Schlagwort: Machtstrukturen

Andreas Eschbach: Die Haarteppichknüpfer (1995)

Religion, Tradition, Macht, Lüge und Sinn im Leben der Menschen

Der Roman „Die Haarteppichknüpfer“ ist eine zunächst lose erscheinende Aneinanderreihung von Einzelepisoden aus der Welt der Haarteppichknüpfer. Diese leben in einer vergessenen Region des Universums und führen ein mittelalterliches Leben mit einem strengen Patriarchat. Dazu gehört auch ein religiöser Kaiserkult, der jeden Ketzer tötet, und vor allem ein lebenslanges Knüpfen von Teppichen aus Menschenhaaren, die über fahrende Händler in Raumhafenstädte gelangen, von wo sie an einen unbekannten Ort im Universum verschifft werden.

Jeweils am Ende der ersten Episoden kommen die Protagonisten überraschend und rücksichtslos zu Tode (ähnlich wie in Game of Thrones), so dass zunächst keine durchgängige Geschichte erzählt zu werden scheint, doch allmählich fügt sich doch eine zusammenhängende Erzählung über die rauhe Welt der Haarteppichknüpfer zusammen. Schließlich wird die Geschichte auch im Wechsel mit Episoden aus der Sicht der Rebellen erzählt, die mittlerweile den Kaiser gestürzt haben und das Geheimnis der Haarteppiche zu ergründen versuchen.

Der Roman schlägt mehrere große Themen an: Zunächst der Missbrauch von Religion und Tradition zur Unterjochung von Menschen in einem ganz klassischen Sinne. – Dann aber auch in der Person des Kaisers das Thema der Sinnlosigkeit eines materiell vollendeten Daseins Der Kaiser hat buchstäblich alles erreicht: Er ist unermesslich reich, unermesslich mächtig, und durch medizinischen Fortschritt auch unsterblich. Er kann alles und hat alles. Alles dreht sich um ihn, und das Universum in seiner Unendlichkeit ist seine Spielwiese, um seine Macht auszuprobieren. Doch der Kaiser muss erkennen, dass all das nur ganz eitel und ohne Sinn ist, und so zettelt er selbst eine Rebellion an, um sich stürzen zu lassen und dabei den Tod zu finden, gewissermaßen als die letzte noch nicht von ihm ausprobierte Spielart seiner Machtausübung sowie als klassischer Suizid aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der Welt.

Nebenthemen sind Liebe, Musik, Bürokratie, Eltern und Kinder, brain in the tank, Gehorsam und Emanzipation, die Versuchung der Macht für die Rebellen, sowie die Unendlichkeit der möglichen Geschichten im Universum. Diese wird angedeutet in den unendlichen Weiten des Universums und des kaiserlichen Reiches, in dem vieltausendjährigen Alter des Kaisers, der zahllose Dinge erlebt haben muss, und schließlich vor allem in der Unermesslichkeit des Archivs im kaiserlichen Palast. Es erinnert an die „Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges.

Kritik

Literarisch geht der Roman nicht völlig auf. Es gibt ein paar Handlungsfäden, die am Ende nicht wieder aufgegriffen und deshalb zu keinem Abschluss gebracht werden, z.B. der geflohene Schüler des Dreiflötenmeisters.

Das schwerste Versäumnis des Romans liegt in der Unterlassung der Problematisierung des Endes des Kaiserkultes und der Tradition der Haarteppichknüpfer. Natürlich handelte es sich dabei um Betrug durch die Macht. Doch es war mehr als das: Es gab der Gesellschaft Ordnung und Sinn. Wenn man die Tradition ersatzlos fortnimmt, gehen Ordnung und Sinn verloren. Diese Sinnlosigkeit führt der Roman selbst anhand der Person des Kaisers eindrücklich vor Augen. Doch der Roman überträgt das Drama des Kaisers nicht auf die Menschen und übergeht diese Problematik völlig. Es werden Rebellen gezeigt, die die Menschen von ihren Irrtümern befreien, und verbohrte Haarteppichknüpfer, die irgendwann einsehen müssen, dass es keinen Sinn mehr hat, Haarteppiche zu knüpfen. Das war’s.

