstörte Karrieren, obwohl die Impfung eine Übertragung des Virus nicht verhinderte und damit jeder Grund für eine Impfpflicht entfiel.
  • Der Lockdown bedeutete für viele Berufe ein Berufsverbot. Existenzen wurden vernichtet. Soldaten sitzen jetzt noch (Oktober 2024) im Gefängnis, weil sie die Impfung verweigern.
  • Es wurde extrem viel Geld ausgegeben, um Menschen das Nichtstun zu ermöglichen. Dafür muss natürlich der Steuerzahler aufkommen.
  • Kritiker wurden pauschal als Schwurbler und Rechtsradikale verunglimpft und ausgegrenzt. Ihnen wurde zudem die Schuld an Lockdown und Tod zugewiesen, sprich: Es wurde gegen sie gehetzt.
  • Kindern wurde Angst eingejagt, sie könnten ihre Großeltern anstecken.
  • Schüler mussten einen ganzen Schultag mit FFP2-Masken verbringen: Eine Tortur.
  • Im Lockdown wurden Kinder isoliert und es kam vermehrt zu häuslicher Gewalt.
  • Menschen mit PostVac-Syndrom werden bis heute mit ihren Problemen allein gelassen.

Es ist auch erschreckend zu sehen, wie Humanismus und Aufklärung in der Gesellschaft zusammenbrachen:

  • Diverse Argumente und Thesen wurden öffentlich vertreten und blieben in den etablierten Medien unhinterfragt stehen, obwohl sie bereits mit wenig Aufwand als unzureichend oder glatt falsch hätten erkannt werden können.
  • Wir erfahren von vielen warnenden Stimmen von Professoren, Beamten, Politikern und Ärzten, die Einspruch zu erheben wagten und dafür verleumdet und mundtot gemacht wurden, von ihren Institutionen Redeverbot bekamen oder gleich ganz rausgeworfen wurden: Es sind erschreckend viele! Es gab auch einige Suizide in diesem Zusammenhang. Wie konnte es in einer aufgeklärten Gesellschaft zu einer solchen Cancel Culture kommen? Widerspruch muss ertragen werden, ohne dem Andersdenkenden an die Existenz zu gehen. Diese Gesellschaft ist nicht mehr so aufgeklärt, wie sie tut.
  • Ärztliche Atteste wurden schlicht ignoriert, ja sogar verlacht.
  • Ärzte, die Maskenbefreiung u.a. Maßnahmen verschrieben, mussten mit dem Staatsanwalt rechnen.
  • Lehrer benahmen sich gnadenlos gegenüber ihren schutzbefohlenen Schülern.
  • Menschen mussten einsam sterben, Angehörige wurden nicht vorgelassen.
  • Viel zu viele Politiker, Ärzte, Gesundheitsfunktionäre, Beamte haben die Verantwortung, die sie hatten, einfach abgeschoben bzw. sich die Verantwortung allzu leicht nehmen lassen.
  • Der Ethikrat hatte völlig versagt, eine Farce.
  • Die Kirchen machten zu statt auf, ließen die Leute alleine, und stellten sich an die Seite der Mächtigen, gegen Kritiker. Sie versagten genauso wie der Ethikrat.
  • Besonders schlimm waren die Verhältnisse in Altenheimen oder Waisenhäusern. Alte und Kinder wurden gnadenlos isoliert, mussten einsam und verlassen sterben oder blieben tage- und wochenlang ohne notwendige Zuwendung. Hauptsache, die Vorschriften wurden eingehalten.
  • Korruption blieb von den etablierten Medien unbeachtet: So bekam der Ehemann von Ursula von der Leyen einen gutbezahlten Job bei der Pharmafirma Orgenesis, die von der EU Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds bekam.

Die Aufarbeitung der Probleme kommt nur schleppend voran:

  • Eine systematische Aufarbeitung z.B. durch einen Untersuchungsausschuss des Parlamentes ist bis jetzt nicht zustande gekommen.
  • Transparenz muss bis heute abgetrotzt werden, durch Klagen vor Gericht oder durch Wistleblower (z.B. RKI-Files).
  • Politiker, Journalisten und Mediziner beginnen zurückzurudern, ziehen sich dabei aber auf ein Standardargument zurück, das oft nicht haltbar ist: Dass man es anfangs nicht besser hätte wissen können. Teilweise konnte man das aber doch, wie dieses Buch aufzeigt.
  • Zugegeben wurde z.B. bereits, dass die langen Schulschließungen ein Fehler waren. Aber ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte.
  • In Mediatheken und Zeitungsarchiven verschwinden plötzlich Beiträge, die ex post betrachtet keinen guten Eindruck machen.

Kritik an diesem Buch

Kommen wir nun zu der Frage, was an diesem Buch übertrieben oder falsch ist. Es ist dabei interessant zu wissen, dass der Autor Gunter Frank, der als Hausarzt arbeitet, schon lange vor Corona ein Medizinkritiker war und manchmal in Talkshows auftrat. Seine Kritik richtete sich insbesondere gegen falsche ökonomische Anreize im Gesundheitswesen: So geschieht es z.B., dass sich die Pharma-Lobby durch die Senkung von Normwerten neue Patienten erschließt, die gewissermaßen krank definiert werden, statt wirklich krank zu sein. Der Autor äußerte sich auch zu der sattsam bekannten Fragestellung, welche Vorsorgeuntersuchungen sinnvoll sind, und wie oft. Oder zur Frage der Notwendigkeit von FSME-Impfungen gegen Zeckenbisse: Weil die Zahl der Schadensfälle sehr gering ist, stellt sich auch hier die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Genau dieselben Fragestellungen tauchen beim Thema Corona natürlich ebenfalls auf.

Kritik: Statistik

Mit statistischen Aussagen ist in der Corona-Pandemie von allen Seiten extrem viel Schindluder betrieben worden. Teilweise mag dies auch auf echte Denkfehler zurückzuführen sein, denn Statistik ist nicht jedermanns Sache. Es wäre zu wünschen, dass jemand eine Internet-Seite aufmacht, auf der er alle typischen Statistik-Irrtümer der Corona-Pandemie systematisch aufgelistet und widerlegt werden. Ein Klassiker ist z.B. die Aussage, dass mehr Geimpfte als Ungeimpfte im Krankenhaus liegen, verbunden mit der irrigen Schlussfolgerung, dass die Impfung wohl die Ursache dafür sein müsse. Ebenfalls klassisch ist der Irrtum sowohl von Corona-Kritikern als auch des etablierten Narrativs: Während die Corona-Kritiker oft nicht verstanden haben, dass Corona am Anfang tatsächlich etwas schlimmer war als eine Grippe-Welle, haben die Anhänger des etablierten Narrativs oft nicht verstanden, dass Corona mit dem Auftreten der Omikron-Variante harmlos geworden war. Auch dieses Buch ist nicht frei von derartigen Irrtümern.

Was der Autor dieses Buches völlig ungesagt lässt, ist der Umstand, dass Länder und Regionen, in denen es keine Zwangsmaßnahmen gab, dennoch sehr wohl Maßnahmen durchführten, nur eben lockere und freiwillige Maßnahmen. So begannen in Deutschland viele Bürger und Organisationen schon vor dem ersten Lockdown mit einer freiwilligen, Panik-getriebenen Isolation, weshalb die Infektionszahlen schon vor dem Lockdown zu fallen begannen. Das heißt aber nicht, dass die Maßnahmen, die der Lockdown verpflichtend machte, nichts nützen würden. Es scheint vielmehr so zu sein, dass es zwischen freiwilligen, lockeren Maßnahmen und strengen Zwangsmaßnahmen keinen signifikanten Unterschied im Effekt zu geben scheint. Länder „ohne Maßnahmen“ waren eben keine Länder ohne Maßnahmen, sondern Länder „mit“ Maßnahmen, nämlich mit freiwilligen Maßnahmen. – Es ist deshalb richtig, die strengen Zwangsmaßnahmen zu kritisieren und auf Freiwilligkeit zu setzen, es ist aber nicht richtig, so zu tun, als hätten die Maßnahmen überhaupt nichts genützt. Das ist falsch.

Der Autor stellt mit Recht fest, dass es im ersten Corona-Jahr keine Übersterblichkeit gegeben hatte, während man heute noch überall lesen kann, dass es angeblich eine Übersterblichkeit von mehr als 70.000 Toten gegeben habe, was falsch ist. Aber der Autor macht es sich zu einfach. Denn es muss bedacht werden, dass es sehr wohl eine hohe Sterblichkeit durch Corona gab, die allerdings durch die Maßnahmen ausgeglichen wurde (weniger Unfalltote, weniger Herzinfarkte, verschobene Operationen usw.), so dass es nur unter dem Strich keine Übersterblichkeit gab. – Im Oktober 2021 stellte eine Forschergruppe der Universität Duisburg-Essen eine demographisch bereinigte Übersterblichkeitsrechnung vor, derzufolge es 34.000 Corona-Tote im Jahr 2020 gab. Das ist deutlich mehr als eine normale Grippewelle, die jährlich knapp 20.000 Tote fordert. Zum Vergleich: Die Asiatische Grippe von 1957 forderte 30.000 Tote in Westdeutschland, die Hongkong-Grippe von 1968 ca. 50.000 Toten in Ost- und Westdeutschland zusammen. Beide Grippewellen rauschten damals ohne größere Maßnahmen durchs Land. Vielleicht muss man die Zahl von 34.000 Corona-Toten auch noch durch zwei teilen (ähnlich wie es der Autor des Buches mit Corona-Fallzahlen tut), um den wahren Wert nahezukommen. Dann wäre man mit ca. 17.000 Corona-Toten ziemlich genau auf dem Niveau einer normalen Grippe-Welle. – ABER: Hätte man keinerlei Maßnahmen ergriffen, wären die Zahlen natürlich deutlich höher ausgefallen als nur 34.000 (oder 17.000) Tote. Zu beachten ist auch, dass die Zahl der Toten am Anfang unnötig hoch war, weil eine falsche Behandlung angewendet wurde. Allerdings muss demgegenüber wiederum bedacht werden, dass diese falsche Behandlung nun einmal leider angewendet wurde, und die Zahl der Toten deshalb nicht nur rein rechnerisch so hoch lag, sondern ganz real, und dass diese Toten deshalb auch real verhindernswert waren. In Deutschland scheint die Behandlung recht schnell besser geworden zu sein. So schlimm wie in Bergamo war es in Deutschland nie. – Der Autor irrt also, wenn er Corona nur als „mittlere Grippe“ einstuft. Es war schlimmer, wenn auch nicht so schlimm, wie manche damals meinten, sondern etwas dazwischen. Auf dieses „dazwischen“ scheinen sich beide Seiten nicht einigen zu können. – Es ist richtig, die Unterbelegung der Krankenhäuser und die strengen Maßnahmen zu kritisieren, aber die bessere Alternative hätte nicht in gar keinen Maßnahmen bestanden, sondern z.B. in abgestuften und freiwilligen, lockeren Maßnahmen, die zu einer richtigen Balance bei der Auslastung der Krankenhäuser geführt hätten.

