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Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)