Schlagwort: Nihilismus

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen (2013)

Teils urkomisch, teils nachdenklich machend, teils zu derb

Yasmina Reza gestaltet in diesem „Roman“ genannten Buch eine Reihe von kurzen Episoden aus dem alltäglichen Beziehungs- und Alltagsleben einiger Franzosen, wobei jedes Kapitel aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben ist, so dass sich die verschiedenen Perspektiven und Episoden gegenseitig ergänzen und verweben, bis zu einem gewissen Finale am Schluss, wo alle zu einem Begräbnis zusammen kommen.

Teilweise sind diese Episoden urkomisch, kommen einem nur zu bekannt vor, und sind von einer herzlichen Skurrilität. Teilweise sind es traurige Begebenheiten, die nachdenklich machen: Krankheit, Verlust, Tod.

Leider sind die gezeigten Beziehungen zu einem guten Teil solche, in denen es eher recht derb, lieb- und geistlos zugeht, in denen z.B. „clever“ betrogen wird (Subtext: Wer treu bleibt ist ein Idiot), und in denen sich die Frauen dem übelsten Macho spontan hingeben. Solches mag es zwar in der Tat zuhauf geben in der Welt (vgl. Ortega y Gasset), aber was bitteschön soll daran interessant und was komisch sein? Interessant ist das andere: Beziehungen, die auf weniger derbe Art ihre Probleme haben und diese auch lösen, und die z.B. einen klaren Schnitt machen, wenn es nicht funktioniert, statt ein Leben lang Psychospiele zu spielen. Solche sind leider nur wenige dabei. Das verringert das Identifikationspotential des geistvollen Lesers doch ein wenig.

Etwas irritierend auch die Eingangsformel von Jorge Luis Borges: „Glücklich die …. die auf Liebe verzichten können.“ Das ist schon ein zur Weltanschauung gemachter Pessimismus. Und das als Eingangsformel?! Denn im Sinne des Schlusses von Goethes Faust II wird man wohl sagen dürfen, dass es ganz ohne Liebe nicht geht, und sei es nur die Liebe „von oben“.

Insofern sich in diesem Buch eine nihilistische Schickeria nicht nur bespiegelt, sondern in ihrem Versagen gewissermaßen auch selbst feiert, könnte es sogar ein schlechtes Buch sein, ein moralisch schlechtes Buch. Wir geben vorsichtig 3 von 5 Punkten.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. August 2018)

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951) – Teil 1 der Trilogie des Scheiterns

Stilistische Sprachspiele im Geist der frühesten BRD

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ist eine sich ständig abwechselnde Aneinanderreihung von kleinen Fortsetzungsepisoden aus dem Alltag der Menschen um 1950 in München, die sich innerhalb eines Tages von morgens bis abends ereignen und sich zunehmend miteinander verweben, bis die Verwicklungen einem Höhepunkt zustreben.

Gefolgt wird u.a. dem Tageslauf eines alten Amtmannes, der einen schwarzen amerikanischen Besatzungssoldat begleitet, der wiederum von einer Deutschen ein Kind erwartet, die wiederum abtreiben lassen möchte, deren Mutter wiederum Schande in der Verbindung mit einem Schwarzen sieht; eine Kommerzienratstochter, die mehrere Häuser besitzt, die in der damaligen Zeit aber niemand kaufen will, weshalb sie ihren Hausrat und Schmuck zu Pfandleihern tragen muss; Ihren Freund, einen inspirationslosen Schriftsteller; ein ratloser Psychiater; ein bekannter Schriftsteller und eine Gruppe amerikanischer Lehrerinnen auf Deutschland-Tournee; Straßenkinder; Huren; ein Kapellmeister; ein frömmelndes Dienstmädchen; ein übertrieben träumendes Dienstmädchen; und allerlei andere Leute.

Die Episoden sind sprachlich verschränkt, was in der einen Episode ein sinnvolles Wort war, ist in der angeschlossenen Episode ein absurder Kontrast dazu. Eingestreut werden immer wieder Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen, die ebenfalls das Geschehen absurd kontrastieren. Koeppen spielt mit der Sprache, fast wie Arno Schmidt, aber nicht so extrem, aber mehr noch und absurder als Thomas Mann. Absurde Assoziationen lassen auch absurde und verdrängte Erinnerungen an die Vergangenheit 1914-1945 aufkommen.

Man sagt, wer die Atmosphäre in der damaligen BRD kennenlernen möchte, sollte diesen Roman lesen. Das stimmt wohl, auch wenn es nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist.

Weltanschaulich und moralisch vertritt das Werk die These, dass die Menschen und ihr Leben und Streben wie „Tauben im Gras“ erscheinen, ein bekanntes Zitat von Gertrude Stein: Zufällig und sinnlos. Auch das passt zur damaligen Atmosphäre. Die Menschen und die Gesellschaft haben kein Ziel und vegetieren vor sich hin. Der bekannte Schriftsteller, der in einem Vortrag die Kultur des Abendlandes beschwört, wird von niemandem verstanden.

Insofern dies eine Zustandsbeschreibung ist, ist es sehr treffend. Und das ist die Stärke des Romans. Insofern der Roman aber keine Perspektive bietet, und mögliche Perspektiven sogar ablehnt, ist der Roman ein Werk des Nihilismus, und damit abzulehnen. Die Sinnvernichtung und Sinnzerstörung, die sich lange vorbereitend 1945 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wird durch diesen Roman leider bestätigt, statt dem etwas entgegen zu setzen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2018)

PS 07.10.2023

Im März 2023 entbrannte eine absurde Debatte um den Umstand, dass der Roman wiederholt das Wort „Neger“ verwendet. Das Wort „Neger“ war ein völlig wertungsfreies Wort der deutschen Sprache. Es war allgemein im Gebrauch, auch und gerade bei Gegnern des Rassismus. Erst etwa in den 1980er Jahren begann man damit, bewusst auf dieses Wort zu verzichten, weil es lautlich ähnlich wie das amerikanische N-Wort klingt. Man wollte also Missverständnisse vermeiden. Man verzichtete aber nicht deshalb auf das Wort, weil das Wort selbst abwertend gewesen wäre. Die englische Entsprechung zu „Neger“ ist auch nicht das N-Wort, sondern das Wort „negro“. Laut Wikipedia 2023 ist auch das Wort „negro“ an sich wertungsfrei.

Das Wort „Neger“ kommt im Roman in neutralen, in abwertenden und in positiven Kontexten vor. Man mache die Probe, und ersetze das Wort „Neger“ in abwertenden Aussagen durch das heute gebräuchliche „Schwarzer“, und man wird sehen, dass der abwertende Ton unverändert erhalten bleibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch das Wort „Schwarzer“ in den entsprechenden Kontexten von den Romanfiguren gehässig hervorgestoßen wird. Es ist nicht das Wort „Neger“, das den abwertenden Effekt erzeugt.

Leider haben gewisse Kreise seit den 1980er Jahren ganze Arbeit in Sachen Desinformation geleistet. Sie haben die Unwahrheit verbreitet, dass das Wort „Neger“ ein abwertendes Wort gewesen wäre. Sie vermeiden außerdem konsequent, das Wort explizit auszusprechen, und sprechen statt dessen ständig vom „N-Wort“. Damit vermischen und verwirren sie aber das neutrale deutsche Wort „Neger“ mit dem amerikanischen N-Wort, das schon immer eindeutig abwertend gemeint war. Solche verwirrten Meinungen sind heute im real existierenden Wissenschaftsbetrieb vorherrschend.

Auf diese Desinformation ist im März 2023 offenbar eine Ulmer Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund hereingefallen. Sie glaubte tatsächlich, dass das Wort „Neger“ abwertend gemeint sei. Die „Urdeutschen“ wissen alle, dass das nicht der Fall ist, denn sie oder ihre Eltern haben das Wort bis in die 1980er Jahre völlig wertfrei benutzt. Aber die Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund konnte das nicht wissen, weil sie und ihre Eltern in den 1980ern noch nicht in Deutschland lebten. (Oder sie verdrängte die Wahrheit, denn sie ist zugleich eine politische Aktivistin der bekanntlich recht einseitig ausgerichteten „Black Lives Matter“-Bewegung.) Also unterstellte sie dem Autor Wolfgang Koeppen und überhaupt der deutschen Gesellschaft insgesamt Rassismus. Sie mag es gut gemeint haben, aber sie hat natürlich vollkommen Unrecht.

Wir, die wir das Wort selbst noch wertfrei und deshalb völlig ohne Bedenken gebrauchten, kennen die Wahrheit aus eigenem Erleben. Aber man kann es auch belegen: Denn wenn man tatsächlich den Maßstab anlegen würde, dass das Wort „Neger“ wie das amerikanische N-Wort ein rassistisches Wort war, dann wären auch die edelsten Geister der letzten Jahrhunderte allesamt üble Rassisten gewesen, denn das Wort findet sich querbeet in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Insbesondere auch erklärte Gegner des Rassismus gebrauchten natürlich das Wort „Neger“, um jene Menschen zu bezeichnen, die sie in Schutz nahmen.