Die Zahlen der Phase-III-Zulassungsstudie von Pfizer / BionTech werden vom Autor falsch interpretiert. Dabei gab es zwei Testgruppen zu je ca. 22.000 Personen. Die eine Gruppe bekam die Impfung, die anderen Gruppe nur ein Placebo. In der Placebo-Gruppe wurden daraufhin 162 Corona-Fälle gezählt, in der Impf-Gruppe hingegen nur 8. Daraus schloss Pfizer auf einen Schutz vor Corona von 95%, weil 8 : 162 = 5%. Der Autor rechnet nun so, dass er zunächst die vermiedenen Fälle berechnet: 162 – 8 = 154, und dann die 154 durch die Gesamtzahl der Gruppenteilnehmer von 22.000 teilt, also 154 : 22.000 = 0,7%. Diese Zahl nennt er die „Wirksamkeit“ (S. 120). – Doch diese Rechnung ist falsch, wie wir gleich sehen werden. Vielmehr ist die Rechnung von Pfizer durchaus richtig, es wurde im Prinzip ein Schutz von 95% erzielt. Die richtige Kritik an Pfizer lautet so: Man muss die kleinen Zahlen bedenken, auf denen diese Kalkulation beruht, nämlich nur 8 bzw. 162 Fälle. Das spricht für einen hohen statistischen Fehler. Es wäre z.B. durchaus möglich, dass der Schutz nur bei 75% liegt. Das ist die richtige Kritik an den Zahlen von Pfizer. – Die Rechnung des Autors ist hingegen unsinnig. Es lässt sich vermuten, dass er diese Rechnung analog zu einer Rechnung konstruiert hat, die er in einer Talkshow zum Thema Brustkrebsvorsorge vorgeführt hat (Talk 3nach9, Radio Bremen, 2014): Dort gab es auch zwei Gruppen von Patienten zu je 1000 Teilnehmern. In der Vorsorgegruppe starben 6 an Brustkrebs, in der Gruppe ohne Vorsorge starben 8. Die Befürworter der Vorsorgeuntersuchung sagen, dass das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, durch die Vorsorgeuntersuchung um 25% gesenkt würde (von 8 auf 6). Das stimmt auch, wenn auch mit großer statistischer Unsicherheit aufgrund der kleinen Zahlen. Der Autor hingegen sagt, dass das Risiko in absoluten Zahlen nur um 0,2% gesenkt wurde, nämlich von 8 : 1000 auf 6 : 1000, also von 0,8% auf 0,6%. Auch diese Aussage stimmt, der Autor hat Recht: Für die Brustkrebsvorsorge stimmen diese Zahlen. Aber man darf diese Überlegung nicht auf die Corona-Impfung übertragen. Denn die meisten der zweimal 1000 Teilnehmer der Brustkrebsuntersuchung werden nie Brustkrebs bekommen. Die zweimal 22.000 Teilnehmer der Corona-Impfstudie werden jedoch alle früher oder später Corona bekommen.

Dass die Zulassung des Impfstoffs mit heißer Nadel gestrickt war, war allen denkenden Menschen klar. Der Autor lässt allerdings unerwähnt, dass die israelische Bevölkerung den Impfstoff auch deshalb als erste bekam, weil sich Israel gewissermaßen als Testlabor für die Impfung zur Verfügung gestellt hatte. Als der Impfstoff dann in Deutschland ausgerollt wurde, konnte man sagen, dass alle kurz- und mittelfristigen Risiken bereits bekannt waren. Sie waren klein genug, um die Ausrollung des Impfstoffs zu wagen. Denn man muss das Risiko der vulnerablen Gruppen, an Corona zu versterben, dagegen stellen. Dieses Risiko wurde durch den Impfstoff gesenkt. – Richtig ist allerdings, dass ein Ausrollen des Impfstoffs an nicht-vulnerable Gruppen oder gar eine Impfpflicht auf dieser Grundlage keine Rechtfertigung hat. Der Autor hat sehr wohl gute Punkte, es ist allerdings nicht immer ganz so dramatisch, wie er meint. Es ist aber immer noch dramatisch genug.

Die These, dass man nicht in eine Infektionswelle hinein impft, ist sicher richtig, aber gilt sie auch in jedem Fall? Die Impfung half bekanntlich beim Eigenschutz der vulnerablen Gruppen. Es gab also auch Gründe für die Impfung während einer laufenden Infektionswelle. Am Ende hätte man beide Effekte gegeneinander abwägen müssen. Wir wissen nicht, wie diese Abwägung ausfallen würde.

Zu den Folgeschäden der Impfung (PostVac-Syndrom) kann der Autor nur Indizien aufzählen. Ob es wirklich ein größeres Problem gibt, ist unklar. Klar ist auch, dass die Corona-Impfung viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als irgendeine andere Impfung. Auch deshalb gibt es viel mehr Meldungen, von denen sich sehr viele – anders als bei anderen Impfungen – als falscher Alarm erweisen. Die Berichte darüber, dass man auch hier gar nicht wissen will, wie die Wahrheit aussieht, sind allerdings sehr bedenklich. – Richtig ist also, dass die Frage nach den Folgeschäden der Impfung vermauschelt wird und offensiv angegangen werden müsste. Was dabei herauskäme, wissen wir jedoch nicht.

Der Rückgang der Geburtenrate dürfte kaum mit gesundheitlichen Schäden durch das Corona-Virus oder durch die Impfung zusammenhängen. Hier sind Zahlen aus der Schweiz hilfreich: Der Rückgang der Geburtenrate, den es tatsächlich gibt, hat z.B. damit zu tun, dass sich während Corona viele Paare für ein Kind entschieden, die jetzt unmittelbar nach Corona natürlich nicht sofort noch ein Kind bekommen möchten. Auch die Fertilitätsrate ist nicht gesunken. Es gibt keine Zunahme von Patienten mit unerfülltem Kinderwunsch. – Bedenklich sind die klaren Zahlen von Frühgeburten bei geimpften Schwangeren.

Kritik: Nicht Verschwörung sondern Lobby – Nicht Verbrechen sondern Versagen

Es hat fraglos eine „Verschwörung“ einer gewissen Lobby zur Vertuschung der Laborherkunft des Virus und zur Durchsetzung der mRNA-Impfstoffe gegeben. Allerdings stellt sich die Frage, ob das jetzt was ganz Großes und Neues ist. Denn eigentlich ist das nicht so. Dass sich gewisse Lobbies aufbauen, um irgendetwas durchzusetzen, kennen wir aus zahllosen Fällen. Man denke nur an die Graichen-Connections zur Durchsetzung Erneuerbarer Energien, die kürzlich enthüllt wurden: Von US-Milliardären bis hin zu deutschen NGOs hängt dort alles mit drin, und es geht um gigantische ökonomische Verschiebungen zuungunsten der Menschen. Dasselbe ließe sich über die Migrationslobby von „Seenotrettern“ und Multikultifanatikern sagen. Man könnte auch noch BlackRock nennen, die mithilfe des „Drehtüreffekts“ ehemalige Mitarbeiter in die Politik schleusen, und dort Lobbyarbeit für BlackRock betreiben. Kurz: Es gibt zahllose Beispiele. – Und die Vorgänge um Corona sind hier (leider) nur ein weiteres Beispiel. Ja, es ist ein Skandal, man sollte ihn aber auch nicht zu hoch hängen.

Man sollte sich auch klarmachen, dass die „Verschwörung“ nur halb so schlimm ist, wie es aussieht: Das Virus wurde nicht mit Absicht aus dem Labor in Wuhan freigesetzt. Es war ein Unfall. Der Vergleich zu Tschernobyl ist sehr treffend. Die Ursache für solche Unfälle sind ein Versagen des Staates und der Gesellschaft. Die „Verschwörung“ bezieht sich auf die Fahrlässigkeit vor dem Unfall und auf die Vertuschung des Unfalls, nicht auf den Unfall selbst.

Und auch bei der mRNA-Impfung ist der Schaden womöglich geringer, als gedacht. Denn wie oben schon gesagt: Die Verschwörer hatten zwar einen üblen Plan für eine vereinfachte Zulassung von mRNA-Impfstoffen, den sie anlässlich einer größeren Grippe-Welle ausführen wollten. Doch anders als geplant, war Corona mehr als nur eine größere Grippe. Es wäre deshalb möglich, dass der böse Plan in diesem Fall unfreiwillig seine Bosheit verlor, weil die moralische Abwägung in diesem Fall vielleicht doch zugunsten des Impfstoffs ausfällt. So viel Differenzierung muss sein. Der Impfstoff hatte immerhin die Funktion des Eigenschutzes, in dem das Risiko eines schweren Verlaufes reduziert wurde. Es ist möglich, dass Zehntausende Menschen ihr Leben dem Impfstoff verdanken. Das ist nicht wenig, und muss gegen Impfrisiken aufgewogen werden.

Und jenseits der Virenforschungslobby gab es nur das übliche Versagen, aufgrund der genannten Mechanismen, wie oben dargestellt. Auch systemische Fehlanreize entschuldigen kein Fehlverhalten, aber ein Versagen ist nun einmal nur ein Versagen und kein geplantes Verbrechen. Das Wort „Verbrechen“ ist in diesem Zusammenhang irreführend. Natürlich ist auch ein Versagen teilweise strafrechtlich relevant. Aber es fehlt die gezielte Absicht, der verschwörerische Plan. Der Titel des Buches „Staatsverbrechen“ ist deshalb schlecht gewählt. Besser hätte man von einem „Zusammenspiel von Lobby und Staatsversagen“ gesprochen: Das war es.

Dieselbe Übertreibung im Inneren des Buches: Unter der Überschrift „Der Hype wird zum Menschheitsverbrechen“ (S. 180) wird zunächst berichtet, dass Bill Gates, Anthony Fauci und ein Virenforschungslobbyist oft gemeinsam auf Fotos zu sehen sind. Damit mogelt sich der Autor um Belege herum, was diese drei nun im Einzelnen wirklich getan haben. Das ist nämlich unklar. – Weiter ist von einer strategischen Planung die Rede zur Einteilung der Menschen in Geimpft und Ungeimpft. Solche Pläne gab es, doch ist ihre lokale Implementierung aufgrund dieser Pläne fraglich. Die lokalen Behörden sind keine Befehlsempfänger einer Weltzentrale, wie sich in der Corona-Pandemie klar gezeigt hat. – Schließlich: „Zusammen mit dem Genimpfzwang hebt dies die Covid-Impfkampagne von einem organisierten Verbrechen in die Dimension eines Verbrechens gegen die Menschheit.“ – Und hier muss man sagen: Nein, so geht das nicht. Die Wahrheit sieht erheblich komplizierter aus.

Man könnte vielleicht sagen, dass die Virenforschung in Wuhan, die Tschernobyl-artig schiefging, ein Menschheitsverbrechen war. Gut. Aber weder wurde das Virus absichtlich freigesetzt. Noch waren die mRNA-Impfstoffe nutzlos. Die Probleme liegen in den vom Autor genannten Punkten nicht im Großen und Ganzen, sondern in Teilfragen: Warum hat man nicht nur die vulnerablen Gruppen geimpft, sondern auch junge und gesunde Menschen? Wie sieht die Nutzen-Schaden-Abwägung der Impfstoffe wirklich aus? Warum waren die staatlichen Akteure so schlecht aufgestellt, dass sie vielen Fehlanreizen unterlagen? Warum haben manche Staaten freiwillige Maßnahmen erlassen, andere hingegen Zwangsmaßnahmen? Es gibt Probleme und auch Straftaten, aber diese sind alle eine Nummer kleiner, als der Autor annimmt. Nur die Virenforschung in Wuhan an sich könnte als Verbrechen größeren Ausmaßes eingestuft werden. Das alles muss unterschieden werden.

Kritik: Aufarbeitung durch Strafverfolgung?