Die Überwindung falscher Traditionen und die Entmachtung der Traditionalisten ist aber bestenfalls die halbe Miete. Die Notwendigkeit der Gewinnung von Ordnung und Sinn durch andere, tunlichst wahre Anschauungen, bleibt völlig undiskutiert. Es bleibt deshalb der Eindruck, dass der Autor selbst an keinen Sinn glaubt. Der Leser bleibt deshalb etwas ratlos wie ein desillusionierter Haarteppichknüpfer zurück: Wie geht es denn nun weiter in diesem Universum? Doch dazu sagt der Roman nichts.

Fazit

Andreas Eschbach hat mit den „Haarteppichknüpfern“ ein faszinierendes Universum voller verblüffender Einfälle erschaffen, das geeignet ist, einige wesentliche Themen des menschlichen Daseins zu reflektieren. Leider ist er dabei zu sehr an der Oberfläche geblieben.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Martin Walser: Ehen in Philippsburg (1957)

Die Verlogenheit der „besseren“ Gesellschaft und wie man ihr verfällt

Philippsburg ist eine Chiffre für Stuttgart, und der Roman spiegelt die Erlebnisse von Martin Walser als junger Rundfunkschaffender in Stuttgart. Später sprach Martin Walser von der demütigenden Erfahrung, wie ihm deutlich wurde, dass er niemals in der Stuttgarter „besseren“ Gesellschaft akzeptiert werden würde. (Er wollte dann vermutlich auch gar nicht mehr akzeptiert werden.)

Der Roman handelt von Hans Beumann, der frisch nach der Vollendung seines Studiums nach Philippsburg kommt und dort als Kommunikationschef für den Industriellen Volkmann zu arbeiten beginnt, der Rundfunk- und Fernsehgeräte produziert. Dazu muss er gegen seine Überzeugung auf eine möglichst populäre – sprich: niveaulose – Programmgestaltung der Rundfunksender hinarbeiten, damit möglichst viele Menschen solche Geräte kaufen. Auch muss er die Firma Volkmann bei denen sympathisch machen, die aufsteigen, und darf nicht zu denen loyal sein, die verlieren. Beumann ist sich bewusst, dass er damit seine Ideale verrät, stimmt aber nach kurzen Bedenken zu.

Auf einer Party (am Anfang des Buches), auf der alle Größen der Philippsburger Gesellschaft anwesend sind, wird mit oberflächlichem Lob und geheuchelten Komplimenten nicht gespart. Hans Beumann lässt sich zum Sex mit Anne, der Tochter seines neuen Chefs, verführen. Daraufhin entwickelt sich ein Abtreibungsdrama mit allem drum und dran, wie man es sich für die damalige Zeit eben so vorstellt, und Beumann macht dabei eine sehr dumme Figur. Das alles wird konterkariert durch Rückblenden zu Beumanns Mutter, die ihren Sohn als uneheliches Kind auf die Welt brachte. Als alles vorbei ist, verlobt sich Beumann mit Anne (Verlobungsparty gegen Ende des Buches).

An der Figur des Dr. Benrath wird das Drama des Liebhabers durchgespielt, der ständig heimlich tun muss, der sich nicht von seiner Geliebten lösen kann, der die Geliebte aber auch nie wird heiraten können. Es folgt der Selbstmord der betrogenen Ehefrau und die gefühlskalte Reaktion des Dr. Benrath, der damit auch den Draht zu seiner Geliebten verliert und die Stadt verlassen muss.

An der Figur des Rechtsanwaltes Dr. Alwin und seiner Ehefrau Ilse wird ein Ehepaar gezeigt, das völlig auf Ehrgeiz und die Beförderung der Karriere des Ehemannes getrimmt ist. Die Beziehung zur Ehefrau ist geschäftsmäßig kühl, nebenbei hat Dr. Alwin eine Geliebte. Dr. Alwin ist ein narzisstischer Egomane, der glaubt, sich alles erlauben zu können, und fühlt sich dabei noch großmütig. Er hält sich für einen fürsorglichen Ehemann, weil er nicht vor anderen prahlt, eine Geliebte zu haben. Als er fahrlässig einen Motorradfahrer totfährt, wälzt er die Schuld auf andere ab und sucht Trost bei seiner Geliebten. Manchmal fragt sich Dr. Alwin, wozu er das alles tut: Für ihn besteht der wahre Sinn des Lebens in Faulenzen und Ficken.