Es macht Sinn, das Wort „Neger“ heute nicht mehr zu verwenden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber im nachhinein sämtliche historischen Verwendungen des Wortes für rassistisch zu erklären, ist einfach nur falsch.

PS 25.01.2024

Weil es schon länger her ist, dass ich das Buch gelesen hatte, und weil die öffentliche Debatte unter dem „N-Wort“ derzeit unterschiedslos sowohl das N-Wort als auch das Wort „Neger“ subsumiert, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Roman neben dem Wort „Neger“ an einigen Stellen tatsächlich auch das N-Wort enthält. Aber auch das ist völlig in Ordnung, weil der Roman an diesen Stellen ganz offensichtlich rassistische Sprache wiedergeben will, wie sie nun einmal ist.

An dem Umstand, dass ich irrigerweise dachte, die Debatte ginge ausschließlich um das Wort „Neger“, kann man erkennen, zu welchen unnützen Verwirrungen diese Sprechverbote führen. Abgesehen davon, dass sie einfach nur überflüssig sind und dazu führen, dass man gar nicht mehr weiß, worüber man eigentlich spricht, sind diese Sprechverbote auch noch kontraproduktiv: Denn durch das Sprechverbot erschafft man erst eine „Beleidigung“ für Schwarze, die es vorher nicht gab. Plötzlich gilt bereits die bloße Nennung des Wortes als Beleidigung, selbst wo der Kontext völlig klar macht, dass es nicht als Beleidigung gemeint ist.

Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten – Was die Postmoderne hätte sein können (2022)

Zauberlehrling Zorn versucht die Postmoderne zu retten und enttäuscht – Eine kritische Rezension

In den Jahren 1983/1984 hielt Jürgen Habermas zwölf Vorlesungen, die unter dem Titel „Der philosophische Diskurs der Moderne“ bekannt wurden. Das zentrale Thema war gewissermaßen die „Erledigung“ der Philosophie der Postmoderne, die vor allem durch vier französische Denker markiert wurde: Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard. Seit damals ist das Bild der Postmoderne äußerst negativ besetzt mit Schlagworten wie Relativismus, Irrationalismus, Antihumanismus und Nihilismus.

Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn möchte mit diesem Buch das schier Unmögliche versuchen, nämlich zeigen, dass es sich um ein Fehlurteil handelt. Der Versuch, eine seit langem etablierte Meinung zu revidieren, noch dazu gegen eine Autorität wie Habermas, nötigt Respekt ab. Der Rezensent kennt eine solche Situation aus eigener Erfahrung durch sein Bemühen, die sogenannten Platonischen Mythen aus der über 150 Jahre alten Verständnisfalle herauszuholen, dass es sich um frei erfundene Kunstmythen handele (statt um platonische Erkenntnisgewebe von Elementen verschiedener Perspektive und verschiedener Grade von Wahrscheinlichkeit). Zudem ist Zorn ein schier unglaublich belesener Autor: Auch das nötigt Respekt ab. Es ist nicht möglich, Zorn zu lesen, ohne dabei manche interessante Anregung mitzunehmen.

Leider konfrontiert Zorn die Leser seines Buches mit einer langen Reihe von Enttäuschungen. Einige davon wurden gewiss mit voller Absicht begangen, ganz im Sinne einer postmodernen, inkommensurablen Intervention (vgl. im Buch S. 558). Zugleich macht dieses Buch den Kritikern ihre Enttäuschung zum Vorwurf (S. 543): Das ist frech. Aber so ist die Postmoderne nun einmal. Zorn scheitert, aber am Ende kann der Leser dennoch einigen Gewinn aus dem Buch ziehen.

Enttäuschung Nr. 1

Das Buch beginnt einladend mit der Jugendzeit der bekannten französischen postmodernen Denker. Doch bald kommt das Buch von ihnen ab und es folgt die Besprechung einer schier endlos langen Reihe von Denkern, die nicht zur „französischen“ Postmoderne gehören: Cusanus, Hume, Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, immer wieder Nietzsche, die US-Pragmatiker, die Logischen Empiristen, Wittgenstein, Max Scheler, Husserl, Cassirer, Heidegger, immer wieder Heidegger, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck, Tillich, Adorno, Joachim Ritter, Heinz von Foerster, Margaret Mead, Humberto Maturana, Gregory Bateson u.a. Wer etwas zu den französischen Denkern erfahren wollte, sieht über viele hundert Seiten kein Licht am Ende des Tunnels. Schließlich werden diese Denker erstaunlich knapp abgehandelt, auf insgesamt vielleicht 15% des Seitenumfangs. Der Autor möchte natürlich – ganz postmodern – „Genealogie“ und „Struktur“ der Postmoderne offenlegen, doch das enttäuscht nun einmal die Erwartungshaltung, die das Buch erweckt hat. Wer flexibel ist, wird darüber hinwegkommen und sich auf das Konzept des Autors einlassen.

Enttäuschung Nr. 2

Das Buch „Die Krise des Absoluten“ erscheint als populärwissenschaftliches Buch. Das ist leicht erkennbar an der äußeren Aufmachung, an den launigen Kapitelüberschriften, am erzählerischen Stil, der fortlaufend biographische Anekdoten einflicht und auch manches für philosophische Laien zu erklären versucht, an der Verbannung der Fußnoten ans Ende des Buches, an den fehlenden Literatur- und Autorenverzeichnissen, und nicht zuletzt am Marketing. Der Autor selbst hat Interviews zu seinem Buch auf Plattformen gegeben, die ein breiteres Publikum ansprechen (z.B. taz talk, Thilo Jung, ZDF blaues sofa). – Doch dieses Buch ist kein populärwissenschaftliches Buch. Es arbeitet ein sehr dichtes Programm an Inhalten ab, führt an die Abgründe möglichen Denkens, und nicht selten verfällt der Autor in Fachjargon. Vorkenntnisse sind für das Verständnis äußerst hilfreich. Der Fußnotenapparat am Ende umfasst 60 Seiten. Der durchschnittlich interessierte Leser dürfte dieses Buch schon nach den ersten 150 Seiten aufgeben. Der Rezensent ist drangeblieben.

Enttäuschung Nr. 3

Das Buch ist leider vielfach unverständlich. Zu viel wird vorausgesetzt. Zu viel wird knapp oder im Fachjargon abgehandelt. Zu viel bleibt ungesagt. Die launig gewählten Überschriften (z.B. „Traumzeit“, „Kambrische Explosion“ oder „Super-GAU“) geben leider überhaupt keine Hilfestellung. Zudem leidet das Buch an zu vielen erzählerischen Vor- und Rückblenden. Manchmal ist der Stoff ungünstig in Kapitel geschnitten. Mancher Cliffhanger am Ende eines Kapitels überfordert: Der Leser fragt sich, warum er es nicht versteht; manchmal kommt die Auflösung in einem späteren Kapitel. Manchmal auch gar nicht.

Immer wieder führt der Autor den Leser gezielt aufs Glatteis: Er lässt ihn das eine denken, nur um nach einigen Seiten aufzulösen: Nein, gemeint war ein anderes. So z.B. im Kapitel „Der Herr der Gegensätze“ zu den Davoser Disputen (S. 152). Der Leser denkt erst, es geht um Cassirer und Heidegger, doch nein: Es geht um Tillich und Przywara. Die Fußnoten beginnen ihre Nummerierung mit jedem Kapitel neu: Nachschlagen wird zur Qual. Hinzu kommt, dass man an vielen Stellen des Buches nicht so recht weiß, ob Zorn nun als Autor spricht, oder ob er lediglich einen Autor der Postmoderne referiert. Die Übergänge sind offenbar bewusst fließend gestaltet worden.

Wirft man hingegen einen Blick in Zorns wissenschaftliches Buch „Vom Gebäude zum Gerüst“, wird man positiv überrascht: Dort wird alles ausführlich erklärt, dort sind die Überschriften hilfreich, dort sind die Fußnoten tatsächlich am Fuß derselben Seite, und dort gibt es auch ein Literatur- und Autorenverzeichnis. Die Unverständlichkeit der „Krise des Absoluten“ ist kein Zufall, kein bloßes Versagen z.B. des Verlages (aber das auch).

Enttäuschung Nr. 4

Auch „das Absolute“, das dem Buch den Titel gegeben hat, ist eine Enttäuschung. Zunächst beginnt es noch harmlos und vielversprechend: Mit dem „Absoluten“ ist zu Beginn die Voraussetzung des Denkens gemeint, die dem Denken einerseits vorausgeht, andererseits vom Denken gedacht werden muss, um sie zu erfassen. Ein reflexives Erkenntnisproblem, ein Kernproblem der Philosophie. Doch das Absolute bleibt schillernd. Eine Definition, auf die sich dieses Buch stützen würde, wird nicht wirklich gegeben. Vielmehr kommen auf den nächsten zweihundert Seiten viele weitere Auffassungen des Absoluten hinzu, die sich keineswegs ineinander überführen lassen, doch alle werden kurzerhand als „das Absolute“ angesprochen. So z.B. Gott als das Absolute, oder auch absolute politische Geltungsansprüche. Diese Dinge sind nicht wirklich dasselbe. Man kann zwar argumentieren, dass diese Dinge miteinander zusammenhängen, aber sie sind dennoch verschiedene Dinge, und aus dem einen folgt zumindest nicht zwingend das andere. Schwerwiegende Denkfallen lauern überall hinter diesen Gleichsetzungen. Ist das Schwärmerei? Der Leser wundert sich und ist verwirrt.

