Schlagwort: Lebensweisheit (Seite 1 von 2)

Robert Silverberg: Gilgamesch The King (1984)

Gelungenes Sinuhe-Remake für die sumerische Kultur

Mit seinem Buch „Gilgamesch – The King“ hat Robert Silverberg eine Art Remake des Klassikers „Sinuhe der Ägypter“ von Mika Waltari vorgelegt. Wie dort auch läuft vor den Augen des Lesers eine Art psychedelischer Lebensfilm des Protagonisten ab, der gewissermaßen die Innensicht und die weltanschauliche Perspektive eines antiken Menschen nachzubilden versucht, von der Wiege bis zur Bahre. Auf diese Weise wird ein besonders intensiver Einblick in die jeweilige Zeit und Kultur gegeben. War es bei Waltari das alte Ägypten, ist es bei Silverberg die sumerische Kultur.

Das Remake ist gelungen: Wer nach der Lektüre nach Informationen über die alten Sumerer sucht, wird finden, dass Silverberg die wesentlichen Elemente dieser Kultur verarbeitet hat, und zwar gut verarbeitet. Historische Exaktheit darf man natürlich nicht erwarten, das ist nicht der Sinn der Sache, zumal die Forschung bei diesen frühen Kulturen immer noch sehr in Fluss ist. Es steht das Literarische und Menschliche im Vordergrund; in der alten Kultur spiegeln sich Einsichten, die sehr wohl auch für die Gegenwart gelten.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2012)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

Hans Magnus Enzensberger: Z – Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (2014)

Enzensbergers Lebensweisheiten und Zeitgeistkritik in nuce

In einem Park taucht immer wieder Herr Z auf und beginnt Gespräche mit zufällig Anwesenden. Es entwickelt sich eine lose Runde. Das Buch soll einige dieser Gespräche aus der Erinnerung von Anwesenden wiedergeben.

In 259 nummerierten kurzen Abschnitten werden die verschiedensten Themen angeschnitten. Grundthema sind Lebensweisheiten und Kritik am Zeitgeist. Enzensberger in nuce, und vermutlich auch ein wenig zum Abschied, denn am Ende verabschiedet sich Herr Z und ward nicht mehr gesehen.

Sehr empfehlenswert. Man kann es von Anfang bis Ende durchlesen. Man kann aber auch eine beliebige Seite aufschlagen und zu lesen anfangen. Und man wird das Büchlein immer wieder zur Hand nehmen. Gewissermaßen eine kleine Mao-Bibel des Z’schen Denkens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 05. April 2021)

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen (2013)

Teils urkomisch, teils nachdenklich machend, teils zu derb

Yasmina Reza gestaltet in diesem „Roman“ genannten Buch eine Reihe von kurzen Episoden aus dem alltäglichen Beziehungs- und Alltagsleben einiger Franzosen, wobei jedes Kapitel aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben ist, so dass sich die verschiedenen Perspektiven und Episoden gegenseitig ergänzen und verweben, bis zu einem gewissen Finale am Schluss, wo alle zu einem Begräbnis zusammen kommen.

Teilweise sind diese Episoden urkomisch, kommen einem nur zu bekannt vor, und sind von einer herzlichen Skurrilität. Teilweise sind es traurige Begebenheiten, die nachdenklich machen: Krankheit, Verlust, Tod.

Leider sind die gezeigten Beziehungen zu einem guten Teil solche, in denen es eher recht derb, lieb- und geistlos zugeht, in denen z.B. „clever“ betrogen wird (Subtext: Wer treu bleibt ist ein Idiot), und in denen sich die Frauen dem übelsten Macho spontan hingeben. Solches mag es zwar in der Tat zuhauf geben in der Welt (vgl. Ortega y Gasset), aber was bitteschön soll daran interessant und was komisch sein? Interessant ist das andere: Beziehungen, die auf weniger derbe Art ihre Probleme haben und diese auch lösen, und die z.B. einen klaren Schnitt machen, wenn es nicht funktioniert, statt ein Leben lang Psychospiele zu spielen. Solche sind leider nur wenige dabei. Das verringert das Identifikationspotential des geistvollen Lesers doch ein wenig.

