Schlagwort: Multikulturalismus

Burckhardt Gorissen: Ich war Freimaurer (2009)

Überraschend interessanter Erfahrungsbericht, aber ungewollte Ironie

Entgegen dem ersten Anschein ist dieses Buch tatsächlich ein sehr interessanter und geradezu exemplarischer Erfahrungsbericht, der dem geistig unabhängigen Leser viel zu bieten hat. Das muss erklärt werden.

Zur Freimaurerei

Während die meisten Bücher die Freimaurerei entweder lehrbuchmäßig („wie aus dem Katechismus“) oder aber verschwörungstheoretisch darstellen, hat dieses Buch etwas ganz anderes und viel besseres zu bieten: Die praktische Erkenntnis, dass auch Freimaurer nur mit Wasser kochen! Bei sehr vielen Anekdoten kann man nur mit dem Kopf nicken und zustimmen: Ja, so läuft es in menschlichen Gemeinschaften nun einmal ab. Man erkennt, dass auch in der Freimaurerei Vereinsmeierei, Spießertum, Gerangel um Pöstchen und Ehrungen, dogmatische Meinungsverschiedenheiten, Intrigen, persönliche Animositäten, usw. usf. den hehren Anspruch von Wahrheit und Weltanschauung völlig und restlos untergraben. Ein hehrer Anspruch übrigens, der umso unkonkreter erscheint, je näher man ihm inhaltlich kommen will. Die Lehre bleibt abstrakt, und entschwindet in Diffusität, je länger man darüber nachdenkt, und je höher man im Grad aufsteigt.

Was man auch in keinem Lehrbuch über Freimaurer geboten bekommt, ist eine Darstellung der Rituale aus erster Hand, wie sie heute wirklich gestaltet sind. Offenbar kennen Freimaurer auch fragwürdige Liturgiereformen und eigenwillige Umsetzungen in die Praxis. Beruhigend auch die Mitteilung, dass die Freimaurer-Logen heute nur noch ein Zerrbild ihrer großen Vergangenheit sind: Während die Logen hoffnungslos überaltern und mit mittelmäßigen Charakteren gefüllt sind, treffen sich die wirklich einflussreichen Persönlichkeiten bei Lions, Rotary oder in völlig namenlosen, echt geheimen Zirkeln.

Völlig sachlich werden auch die theoretischen Selbstwidersprüche der freimaurerischen Lehre erkannt und benannt: Dass die Freimaurerei eben auch ihre Dogmen hat. Dass Menschen verschiedener Weltanschauung sich eben nicht so einfach auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner vereinen lassen (es sei denn, ihre verschiedenen Weltanschauungen sind zur Hülle verkommen). Dass die Freimaurerei zwar keine Weltanschauung sein will, de facto aber doch die wahre Weltanschauung der meisten ihrer Mitglieder ist, während die je eigene Weltanschauung (katholisch, buddhistisch, agnostisch, was immer) zu einer Hülle verkommt, deren Inhalt mit freimaurerischen Ideen gefüllt wird.

Man erfährt auch: Dass Freimaurer gegen ihre „traditionellen“ Gegner sehr intolerant sein können. Dass Freimaurer wegen ihrer oft etwas simpel gestrickten Ideale an manchen historischen Verbrechen beteiligt waren, was aber nicht aufgearbeitet wird. Auch wird der Humbug mit den „Alten Regeln“ aufgespießt, nach denen in der Loge über Politik und Religion nicht geredet werden dürfte: Wozu soll man dann Menschen verschiedener Weltanschauungen zusammen bringen, wenn sie sich dann genau über diese Verschiedenheiten nicht austauschen dürfen? Wo soll da das Verbindende entstehen? Und wenn wirklich nicht über Politik geredet würde, warum haben dann so viele Freimaurer in der Politik mitgemischt? Natürlich wird über Politik und Religion geredet, über was denn sonst …

Sehr treffend kritisiert der Autor einen linksliberalen Multikulti-Zeitgeist, der von den Logen befördert wird: Wenn z.B. der berühmte katholische Dogmatik-Professor Vorgrimler (!) in einer Weise auftritt, wie man es nicht für möglich hält! Es ist so selbstentlarvend … man muss es selbst gelesen haben. Was der Kundige bisher nur ahnte, wird hier in einer banalen Weise offenbar, dass man sich auf die Schenkel klopft. Ähnlich ist es mit dem Auftritt von Hans Küng.