Erst auf S. 235 kommt eine teilweise Auflösung: Erst jetzt macht das Buch explizit, was der Leser über 200 Seiten hinweg in schweigender Duldsamkeit erfahren hat: Es gibt drei verschiedene „Momente“ des Absoluten, liest man da. Aber sogleich wird ein Schema von vier verschiedenen Absolutheiten nachgeschoben (S. 246). Wenn man genau mitgezählt hätte, wären es sicher noch mehr. Und auch im folgenden kommen viele weitere hinzu. Und alles wird „das Absolute“ genannt. Warum, wird nicht erklärt. Da schwurbelt das Buch: Es wird in oberflächlichen Analogien geschwärmt. Ob der Autor das wirklich alles erklären könnte? Wir vermuten zudem, dass das Buch sich im Wesentlichen auf den Begriff des Absoluten bei Hegel stützt. Doch wir wissen es nicht. Es bleibt ungesagt.

Im weiteren Verlauf des Buches verflacht der Begriff des „Absoluten“ zu einem eher politischen und gesellschaftlichen Begriff. Anders, als der Leser erwartet hatte, geht es jetzt nicht mehr um einen Kernbereich der Philosophie, sondern eher um politische Philosophie. Vermutlich würde der Autor es anders sehen wollen. Doch so stellt es sich dem Leser dar. Jetzt bekommen wir eine Darstellung der gesamten Geschichte seit Platon präsentiert, in der es immer wieder um die Krise des Absoluten ging. Wir lesen davon, dass auch der Absolutismus in Frankreich das Absolute war, und dass auch die Vordenker der französischen Revolution über das Absolute nachdachten. Und jetzt ist z.B. auch der Vorgang der Industrialisierung eine Krise des Absoluten. Zuletzt wird auch die physikalische Energie von Dampfmaschine und Elektromotor als „das Absolute“ angesprochen (S. 300), zuguterletzt auch der Goldstandard des Dollars (S. 514). Im Grunde gerät nun die ganze Geschichte der Menschheit zu einer einzigen Dauerkrise des Absoluten. Und damit hat sich das Versprechen des Buchtitels von der Krise des Absoluten in philosophisches Kleingeld verwandelt. Das Absolute und seine Krise, das sind keine seltenen und unbekannten Dinge, die es durch dieses Buch neu zu erfahren gilt, sondern das ist gewissermaßen die altbekannte, stets krisenhafte conditio humana zu allen Zeiten. An dieser Stelle fragt sich der Leser: Und dafür dieses Buch?

In diesen Zusammenhang gehört auch die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass das Absolute und die Vielfalt korrespondieren. Auch diese Beziehung wird eher schwärmerisch in assoziativen Analogien beschworen als erklärt (z.B. die vielen Währungen und der eine Goldstandard, S. 514 f.), und der Leser hat den Eindruck, dass hier Äpfel mit Birnen verwechselt werden: Mal zeigt sich das Absolute in der Vielfalt, man kann es nur in der Vielfalt erfassen (reflexive Denkvoraussetzung) – mal stehen sich Vielfalt und das Absolute antagonistisch gegenüber (Absolutheit des Geltungsanspruchs gegen die Vielfalt). Jedenfalls spricht der Autor in einer Weise von der Gefahr des Absoluten und von der Vielfalt in der Gesellschaft, dass ein Bezug zu philosophisch „flachen“ Themen wie Multikulti und Diversity nicht übersehen werden kann. Der Leser ist skeptisch, ob der Bogen von einem Kernproblem der Philosophie wirklich zu diesen Dingen geschlagen werden kann, und ob das überhaupt noch Philosophie ist oder nicht vielmehr politische Weltanschauung und Agitation. Doch weiter.

Enttäuschung Nr. 5

Chronologisch wird der Leser von dieser Enttäuschung schon früher ereilt, doch die ganze Tragweite erschließt sich erst mit der Zeit: Der Autor übernimmt keine Verantwortung für sein Buch, sondern lässt alles in der Schwebe, wie es sich für die Postmoderne gehört.

Zu Anfang wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die vorgelegte Darstellung der Postmoderne lediglich aufzeigt, „was die Postmoderne hätte sein können“ (S. 47 f.), aber – so folgt zwingend, auch wenn es in dieser Form ungesagt bleibt – vielleicht war die Postmoderne auch etwas ganz anderes. Das ist starker Tobak. Es ist in Ordnung, wenn ein Autor seinen Text einen „Essay“ nennt, also einen „Versuch“, sich einem Thema zu nähern. Wir alle wissen, dass man sich der Wahrheit nur annähern kann, und wir alle versuchen dies, so gut wir eben können, und scheitern doch immer irgendwo. Aber was hier als Anspruch formuliert wurde, ist das Gegenteil eines Anspruchs: Wenn es doch nicht so war, dann war es halt eben anders: Pech gehabt! Diese unphilosophische Frechheit ist natürlich ein Markenzeichen der Postmoderne (Vgl. z.B. S. 350, 562 ff.).

Zugleich wird damit auch die Erwartungshaltung enttäuscht, die der Untertitel „Was die Postmoderne hätte sein können“ beim Leser aufgebaut hatte: Der Leser dachte natürlich, dass die Postmoderne etwas Wichtiges und Richtiges „hätte sein können“, aber dann vom Weg abkam, und dass dieses Buch dieses Wichtige und Richtige, das „hätte sein können“, aufzeigt und damit Ansätze und Anteile der historischen Postmoderne für die Gegenwart rettet. Aber nein, die Postmoderne wird nicht differenziert und gereinigt sondern pauschal betrachtet, und es geht nur darum, dass die Postmoderne so „hätte sein können“, wie beschrieben, was immer einschließt, dass sie vielleicht auch anders war.

Enttäuschung Nr. 6

In diesem Buch ist die Postmoderne eine durch und durch richtige und gute Sache. Sie erscheint (!) völlig rational und geradezu septisch rein von allen bösen Dingen, die wir gemeinhin mit der Postmoderne assoziieren. So ist z.B. von einer Philosophie die Rede, „die nichts mit ‚postmoderner‘ Beliebigkeit, mit bloßer Ästhetik oder wahrheitsfeindlichem Relativismus zu tun hat.“ (S. 431) In der Rezeptionsgeschichte der Postmoderne sind dann alle Kritiker der Postmoderne durch die Bank unfair und polemisch (S. 528-549). Diese allzu reine Reinheit der überguten Postmoderne und diese allzu böse Bosheit ihrer Kritiker ist vollkommen unglaubwürdig und man fragt sich, ob der Autor nicht bemerkt hat, dass er sich damit ins eigene Knie schießt?

Hier wird sogar Nietzsches Übermensch zu einem weichgespülten Multikulti-Übermenschen, der gelassen und sogar zustimmend dabei zusieht, wie seine eigenen Interessen in dem großen Gezerre der Interessen von den vielfältigen Anderen ignoriert und zertrampelt werden (S. 331). Hat man sich aber den Übermenschen nicht eher so vorzustellen, dass vor allem er es ist, der in dem Gezerre der Interessen die vielen anderen über den Tisch zieht, und ihnen seinen Willen aufnötigt? Und wo ist denn Nietzsches Idee von der Züchtung einer Herrenkaste und der Eliminierung der Entarteten? Wie auch immer: Der Autor hat in diesem Buch völlig vergessen zu erwähnen, dass Nietzsches Werk dermaßen „literarisch“ ist, dass es eben keine einigermaßen einheitliche Deutung von Nietzsche gibt. Wir sehen hier Zorns Nietzsche. Aber nicht Nietzsche. Nietzsche ist schon lange tot.

An einer Stelle heißt es beiläufig: „Nur wenn man davon ausgeht, dass es nur die eine Wahrheit geben kann, wird die Pluralität der Philosophie zu einem unlösbaren Problem.“ (S. 397) Dass damit die Einheit der Wahrheit aufgegeben wird, der wir alle gemeinsam nachstreben und um die wir alle gemeinsam ringen, bleibt ungesagt. Die Konsequenzen dieser beiläufig referierten postmodernen These, dass es die eine gemeinsame Wahrheit nicht geben würde, sind absolut dramatisch und dramatisch absolut – und bleiben hier völlig unbesprochen! Honi soit qui mal y pense?

Um die Akzeptabilität der Postmoderne zu untermauern, werden zahlreiche Autoren an die Postmoderne „rangepflanscht“, die wir keinesfalls zur Postmoderne zählen wollen. Darunter Joachim Ritter und seine Schule oder Theodor W. Adorno.