Etwas irritierend auch die Eingangsformel von Jorge Luis Borges: „Glücklich die …. die auf Liebe verzichten können.“ Das ist schon ein zur Weltanschauung gemachter Pessimismus. Und das als Eingangsformel?! Denn im Sinne des Schlusses von Goethes Faust II wird man wohl sagen dürfen, dass es ganz ohne Liebe nicht geht, und sei es nur die Liebe „von oben“.

Insofern sich in diesem Buch eine nihilistische Schickeria nicht nur bespiegelt, sondern in ihrem Versagen gewissermaßen auch selbst feiert, könnte es sogar ein schlechtes Buch sein, ein moralisch schlechtes Buch. Wir geben vorsichtig 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. August 2018)

Diana Smirnow: Der Mann unter dem Polarstern (2022)

Runder Lebenshilfe-Roman: Eingefroren und aufgetaut

Der Roman „Der Mann unter dem Polarstern“ von Diana Smirnow ist eine Art Lebenshilfe-Roman im Stil von „Dienstags bei Morrie“ von Mitch Albom. In solchen Romanen gerät ein Protagonist in eine außergewöhnliche Situation, die ihn auf sich selbst zurückwirft, die ihn aber auch neue Einsichten gewinnen lässt, oft mithilfe eines „weisen Lehrers“.

In diesem Fall wird der erfolgreiche Unternehmer Noel Zaikow überraschend in einer schwedischen Ferienhütte für mehrere Wochen vom Packeis eingeschlossen und kann nur durch einen schmalen Spalt mit der Umwelt kommunizieren. Die Rolle des weisen Lehrers übernimmt der Glasmacher Alim aus Marokko (was wunderlich genug ist für ein abgelegenes Dorf in Schweden, aber wir leben ja in verrückten Zeiten).

Die vermittelten Lehren sind u.a. diese:

  • Clean up your life, one step at a time.
  • Schaue nicht zuerst auf das, was andere für Dich tun können oder ob die Umstände an Deiner Situation schuld sind, sondern frage zuerst: Bin ich vielleicht auch selbst schuld und kann ich selbst etwas dafür tun, um meine Situation zu verbessern?
  • Materielle Werte können ein Leben nicht erfüllen.
  • Der Wert kreativer Arbeit mit den eigenen Händen.
  • Dankbarkeit.

Im Laufe des Romans lernt Noel Zaikow, sich in seiner Situation einzurichten und neue Freunde zu gewinnen. Er geht verschiedene Erinnerungen an sein Leben durch und orientiert sich neu. Am Ende schmilzt das Eis (natürlich). Der Leser fühlt sich implizit aufgefordert, es dem Protagonisten gleichzutun, und tatsächlich schadet es nicht, sich immer wieder einmal solche Anregungen zu holen. Köstlich, wie der Protagonist am Ende mit seiner Freundin Schluss macht: Für männliche Leser sicher ein Höhepunkt des Buches …

Obwohl der Roman im Selbstverlag publiziert wurde, ist er eine völlig runde Sache (von ein paar fehlenden Artikeln abgesehen). So einen Roman hätte man sich auch gut und gern bei einem „richtigen“ Verlag vorstellen können.

Lebenshilfe-Romane sind natürlich auch Geschmacksache. Teilweise wirken sie kitschig und nicht „echt“ und die Weisheiten werden den Lesern mit Löffeln verabreicht. Diese Problematik hält sich hier aber in Grenzen. Es schadet auf keinen Fall, einmal einen solchen Roman gelesen zu haben. Wer es etwas sachlicher (und deftiger) haben will, könnte auch „12 Rules for Life“ von Jordan B. Peterson lesen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Apuleius: Der goldene Esel (2. Jhdt. n.Chr.)