Der Wunsch nach Strafverfolgung ist verständlich: Es sind ja auch tatsächlich strafbare Handlungen geschehen. Außerdem könnte man durch eine Strafverfolgung ein Zeichen für die Zukunft setzen: So nicht!

Aber der Wunsch nach einer Aufarbeitung durch Strafverfolgung ist politisch unklug. Denn auch hier muss man eine Abwägung vornehmen: Wie wahrscheinlich wird es eine Aufarbeitung geben, wenn Strafverfolgung droht? Wahrscheinlich eher nicht. Es wäre klug, einen Deal zu machen: Wahrheit und Transparenz („Alles auf den Tisch“) sowie Rehabilitierung gegen Verzicht auf Strafverfolgung. Das hätte eine größere Chance. Wichtiger als Bestrafung ist Transparenz und die Beschämung für alles, was falsch lief. Diese Beschämung setzt den Maßstab, weniger eine Strafe. Eine Strafe könnte auch nie den angerichteten Schaden wiedergutmachen.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund für einen weitgehenden Verzicht auf Strafverfolgung: Denn viele Akteure haben nicht mit direkter Absicht getan, was sie getan haben, sondern weil die systemischen Anreize sie dazu verleitet hatten. Und weil die systemische Auslese des Personals in Deutschland inzwischen so schlecht ist. Inkompetenz im Amt kann man schlecht mit der Strafjustiz bekämpfen.

Eine Strafverfolgung sollte man für besonders schwere Delikte vorbehalten, in denen auch klar mit Vorsatz gehandelt wurde. „Kleine“ und „große“ Delikte klug voneinander abzugrenzen wäre eine der Aufgaben, die eine gelungene Aufarbeitung zu leisten hat.

Kritik: Verschiedenes

Manche wichtige Information wird in diesem Buch nur am Rande gegeben, und es fehlen Belege. So z.B. die Behauptung, dass die Spike-Proteine des Virus bei einer milden Infektion nicht in den Körper eindringen würden, während sie das bei einer Impfung in jedem Fall tun und im Extremfall überall im Körper auftreten würden. Ob man das wirklich so klar voneinander trennen kann? Kommen schwere Verläufe der Infektion seltener vor als eine aus dem Ruder gelaufene Impfung? Das ist die Frage. Sie wird in diesem Buch nicht beantwortet.

Die These, dass eine Impfung gegen Corona nur für kurze Zeit wirkt, ist fraglich. Es ist sicher richtig, dass die Impfung gegen neue Varianten weniger wirkt. Aber dass sich der Impfschutz in wenigen Monaten komplett verliert, ist unglaubwürdig. So läuft es bei normalen Grippe-Viren ja auch nicht: Die Immunität bleibt viele Jahre erhalten.

Es erscheint wenig hilfreich, dass dieses Buch auffällig plakativ mit den Worten „Biowaffe“ und „Gentherapie“ arbeitet. Beide sind nicht völlig falsch. Aber der Corona-Virus war keine Biowaffe. Die Impfung ebenfalls nicht. Und das Wort „Gene“ triggert nur weniger gebildete Menschen. Mit solchen Triggerworten sollte man nicht arbeiten, wenn man zur Sache spricht.

Zusammenfassung

Der Autor ist oft zu knapp in seiner Argumentation und etwas zu forsch in seinen Schlussfolgerungen. Es ist zwar meistens etwas dran an seiner Kritik, aber oft stellt es sich dann als nicht ganz so dramatisch dar, wie es zunächst den Anschein hat. Es ist aber immer noch dramatisch genug. Der Autor hat sich das Prädikat „Viertelsschwurbler“ deshalb redlich verdient, im Guten wie im Bösen.

Damit ist dieses Buch eine gute Vorlage, noch einmal gründlich alles zum Thema Corona zu überdenken. Man sollte es jedoch nicht unreflektiert für bare Münze nehmen. Die Wahrheit liegt zwischen den Extremen. Nicht immer in der Mitte, aber dazwischen. Alle Seiten sollten „abrüsten“ und sich auf die Suche nach diesem „dazwischen“ machen.

Eine Aufarbeitung sollte beginnen. Diese sollte sich Transparenz, Beschämung und Rehabilitierung als oberstes Ziel setzen, nicht jedoch Strafe. Und sie sollte Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Strukturen und Abläufen im Staat erarbeiten. Denn offenbar hat es ein Staatsversagen gegeben, dem durch Reformen von politischen und behördlichen Strukturen begegnet werden muss.

Diese Reform weist weit über das Thema Corona hinaus, denn inzwischen sehen wir ein Staatsversagen in allen Bereichen, Stichwort: Merkelismus. Nicht nur Strukturen sind falsch, sondern der Geist ist falsch und muss erneuert werden. Die Corona-Krise ist in diesem Sinne nur eine von mehreren Teil-Krisen einer viel größeren Krise, die unser Gemeinwesen erfasst hat. Symbolisch steht dafür in unseren Tagen der Zustand der Deutschen Bahn. Man muss sich die Corona-Politik wie eine Bahnfahrt durch ganz Deutschland unter den aktuellen Bedingungen und Zuständen der Deutschen Bahn vorstellen.

Forschungsfrage zum Schluss

Bekanntlich wurde die Corona-Pandemie nicht durch die Impfung, sondern durch die Omikron-Variante des Virus beendet, die sich durch einen meist milden Verlauf der Krankheit auszeichnete. Die Frage ist, ob diese Variante durch Zufall entstanden ist? Denn immerhin stammte das ursprüngliche Virus aus dem Labor. Dort ging es auch um Biowaffenforschung. Es ist absolut plausibel davon auszugehen, dass man im Rahmen dieser Forschung auch der Frage nachging, ob man eine Pandemie durch eine künstlich erzeugte milde Variante eines Virus stoppen kann. Das würde die Frage aufwerfen, ob die Omikron-Variante womöglich gar nicht auf natürlichem Weg entstand, sondern gezielt erzeugt wurde, um die Pandemie zu stoppen? Diese Frage ist natürlich Spekulation. Aber es ist eine berechtigte Frage.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

Julian Nida Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (2020)

Gelungene Werbeschrift in Sachen KI: Digitaler Humanismus statt Silicon-Valley-Ideologie

Dieses Büchlein behandelt in zwanzig kurzen Kapiteln die wesentlichen philosophischen und ethischen Fragestellungen rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Es ist für ein breites Publikum geschrieben und vermeidet deshalb konsequent trockene, abstrakte Ausführungen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Szene aus einem bekannten Hollywood-Film als Aufhänger und macht daran die Problematik und die richtige Antwort auf diese Problematik klar. Dieses Verfahren ist sehr gut gelungen: Der Leser gleitet leicht und unbeschwert von einer bekannten Filmszene in eine niveauvolle Argumentation hinüber, ohne dass es langweilig oder kompliziert würde. Nebenbei lernt man auch einige neue Aspekte der besprochenen Filme kennen, die einem bislang noch gar nicht aufgefallen waren.

Diese Filme sind u.a.: Blade Runner, Matrix, Star Wars, I Robot, Wall-E, Der Rasenmähermann, RoboCop, Ghost in the Shell, Iron Man, Ex Machina, Metropolis. Ganz kurz werden auch einige literarische Werke genannt, die das Thema berühren, so z.B. E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Mary Shelleys Frankenstein oder der Golem von Gustav Meyrink.

Kernthesen

Die Kernthese des Buches ist: Der richtige Umgang mit Künstlicher Intelligenz besteht in einem „Digitalen Humanismus“ und nicht in der aktuellen Ideologie von führenden Protagonisten des kalifornischen Silicon Valley. Diese „Silicon-Valley-Ideologie“ ist durch eine ganze Reihe von philosophischen Irrtümern gekennzeichnet, die typisch amerikanisch sind: Einerseits ein übertriebener Pragmatismus und Machbarkeitsglaube, andererseits ein puritanischer Reinheits- und Erlösungsgedanke: Dieser lädt Technik mit Metaphysik auf, gewissermaßen als Ersatzreligion. Dadurch geraten wesentliche Aspekte des Humanismus unter die Räder, was fatal ist: Der Digitale Humanismus hält dagegen, indem er den klassischen Humanismus auf die Welt der Künstlichen Intelligenz anwendet und die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie aufzeigt.

Der Irrtum der „starken KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich ein Bewusstsein und menschliches Fühlen und Denken entwickeln könnte. Doch das ist auf der Grundlage deterministischer Computer-Systeme nicht möglich. Wer an eine „starke KI“ glaubt, müsste im Umkehrschluss glauben, dass auch der Mensch nur eine Maschine ist. Damit wird aber der Mensch entmenschlicht: Er wird nicht mehr als freies und vernünftiges Wesen betrachtet, dessen Autonomie zu respektieren ist.

Auch der Transhumanismus ist ein fundamentaler Irrtum. Es wird eine klare Absage an die Idee der sogenannten „Emergenz“ erteilt: Man kann auf einer deterministischen, physikalischen Basis keine höhere Schicht einer echten menschlichen Freiheit aufbauen. Der Mensch ist keine Maschine und kann sich nicht zu einer Maschine oder in eine Maschine transformieren. Die dem Transhumanismus zugrunde liegende Psychologie ist narzisstisch und regressiv. Letztlich ist es eine Art von kindischer Flucht vor der Realität, ein quasi-religiöser Eskapismus vor den Beschränkungen der conditio humana.

Der Irrtum der „schwachen KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz zwar kein echtes menschliches Bewusstsein entwickeln, aber doch jede menschliche Regung beliebig gut simulieren kann. Doch erstens sind die heutigen Simulationen immer noch himmelweit von der menschlichen Realität entfernt, und zweitens ist auch eine täuschend echte Simulation nur eine Simulation, und keine Realität.

Die Irrtümer rund um das Delegieren von ethischen Entscheidungen an eine Künstliche Intelligenz sind vielfältig: Zunächst sind nicht alle Parameter bekannt, die eine ethische Situation bestimmen, was das Berechnen einer ethischen Entscheidung erheblich erschwert. Eine Berechnung der Zukunft ist zudem aus Gründen der Komplexität nicht möglich. Hinzu kommt das ethische Verrechnungsverbot: Man kann z.B. nicht einfach ein Menschenleben gegen ein anderes verrechnen. Die „separateness of persons“ (John Rawls) muss beachtet werden. Auch Kants Kategorischer Imperativ taugt nicht als absolutes Kriterium. Eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten kann ebenfalls nicht zu einer allgemeinen Ethik erhoben werden. Schließlich gibt es das liberale Paradoxon, das der Philosoph Amartya Sen entdeckt hat: Es ist unumgänglich, ein Stück ökonomische Optimierung zu opfern, um echte, menschliche Freiheit zu gewinnen.

Es gibt einen Grund, warum die Normen des demokratischen Rechtsstaates nicht konsequentialistisch formuliert sind (auf Folgen hin), sondern deontologisch (nach Pflichten).

Die Autoren verweisen auch auf ethische Fehlanreize, die entstehen können, wenn immer mehr Akteure eines Geschehens (z.B. im Straßenverkehr) nach den völlig gleichen ethischen Maximen handeln. Es könnte z.B. dazu kommen, dass Autos bewusst unsicher konstruiert werden, damit im Falle eines Unfalls die Gegenseite lieber ein anderes Auto als das eigene rammt.

Nebenthesen

Die Autoren wenden sich gegen die postmoderne These, dass es keine Wahrheit gäbe und diese beliebig konstruiert werden könnte. Wer das nicht auseinanderhalten könne, habe eine Psychose.

