Schlagwort: Komplexität

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)