In die Vollen des antiken Alltagslebens gegriffen

Der Goldene Esel des Apuleius (auch bekannt als: Metamorphosen) ist ein Stück antike Unterhaltungsliteratur, die uns auch heute noch bestens amüsieren kann. Mit Witz und Ironie wird eine Abenteuergeschichte erzählt, die weitere Erzählungen und Anekdoten in sich einschließt, darunter auch so bekannte Erzählungen wie die von Amor und Psyche.

Der Leser erhält Einblick in das Denken und Leben antiker Menschen im 2. Jahrhundert n.Chr. Ob Handel, Handwerk, Reisen und Erotik, ob Geizhälse, Räuber, Frauen und Mägde, ob Zauberei und Isis-Kult – man kommt voll auf seine Kosten.

Wegen der Erzählkunst des Autors, und wegen der tiefen Einblicke in die antike Welt wird dieses Kleinod mit gutem Grund zur Weltliteratur gezählt.

Die kostenlose Kindle-Ausgabe der Übersetzung von August Rode 1920 ist erfreulich fehlerfrei und akzeptabel lesbar.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. September 2013)

Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit (1967)

Das Epos Lateinamerikas

Der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez aus dem Jahr 1967 ist ein wahres Epos: Es ist nicht nur eine Geschichte, sondern die Geschichte aller Geschichten, eine Erzählung, die eine ganze Welt umgreift und in Worte fasst. Es ist die Welt Lateinamerikas um 1850-1950 und ihr Lebensgefühl.

Der Roman entfaltet sein Panorama anhand der Geschichte der Familie Buendía über mehrere Generationen hinweg. Am Anfang steht die Gründung des Ortes Macondo, der klein und beschaulich ist, ohne Kontakt zur Außenwelt, der nur von Zigeunern besucht wird. Nach und nach ziehen Staat und Kirche ein, dann kommt ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg zwischen „Liberalen“ und „Konservativen“, dann kommen italienische Tanzlehrer und französische Huren, dann eine ausbeuterische Bananengesellschaft und die Eisenbahn, Streiks und Erschießungen von Arbeitern, schließlich die Mode der 20er Jahre, das Motorrad und (fast) das Flugzeug. Die Geschichte der Buendías wiederholt sich in jeder Generation auf immer gleiche und doch immer wieder andere Weise. Verwirrenderweise wiederholen sich auch die immergleichen Namen: Aureliano, José Arcadio, Amaranta, Remedios, usw. Der Eindruck eines ewigen Kreislaufes entsteht, von Streben und vergeblicher Hoffnung, von Verrücktheit und Genie. Der Roman enthält zahllose „running gags“, die immer wieder und wieder vorkommen. Der Roman hat Züge eines psychedelischen Flusses, der rauschhaft vor den Augen des Lesers vorübergleitet.

Zum Lebensgefühl Lateinamerikas scheint auch der Aberglaube als fester Bestandteil zu gehören. Er wird in diesem Roman durch diverse übernatürliche Phänomene repräsentiert, die als faktische Gegebenheiten ohne weiteres in die Handlung eingebaut werden. Dazu gehören die Geister von Verstorbenen, Vorahnungen, Telepathie, die Levitation eines Priesters, Gegenstände, die im Haus umherwandern, Vieh, das besonders fruchtbar ist, je mehr Sex seine Besitzerin hat, oder jahrelanger Dauerregen, und ein Zimmer, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint – aber nicht für jeden. Dazu gehören auch Menschen, die über 100 Jahre alt werden und über mehrere Generationen im Leben mitmischen, und eine Schönheit in edler Einfalt, die der Oberst für die klügste von allen hält, weil sie ein vernünftiges Verhältnis zur Sexualität hat, und die leibhaftig in den Himmel auffährt. Diese Vorkommnisse sind aber nicht plakativ „esoterisch“ aufgebauscht, sondern zur Gesamtatmosphäre passend in die Handlung eingewoben.