In der Kommunikation geht es nicht ohne Wahrhaftigkeit, denn Kommunikation ist nur in vertrauensvollen Beziehungen sinnvoll möglich.

Die Idee der Liquid Democracy, also einer Art Computer-Demokratie, in der alle Bürger jede Einzelfrage direkt per Knopfdruck entscheiden, ist aus prinzipiellen Gründen nicht realisierbar. Dem stehen u.a. das Condorcet-Paradoxon und das Arrow-Theorem entgegen.

Ein Grundeinkommen ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, auch wenn es „sozial“ klingt. Zudem lehrt die Erfahrung mit historischen Innovationen, dass die Arbeit nicht ausgeht, sie wird nur anders organisiert.

Der Mensch sollte eine breite, humanistische Bildung haben: Dazu gehört u.a. auch „Orientierungswissen“ und eine Persönlichkeitsbildung, die auf einer Entwicklung beruht, sowie – in einer Gesellschaft, die zusammenhalten soll – ein Bildungskanon. Bloße Vielwisserei und Fachwissen sind völlig unzureichend.

Kritik

Durch den Werbecharakter dieses Büchleins ist manches philosophische Argument vielleicht doch etwas zu oberflächlich geraten. Insbesondere zur „schwachen KI“ wird immer wieder derselbe Fehler begangen, nämlich davon auszugehen, dass KI weit davon entfernt sei, menschliches Verhalten zu simulieren. Doch das ist zumindest teilweise falsch. Spätestens mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, wo es nicht mehr ganz so einfach ist, die Maschine vom Menschen zu unterscheiden.

Ethische Argumente, die fehlen, sind z.B. diese: Ein Algorithmus kann zwar nicht autonom entscheiden wie ein Mensch, aber er kann sehr viel schneller entscheiden. In einer zeitkritischen Situation wie z.B. einem Verkehrsunfall, kann das einen Unterschied zum Vorteil der KI ausmachen.

Undiskutiert bleibt auch der Mangel an Bildung bei vielen Menschen: Viele Menschen treffen ethische Entscheidungen auf einem Niveau, das unter einem gebildeten Gesichtspunkt recht dürftig ist, und das von einer KI leicht übertroffen werden könnte. Das will zwar nicht viel heißen, aber doch ist es so. Ein Algorithmus muss in ethischen Dingen nicht in jedem Fall schlechter sein als ein Mensch. Ein Argument gegen die Autonomie des Menschen darf das natürlich nicht sein. Es geht nur um die Frage, ob eine algorithmische Ethik wirklich immer schlechter ist als die real existierende menschliche Ethik.

Das Büchlein geht meistens von deterministischen Algorithmen aus. In diesem Sinne ist eine KI ein so hochkomplexer Algorithmus, dass zwar nicht sicher vorhersehbar ist, wie sich die KI entscheiden wird, obwohl es natürlich doch vorherbestimmt ist. Das lässt jedoch die Möglichkeit eines neuronalen Netzes außer acht, dem kein Algorithmus zugrunde liegt.

Nur an wenigen Stellen wird auf neuronale Netze eingegangen. Das Hauptargument lautet: Der Name der neuronalen Netze würde täuschen, denn heutige neuronale Netze seien weit von der Komplexität und der Plastizität des menschlichen Gehirns entfernt. Ungesagt bleibt dabei, dass heutige neuronale Netze, die auf deterministischen Maschinen laufen, damit natürlich auch selbst wiederum deterministisch sind. – Das ist allerdings kein prinzipielles Gegenargument, denn was noch nicht ist, kann noch werden. Man müsste neuronale Netze also tatsächlich dem vegetativen Nervengeflecht des Gehirns nachbilden, um sie den Menschen ähnlich zu machen. Die Autoren vergessen diesen Punkt, vermutlich, weil die Technik davon noch weit entfernt ist.

Die Autoren steuern aber an anderer Stelle zusätzliche Argumente zu diesem Thema bei: Eine menschenähnliche KI könnte niemals durch das übliche „Training“ eines neuronalen Netzes erschaffen werden. Eine menschenähnliche KI müsste wie ein Mensch eine Kindheit haben, eine Familie, und über viele Jahre hinweg aufwachsen, um zu einem Menschen zu werden, bis hin zur humanistischen Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung. Dann hätte der Mensch sich tatsächlich selbst nachgebildet.

Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob es nicht einfacher wäre, ein echtes Kind zu zeugen und aufzuziehen? Und es würde sich die Frage stellen, ob es ethisch vertretbar wäre, eine solche umfassend gebildete, echt freie und menschliche Künstliche Intelligenz dann wie eine Maschine für sklavische Arbeit einzusetzen.

Höhere Kritik

Es erhebt sich noch ein letztes prinzipielles Problem, auf das die Autoren nur an einer einzigen Stelle kurz eingehen, nämlich das Problem, dass ja nicht nur der Computer, sondern auch die Physik insgesamt deterministisch ist. Die Physik kann zusätzlich auch noch probabilistisch sein, also zufälliges Verhalten zeigen. Aber die Physik kennt keine autonome, freie Entscheidung eines menschlichen Willens, genauso wenig wie ein deterministischer Computer. Wenn der menschliche Geist, egal ob als natürliches Gehirn oder als gut nachgebildetes neuronales Netzwerk, allein auf dieser Physik aufbauen würde, könnte er nicht frei sein.

Unter diesem Gesichtspunkt kann die menschliche Autonomie nur durch Metaphysik gerettet werden, nämlich durch die Postulierung eines menschlichen Geistes jenseits aller Physik, der sich in den scheinbar probabilistischen Phänomenen der Physik zum Ausdruck bringt. Dazu schreiben die Autoren nur, dass der Umstand, dass mentale Zustände durch Gehirnzustände realisiert werden, nicht heiße, dass sie von diesen verursacht werden (S. 39). Das Bewusstsein kann durch physikalische Prozesse nicht erklärt werden (Qualia-Argument). Das ist zu knapp. Dieses Thema hätte man ausführlicher behandeln müssen.

Die Schwachheit des Arguments

Natürlich ist eine solche metaphysische Dimension des menschlichen Geistes nicht beweisbar. Man kann sie nur postulieren. Weil sonst der Mensch kein Mensch mehr wäre, sondern nur eine komplizierte biologische Maschine. Weil sonst Bewusstsein, Freiheit, Rationalität und Personalität nur Illusionen wären, aber keine Realitäten. Weil damit der Humanismus gescheitert wäre, und die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit gesiegt hätte: Dann hätten die Materialisten und Zyniker und die Anhänger der Silicon-Valley-Ideologie Recht. Allerdings würde ihnen das nichts nützen. Denn dann wäre alles sinnlos geworden.

An diesem dünnen, seidenen Faden hängt der Humanismus. Man kann nur ex negativo zu seinen Gunsten argumentieren, und das ist ein schwaches Argument. Das Problem ist nicht neu. Friedrich der Große formulierte das Problem z.B. so:

Sinnlos ist eins, das andre unerklärlich,
Zwei Klippen starren, beide gleich gefährlich.
Da gilt die Wahl: Sinnloses gibt es schwerlich;
Drum wend’ ich selber mich zum Dunkeln hin
Und überlasse euch den Widersinn.

Ein erneuter Angriff auf den Humanismus

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz treibt dieses altbekannte Problem nun erneut auf seine Spitze. Natürlich ist der Humanismus das einzig Vernünftige, aber die Unterscheidungslinie zwischen Mensch und Maschine wird durch KI immer feiner und feiner gezogen. Es ist möglich, dass viele Menschen aus Denkfaulheit und falschem Pragmatismus keinen Unterschied mehr machen werden.

Es ist so, wie damals beim Aufkommen des Darwinismus: Ein oberflächliches und vulgäres Verständnis des Darwinismus führte zu Phänomenen wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Eugenik, Euthanasie und Rassenlehren, aber auch Kollektivismus und der Glaube an gesellschaftlich notwendige Entwicklungen, denen der Einzelne notfalls geopfert werden darf. Und so wie der Mensch damals zum Affen reduziert wurde, so wird der Mensch heute auf eine Maschine reduziert. Der Digitale Humanismus warnt genau vor solchen Fehlentwicklungen.

Kritik am Rande

Der Charakter einer leicht geschriebenen Werbeschrift führt dazu, dass manche Themen sich wiederholen. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Teilweise bauen sie aufeinander auf, ohne dass dies durch die Kapitelstruktur deutlich würde. Manchmal wurde ein Nebenthema in ein Kapitel mit „hineingestopft“, das man besser separat behandelt hätte.

Was das ethische Verrechnungsverbot anbelangt, wurde vergessen, dass es sehr wohl Situationen gibt, in denen eine gewisse Verrechnung erlaubt und auch geboten ist. Julian Nida-Rümelin hat dies selbst im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen formuliert: Es ist nicht zulässig, eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen, nur um womöglich ein einzelnes Menschenleben zu retten. Ethische Dilemmata werden aber erwähnt.

In einigen Punkten folgen die Autoren linken Blütenträumen: Die Abkehr von der Atomenergie wird immer noch als richtige und wichtige Zukunftsentscheidung gefeiert. Es wird die irrige These vertreten, dass der Einzelne kein eigenes Auto mehr bräuchte, wenn es autonom fahrende Taxen gäbe. Wikipedia würde angeblich von „einem strengen Ethos epistemischer Rationalität getragen“. Und ein Gegenmittel zu den Fehlinformationen im Internet seien traditionelle, redaktionelle Medien – wobei Julian Nida-Rümelin ungesagt lässt, dass die traditionellen, redaktionellen Medien sich in einer schweren Vertrauenskrise befinden.

Fazit

Eine gelungene Werbeschrift für einen Digitalen Humanismus als Antwort auf die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie, die sich gut liest und leicht verständlich ist. Das Schlusskapitel geht dann noch einmal alle lessons learned im Schweinsgalopp durch. Wer es systematischer, tiefer und theoretischer möchte, muss zu einem anderen Buch greifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie – Ein politischer Traktat (2020)

Für die Wiederherstellung rationaler Verhältnisse als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

Der Traktat „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ von Julian Nida-Rümelin bringt viele Probleme unserer Zeit auf den Punkt: Es mangelt buchstäblich an Rationalität. Fernab jeder fundierten Bildung wird zu oberflächlich gedacht. Es wird zu viel Propaganda gemacht, statt ernsthaft Argumente auszutauschen und nach der Wahrheit zu suchen. Aber schlimmer noch: Manche haben aus der Ablehnung von Rationalität und Realität inzwischen eine Weltanschauung gemacht und stellen Gefühle und Empfinden über Vernunft und Wirklichkeit.

Dem begegnet Julian Nida-Rümelin mit einer wohlfundierten Analyse des politischen Philosophen: Was ist Demokratie eigentlich? Woran krankt Demokratie in unseren Tagen? Und was ist zu ihrer Gesundung vonnöten?

Geschrieben wurde das Buch im Sommer 2019, also noch vor der Corona-Pandemie und der nachfolgenden „Zeitenwende“ des Ukrainekrieges, was die Hellsichtigkeit der Analyse unterstreicht. Veröffentlicht wurde das Buch mitten im ersten Jahr der Pandemie, weshalb es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdient hätte. Denn Julian Nida-Rümelin sagt hier viel Richtiges und Wichtiges. Und manches ist erstaunlich mutig gegen den Zeitgeist gesprochen.

Was ist Demokratie eigentlich?