Andere Autoren mit starkem Bezug zum Thema fehlen, und es ist völlig unverständlich. So z.B. Hannah Arendt, die immerhin als wichtige Denkerin zum Totalitarismus gilt und damit eine Hauptautorin zum „Absoluten“ ist! Noch dazu hatte sie bei Heidegger studiert. Auch Zorn selbst verwendet das Wort „totalitär“ immer wieder zur Beschreibung des Absoluten (z.B. S. 120, 125, 216, 332), doch Hannah Arendt kommt nicht vor. Ob die Idee des Antitotalitarismus nicht in das Konzept des Autors passte? Karl Jaspers, ein berühmter Existenzphilosoph im Umfeld von Heidegger und Hannah Arendt, wird nur einmal erwähnt, aber nicht als Philosoph, sondern als „Psychiater“ (S. 88). Auch die Phänomenologin Edith Stein fehlt, immerhin Assistentin Husserls und in dieser Rolle direkte Vorgängerin Heideggers, die sich Gott zuwandte und in Auschwitz ermordet wurde: Mehr Krise des Absoluten geht gar nicht. Aber sie fehlt. Blankes Schweigen herrscht über den „Prager Frühling“ 1968. Wer von Paris 1968 spricht, darf von Prag 1968 nicht schweigen. Zudem hätte sich eine Erwähnung besonders angeboten, denn mit Jan Patocka spielte ein Phänomenologe eine wichtige Rolle. Patocka war auch der geistige Ziehvater von Vaclav Havel, der 1989 eine erfolgreiche bürgerliche Revolution anführte. Aber Schweigen.

Enttäuschung Nr. 7

Wenn der Leser gegen Ende des Buches auf Zorns vernichtende Kritik an Habermas und anderen Kritikern der Postmoderne stößt, ist er geradezu daraufhin konditioniert, um nicht zu sagen: manipuliert worden, diese Kritiker nicht verstehen zu können. Der unkritische Leser wird deren Kritik für genauso unfair und polemisch halten, wie das Buch sie darstellt.

Dieses Gefühl, manipuliert worden zu sein, gefällt überhaupt nicht. Überdies fühlt sich der Leser hilflos. Denn obwohl man sich gerade durch ein sehr dickes und schwieriges Buch zur Postmoderne hindurchgequält hat, fühlt man sich nicht hinreichend und auch nicht verlässlich informiert, um eine eigene Abschätzung abgeben zu können, ob und inwieweit die Kritiker irren. Man traut der Sache nicht, kann ihr gar nicht trauen. – Und über allem schwebt das Diktum, dass dieses Buch ja nur sagen will, was die Postmoderne vielleicht hätte sein können, vielleicht aber dann doch nicht war.

Enttäuschung Nr. 8

Was dieses Buch hätte leisten müssen, wäre ein großes Aussortieren, Reinigen und – wo möglich – teilweises Erneuern der Postmoderne gewesen: Aus den rauchenden Trümmern der Postmoderne mit all ihren Fehlern und Maßlosigkeiten hätte herausgearbeitet werden müssen, was aus dem Schutt gerettet werden kann und Bestand hat. Doch von dieser notwendigen Kritik fehlt in diesem Buch jede Spur. Der Leser ist ja durchaus bereit, sich auf vieles einzulassen. Es ist offensichtlich, dass nicht alles schlecht war an der Postmoderne. Aber ohne dieses Sortieren geht es nicht. Denn so sicher, wie die Postmoderne manchen wertvollen Gedanken formulierte, so sicher schoss sie auch über das Ziel hinaus.

Wir würden z.B. gerne davon hören, warum Foucault Freiheit im Traum zu finden glaubte (S. 93 f.). Der Leser findet bei eigener Introspektion nämlich, dass Träume zwar sehr phantasievoll sein können, frei jedoch fühlt man sich in ihnen keinesfalls. Es wäre auch interessant herauszufinden, ob das Ereignis, das dieses Buch mit den Worten „Foucaults Hass kennt keine Grenzen“ beschreibt (S. 344), völlig unverbunden zu Foucaults Denken sein konnte? Wir verstehen die Motivation Foucaults sehr gut, aber Hass? „Grenzenloser“ Hass?! Nein. Wir würden auch gerne wissen, warum Foucault die mörderische Tyrannei von Khomeini im Iran verharmloste, und ob das nicht doch sehr viel mit seinem Denken zu tun hatte. Von seinem teils fragwürdigen Sexualverhalten, das Foucault teilweise selbst mit seinem Denken in Verbindung brachte, mal ganz abgesehen. Doch davon kein Wort in diesem Buch.

Es ist zu fragen, warum die Zielrichtung der Kritik der Postmoderne immer fundamental gegen die bestehende Ordnung gerichtet war, gegen „das System“, wie dieses Buch sehr gut herausarbeitet. Ist das nicht ein wenig kindisch? Irgendeine Ordnung muss es ja geben. Vielleicht hat die bestehende Ordnung auch ihr gutes? Und vielleicht kommt nach der erfolgreichen „Überwindung“ der bestehenden Ordnung nichts besseres nach? Hier fehlt doch einfach der Blick auf das Ganze. – Und wenn es der Postmoderne wirklich darum ginge, die herrschende Ordnung zu hinterfragen, und „das System“ mit inkommensurablen Interventionen zu irritieren, warum wird dann die irritierende Frage nach Gott nicht gestellt, sondern abgeräumt? (S. 235, 330) Ist das die Inkohärenz der Inkohärenz der Postmoderne?

Ebenso auffällig ist die völlige Verhaftetheit dieser Denker in ihrer Zeit und ihrem Zeitgeist. Es ist eine seltsame Verschränkung von Philosophie und Zeitgeist, also eine Philosophie, die gar nicht nach der Wahrheit an sich fragt, sondern nach der geistigen Stimmung zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Da ist z.B. Nietzsches Gejammer über den Tod Gottes, den „wir“ angeblich getötet haben. Damit reflektiert Nietzsche den Geist seiner Zeit. Aber sollen denn auch wir, die wir sowohl die vielfältigen Verläufe der Geschichte überblicken, als auch besser über die Gottesfrage Bescheid wissen als jene Menschen, die dem Zeitgeist ausgeliefert sind, uns diesem Diktum anschließen? Nein. Das Gejammere Nietzsches über den Tod Gottes ist unter philosophischen Gesichtspunkten dumm und kindisch. Ein Gegenbeispiel ist Platon, der die Zyklen der Zeit zu überblicken versuchte.

Wir würden auch gerne wissen, ob es nicht eine maßlose Übertreibung ist, hinter dem reflexiven Wechselgeflecht des Strukturalismus eine völlige Ablösung von den zugrunde liegenden Realitäten zu sehen. Das Buch zieht eine Analogie zu den Finanzmärkten, an denen Derivate gehandelt werden, also Preise und Preiserwartungen, aber keine echten Waren mehr: „Es ist nicht so, als ob es die Welt, auf die diese Werte sich beziehen, nicht gäbe. Sie existiert. Doch sie spielt für die Bewertung keine Rolle mehr.“ (S. 523 f.). – Doch das ist falsch. Die den Derivaten zugrunde liegenden Realitäten spielen für die Bewertung sehr wohl eine Rolle. Es ist vielmehr eine fahrlässige Risikokontrolle, die dazu führt, dass sich Finanzmärkte allzu weit von der Realität entfernen und in luftige Höhen abheben – und dann irgendwann zwangsläufig eine sehr harte Landung erleben. Mit den Finanzmärkten ist es wie mit der Fliegerei: Runter kommen sie immer. Damit verkehrt sich das gegebene Beispiel zu einem Argument gegen (!) die Postmoderne: Wurde nicht auch hier allzu leichtfertig die zugrunde liegende Realität vergessen und zu Höhenflügen angesetzt, die mit einer harten Landung enden müssen? Derselbe Irrtum unterläuft dem Autor noch ein zweites Mal beim Thema der Ablösung der Währungen vom Goldstandard (S. 515, 522): Es ist falsch, dass Währungen sich losgelöst von jeder Realität nur noch gegenseitig bewerten. Denn jeder Ausgabe von Geld steht die Einlage eines Wertpapiers bei einer Zentralbank gegenüber: Das ist harte Realität. Zentralbanken können natürlich dazu übergehen, wertlose Wertpapiere als Einlagen zu akzeptieren. Aber das führt dann in die Inflation. Runter kommen sie immer. Nichts schwebt frei.

Stellvertretend für alles, was der Autor über die Postmoderne ungesagt lässt, möchte der Rezensent das Büchlein „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne 1983 anführen, das er selbst gelesen und rezensiert hat. Paul Veyne war mit Foucault eng befreundet und übertrug das postmoderne Denken 1971 in seiner Schrift „Comment on écrit l’histoire“ auf die Geschichtsschreibung. Paul Veyne ist ein Urgestein der Postmoderne. Das Büchlein wird u.a. auch von Slavoj Zizek empfohlen, der wiederum von Zorn geschätzt wird. Es ist ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Alle Vorurteile gegen die Postmoderne werden hier bestätigt. Doch dieser Realität stellt sich das Buch von Zorn nicht. Das wäre aber verlangt gewesen.

Enttäuschung Nr. 9

Dieses Buch realisiert nicht, dass die Postmoderne keinesfalls ein Antidot gegen das Absolute ist, sondern dass die Postmoderne selbst zu einem Absoluten geworden ist, das unerwünschte Extreme hervorbringt. Das ist fast schon tragisch. Zorn beschönigt die Postmoderne absolut.