Zu diesen übernatürlichen Phänomenen gehört insbesondere auch der Zigeuner Melquiades, der Alchemie, antike Texte und geheime Manuskripte nach Macondo bringt, und eine Prophezeiung über die Zukunft der Familie Buendía ausspricht. Und natürlich der „weise Katalane“, der eine Buchhandlung für seltene Bücher im Ort eröffnet, die am Ende des Romans zur Entzifferung der Manuskripte des Melquiades und seiner Prophezeiung gebraucht werden, woraufhin der Ort Macondo der endgültigen Zerstörung anheim fällt.

Sexualität wird in diesem Roman vorwiegend derb gelebt. Liebe im eigentlichen Sinne kommt zwar vor, aber selten. Es mag dem Milieu entsprechen, aber man hätte sich etwas mehr Kritik gewünscht, und sei es nur durch Ironie. Es ist so ziemlich alles dabei: Angefangen von Männern, die Hausmägde schwängern und dann verlassen, über Zweitfrauen und Scheinehen, über Mütter, die ihre Töchter dem berühmten Oberst wie einem Zuchtbullen zuführen, über ständig vorkommende Prostitution, die vom Autor immer wieder als heilsam und hilfreich gezeichnet wird, über hin und wieder vorkommende Inzucht, über die Andeutung eines Päderasten, bis hin zu Beziehungen, die allein auf rauschhaftem Sex gegründet sind.

Ein Grundthema des Romans, das allerdings immer nur angedeutet und nie zu größeren Höhen der Einsicht geführt wird, ist die Einsamkeit, das Scheitern der Hoffnungen und die Sinnlosigkeit, schließlich das Warten auf den Tod. Dabei die ewige Wiederholung des Immergleichen. Obwohl meistens recht heiter, durchzieht ein melancholischer Grundton das Buch.

Der Schluss des Romans ist etwas seltsam: Für Sippen, die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammt waren, so heißt es, gibt es keine zweite Chance. Damit schneidet der Roman seine Verbindung zur Gegenwart ab, und lässt auch keinen Raum für eine bessere Zukunft. Der Roman beschreibt, was geschieht, gibt aber keine Ratschläge und vermittelt keinen Sinn.

Nebenbei:

Der Autor des Romans war Unterstützer diverser kommunistischer Regime. Davon ist im Roman aber kaum etwas zu merken. Eine leichte Sympathie für die „Liberalen“ hat damit nichts zu tun. Im Roman sind „Konservative“ und „Liberale“ gleichermaßen albern. Auch die Bananengesellschaft der „Gringos“ wird zumindest nicht auffallend für ein antiamerikanisches Ressentiment ausgeschlachtet.

Unter den Manuskripten des Melquiades sind auch die Texte von Hermann dem Lahmen, einem Mönch von der Insel Reichenau („damit er das Astrolabium, den Kompass und den Sextanten bedienen konnte“).

Die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz erweist sich als sehr gelungen. Als Vorleser hat Ulrich Noethen komplett überzeugt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. November 2018)

Hermann Hesse: Narziss und Goldmund (1930)