Zuerst und vor allem klärt Julian Nida-Rümelin den Begriff „Demokratie“ auf. Es gibt heute so viele Missverständnisse zu diesem Thema, dass hier erst einmal gründlich aufgeräumt werden muss. Vieles von dem, was Julian Nida-Rümelin hier zu sagen hat, hat man vielleicht auch schon in der Schule im Politikunterricht gehört, sofern man einen guten Lehrer hatte.

Demokratie beruht nicht (!) zuerst auf dem Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse, sondern auf einem „Konsens höherer Ordnung“, oder konkret: Auf der Akzeptanz einer gemeinsamen Staatsverfassung. Der Einzelne mit seiner „individuellen Autonomie“ lebt – grundsätzlich frei und gleich – mit anderen Menschen zusammen in einem Gemeinwesen. Die Staatsverfassung legt die Grundrechte fest, die jeder Einzelne auch gegen Mehrheitsbeschlüsse behält. Damit wird eine Balance zwischen Individualität und Kollektiv hergestellt. Einseitige Übertreibungen zugunsten von Individuum oder Kollektiv führen in die Katastrophe. Die Staatsverfassung legt auch die Verfahren fest, durch die das Gemeinwesen sich selbst bestimmt, d.h. „kollektive Autonomie“ ausübt. Diese Verfahren konstituieren eine „kollektive Rationalität“, die die Rationalität der Einzelnen nach vorgegebenen Regeln in ein großes Ganzes einfließen lässt. Hier spielt das Mehrheitsprinzip eine große Rolle.

Doch die Konstruktion der Verfahren, nach denen Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, ist dabei nicht beliebig. Das Condorcet-Paradoxon zeigt, dass Mehrheitsentscheidungen über Präferenzen in Zirkelschlüssen enden können. Das Arrow-Theorem zeigt, dass es grundsätzlich kein Verfahren gibt, dieses Problem zu umgehen. Konkret formuliert kennt jeder das Problem: Wenn man die Menschen nach ihren Wunschträumen abstimmen ließe, kämen dabei Beschlüsse heraus, die sich gegenseitig widersprechen, spätestens bei der Finanzierung.

Praktisch wird das Problem vor allem dadurch gelöst, dass Parteien und Politiker Politikangebote entwerfen und politisch aushandeln, die in sich widerspruchsfrei sind (oder sein sollten). Man kann Zirkelschlüsse auch dadurch verhindern, indem man die Zahl der Alternativen auf zwei reduziert. Die repräsentative Demokratie, in denen die Politik im wesentlichen von Politikern in gebündelter Form gemacht wird, hat also nicht nur den Sinn, den Bürger von politischer Arbeit zu entlasten, sondern auch den Sinn, dem Bürger in sich stimmige Politikangebote aus einem Guss zu unterbreiten. Überhaupt werden politische Angebote immer nur von Wenigen entwickelt, während die Masse der Menschen immer nur „Ja“ oder „Nein“ sagt. Deshalb wird man eine politische Elite auch niemals los. Man kann sich nur überlegen, wie sie strukturiert sein sollte. Jedenfalls führt die Idee, tausend Einzelfragen per Volksabstimmung zu entscheiden, zwangsläufig ins Chaos. Der Extremfall ist die „liquid democracy“, in der jeder Bürger beliebige Entscheidungen antriggern kann und jeder Bürger alle Einzelfragen per Mausklick entscheidet: Sie kann aus logisch zwingenden Gründen nicht funktionieren. Damit ist insbesondere auch Rousseaus Vorstellung von einer kollektiven Autonomie gescheitert.

Auch das alte Problem der Balance von Freiheit und Gleichheit wird sehr ausführlich diskutiert. Freiheit führt automatisch zu einer gewissen Ungleichheit, da die Präferenzen der Menschen verschieden sind. Das Sen-Paradoxon von Amartya Sen zeigt, dass es unmöglich ist, die individuellen Präferenzen so zu aggregieren, dass zugleich die Liberalität gesichert ist und und alle Chancen der Wohlstandsmehrung ergriffen werden. Sprich: Demokratie ist eine gewisse Form von Luxus, denn man verzichtet bewusst auf gewisse ökonomische Vorteile, um die Freiheit der Bürger zu erhalten. Damit erteilt Julian Nida-Rümelin auch den Sympathien für China eine Absage, die von manchen angesichts der (angeblichen) Effizienz des chinesischen Systems gehegt werden. Zudem muss ergänzend angemerkt werden, dass eine Diktatur zwar die Macht hat, die richtigen Entscheidungen für die Wohlstandsmehrung durchzusetzen, aber die Diktatur weiß keinesfalls besser als die crowd intelligence der freien Bürger darüber Bescheid, was die „richtigen“ Entscheidungen sind.

Demokratie lebt wesentlich davon, dass ihre Akteure sich nicht nur Propaganda und Lügen um die Ohren hauen, sondern rationale Argumente austauschen und einfordern. Die rationale Deliberation, die Politiker und Kommentatoren uns in den Medien zeigen, ist zwar dennoch teilweise Schau und Theater, aber sie darf auf keinen Fall vollständig zum Theater verkommen, weil sonst die Demokratie abhanden kommt. Rationalität, Realismus, Bodenständigkeit sind unerlässlich für das Funktionieren einer Demokratie. Um diese rationale Deliberation aufrecht zu erhalten, spielen die Medien eine wesentliche Rolle: Sie sind die Bühne dafür, und sie müssen diese rationale Deliberation auch von den Politikern einfordern.

Die Bedrohung durch den Klientel-Egoismus

Wichtig ist, dass die Bürger nicht nur nach kurzsichtigen, egoistischen Interessen entscheiden, sondern auch nach langfristigen Erwägungen und „höheren“ Interessen. Julian Nida-Rümelin unterscheidet hier mit Rousseau den bourgois vom citoyen. Der bourgois denkt nur an sich, der citoyen ist am Allgemeinwohl interessiert. Der Verzicht auf einen kurzsichtigen Egoismus wird von Julian Nida-Rümelin „strukturelle Rationalität“ genannt. Es handelt sich um eine Rationalität, die in der Lage ist, um langfristiger Vorteile willen auf kurzfristige Voreile zu verzichten. Auch abstrakte Vorteile, wie z.B. eine stabile Demokratie oder ein gutes Gewissen, spielen hier mit herein.

Was sich etwas utopisch anhört, ist in der politischen Praxis der westlichen Welt real existent. Der höhere Standpunkt, das gute Gewissen, die langfristige Rationalität: Sie fließen für uns alle beobachtbar in die Entscheidungen der Menschen mit ein. Die militärische Abwehr des Kommunismus im Kalten Krieg, die Unterstützung der Armen in der Welt, der Umweltschutz oder – am wichtigsten – die Beachtung von Verfassung und Gesetzen sind Beispiele dafür. Außerdem glaubt Julian Nida-Rümelin mit Aristoteles, dass der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist: Es handelt sich also um eine Eigenschaft des Menschen, die in uns allen angelegt ist. Diese kann zwar verkümmern, sie kann aber auch zum Wachsen und Blühen gebracht werden: Vor allem, wenn sich die Bürger ernst genommen fühlen und tatsächlich sehen, dass sie effektiv mitentscheiden. Daran fehlt es zur Zeit.

Gemäß dem Gibbard-Theorem ist es nicht möglich, demokratische Verfahren zu entwickeln, die nicht durch taktisches Abstimmen beliebig verfälscht werden können. In Italien nennt man es tatticismo: Vor lauter Taktik mit Rücksicht auf alle möglichen egoistischen Klientel-Gruppen gehen die politischen Inhalte verloren. Dieses taktische Verhalten „zieht“ aber nicht mehr, wenn die Bürger nicht rein egoistisch handeln, sondern übergeordnete Interessen mit im Blick haben. Die Rentnerin, die sich trotz der Erhöhung der Mütterrente gegen Angela Merkel entscheidet, weil sie an das größere Ganze und an ihre Enkel denkt, ist das Paradebeispiel (das sich so allerdings nicht in Julian Nida-Rümelins Buch findet).

Die identitäre Bedrohung von Links und Rechts

Linksradikale wie Rechtsradikale betrachten öffentliches Reden, Wahlen und Parlamentarismus nur mit zynischer Verachtung. Das alles sei nur eine große Show, und hinter den Kulissen würden die wahren Mächtigen die Strippen ziehen, meinen sie. Sie verhöhnen die humanistische Idee der öffentlichen rationalen Deliberation. Für Marxisten geht es um den Kampf der Arbeiter und Unterdrückten gegen eine imaginierte herrschende Klasse von „Reichen“. Die postmodernen Wokisten glauben überhaupt nicht mehr, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben könnte, und ersetzen Wahrheit durch Macht. Wokisten und Multikulturalisten teilen die Gesellschaft in Gruppen auf. Radikale Feministen möchten, dass Frauen überall 50:50 repräsentiert sind. Rechtsradikale Identitäre teilen die Menschen ebenfalls nach Herkunft und Rasse auf, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

In einer Gesellschaft, die in Gruppen zerfällt, die nur noch ihre egoistischen Interessen verfolgen – z.B. Frauen, Männer, Rentner, Jugendliche, Familien, Singles, Zuwanderer, Einheimische, Arbeiter, Schwarze – ist keine Demokratie mehr möglich, da der Einzelne in der Gruppe verschwindet. Die Gruppen stehen sich starr gegenüber, statt wechselnde Mehrheiten quer zu diesen Gruppen zu bilden. Zudem geht das Leistungsprinzip verloren, weil alle Posten in der Gesellschaft nur noch nach Gruppenproporz vergeben werden. Julian Nida-Rümelin kritisiert marxistische und postmoderne, aber auch multikulturalistische Konzepte von Gesellschaft, die immer nur Gruppen und deren „Kampf“ gegen die anderen in den Blick nehmen. Aus einem Eigeninteresse wird erst dann ein demokratisch-politisches Interesse, wenn man das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen versucht und diskutable Vorschläge für die ganze Gesellschaft unterbreitet. So wie ein Bundeskanzler auch nicht nur Bundeskanzler für diejenigen sein sollte, die ihn gewählt haben, sondern natürlich für alle Bürger. Wo diese geistige Grundhaltung für das Gemeinwohl verloren geht, ist der Weg in den failed state beschritten.

Julian Nida-Rümelin im Wortlaut: „… die Multikulturalisten verabschieden die humanistischen Grundlagen der Demokratie in Gestalt eines pluralistischen … Kollektivismus.“ (S. 171) Und: „Wahrheit hat einen Ort in der Demokratie; ohne das Ringen um zutreffende empirische und normative Urteile entleert sich die Demokratie zu einem großen Illusionstheater, das dann von den Entlarvungen der Meisterdenker marxistischer, psychoanalytischer, dekonstruktivistischer, aber auch populistischer und identitärer Provenienz vorgeführt wird.“ (S. 250) Und: „Antirealismus ist keine Option, er befriedet nicht und ist mit der Form politischer Diskurse unvereinbar.“ (S. 250)

Demokratie ist kulturell verwurzelt

Völlig gegen den aktuellen Zeitgeist, und explizit gegen Vordenker wie John Rawls und Jürgen Habermas (S. 138 f.), vertritt Julian Nida-Rümelin die Auffassung, dass ein abstrakter, rein rationaler Verfassungspatriotismus nicht ausreicht, um eine demokratische Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieser Irrtum wird von ihm auch „liberalistische Illusion“ genannt (S. 34). Vielmehr sind gewisse gemeinsame kulturelle Voraussetzungen erforderlich, damit Demokratie möglich wird. Eine humanistische Leitkultur ist erforderlich. Das heißt konkret eine auf den einzelnen Menschen als Individuum ausgerichtete Kultur, sowie Rationalität, Mitgefühl mit allen Menschen, und Säkularität. Ein kleinliches Steckenbleiben in Religion, Herkunft usw. verträgt sich damit nicht.