Da ist zunächst die maßlose Überziehung und Übertreibung von an sich richtigen Grundgedanken durch die Postmoderne. Doch der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Komplexität muss reduziert werden. Es ist nicht möglich, Rücksicht auf alles zu nehmen, selbst wenn man das wollte. Noch zu Anfang des Buches wird auf Nietzsches Erkenntnis verwiesen: „Das Absolute ist nur das Missverständnis einer Vielfalt, die so radikal ist, dass sich das alltägliche Denken bei ihr nicht lange aufhalten kann.“ (S. 48) Am Ende des Buches fehlt diese Einsicht. Gutes Denken denkt die Praktikabilität immer mit. Wer hingegen versucht, auf Teufel komm raus Probleme mithilfe filigraner Theorien zu lösen, die an der groben Praxis scheitern müssen, endet zwangsläufig in Extremen. Man muss die Kirche im Dorf lassen können.

Die Postmoderne ist keine Philosophie nach menschlichem Maß. Und der Mensch wird immer das Maß für den Menschen bleiben, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Die Vorstellung, dass der Mensch den Menschen erst vor wenigen Jahrhunderten als Maßstab entdeckt hat, und dass es jetzt gilt, den Menschen wieder zu verabschieden, ist unsinnig, falsch und extrem. Das Ringen um das Wesen des Menschen wird kein Ende nehmen, solange es Menschen gibt. Die Idee des Menschen ist vielleicht die einzige Idee, die man getrost zum Absoluten machen kann, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Vielleicht auch noch ein dazu korrespondierender Gott, vielleicht. Auf diese Weise wird das Absolute als Trennendes unter den Menschen neutralisiert. Die Absolutheit der Menschenrechte rührt daher. Aber ein solcher Gedanke fehlt in diesem Buch.

Statt dessen wird der Leser mit Deleuze und Guattari konfrontiert, die in einer kommunistischen Klinik die „originelle“ Idee aushecken, dass der Kapitalismus die Krankheit der Schizophrenie hervorbringe (S. 455 ff.). Später liest man dann, dass die beiden eigentlich gar nicht die Krankheit Schizophrenie meinten, sondern mit diesem Wort etwas anderes meinten (S. 466). Typisch Postmoderne. Oder da ist Lyotard, der das Bündnis mit den Arbeitern gegen die herrschende Klasse sucht (S. 476): So flach kann Postmoderne sein.

Überhaupt das fundamentalistische Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung, gegen „das System“. Es geht immer ums Kaputtmachen. Nie ums Aufbauen. So einfach kann man es sich aber nicht machen. Wir erinnern daran, dass z.B. auch die Menschenrechte „zum System“ gehören. Lyotard meint, dass es völlig sinnlos sei, über eine Reform der Universität und ihrer Lehrinhalte nachzudenken, denn der Dozent würde immer nur konsumierte Lehrinhalte reproduzieren und auf diese Weise Studenten zu Arbeitskräften für den Kapitalismus ausbilden (S. 480). Abgesehen davon, dass Lyotard hier eine sehr zynische Auffassung seines eigenen Lehrberufes zu erkennen gibt: Ist es nicht maßlos übertrieben, dass Lyotard trotzig auf einer utopischen Fundamentalkritik beharrt und darüber womöglich nützliche Reformen pauschal verwirft? Gewisse Defizite von Foucault sprachen wir oben schon an. – Es gibt gute Gründe, solchen Menschen nicht zu vertrauen.

Es wird auch die Wende zur völligen Dominanz des Marktes unter Reagan und Thatcher beklagt (S. 519 ff.). Doch es wird kein Grund dafür angegeben, wieso es eigentlich dazu kommen konnte. Wäre es nicht möglich, dass gerade linke und postmoderne Denker den Boden dafür bereitet haben? Denn sie waren es, die die klassische bürgerliche Bildung diskreditiert haben, die ein Gegengift gegen die Verabsolutierung der Märkte gewesen wäre. Sie waren es, die den Fokus völlig auf das Ökonomische und den Hedonismus gelenkt haben. Sie haben Sinnangebote jeglicher Art zerstört, bei Gott angefangen (S. 330), und sich als erste dem Konsum hingegeben. Sie sind schuld daran, dass die Menschen über keine eigenen geistigen Ressourcen mehr verfügen, mit denen sie den Vereinnahmungen des Marktes und des Konsums entgegentreten könnten. „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los!“, ruft Goethes Zauberlehrling.

Der Rezensent verweist noch einmal auf das Beispiel des Büchleins „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne, dessen Lektüre eine traumatische Erfahrung war. Es ist wirklich ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Kurz: Die Postmoderne ist selbst extrem und „absolut“, daran kann kein Zweifel sein. Doch Zorn scheint das nicht zu sehen. Oder nicht sehen zu wollen.

Enttäuschung Nr. 10

Ein wirkliches Antidot gegen die Gefährlichkeit des Absoluten wäre eine klassische, bürgerliche, humanistische Bildung. Auch und gerade in einer „Massengesellschaft“, die ihre „Vermassung“ ja gerade nicht ihrer großen Zahl verdankt, sondern eben dem Verlust der höheren Bildung als Ideal und der Orientierung auf Konsum. Doch diese Idee wird in diesem Buch in Form des Ansatzes von Joachim Ritter (S. 269, 510 f.) nur sehr zurückhaltend behandelt. Im Epilog, auf der vorletzen Seite und als letzte inhaltliche Botschaft des gesamten Buches, reibt Zorns Adorno Joachim Ritter noch einmal kräftig unter die Nase, warum er davon nicht viel hält (S. 580). Der Zauberlehrling mag die Weisheit des alten Meisters nicht. Er wird immerhin noch geduldet.

Der Rezensent möchte an der Idee des gebildeten Menschen als einem selbständigen Leser und Denker festhalten. Platon und Kant, Goethe und Schiller, Thomas Mann und Hermann Hesse, Cicero und die Federalist Papers, um es einmal ganz platt zu sagen. Eine solche Bildung schützt allein durch ihre Vielheit vor Absolutheiten, indem sie viele Facetten des Denkens und Lebens kennengelernt hat. Indem sie viele Beispiele aus der Geschichte kennt, wie sich anfänglich gute Gedanken verabsolutierten. Und indem sie durch ihr vieles Weltwissen Probleme richtig einzuordnen weiß. Der gebildete Mensch wird niemals den Markt oder die Ökologie oder die Wissenschaft verabsolutieren, wie es heute geschieht, sondern er wird immer sagen: Marktwirtschaft ist sehr nützlich, aber nicht hier. Oder: Naturschutz ist wichtig, aber nicht so. Oder: Wissenschaft ist unverzichtbar, aber der real existierende Wissenschaftsbetrieb ist kein unfehlbares Konzil, das gläubige Unterwerfung verlangen könnte.

Eine solche Bildung ermöglicht erst eigenes weltanschaulich-philosophisches und politisches Denken. Schon mit Platon lernen wir, dass wir im Grunde nichts wirklich wissen, und wie wir der Wahrheit schrittweise durch Argumente nachstreben. Erkenntnis ist ein Riesennetzwerk von sich gegenseitig stützenden Einzelerkenntnissen verschiedener Wahrscheinlichkeit, und jede neu hinzukommende Erkenntnis verändert die Gewichte in diesem Netzwerk aufs neue. Die Wahrheit selbst ist nur schwierig oder gar nicht zu erlangen. Statt dessen muss man sich wie Münchhausen an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf der Erkenntnis ziehen, indem man Vieles mit Vielem abgleicht. Intellektuelle Demut ist angesagt. Wir können nicht alles verstehen, und es gibt Probleme, die wir nicht lösen können. Wer sie dennoch zu lösen versucht, muss in Extremen enden. Die Welt ist komplexer als wir erfassen können. Das ist triviale Allgemeinbildung. Aber darauf kann man aufbauen.

Gesellschaften brauchen ein gewisses Maß an Freiheit, sonst sind sie zu eng, aber auch ein gewisses Maß an Zusammenhalt, sonst fallen sie auseinander. Dass aus der allzu großen Freiheit der Tyrann wie ein frischer Trieb aus einem totgeglaubten Wurzelstock hervorschießt, lesen wir schon bei Platon und Cicero. Konsequentes Multikulti kann es paradoxerweise nur in einem autoritären Staat geben, wie Helmut Schmidt schon feststellte. Zorn selbst beschreibt mit Koselleck, wie sich der politische Absolutismus zur Befriedung der vielfältigen konfessionellen Gegensätze herausbildete (S. 493). Ungebildete Menschen plärren für Multikulti oder für Monokulti. Der gebildete Mensch sucht nach integrativen Lösungen praktischer Natur, z.B. Transkulturalismus statt Multikulturalismus, damit das absolut notwendige Gemeinsame über dem Vielen nicht verloren geht, und umgekehrt. Ideale Lösungen allzu filigraner Natur gibt es aber nicht. Gesellschaft und Demokratie werden immer holprig und grob geschnitzt bleiben, denn der Mensch ist selbst aus krummem Holz geschnitzt. – Solche Probleme werden bei Zorn aber nur ganz kurz und kryptisch angedeutet (S. 559 unten), und es ist wieder einmal nicht sehr klar, was er da eigentlich meint. Es bleibt auch unverständlich, wie denn das Gemeinsame kein Absolutes sein soll.