Die ungewollt ironische Wendung

Über all diesen richtigen Erkenntnissen schwenkt der Autor … schrittweise zum katholischen Glauben über! Ausgerechnet! Das ist nicht ohne Ironie: Denn alles, was man der Freimaurerei an Vorwürfen machen kann, trifft auf die katholische Kirche ganz genauso zu. Auch dort gerät die edle Frage nach der Wahrheit unter die Räder des Allzumenschlichen, auch dort Forkelkämpfe ums Dogma und Vereinsmeierei, auch dort Rituale und Lehren, die sich umso mehr in Fragezeichen hüllen, je mehr man theologisch und historisch davon weiß. Die Freimaurer betonen den Verstand, die Christen das Gefühl (Liebe, Trost usw.), und beide sind damit einseitig.

Die katholische Lehre hat gegenüber der Freimaurerei sicher den Vorsprung, dass sie eine größere Tradition und eine größere Stringenz suggerieren kann – aber eben nur suggerieren kann. Und dieser Suggestion, die nicht anders funktioniert als die von ihm selbst so treffend analysierte freimaurerische Suggestion, erliegt der Autor nach und nach: Er verklärt die liebevolle Gemeinschaft in der Kirche und das jugendfrische Erlebnis des Weltjugendtages in Köln, während er gleichzeitig ungerechte Pauschalurteile über Aufklärer und die Geschichte der Aufklärung fällt. Wo er doch selbst wiederum den Freimaurern vorwirft, zu pauschal über die Kirche zu urteilen. Der Autor übersieht völlig, dass die von ihm selbst vorgeführten Herren Vorgrimler und Küng Realitäten der von ihm so gepriesenen katholischen Kirche sind. Auch der Christengott „offenbart“ sich nur im Menschen, und der Mensch ist überall derselbe, vor allem, wenn er sich vergemeinschaftet.

Wenn der Autor diese Übertragungsleistung erbracht hätte: Dass alles, was er bei den Freimaurern erlebt hat, praktisch bei jeder weltanschaulichen Vereinigung anzutreffen sein muss, weil der Mensch nun einmal ein Mensch ist, dann wäre das Buch perfekt gewesen. Andererseits hat man so ein Buch mit einer interessanten Doppelfunktion in der Hand: Zum einen ein exemplarisches Hinterfragen einer Weltanschauungsgemeinschaft, und gleichzeitig eine exemplarische Verblendung über das wahre Wesen einer Weltanschauungsgemeinschaft. Es ist wirklich sehr lehrreich!

Vor einem Vorwurf muss man den Autor in Schutz nehmen: Er ist kein „Hardcore-Katholik“ und er verbreitet auch keine „ultrakonservativen“ Lehren im Stil von Opus Dei oder den Piusbrüdern. Der hier bekundete Glaube ist ganz normales katholisches Christentum. Man muss fair bleiben und den Realitäten ins Auge sehen.

Fazit

Dieses Buch transportiert – ungewollt! – in hervorragender Weise eine klare und wahre Erkenntnis: Die edle Suche nach der Wahrheit, die Pflege der eigenen Weltanschauung, kann niemals in einem Verein geschehen, sondern ist immer ein äußerst individueller Vorgang, der höchstens im Austausch mit Freunden und Büchern funktioniert. Man kann sich wegen eines Hobbies oder zur Durchsetzung von Interessen zu einem Verein zusammenschließen, aber in Sachen Weltanschauung führt dies zwangsläufig immer in die Irre, und nur ein Mangel an Erfahrung, Bildung oder eine Verblendung führen auf diesen Weg.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. August 2012)

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.