Julian Nida-Rümelin denkt bei seiner humanistischen Leitkultur nicht an die Nationalkulturen. So spricht er z.B. von einer „multikulturell verfassten Demokratie“ (S. 138), oder er schreibt: „Nicht die multikulturelle Verfasstheit demokratischer Gesellschaften, sondern die multikulturalistische Ideologie ist mit den normativen Prinzipien moderner Demokratien unvereinbar.“ (S. 168) – Allerdings widerspricht sich Julian Nida-Rümelin hier selbst. Denn gegen Ende des Buches gibt er zu, dass die humanistische Leitkultur sich spezifisch in Europa entwickelt hat und bis heute nur in europäisch geprägten Ländern wirklich gut funktioniert (S. 229). Es handelt sich also um eine Art Europäischer Leitkultur, ähnlich wie Bassam Tibi vorgeschlagen hat.

Und hier müssen wir Julian Nida-Rümelin bei seiner eigenen Erkenntnis packen und kritisieren. Zunächst stellt sich die Frage, ob es denn wirklich eine „europäische“ Leitkultur ist? Funktioniert die Demokratie in Rumänien und Russland so gut wie in England und Dänemark, die ja alle in Europa liegen? Die Antwort ist klar: Nein, leider noch lange nicht. Die humanistische Kultur, die Julian Nida-Rümelin erstrebt, ist ganz offensichtlich keine „europäische“ Leitkultur, sondern eng mit den Nationalkulturen verwoben. Nicht in dem Sinne, dass nur bestimmte Nationen sich für den Humanismus öffnen könnten, aber doch in dem Sinne, dass der Humanismus sich in die jeweilige Nationalkultur inkulturieren muss. Und das ist in einigen europäischen Staaten geschehen, in anderen hingegen nicht.

Julian Nida-Rümelin sagt es ja selbst: Bevor Demokratie möglich wird, muss ihr ein zivilisatorischer Prozess vorangehen (S. 233). Es muss nämlich dazu kommen, dass sich die humanistische Leitkultur in die Nationalkultur inkulturiert. Das spricht Julian Nida-Rümelin zwar nicht explizit aus, aber genau das ist es. Was er aber sehr wohl explizit ausspricht, ist die Tatsache, dass Demokratie bis heute immer nur im Kontext des Nationalstaates funktioniert, siehe nächster Abschnitt. Wenn Julian Nida-Rümelin zwei und zwei zusammenzählen würde, müsste er darauf kommen, dass sich die erstrebte humanistische Leitkultur nur in der Nationalkultur manifestieren kann. Zerstört man die Nationalkultur und löst man die Nation in Multikulti auf, kann es auch keine humanistische Leitkultur mehr geben.

Das hätte Julian Nida-Rümelin explizit aussprechen müssen, statt von einer „multikulturellen Verfasstheit demokratischer Gesellschaften“ zu phantasieren. Demokratische Gesellschaften können nur transkulturell vielfältig sein, nicht jedoch multikulturell vielfältig. Will heißen: Alle Bürger können Kulturen pflegen wie sie wollen, aber alle Bürger müssen eine gemeinsame Kultur vor allen anderen pflegen: Die humanistisch geprägte Nationalkultur, auf die auch die Demokratie angewiesen ist.

Demokratie ist national verwurzelt

Gegen alle Blütenträume des linksliberalen Zeitgeistes stellt Julian Nida-Rümelin fest, dass Demokratie bis heute nur im Nationalstaat funktioniert (S. 57, 234). Und das lässt sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Vielleicht nie. Die allermeisten Menschen sind lokal verwurzelt. Ein Raum für öffentliche Debatte, der für die Demokratie unerlässlich ist, existiert nur auf nationaler Ebene. Die Auseinandersetzung zwischen den anywheres und den somewheres hält Julian Nida-Rümelin langfristig für entschieden: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“ (S. 63).

Julian Nida-Rümelin spricht sich deshalb auch klar gegen den Versuch aus, die Europäische Union zu einer Über-Demokratie über den Nationalstaaten auszubauen. Das Mehrheitsprinzip funktioniert nicht, wenn die Grundgesamtheit der Bürger nicht hinreichend homogen ist. Das ist aber nicht der Fall, jedes europäische Land hat seine ganz eigenen Traditionen (S. 70 f.).

Demokratie reformieren

Julian Nida-Rümelin fordert die Beendigung einer Politik des Durchwurstelns ohne Programm und abgekoppelt von der Realität (S. 240). Damit zielt Julian Nida-Rümelin direkt gegen den Politikstil von Angela Merkel und ihren Anhängern, die immer den Weg des kurzfristig geringsten Widerstandes gegangen waren, wie es dem illusionären Wunschdenken von Journalisten und Bürgern gefiel. Das spricht er aber nicht explizit aus.

Auch diejenigen, die die Demokratie nicht akzeptieren, sollten nicht von vornherein aus dem politischen Diskurs ausgegrenzt werden, meint Julian Nida-Rümelin (S. 148). Der Schaden, der durch allzu scharfe Ausgrenzung problematischer Andersdenkender entsteht, ist groß. Damit spricht sich Julian Nida-Rümelin mehr als deutlich gegen die grassierende Cancel Culture aus.

Julian Nida-Rümelin beklagt die falsche Rekrutierung des politischen Personals in Deutschland (S. 240 f.). In angelsächsischen Ländern würde die Rekrutierung des politischen Personals noch deutlicher günstiger sein.

Wie einst schon Karl Jaspers, so kritisiert Julian Nida-Rümelin auch, dass die Politischen Parteien in Deutschland die Politik in Koalitionen im wesentlichen unter sich aushandeln, vor allem in Großen Koalitionen, und das Volk kaum die Möglichkeit bekommt, Richtungsentscheidungen zu treffen; daran sei das Verhältniswahlrecht schuld. (S. 145 f.)

Allzu viel direkte Demokratie hält Julian Nida-Rümelin nicht für wünschenswert. Allerdings erkennt er an, dass Volksentscheide dazu führen, dass sich die Bürger besser informieren. Volksentscheide können auch dazu beitragen, dass sich Bürger nicht völlig machtlos fühlen (S. 99 f., 104). Wenig überzeugend ist allerdings der Einwand, dass eine Entscheidung wie der Brexit zu komplex für die Bürger gewesen wäre. Denn Komplexität kann niemals das Kriterium sein. Die Bürger sollen sich zwar um Rationalität bemühen, aber in der Demokratie geht es nicht um die rationalste Entscheidung. Sonst könnte man gleich Experten regieren lassen bzw. diejenigen, die sich dafür halten. Nein, in der Demokratie geht es darum, dass die Bürger ihr Schicksal selbst bestimmen, und dass sie Entscheidungen, die sie gestern noch für gut befunden hatten, heute aber bereuen, verändern können, ohne eine Revolution veranstalten zu müssen. Mit seiner Brexit-Kritik widerspricht Julian Nida-Rümelin seinen eigenen Einsichten in die Rationalität der Demokratie.

Wissenschaft und Politik, Klimawandel

Julian Nida-Rümelin weist darauf hin, dass Politik und Wissenschaft zwei Systeme sind, die verschiedenen „Rationalitäten“ folgen. Aber statt getrennt voneinander zu agieren, vermischen sich beide Bereiche immer mehr, wodurch sie ihre je eigene Rationalität schwer beschädigen: „So ist die wissenschaftliche Debatte um den Klimawandel und die unterschiedlichen erklärenden Modelle kontaminiert durch die hohe politische Relevanz dieser wissenschaftlichen Studien. Die Folge ist, dass, von vielen wohl unbemerkt, die politische Rationalität in der Wissenschaft, hier der Forschung zum Klimawandel, Einzug hält. Abweichende Positionen werden stigmatisiert, anstatt sie am Diskurs teilhaben zu lassen, und die Frage, wie viele Wissenschaftler nun eine bestimmte wissenschaftliche These zum Klimawandel befürworten, wird zu einem vermeintlichen wissenschaftlichen Argument.“ (S. 205) Und: „Die Wissenschaft darf sich nicht, wie es gegenwärtig immer wieder geschieht, politisch instrumentalisieren lassen.“ (S. 219)

Und: „Es ist das besondere Merkmal demokratischer Ordnungen, dass sie nicht das höhere Wissen einzelner besonders Gebildeter zugrunde legen …, oder es der Wissenschaft anheimstellen, zu bestimmen, was eine gute politische Praxis ist, wie es von der Ikone der Fridays for Future-Bewegung Greta Thunberg gefordert wird, sondern es ist die Bürgerschaft als ganze, die in einer inklusiven, alle umfassenden Deliberation zu klären versucht, was die richtige bzw. falsche politische Entscheidung wäre“ (S. 218) Und: „Der so sympathische Aufruf von Fridays for Future, doch auf die Wissenschaft zu hören, ist hier ein weiteres Indiz für die Vermengung zweier separat zu haltender Rationalitäten.“ (S. 206)

Eurokrise, Migrationskrise

Julian Nida-Rümelin wendet sich auch klar gegen die Politik von Angela Merkel in Sachen Euro und Migration. Er meint, dass Merkels Politik der Griechenland-„Rettung“ ein großer Fehler war, und dass man Griechenland besser mit einem Schuldenerlass aus dem Euro (nicht aber aus der EU) entlassen hätte. Es wäre überhaupt von Anfang ein Konstruktionsfehler des Euro gewesen, dass es keine institutionalisierte gemeinsame Wirtschaftspolitik gab. Die Hoffnung, dass die Euro-Staaten automatisch wirtschaftlich konvergieren würden, wäre naiv gewesen. (S. 237 f.)

In Sachen Migration konstatiert Julian Nida-Rümelin ein Gefühl der Täuschung bei den Bürgern (S. 238). Die Politiker sind nicht ehrlich und die Bürger haben keinen Einfluss. „Auch die großzügigste Aufnahme von Flüchtlingen aus den Armutsregionen wird das Weltelend aber nicht nennenswert mildern können.“ (S. 191) Und auch die Enttäuschungen bei der Integration von Zuwanderern, speziell von Muslimen, werden von Julian Nida-Rümelin klar angesprochen (S. 33).

Weiteres gegen den Zeitgeist

Julian Nida-Rümelin berührt en passant auch weitere Themen, in denen er Position gegen den Zeitgeist bezieht:

  • Gegen den Akademisierungswahn (S. 196).
  • Bildungsgerechtigkeit allein kann soziale Probleme nicht lösen (S. 196).
  • Die SPD ist zu einer Partei der Lehrer statt der Arbeiter geworden (S. 197).
  • Die Armutsdefinition in Deutschland muss dringend revidiert werden, so dass steigender Wohlstand nicht automatisch zu statistisch steigender Armut führt (S. 192).
  • In der DDR war das Leistungsprinzip im Bildungswesen noch intakter als in manchen westlichen Bundesländern (S. 236).
  • Viele Linke verstehen heute unter Säkularität die Bekämpfung von Religion, das sei aber ganz falsch (S. 138).
  • Die Militärdiktatoren in der islamischen Welt stehen uns näher als die Islamisten (S. 44).