Richard Rortys Metaphilosophie meint man schon in Albert Schweitzers Kulturphilosophie begegnet zu sein, sowie in dem trivialen Gedanken, dass auch ein pluralistisches Gemeinwesen nicht alles akzeptieren kann, sondern nur das, was den Zusammenhalt des Gemeinwesens nicht sprengt. Und dazu gehört weit mehr als nur Verfassung und Vernunft, denn es geht um Menschen, nicht um Roboter.

Dass Systeme die Tendenz haben, einzurosten und sich von ihrer ursprünglichen Zielsetzung zu entfernen, gehört zum kleinen Einmaleins der Gesellschaftskunde. Systeme brauchen von Zeit zu Zeit eine Reform, sonst erstarren sie. Dasselbe gilt für Denksysteme. Wichtig ist der offene Diskurs, dass alles auf den Tisch kommt. Konsequenz ist gut, aber Fanatismus ohne Selbstkorrekturfähigkeit ist schlecht. Man hätte in diesem dicken Buch über das Absolute gerne auch die Weisheit gefunden, dass sich die Extreme gegenseitig wie kommunizierende Röhren aufschaukeln. Doch sie fehlt. Linke, die sich z.B. über die rechtsradikal gewordene AfD von Gauland und Höcke beklagen, sollten sich zuerst einmal an die eigene Nase fassen: Der ungebremste Durchmarsch linker Politik übersah, dass politisch Andersdenkende nicht verschwinden, wenn man ihnen die politische Vertretung wegnimmt. Die Idee einer Demokratie, in der es nur noch Linke gibt, ist eine granatenmäßige Schnapsidee. Ganz zu schweigen davon, dass die ungebremst durchgezogene linke Politik zwangsläufig mit der Realität kollidiert. All das schafft Radikalismus von der anderen Seite her, den es sonst nicht gegeben hätte. Umgekehrt wäre es übrigens genauso. – Damit genug der einfachen Wahrheiten, die wir in diesem Buch über Vielfalt und das Absolute so leider nicht finden konnten.

Enttäuschung Nr. 11

Der Autor des Buches ist selbst „absolut“. Das enttäuscht natürlich sehr, denn ist dies nicht ein Buch gegen das Absolute? Sowohl dieses Buch als auch andere öffentlich zugängliche Quellen machen deutlich, dass der Autor die Thesen der Postmoderne in ihrer Absolutheit, siehe oben, gar nicht reformiert. Zwar zählt der Autor ganz zu Anfang in knapper Form einige heutige Übertreibungen der Postmoderne auf (S. 9 f.), doch bei genauem Lesen erkennt man, dass er hier lediglich Meinungen über die Postmoderne referiert, aber seine eigene Meinung offenlässt. Zorn lässt den Leser denken, dass auch er diese Übertreibungen als Übertreibungen sieht, doch tatsächlich hat er nichts dergleichen gesagt. Nirgends in diesem Buch leistet Zorn die nötige Aussortierung von Übertreibungen und Brauchbarem. Im Grunde werden die anfangs referierten „Vorurteile“ gegen die Postmoderne im Verlauf des Buches nicht widerlegt sondern bestätigt. – In einer Talkshow sagte Zorn: „Ich bin … ich weiß nicht … ich bin selber kein postmoderner Philosoph … Ich habe nicht das Denkproblem, das die haben. Ich begnüge mich damit, die Geschichte zu erzählen.“ Wir können das nur so deuten, dass er über die Postmoderne hinaus will, aber sehr wohl mit und auf der Grundlage der Postmoderne. Insofern ist er natürlich sehr wohl postmodern. Wer nur das Buch gelesen aber nicht diese Talkshow gesehen hat, wird Zorn ohne weiteres für einen postmodernen Denker halten bzw. für einen post-postmodernen, „bildenden“ Philosophen im Sinne Rortys (S. 562). Es wäre ja seltsam, wenn Zorn auf der einen Seite die Postmoderne rehabilitiert, auf der anderen Seite aber sagen würde: Ich selbst halte nichts davon.

Politisch steht Zorn offenbar sehr weit links. Zu Marx scheint er ein tiefenentspanntes Verhältnis zu haben. Sein Geschichtsbild legt Zorn selbst in diesem Buch dar (vor allem S. 484-486). Wir haben es jedenfalls als Zorns Geschichtsbild gelesen. Liberale und Konservative kommen darin nicht gut weg. Habermas ist ihm zu konservativ, wie der frontale Angriff auf Habermas in diesem Buch und Aussagen in Talkshows deutlich machen. Das Milieu, in dem Zorn sich bewegt, spricht Bände. Auf Twitter pflegt Zorn mit Andersdenkenden einen teils inquisitorischen (vgl. Derridas zwängende Lektüre S. 360 f.), teils auf hanebüchene Irritation setzenden Gesprächsstil. Die Postmoderne lässt grüßen. Es ist auch befremdlich, wie „Rechte“ automatisch als Problemfälle der Demokratie, also als „Rechtsradikale“ eingeordnet werden, während für „Linke“ ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Jeder kann sich in Zorns Büchern, in Medien und auf Twitter selbst davon überzeugen. Der Punkt ist: Wir sehen eine Absolutheit, die uns erschreckt.

So stellt es sich uns dar: Mit Daniel-Pascal Zorn ist wieder einmal ein Intellektueller der Versuchung erlegen, die innere Schlüssigkeit seines großartigen Gedankengebäudes für wahr zu halten, ohne dabei hinreichend auf die Rückbindung an die Realität geachtet zu haben. Und in diesem Gedankengebäude ist er nun gefangen wie die Kindliche Kaiserin in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ in ihrem Elfenbeinturm. Das ist es im Kern. Das ist die Entzauberung Zorns.

Die Abgehobenheit Zorns von der Realität zeigt sich auch in folgenden Aussagen: Seiner Meinung nach ist die menschliche Gesellschaft durch die Dominanz des Marktes in einen Zustand der „Künstlichen Intelligenz“ eingetreten, die unaufhaltsam ein Programm hin zu mehr Freiheit, Emanzipation, Vielfalt und Identität abarbeitet (S. 559). Mit anderen Worten: Die Entwicklungen rund um den Wokismus, mit ihren maßlosen Übertreibungen, deutet Zorn zwar noch nicht als die Erfüllung seiner wahren Utopie, aber doch immerhin als eine Zunahme an Freiheit. (Ein Blick auf seine Twitter-Tweets und seine Aussagen in Talkshows bestätigen das.) – Da kann man nur staunen: So „zwängend“ hatten wir uns Freiheit nicht vorgestellt. Was für Untiefen lauern da in Zorns Denken?

Oder ein anderes Beispiel: Zorn übersieht völlig die Entwicklungen, die durch eine Zuwanderung ohne hinreichende Integration vonstatten gehen, wie wir sie den Vielfalt-Schwärmern zu verdanken haben: Immer mehr Menschen in unserem Land haben kein hinreichend aufgeklärtes mind-set mehr. Immer mehr Frauen und junge Männer in unserem Land stehen unter der Knute eines Patriarchen. Während diese Rezension entsteht, wird Salman Rushdie bei einem Messerangriff schwer verletzt. Und in Dortmund nehmen Politiker an einer großen, öffentlichen Trauerfeier teil, auf der ein Gewalttäter (er hatte Polizisten mit einem Messer angegriffen) wie ein Märtyrer gefeiert wird – nur um die „Community“ zu beschwichtigen. Immer mehr Stadtteile verschwinden in dem nebelhaften Nichts vormoderner Zustände: Phantásien in Not! Doch Zorn ist ein Meister im Wegsehen und formuliert, wie wenn es die Realität nicht gäbe: „Gott, das religiöse Absolute, hat seine Macht über die Menschen verloren, zugunsten von Säkularisierung, Aufklärung und Fortschritt.“ (S. 235) und: „Die progressive, an Freiheit und Emanzipation orientierte Weiterentwicklung der Gesellschaft ist längst ein Operationsmodus dieser Künstlichen Intelligenz geworden“ (S. 559).

Sein Programm für die Gegenwart und die Utopie für die Zukunft hat Zorn (mit Lyotard und Rorty) auf den Seiten 558-564 beschrieben. Oder ist es doch nicht sein Programm? Wir haben es so gelesen, denn Zorn spricht auf S. 560 von „man“: „Man bräuchte die Postmoderne …“, und: „Bis es so weit ist, kann man sich an die zweite Bestimmung der Postmoderne halten.“

Wer auf Twitter genau aufpasst, erfährt, dass der Romantiker Novalis für Zorn der wichtigste Denker überhaupt zu sein scheint, der am weitesten gedacht habe (in Sachen Reflexivität, das große, alles überspannende Thema Zorns). Zorn will Novalis nicht als Romantiker verstanden wissen. Doch romantischer als Novalis geht es kaum. In seinen „Lehrlingen zu Sais“ hat der Romantiker Novalis einen Gegenentwurf zum „Verschleierten Bild zu Sais“ des Klassikers Schiller gewagt. Das verschleierte Standbild zu Sais verkörpert symbolisch die Erkenntnis letzter Wahrheit, also das Absolute. Doch die Gottheit hat verboten, den Schleier zu lüften. Diesen Schleier lüften: Genau das tut Novalis. Und Zorn gefällt’s. Aber ist Zorn damit nicht offensichtlich auf dem Weg zum … Absoluten?!