Durchspielen von Sinnlichkeit und Geistigkeit – Kritik am typisch „Deutschen“

Der Roman „Narziss und Goldmund“ schildert die Freundschaft zweier Klosterschüler, von denen der eine radikal sinnlich, der andere radikal geistig lebt. Narziss lebt ein Leben der Gelehrsamkeit, bleibt immer nur im Kloster, steigt zum Abt auf, und hat einen rationalen Durchblick durch die Zusammenhänge der Welt. Goldmund hingegen verlässt das Kloster, zieht wandernd durch die Lande, legt eine Frau nach der anderen flach, wird zum bildenden Künstler, und kehrt am Ende ins Kloster zurück. Während die Figur des Goldmund den Roman beherrscht, taucht Narziss nur am Anfang und Ende auf, und steht – obwohl ebenbürtig – nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Hermann Hesse wollte hier ganz offensichtlich zwei Charaktereigenschaften an zwei Menschen durchspielen, indem er sie jeweils völlig einseitig gestaltet und miteinander in freundschaftliche Verbindung bringt. Narziss muss Goldmund anfangs erst zur Erkenntnis seiner selbst befreien, bevor dieser hemmungslos sinnlich werden kann. Goldmund hingegen lässt Narziss zweifeln, ob ein rein geistiges Leben wirklich gut ist. Narziss hat Goldmund am Ende voraus, dass er dessen Sinnlichkeit anfanghaft versteht. Goldmund hingegen versteht die geistige Welt des Narziss noch nicht einmal im Ansatz. Goldmund bleibt bis zuletzt ein großes Kind, kuriert eine gefährliche Verletzung nicht aus, und stirbt blöde lächelnd (Hirnschlag?), ohne die Mehrzahl der von ihm geplanten Werke geschaffen zu haben. Narziss bleibt zweifelnd zurück.

Bedingt durch Bildungsmangel und die Irrtümer des Zeitgeistes fassen viele Leser diesen Roman falsch auf. Der erste Irrtum ist die Lesart als Lebensratgeber. Wie wenn Hermann Hesse dem Leser hätte sagen wollen: „Enthemme Dich, fick Dich durch’s Leben, die Rationalen sind die Dummen.“ Doch das ist nicht der Fall. Beide Charaktere sind gleich in ihrer Würde. Und beide Charaktere taugen nicht als Vorbild. Vorbildlich wäre eine richtige Mischung aus beidem. Der zweite verbreitete Irrtum ist die Lesart als homoerotischer Roman. Auch das ist Unfug. Die Liebe zwischen Narziss und Goldmund ist die Liebe von Mensch zu Mensch, jenseits aller Geschlechtlichkeit. Wer das nicht erkennt, hat etwas verpasst.

Thema Sinnlichkeit: Hier spielt das Bild der „Mutter“ eine große Rolle. Zunächst die eigene, verlorene Mutter, dann das Bild der „großen“ Mutter. Die Mutter als Verkörperung von Leben und Tod zugleich. Goldmund verfällt dieser Vorstellung völlig und wird von ihr in den Tod gezogen. Narziss sind solche Gedanken und Gefühle fremd.

Thema Kunst und Künstler: Der Werdegang von Goldmund zum Künstler, seine Begegnung mit Werken und mit dem Meister, sein innerer Drang, seine Gedanken über Gesehenes und seine inneren Bilderwelten geben dem Leser einen lebendigen Eindruck davon, was es heißt ein Künstler zu sein und Werke zu schaffen.

Thema Lebensweisheit: Der Roman umspannt das ganze Leben zweier Menschen und enthält deshalb auch eine Menge Lebensweisheit zu allen möglichen Themen (Jugend vs. Alter, Wanderschaft vs. Sesshaftigkeit, Lehre vs. Meisterschaft, Leben vs. Tod), die nicht zwingend mit dem Thema des Buches verbunden sind. Es könnte sich lohnen, das Buch mehrfach zu lesen.

Thema Kloster Maulbronn: Hermann Hesse hat das Kloster Mariabronn natürlich nach dem Kloster Maulbronn gestaltet, in dem er als Internatsschüler gescheitert war. Aber überraschenderweise ist die Darstellung der Klosterschule in diesem Roman durchgehend positiv! Das erfreut den Leser, der sich an die Depressivität des Romans „Unterm Rad“ erinnert, in dem Hesse seine negativen Erfahrungen im Kloster Maulbronn verarbeitet hatte.

Thema Mittelalter: Neben dem Kloster wird das ganze mittelalterliche Leben durchgespielt: Dörfer und Höfe, ein Ritter auf seiner Burg, die Bischofsstadt (die angeblich nach Würzburg gestaltet sein soll, aber Würzburg ist viel zu barock), der Statthalter des Kaisers in seiner Residenz.