Über Donald Trump sagt Julian Nida-Rümelin, dass seine Außenpolitik eine Wende zum Realismus war, und ein Versuch, gegen den deep state vorzugehen (S. 40 f.). Er benutzt tatsächlich das Wort deep state. Diese Meinung passt überhaupt nicht in die Landschaft des aktuellen Zeitgeistes. Julian Nida-Rümelin nimmt auch die Wähler von Donald Trump gegen die linksliberale Unterstellung in Schutz, sie würden gegen ihre eigenen Interessen wählen. Ihre Wahlentscheidung sei keinesfalls so irrational, wie es manchen linksliberalen Beobachtern erscheint (S. 76 f.).

Globale Rechtsordnung

Julian Nida-Rümelin sieht das Problem, dass die Nationalstaaten gegen grenzübergreifende Probleme und gegen internationale Konzerne oft machtlos sind. Sein Rezept dagegen ist nicht die Verlagerung von demokratischen Entscheidungen auf immer höhere Ebenen, sondern die Etablierung einer globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte müssen rechtlich verbindlich werden. Der Marktradikalismus muss durch internationale Regeln eingedämmt werden. Außerdem muss es einen ökonomischen Ausgleich in sozialen und ökologischen Fragen geben. (S. 55 f., 63-68, 199 f., 240)

Das Problem ist: Diese Versuche gibt es schon längst. Es gibt die UN, es gibt die UN-Menschenrechtscharta, es gibt einen UN-Menschenrechtsgerichtshof, es gibt das Welthandelsabkommen, und es gibt viele politische Formate, die Nationalstaaten international zu koordinieren. So z.B. die G7 und die G20 Gipfel, oder in Europa die EU, die KSZE, den Europarat. Sozialer Ausgleich findet statt durch Entwicklungshilfe, durch Schuldenerlass, durch den Einkauf von Rohstoffen. Der ökologische Ausgleich findet statt durch großzügige Geldgaben bei Weltklimakonferenzen, usw. usf. – Nur sind alle diese Versuche auf halbem Wege stecken geblieben. Viele Versuche, nationale Kompetenz auf höhere Ebenen zu übertragen, haben die Demokratie beschädigt. Handelsabkommen sind leider nicht immer fair. Die Durchsetzung von Regeln ist leider nicht in allen Ländern gleich. Und Geld an ärmere Länder zu geben, endete oft nur in Korruption.

Man kann Julian Nida-Rümelin zugute halten: Der Versuch bedarf einer Erneuerung. Es geht ihm auch nicht um die Übertragung von Demokratie auf höhere Ebenen, sondern um eine globale Rechtsordnung, also um Regeln und Gerichte, die die Einhaltung von Regeln überwachen. Auch Entwicklungshilfe kann klug statt dumm gestaltet werden. Aber egal wie klug man es anstellt: Es wird Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchen. Deshalb ist der Schutz der Demokratie, die im Hier und Jetzt realisierbar ist, nämlich der Demokratie in den Nationalstaaten, vorrangig. Das hätte Julian Nida-Rümelin deutlicher sagen sollen.

Richtig ist, dass die Menschenrechte den anderen Ländern nicht vom Westen aufoktroyiert worden sind (S. 124 f.). Vielmehr kam die UN-Charta gegen den Willen der USA und Großbritanniens zustande. Die Menschenrechte sind auch keine kulturelle Folklore des Westens, sondern für alle Menschen nachvollziehbar, insofern sie vernunftbegabte Menschen sind. Humanismus ist kulturell global anschlussfähig.

Einige Kritikpunkte

Manche Kritik wurde bereits in den vorigen Abschnitten geäußert. Obwohl Julian Nida-Rümelin schon recht deutlich ist, kommt er doch nicht überall deutlich genug auf den Punkt. Insbesondere ist eine klare Benennung von Angela Merkel als einer Hauptschuldigen unserer Situation zu vermissen.

Eine gravierende Leerstelle ist das Thema Medien. Julian Nida-Rümelin spricht zwar von der Bedeutung der Medien für die Aufrechterhaltung der öffentlichen demokratischen Deliberation, aber zur Problematik der Öffentlich-Rechtlichen Medien hat er nur wenig zu sagen: Die Aufsichtsgremien sollten politikfern besetzt werden, und das öffentlich-rechtliche Prinzip sollte auch auf Print und Digital ausgeweitet werden (S. 242). Das ist entschieden zu wenig. Die Organisation des Mediensystems steht definitiv im Zentrum unserer Probleme, hier müsste sehr viel mehr gesagt werden: Sowohl was Kritik, als auch was Lösungen anbelangt.

Julian Nida-Rümelin spricht wiederholt von „Marktversagen“ als einer Ursache unserer Krisen (S. 195, 198), u.a. im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008. Aber diese Finanzkrise war letztlich von einer Politik verursacht worden, die die Marktkräfte auszuhebeln versuchte. In USA gab es Sozialgesetze, die den Banken vorschrieben, Hauskredite auch an Schuldner zu vergeben, die nicht kreditwürdig sind. Es war von vornherein klar, dass diese Kredite vielfach platzen mussten. Schuld war aber nicht der Markt, sondern eine falsche Politik. Und das ist oft so. Eigentlich immer. Diese Erkenntnis sollte Julian Nida-Rümelin in seine Analyse mit aufnehmen.

Auch bei der Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR und in Russland sieht Julian Nida-Rümelin viel Versagen, was das Vertrauen in Marktwirtschaft und Liberalität dort untergraben hätte (S. 237 f.). Die Frage ist aber, wie man eine solche Umstellung hätte bewerkstelligen sollen, ohne dass es zu Brüchen kommt. Vermutlich gibt es dafür kein Patentrezept. Es wurden Fehler gemacht, ja, aber ob man es ökonomisch so viel besser hätte hinbekommen können, wie manche meinen, muss bezweifelt werden. Auch diese Opfer sind zuerst und vor allem dem sozialistischen System zuzuschreiben, das eine verheerte Ökonomie zurückließ.

Es ist gut, dass Julian Nida-Rümelin das Thema des Zusammenlebens von Individuen und wirtschaftlichen Unternehmen in einer freien Gesellschaft aufgreift (S. 59). Allerdings ist auch dieses Feld nicht unbeackert: Es gibt bereits Gesetze zum Verbraucherschutz, zum Umweltschutz usw. Und eigentlich war es immer gute Praxis, dass sich Unternehmen abseits ihrer ökonomischen Interessen eher nicht in die Politik einmischen. Ja, die Gesetze müssen weiterentwickelt werden, aber neu ist das Thema nicht.

Julian Nida-Rümelin beklagt zurecht, dass die Vereinigung der DDR mit der BRD eher ein Anschluss war, und keine echte Vereinigung. Denn es wurde keine neue Verfassung ausgearbeitet und auch die wenigen Errungenschaften, die die DDR vorzuweisen hatte, wurden untergebügelt (S. 236 f.). Das ist alles richtig, allerdings vermeidet Julian Nida-Rümelin auch hier, auf den Punkt zu kommen. Denn eine Vereinigung auf Augenhöhe und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, hätte bedeutet, dass Deutschland die Nachkriegszeit überwindet und sich als Nation selbstbewusst neu definiert. Dazu hätte z.B. auch die Wiederherstellung des Bundeslandes Preußen als einem ganz normalen Bundesland gehört, zusammengesetzt aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Vorpommern und Restschlesien. Julian Nida-Rümelin irrt auch, wenn er die Schuld daran nur bei Helmut Kohl sieht. Es war nicht nur Helmut Kohl, der diese Debatte scheute, sondern es waren natürlich die Linken und Linksliberalen mit ihrem nekrophilen nationalen Selbstbild, die das nicht wollten. Damals hieß es: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“

Bedauerlicherweise verwendet auch Julian Nida-Rümelin an einigen wenigen Stellen den Begriff „liberale Demokratie“. Aber Demokratie benötigt kein Adjektiv, auch nicht das Adjektiv „liberal“. Demokratie ist entweder demokratisch oder es ist keine Demokratie. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach per se liberal, insofern alle Meinungen, die die demokratischen Spielregeln einhalten, in der Demokratie mitspielen dürfen. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach aber zugleich auch nichtliberal, insofern auch konservative Kräfte Wahlen gewinnen dürfen. Deshalb ist der Zusatz „liberal“ so gefährlich. Es ist ein Versuch, konservative Kräfte aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen. Man kann vermuten, dass das nicht die Absicht von Julian Nida-Rümelin war, denn es passt nicht zu dem hier vorgestellten Demokratiebegriff. Ein guter Lektor hätte auf das Problem hingewiesen.

Donald Trump wird ein Übermaß an Lügen unterstellt (S. 27). Hier liegt Julian Nida-Rümelin eindeutig falsch. Donald Trump lügt zwar hin und wieder, aber nicht im Übermaß. Vieles, was ihm als Lüge ausgelegt wird, ist eben eine andere politische Meinung. Und das wahre Problem ist doch nicht, dass Trump lügt, sondern dass auch die etablierten Demokraten in einem Maße zum Gebrauch der Lüge übergegangen sind, dass man erschrecken muss! Da werden Migranten pauschal „Flüchtlinge“, nein: „Geflüchtete“ genannt. Da wird behauptet, ein babylonisches Multikulti würde wunderbar funktionieren. Da wird alles an der westlichen Geschichte und Kultur schlechtgemacht. Da werden radikale Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels propagiert, die nachweislich keinen guten Effekt haben, während effektive Maßnahmen unterbleiben. usw. usf.

Der AfD wird unterstellt, ihre Rhetorik wäre von Anfang an „populistisch“ gewesen (S. 170). Aber in Wahrheit schlägt Julian Nida-Rümelin in diesem Buch genau dieselbe Alternative zu Angela Merkels Griechenland-„Rettung“ vor (s.o.), die damals von AfD-Gründer Professor Bernd Lucke vorgeschlagen wurde. Die These, dass die AfD von Anfang an populistisch gewesen sei, ist vollkommen unsinnig. Die These passt auch gar nicht zu dem, was Julian Nida-Rümelin an anderer Stelle des Buches sagt.

Zum Thema Islam sagt Julian Nida-Rümelin durchaus Richtiges, doch leider verfehlt er den Punkt. Einerseits will er im säkularen Staat von Religion gar nichts wissen: Julian Nida-Rümelin schaut geradezu bewusst weg, wenn er sagt, dass die Religion selbst nicht an den Kreuzzügen schuld sei, und auch Koranverse seien an nichts schuld (S. 230). Andererseits zählt er auf, welche religiösen Praktiken nicht zu einer humanistischen Leitkultur und damit zur Demokratie passen: Autoritäre Muster, religiöser Fundamentalismus, Sehnsucht nach vormodernen Zeiten, Angst vor Aufklärung und Veränderung (S. 230 f.). – Das ist soweit zwar richtig, aber Julian Nida-Rümelin hat sich damit um den entscheidenden Punkt herumgemogelt, den man aber verstehen muss, wenn man politisch zum Handeln kommen will: Wie ist es denn nämlich möglich, dass eine Religion diesen humanistischen Anforderungen genügen kann, wenn die traditionelle Interpretation der Religion dem nicht entspricht?