Bei Schiller geht die Sache (natürlich) nicht gut aus, und Schiller gibt uns die bedenkenswerten Worte mit auf den Weg:

Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe
.

Enttäuschung Nr. 12

Enttäuschend ist auch, in wie viele Selbstwidersprüche sich der Autor verwickelt. Da wird z.B. Vielfalt und Emanzipation befürwortet (für wen eigentlich? Das Wort Feminismus wird konsequent vermieden). Zu diesem Zweck vollführt der Autor einige moderate sprachliche Verrenkungen, bleibt dabei aber inkonsequent: So schreibt er meistens das gestelzte „Studierende“ (S. 155), manchmal aber einfach „Studenten“ (S. 154). Meistens ist von „Philosophen“ die Rede (S. 422), manchmal von „Philosophinnen und Philosophen“ (S. 424). Ganz selten findet sich ein kontraintuitives generisches Femininum statt eines generischen Maskulinums (S. 13). Doppelpunkte, Sterne, Unterstriche oder Binnen-I gibt es zum Glück keine (nur in einem Zitat). In Talkshows bemüht sich Zorn jedoch um die Doppelpunkt-Sprechpause. Allerdings muss er sich dabei immer wieder hastig selbst korrigieren. Zorn denkt sichtlich in normaler Sprache. – Aber derselbe Autor, der sich sprachlich so sehr bemüht, hat die Frauen unter den Philosophen völlig vergessen! Hannah Arendt und Edith Stein fehlen auffällig, wie schon gesagt. Auch im symbolischen Schlussbild des Buches kommen nur Männer vor. Acht alte, weiße Männer. (Ja, Derrida ist auch einer.)

Man hätte auch nicht erwartet, dass Zorn eurozentrisch denkt. Aber er tut es. Sogar eurozentrisch in den Kategorien von vor 1989. Denn auch der „Prager Frühling“ und Jan Patocka sowie die osteuropäischen bürgerlichen Revolutionen von 1989 fehlen bei ihm. In seiner Darstellung der Geistesgeschichte seit der Antike kommt nur der lateinische Westen vor (S. 239 ff.). Byzanz und die islamische Welt mit ihren eigenständigen Debatten und die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Welten fehlen völlig bzw. werden mit einem kurzen Satz abgehandelt (S. 239 f.). Auch die völlig Absage an Gott ist sehr eng gedacht. Man hätte z.B. Mohamed Arkoun erwähnen können, der die Philosophie von Foucault und Derrida auf die religiösen Texte des Islam anwandte. Es ist auch fragwürdig, den Eindruck zu erwecken, als gehörte die Antike vor allem zu „Europa“ (um S. 242). Ist die Antike nicht eine versunkene Welt, die niemandem „gehört“, und die (zunächst) nicht nur vom lateinischen Westen, sondern auch von Byzanz und der islamischen Welt beerbt wurde, und die (heute) für die ganze Welt als gemeinsames Erbe der Menschheit offensteht? Doch der Autor bleibt völlig dem lateinischen Westen verhaftet. Nur in der Person von Pico della Mirandola werden dann auch Texte von Arabern und Ägyptern erwähnt (S. 568 f.). Averroes findet bei Zorn nicht statt. (Er kann auch gar nicht stattfinden, denn Averroes hat die Majestät der Vernunft aufgerichtet, was sich mit der Postmoderne wenig verträgt. Thomas von Aquin fehlt deshalb natürlich auch. Spätestens das ist sehr auffällig. Aber Augustinus, der Gottes Willen unvernünftig sein lässt, der kommt vor.) – Insgesamt verfehlt der Autor den Anspruch von Vielfalt jenseits des Eurozentrismus völlig.

Es ist auch fragwürdig, dass Zorn die Postmoderne (mit Rorty) permanent am Rand stehen sieht (S. 561). Denn Foucault war und ist ein Pop-Star! Postmoderne war und ist groß in Mode, man denke nur an völlig überzogene Maßlosigkeiten wie Gender, Diversity, Multikulti-Vielfalt, Critical Race Theory, Decolonialisation, oder „No borders no nations“ und „Refugees welcome bring your families“. Vieles, was manche etwas hilflos als „Kulturmarxismus“ bezeichnen, ist ganz oder in Teilen postmodern motiviert. Zorn selbst zählt es zu Anfang des Buches auf (S. 9 f.). – Aber Zorn sieht die Postmoderne am Rand stehen. Vielleicht ist das dank Habermas tatsächlich noch im engeren deutschen philosophischen Wissenschaftsbetrieb so.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Postmoderne als Kritik an der herrschenden Ordnung verstanden wird. Aber wenn die Menschen hilflos staunend mitansehen müssen (hilflos wie Lyotard nach 1968 S. 484), wie die herrschende Ordnung Gender und Diversity in völlig überzogener Weise auf den Thron hebt, ist die Postmoderne dann nicht zur Philosophie „des Systems“ geworden, und Zorn zu einer intellektuellen Stütze der Macht?

Den Kritikern der Postmoderne wirft der Autor vor, sie wollten sich selbst beweihräuchern, indem sie lieber sich selbst als die aktuelle Speerspitze der Philosophiegeschichte darstellen (S. 549). Aber ist der Autor hier nicht selbst polemisch? Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von guter Postmoderne einerseits und bösen Kritikern andererseits ist ihrerseits überhaupt nicht postmodern, insofern völlig undifferenziert – andererseits auch wieder höchst postmodern, insofern Frechheit ein Markenzeichen der Postmoderne ist. Auf diesen Seiten wimmelt es jedenfalls nur so vor frechen Selbstwidersprüchen: Zorn stylt die postmodernen Philosophen (mit Rorty) als rebellische Außenseiter (S. 561-564), aber in Wahrheit ist es nur Style, denn die selbsternannten Außenseiter sind heute vielfach selbst in Machtpositionen, und zudem leistet die „normale“ Philosophie die nötige Kritik am „System“ auch selbst, ohne dazu der Postmoderne zu bedürfen.

Zorn kritisiert auch ausgiebig die gutaussehenden, sprachbegabten Populärphilosophen, die ein Bedürfnis des Marktes befriedigen (S. 549). Aber ist Zorn nicht selbst auch ein solcher? Er hat jetzt schon mehrere Bücher geschrieben, mit denen er in Talkshows kam, und auch für das neueste Buch sitzt er wieder in Talkshows bis hinauf zum Blauen Sofa des ZDF. Zorn platziert sich mit seinen Büchern definitiv am Markt.

Zu Anfang des Buches heißt es, dass mit der Postmoderne „ein letztes Mal“ alles auf den Tisch gekommen sei (S. 14). Wie wenn mit dem Ende der Postmoderne das Ende der Geschichte gekommen wäre. Doch viel weiter hinten hören wir: „Das Absolute ist nicht so leicht totzukriegen.“ (S. 414, 418) Die Geschichte ist also doch noch nicht zu Ende.

Was gelungen ist

  • Am wertvollsten ist sicher die mikroskopische Nachzeichnung dieses Ausschnitts der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die die Motivation der einzelnen Denker teilweise gut herausarbeitet und in den größeren Zusammenhang der anderen Denker stellt. Wer dieses Buch gelesen hat, wird andere Darstellungen immer daran messen.
  • Es konnte gezeigt werden, dass die Postmoderne durchaus einige bedenkenswerte Ansätze vorzuweisen hat. Es fehlt zwar ein Aussortieren und Reinigen dieser Ansätze, aber diese Botschaft ist trotz allem angekommen.
  • Immer wieder wird auf die Strukturähnlichkeit von Problemen und Sachverhalten hingewiesen. Dies zwar oft nur knapp, aber das Gespür dafür wurde dennoch geschult.
  • Sehr interessant ist die Berücksichtigung der Kybernetik. Der Rezensent ist Informatiker und bedankt sich.
  • Natürlich ist auch die Warnung vor der Versuchung des Absoluten richtig. Allerdings wird sie durch die Absolutheit des Verfassers und seiner unbereinigten Postmoderne konterkariert. Unkritische Leser werden durch dieses Buch leider nicht gegen die Gefahren des Absoluten immunisiert werden, im Gegenteil.

Schluss

Der Zauberlehrling Zorn hat eine allzu pauschale Rettung der Postmoderne versucht, hat dabei auch manches unter den Tisch fallen lassen, und ist damit notwendig gescheitert. Leider zeigt er sich schwärmerisch in seinem Denkgebäude gefangen, so genial es in Teilen auch ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass sich Philosophie und politische Einstellung bei Zorn gegenseitig im Wege stehen.

In der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende heißt es: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. … Und die machen beide Welten gesund.“ – Es ist Zeit, Phantásien den Rücken zu kehren: Es fehlt ein echtes Aussortieren und Reinigen des postmodernen Denkens. Es fehlt eine Klärung des Verhältnisses zur Vielfalt und zum Absoluten (z.B. gesellschaftspolitische Vielfalt-Schwärmerei? Streben nach dem Absoluten mit Novalis?). Es fehlt an simpler Menschenfreundlichkeit auch und gerade im Umgang mit Andersdenkenden.