Thema Pest: Auch die mittelalterliche Pest spielt eine Rolle. Es ist interessant, die heutigen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie mit dieser literarischen Darstellung der Pest zu vergleichen. Es gibt die Angst vor der Ansteckung, das Abstandhalten und Isolieren, die behördlichen Anweisungen, die Geschäftemacher usw.

Typisch „deutsch“:

Hermann Hesse schrieb dieses Buch 1927-1929, also noch vor der Zeit des Nationalsozialismus: „Ich habe mit diesem Buch der Idee von Deutsch­land und deutschem Wesen, die ich seit der Kindheit in mir hatte, einmal Ausdruck gegeben und ihr meine Liebe gestanden – gerade weil ich alles, was heute spezi­fisch ‚deutsch‘ ist, so sehr hasse.“ – Was könnte Hesse damit gemeint haben?

Viele denken an die im Roman geschilderte Verbrennung von Juden als Sündenböcken für die Pest. Narziss sagt, er würde eine Judenverbrennung zwar niemals anordnen, aber es könnte sein, dass er sie geschehen ließe, wenn er sie nicht verhindern könne, denn: „Die Welt ist nicht anders“. – Das mag vielleicht ein Aspekt des typisch Deutschen sein, den Hesse vielleicht auch meinte, aber Hesse schrieb dieses Buch vor der Zeit des Nationalsozialismus, und Judenpogrome waren und sind alles andere als typisch „deutsch“. Die Antwort des Narziss ist außerdem gar nicht so unvernünftig: Nicht mittun ist schon ziemlich viel getan. – Es könnte auch die Rationalität und Gelehrsamkeit des Narziss gemeint sein. Aber dieser kann es nicht allein sein, weil er ebenbürtiger Gegenspieler zu Goldmund ist, und weder Rationalität noch Gelehrsamkeit sind typisch „deutsch“. – Es könnten mit „deutsch“ auch die sesshaften Spießer gemeint sein, gegen die Goldmund als Vagabund polemisiert. Aber das ist nur ein Randthema.

Nein, es ist etwas ganz anderes, was die Menschen von heute nicht sehen, weil sie durch Bildungsmangel und Zeitgeist blind dafür geworden sind. Der Elephant im Raum ist natürlich die zentrale Figur des Goldmund, wie er mit größter Unbekümmertheit und Naivität durch das ganze deutsche Reich wandert, dabei Jung-Siegfriedhaft immer ein Kind bleibt, wie er sich gerne in Raufereien verwickelt und manchmal jemanden totschlägt, wie er die Jüdin Rebecca, die gerade ihre Familie auf dem Scheiterhaufen verloren hat, dämlich dazu auffordert, ihr Leben doch in sinnlicher Lust zu genießen, der sich nicht einmal ansatzweise (!) aufs Denken versteht, und der schließlich dem Todessog der großen Mutter verfällt. Dies ist die große Kritik am deutschen Volk, die Hermann Hesse hier gestaltet hat. Diese Figur ist es, die Hermann Hesse zugleich liebt und hasst. Also gerade das, was manche als positive Lebenslehre aus diesem Roman mitnehmen wollen, ist in Wahrheit die zentrale Kritik des typisch „Deutschen“.

Ein Vergleich zu Thomas Manns „Zauberberg“ von 1924 drängt sich auf: Auch hier meinen heute viele irrigerweise, der politisch Radikale Naphta wäre die große Warnung vor dem, was kommt. Doch in Wahrheit ist es der freundliche Herr Peeperkorn, der alle für sich vereinnahmt und nur inhaltsleere Gespräche führt, vor dem Thomas Mann vor allem warnen will. Auch dieses Buch wird in ganz ähnlicher Weise missverstanden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. August 2020.

« Ältere Beiträge