Am Ende des Romans wird Hans Beumann in den Nachtclub Sebastian eingeführt und feierlich aufgenommen, zu dem nur die „bessere“ Gesellschaft Zutritt hat: Hier trifft man alle Männer, die man zuvor im Roman kennengelernt hat, in ausgelassener Runde wieder. Zu jedem Gast gesellt sich sofort ein Mädchen. – Hans Beumann stellt sich einem ungebetenen Gast aus der niederen Gesellschaft entgegen, in dessen Charakter er den Charakter der Spielkameraden seiner Kindheit wiedererkennt. Er schlägt ihn nieder und wird als Held bejubelt. Im Nachtclub Sebastian trifft Hans Beumann auch Marga wieder, seine wahre Liebe. Anfängliche Bedenken, die Dienste von Marga in Anspruch zu nehmen, wischt der frisch mit Anne verlobte Hans Beumann bald beiseite, und so lässt er sich von Marga – als Kunde – ins Bett ziehen. Dass er sie liebt, bringt er nicht mehr über die Lippen, doch ist Hans Beumann wild entschlossen, noch oft bei Marga vorbeizuschauen, parallel zu seiner Ehe mit Anne. Am Ende des Romans ist Beumann überrascht davon, wie leicht ihm die Lügen vor Anne von den Lippen gehen.

Während des Romans wirft Beumann nach und nach seine moralischen Bedenken ab und verrät auch wiederholt seine Herkunft aus einem Provinznest. Der Kontrast zu Beumann ist Herr Klaff, der nicht einmal als Pförtner akzeptiert wird, Suizid begeht, und Beumann seine Aufzeichnungen hinterlässt („Spielzeit auf Probe“). Diese irritieren Beumann ein wenig, können ihn aber nicht auf seinem Weg stoppen, ein Arschloch unter Arschlöchern zu werden.

Die „bessere“ Gesellschaft beschwört immer wieder Familie und Christlichkeit, lebt selbst aber völlig anders: Ein klarer Fall von „rechts reden, links leben“. Der mächtige Chef der Philippsburger Zeitung Büsgen ist sogar schwul und bringt zu Parties wie selbstverständlich „einen seiner Jünglinge“ mit (der Roman erschien 1957). Die Eliten haben auch eine positive Einstellung zum Militär und pflegen Kriegsrhetorik. – Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Rückkehr zum Christentum nach dem verlorenen Krieg in der „besseren“ Gesellschaft nur geheuchelt und der vorherrschende Konservatismus dumpf und dunkel war. Wie Walser später deutlich machte, geht es aber nicht gegen diese oder gegen jene politische Richtung, sondern vielmehr ist die „bessere“ Gesellschaft immer verlogen, egal ob sie konservativ ist oder nicht. Man kann auch dumpf und dunkel links sein, und „links reden, rechts leben“ ist heute der Hit. Walser: Es kommt für diese Leute nicht darauf an, ob sie links oder rechts sind, sondern darauf, dass sie in der ersten Klasse fahren! (aus dem Gedächtnis zitiert)

In etlichen Passagen findet sich bereits jener Topos, der später beherrschend für Walsers Bücher werden wird: Der tatenlose innere geistige Kampf des Ohnmächtigen angesichts eines Mächtigeren.

Es sind etwas zuviele Metaphern im Text.

Eingestreut in den Roman finden sich viele kleine Miniaturen:

  • Die aufdringlich modern sein wollende Mutter Annes.
  • Die grundsätzliche Unmöglichkeit der Annäherung an andere Menschen.
  • Die Hure Johanna in der Straße der armen Leute.
  • Kleinheitserfahrungen des Neulings angesichts der angeblich „besseren“ Gesellschaft.
  • Die Erfahrung der ersten selbstgekauften guten Klamotten.
  • Eine Karikatur auf damalige Rundfunkstudios.
  • Die Erfahrung, dass Komplimente einen auch dann beeinflussen, wenn man weiß, dass sie geheuchelt sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 10. Januar 2022, mit zensierten Kraftworten)