Die Antwort ist, dass die Vernunft selbst dem Gläubigen befiehlt, die alten Texte der Religion ernst zu nehmen und sie gerade deshalb auf der Grundlage von Vernunft und moderner Erkenntnisse neu zu lesen und historisch-kritisch zu deuten. Das ist keine „Verbiegung“ und keine „Anpassung“ an die Moderne, denn es werden dadurch keineswegs alle Ecken und Kanten einer Religion abgeschliffen. Im Gegenteil: Je mehr Vernunft dabei zur Anwendung kommt, desto authentischer wird die Religion dadurch. Es ist vielmehr die Emotionalität und die Vernunftfeindlichkeit, die der Feind einer authentischen Auffassung von Religion ist. Kurz: Es geht um theologisch valide religiöse Reformen. Die Religionen selbst müssen sich also für den humanistischen Geist öffnen, so wie sich auch die Nationalkultur für den humanistischen Geist öffnen muss. Das können sie auch, denn Vernunft und Menschlichkeit wird in allen Religionen großgeschrieben. Und diese Öffnung ist es, die der Staat abverlangen muss. Der Staat darf deshalb beim Thema Religion nicht so völlig blind sein, wie es manche propagieren. Mehr noch: In einer Situation, in der eine beträchtliche Zahl von Mitbürgern einer traditionellen Lesart von Religion verfallen ist, muss der Staat sogar aktiv werden, um den Humanismus in diese Religion zu inkulturieren. Dazu gibt es vielfältige Möglichkeiten direkter und indirekter Einflussnahme. Doch davon liest man bei Julian Nida-Rümelin nichts.

Die westliche Interventionspolitik in anderen Ländern wird scharf kritisiert: Sie sei schuld an einem Großteil der aktuellen Flüchtlingsbewegungen und hätte hunderttausenden Zivilisten den Tod gebracht (S. 191). Doch hier irrt Julian Nida-Rümelin. Es gab gewiss auch viel Versagen, aber hat nicht auch ein Saddam Hussein hunderttausendfachen Tod gebracht? Und wer hat eigentlich die Opferzahlen der westlichen Interventionen ermittelt? Antiamerikanische NGOs? Die jedes Bombenopfer des IS-Terrors den Amerikanern zuschreiben?! Gerade im Irak ist noch erstaunlich viel Gutes übrig: Es gibt immer noch die freien Kurdengebiete im Norden. Es gibt immer noch die Demokratie des Irak, so formal sie auch ist. Beide haben dem IS widerstanden und waren hilfreiche Verbündete des Westens. Man stelle sich vor, Obama hätte die Truppen nicht aus dem Irak abgezogen und damit dem IS Tür und Tor geöffnet, was für ein Stabilitätsanker hätte dieses Land für die Region werden können! Der große Traum des George W. Bush, endlich den Teufelskreis aus Diktatur und Islamismus in Nahost zu durchbrechen, lebt weiter. Julian Nida-Rümelin hat hier offenbar vieles nicht verstanden. Da ist er aber nicht allein.

Schließlich kommt Julian Nida-Rümelin auf das „Verrechnungsverbot“ von Menschenrechten zu sprechen (S. 133 f.). Dieses ist stark von der Philosophie Immanuel Kants geprägt, sowohl im Guten wie im Schlechten. Grundsätzlich ist es ja auch richtig: Man kann nicht einfach Menschenleben gegen Menschenleben verrechnen. Das ist unmoralisch. – Aber nun die Kritik: Wenn man dieses Verrechnungsverbot absolut setzt, und das wird es oft genug, dann kommt man in Teufels Küche. Dann dürfte kein Staat mehr Soldaten in einen Verteidigungskrieg schicken, um seine Bürger zu schützen, denn dann würde ja das Leben der Soldaten gegen das Leben der Bürger verrechnet. Dann wären auch keine verhältnismäßigen Entscheidungen bei einer Pandemiebekämpfung mehr möglich: Man dürfte Suizide, Depressionen, häusliche Gewalt und verdorbene Bildungskarrieren von Schülern nicht mehr gegen einen vorzeitigen Tod älterer Menschen abwägen. Wir müssen Julian Nida-Rümelin zugute halten, dass er zu diesem Problem in der Corona-Pandemie ausführlich gesprochen hat. Doch hier im Buch fehlt der Gedanke, und es wird ein radikales Verrechnungsverbot formuliert.

In der Danksagung spricht Julian Nida-Rümelin davon, dass viele politische Übereinstimmungen mit Jürgen Habermas deutlich würden (S. 254). Aber dass er bei der Frage nach der kulturellen Verwurzelung der Demokratie einen deutlich anderen Standpunkt bezogen hat (s.o.), davon schweigt er an dieser Stelle. Völlig verschwiegen wird auch, dass Habermas ein großer Unterstützer von Angela Merkels Politiken war, während Julian Nida-Rümelin auch hier eine klar andere Meinung hat. – Es hat den Anschein, als wollte Julian Nida-Rümelin mit diesen Worten der Danksagung einen klaren Dissens zu Jürgen Habermas überkleistern, der sich bei näherem Hinsehen an vielen Stellen zeigt, und der sich in der Corona-Pandemie noch stärker gezeigt hat.

Es fehlt eine tiefere Analyse

Julian Nida-Rümelin beschreibt, wie die Demokratie vor unseren Augen erodiert. Und er beschreibt und kritisiert auch verschiedene geistige Strömungen, die an dieser Erosion beteiligt sind. Aber was fehlt, ist eine Analyse der tieferen Ursachen hinter dem allen. Wie kommt es denn dazu, dass Phänomene wie z.B. der Multikulturalismus und der Wokismus entstehen? Nicht erklären muss man hingegen, wie die Gegenbewegung des Rechtspopulismus entsteht.

Man könnte der Spur des Geldes folgen. Große Unternehmen haben ein Interesse an linksliberalen Zuständen. Der lustorientierte Linksliberale ist einfach der bessere Konsument, verglichen mit einem asketischen Bildungsbürger, der sich mit Büchern begnügt. Auch die Vereinfachung der Zuwanderung und die Schleifung der Nationalkulturen war immer im Interesse des Kapitals, da sie den Zugang zu kostengünstigen Arbeitskräften ermöglicht. Man könnte auch an Betrugschemata denken: Indem man diese oder jene Angst schürt, verkauft sich dieses oder jene Produkt besser. Das alles ist es auch, aber das allein kann es nicht sein.

Einen besseren Fingerzeig, wo das Problem liegt, geben jene Milliardäre, die mit ihrem Geld versuchen, etwas „Gutes“ für die Welt zu tun und auf diese Weise großen Einfluss nehmen. Sie tun das nicht um des Geldes wegen. Vielmehr glauben sie an das, was sie predigen. Und wie wir alle sind sie mit ihren Überzeugungen nicht selten Opfer des Zeitgeistes. Wir haben es nicht so sehr mit einer Verschwörungstheorie zu tun, bei der dunkle Hintermänner die Welt steuern, sondern mit dem Phänomen des kollektiven Irrtums. Gesellschaften können sich kollektiv in einen Irrtum hinein steigern.

Aber woher kommt der Irrtum? Es ist letztlich eine Dekadenzerscheinung. Wenn die Menschen in zu großem Wohlstand leben, wird das Leben leichter. Man verliert den Kontakt zur Realität, der sich vor allem dort manifestiert, wo man hart mit der Realität zusammenstößt. Und mit dem Realitätsempfinden hängt bei weniger gebildeten Menschen die Rationalität eng zusammen. Rationalität könnte man als die Fähigkeit beschreiben, möglicher Zusammenstöße mit der Realität geistig vorwegzunehmen und auf diese Weise zu vermeiden. Und als die Fähigkeit, die Realität so zu ordnen, dass man Vorteil davon hat. Ohne Realitätsempfinden keine Rationalität.

Der Wohlstand reduziert die harten Zusammenstöße mit der Realität, und so heben die Menschen ab und verlieren sich in illusionärem Wunschdenken. Rationalität zählt immer weniger, Gefühle immer mehr. Konservative Skeptiker verschwinden, emotionale Linksliberale setzen sich kulturell durch. Betrachten wir z.B. das berühmte Buch von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010: Es handelt sich um eine rationale Analyse der Wirklichkeit mit dem Ziel, unangenehme Folgen zu verhindern und gute Zustände anzustreben. Doch das Buch verletzte Gefühle und durchkreuzte liebgewonnene Illusionen. Es wurde deshalb von Angela Merkel als „nicht hilfreich“ bezeichnet. Eine öffentliche Diskussion von Inhalten und ein Austausch von Argumenten fand niemals statt, obwohl viele Bürger das wollten. Es war die totale Zerstörung der demokratischen öffentlichen Deliberation.

Man könnte sagen: Die hohen Herren und Damen tanzen in Versailles. In Versailles galt man etwas, wenn man immer mit der neuesten Mode ging und geistreichen Unsinn von sich geben konnte. Wer jedoch kluge Politik für die Menschen machen wollte, der galt in Versailles nichts und wurde bestenfalls herumgeschubst. Intrigieren und Charmieren war alles, Rationalität und Realismus waren nichts. Die Kritik eines Voltaire wurde am Hof von Versailles auch nicht mit dem Argument zurückgewiesen, dass Voltaire nicht Recht hätte. Es wurde vielmehr überhaupt nicht argumentiert, sondern Voltaire störte einfach nur. Er war eine Beleidigung für den Geschmack und die Sensibilität der Höflinge. Und deshalb musste er weg. Ganz so, wie Angela Merkel das Buch von Thilo Sarrazin für „nicht hilfreich“ erklärte.

Hinzu kommt, dass vielen Menschen ein Sinn in ihrem Leben abhanden gekommen ist. Der religiöse Glaube nimmt immer mehr ab. Und in einer Gesellschaft des Wohlstands gibt es auch immer weniger Not zu lindern. Es ist in der Tat gar nicht so einfach, einen Sinn im Leben zu finden, wenn man in einem materialistischen Paradies lebt. Und so suchen sich die vielen weniger gebildeten Menschen einen Sinn für ihr Leben, wo eigentlich gar keiner ist: Klima, Multikulti, Wokismus, oder Rechtsradikalismus.

Wir haben es also mit einem Dekadenzproblem zu tun. Eine größere Zahl von Menschen ist vor lauter Wohlstand in Illusionen und Wunschdenken sowie in eine quasi-religiöse Sinnsuche hinein geraten. Und sie werden aus ihrem Schlummer nur durch den Zusammenstoß mit der Realität erwachen. – Eine Analyse dieser Art hätte man sich von Julian Nida-Rümelin gewünscht. Vielleicht würde Julian Nida-Rümelin es ganz anders sehen?

Fazit

Julian Nida-Rümelin hat ein richtiges und wichtiges Buch geschrieben, das einmal mehr den betrüblichen Zustand unserer Demokratie beleuchtet und dabei vor mutigen Aussagen nicht zurückschreckt, auch wenn es noch mutiger hätte sein können. Es ist wahr: Die Rationalität selbst leidet heute. Nichts weniger steht auf dem Spiel als die Errungenschaften der Aufklärung.

Julian Nida-Rümelin ist ein weiterer SPDler in einer langen Reihe von SPDlern, die sich von ihrer eigenen Partei entfremdet haben und den Weg nach Linksaußen nicht mitgegangen sind. Teilweise gibt es Überschneidungen mit Thilo Sarrazin, der mit „Wunschdenken“ eine Art Handbuch für kommende Politiker zusammengestellt hat, wie gute Politik gemacht werden muss.

Leider erklärt Julian Nida-Rümelin seine Thesen etwas umständlich. In der zweiten Hälfte ist das Buch auch etwas langatmig geschrieben. Die Erklärungen sind nicht „knackig“ und „griffig“, sondern akademisch abstrakt. Griffige Erklärungen muss sich der Leser selbst suchen, und diese Rezension will einen Beitrag dazu leisten, die Thesen von Julian Nida-Rümelin griffig zu machen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.