Mit Goethe sagen wir: „Es muss auch solche Käuze geben.“ Zorns Belesenheit ist in jedem Fall ein Gewinn, und auch sein philosophisches Denken verschafft manche Anregung. Aber am Ende ist es mehr Wasser als Wein. „Welch‘ entsetzliches Gewässer!“ klagt der Zauberlehrling, bevor er den Meister zu Hilfe ruft.

Wer ein Antidot nötig hat, könnte z.B. diese Werke lesen (die Vielfalt macht’s):

  • Empedokles, Fragmente.
  • Platon, Apologie des Sokrates.
  • Xenophon, Symposion.
  • Goethe, Faust I + II.
  • Albert Schweitzer, Kulturphilosophie.
  • Hermann Hesse, Siddhartha.
  • Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.
  • Walter Nutz, Vom Mythos der Freiheit.
  • Neil Postman, Building a Bridge to the 18th Century: How the Past Can Improve Our Future.
  • Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis.

Epilog

Menschen sind im Garten des Akademos zusammengekommen, um ihre Gedanken auszutauschen. Kein Gebäude umgibt sie, man befindet sich in freier Natur. Es ist auch nicht kalt, sondern angenehm warm. Die Sonne steht im Meridian, nicht im Zenith, den die Sonne in diesen menschenfreundlichen Breiten niemals erreichen kann. Statt der eintönigen Weißheit der Eiswüste erfreut sich das Auge an der Buntheit einer vom Menschen wohlgeordneten Natur. Wind streicht durch die Bäume und lässt ihre Blätter leise rascheln: Die Welt ist offen. Doch niemand muss irgendwohin gehen. Man begegnet sich freundlich und bleibt beisammen. Auch Frauen und Fremdländische sind darunter. Die Gedanken schweifen frei, verzweigen und überkreuzen sich phantasievoll, und werden immer wieder von der Vernunft neu eingefangen und auf die eine, gemeinsame Wahrheit hingeordnet, um dann aufs neue auszuschweifen. Die Zyklen der Zeit und das Wesen des Menschen sind in Grundzügen längst durchschaut. Und dennoch ist alles ein großes Mysterium. Und wird es ewig bleiben, auch wenn die Erkenntnis nie aufhört. Der Turmbau zu Babel: Dieses absolute Projekt vielfältiger Hybris verfolgen nur die Narren. Wo die beste Polis als irrige Utopie erkannt wurde, so folgerichtig sie auch gedacht war, wird die zweitbeste Polis zum realistischen Ideal wahrer Menschenfreunde.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Thorwalds Internetseiten August 2022; zudem eine stark gekürzte Fassung auf Amazon am 25. August 2022)

Anhang

Einige zumindest zunächst sehr unverständliche Sätze

S. 170: Kants „Tertium ist die transzendentale Einbildungskraft. Sie ist die ‚ursprüngliche Zeit‘ und ‚bildet‘ so ‚die Wesensstruktur der Subjektivität‘.“

S. 318: Zu Nietzsche: „Um der reaktionären Einebnung der Differenz zu entgehen, entwirft Nietzsche ein Modell von Sinn und Wert, das nicht von Substanz und Sein ausgeht, sondern von Relation und Werden. Was sich in Sinn und Wert zum Ausdruck bringt, das sind aufeinander bezogene Relationen, die in Bewegungen des Werdens eingebunden sind, die maximale und minimale Spannungen ausbilden.“

S. 334: „Doch gerade die Philosophie ‚hat sich in ihr‘, der anthropologischen Illusion, ‚eingeschlossen, indem sie die Subjektivität verdichtete, hypostasierte und in der uneinholbaren Struktur des ‚menschlichen Wesens‘ einschloss.'“

S. 424: Unvermittelt: „Was ist die Bedingung?“ Tja, von was?

Diverse Mängel

S. 38: „Frankfurt“. Wünschenswert wäre: „Frankfurt am Main“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 128: Lenins „berühmte Studie“. – Die weltanschauliche Studie eines Massenmörders aus Weltanschauung „berühmt“ zu nennen, ist unstatthaft. „Bekannt“ wäre besser.

S. 139, 239: „Kaiserzeit“: Gemeint ist die „römische Kaiserzeit“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 146: „‚Jede Epoche ist unmittelbar zum Dasein‘ – so könnte man diese Position mit dem Historiker Leopold von Ranke zusammenfassen.“ – Doch bei Ranke ist es „unmittelbar zu Gott“, deshalb sollte es z.B. heißen: „Leicht abgewandelt könnnte man mit Ranke sagen …“

S. 194: „jüdische Kollegen denken über Migration nach“. – Wieso Migration? Emigration!

S. 199: Der Begriff „Metaphysik“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 201: Der Begriff „Weltanschauung“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 217: An der geheimen Konferenz in Princeton 1945 haben gewiss keine „Informatiker“ teilgenommen, der Begriff entstand erst später.

S. 219: Dass Mark I „der erste einsatzfähige digitale Großrechner“ war, darf bezweifelt werden. Zuses Z3 war auch digital und einsatzfähig. Der Umstand, dass der Rechner „groß“ war, erscheint hingegen wenig bedeutend.

S. 239: „Übersetzungen der über Bagdad und Kairo überlieferten Texte“ – Die weitaus meisten philosophischen Texte der Antike wurden über Byzanz wiedergewonnen, nicht durch arabische Rückübersetzungen. Das aber auch.

S. 282 f., 286: Mehrfach konsequent falsch: „Victor Emerita“, richtig: „Victor Eremita“.

S. 378: Es geht um die Logischen Empiristen, aber das Stichwort „Logischer Empirismus“ fällt erst auf S. 395.

S. 477: In Sätzen Lyotards werden „flics“ mit „Cops“ ins Deutsche übersetzt. Das geht nicht. Flics sind Flics.

S. 479: Trotsky mit s und y geschrieben: Mehrere Stellen. S. 483 Trotzki mit z und i.

S. 487: „Germanistisches Nationalmuseum“. Eine postmoderne Irritation?

S. 489: Beispiele für Geschichtsphilosophien, die Freiheit versprechen, aber faktisch Unfreiheit schaffen: „Drittes Reich“, „Ideologien von Stalin und Mao“. – Das sind aber gar nicht die Geschichtsphilosophien. Es hätte heißen müssen: Nationalsozialismus, Marxismus-Leninismus, Maoismus. Und wer von Stalin spricht, darf von Lenin nicht schweigen.

Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft (1983)

Glaubt Paul Veyne eigentlich an seine eigenen Mythen?! Postmoderne Hardcore-Ideologie statt lehrreicher Mythenforschung

Wer sich mit Deutung und Funktion von Mythen befasst, wird immer wieder über eine ganz bestimmte Literaturangabe stolpern: Paul Veyne, „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“. Der geneigte Leser erwartet bei einem solchen provokant-launigen Titel einerseits kundige Anleitung und Aufklärung über das schillernde Phänomen der Mythen und deren variationsreiche Wahrnehmung schon zu Zeit der alten Griechen, andererseits aber auch einen vergnüglichen und geistreichen Essay zum Thema, dessen Lektüre die reine Freude ist. Manche Literatur empfiehlt diese Schrift ganz in diesem Sinne, womit offenbar zugleich die Bildung und Gelehrsamkeit des Empfehlenden demonstriert werden soll.

Doch je weiter man in dieses Büchlein hineinliest, desto krasser die Enttäuschung des Lesers. Es handelt sich nicht um das erwartete lehrreiche Lesevergnügen, sondern – o Schreck! – um die Deklaration einer postmodernen, anti-rationalistischen und sogar anti-humanistischen Hardcore-Ideologie. Das eigentliche Thema des Buches, die Mythen der alten Griechen, dient offenbar lediglich als Kulisse zur Manifestation dieser Ideologie, und wird dieser brutal untergeordnet. Soviel Unsinn zur Antike wie hier hat man selten gelesen. Und dem philosophisch Gebildeten rollen sich sämtliche Fußnägel auf.

Daran, dass dieses Büchlein in den Literaturangaben zum Thema Mythologie immer wieder „mitgeschleift“ wird, obwohl praktisch kein Autor auf die eigentlichen Aussagen Veynes eingeht, kann man erkennen, dass die wenigsten es gelesen haben, und dass das Büchlein nur wegen seines schönen und interessanten Titels angeführt wird, und vielleicht deshalb, weil man dem Autor einen gewissen Ruf zubilligt, ohne Näheres über ihn zu wissen. Es scheint bislang nur recht kurz angebundene Rezensionen zu geben, die dieses Büchlein kritisch in den Blick nehmen. So z.B. die deutlich ablehnende Rezension von Simon Goldhill vom King’s College, Cambridge, in „The Classical Review“ von 1990. Es ist also Zeit für eine gründliche Besprechung.

Worin besteht die Ideologie von Paul Veyne?

Paul Veyne glaubt, dass die Menschen – schon immer, jetzt, und für alle Zukunft – in völlig willkürlichen Illusionen leben, die sich allein und ausschließlich der Einbildungskraft verdanken. Ob etwas Realität oder Fiktion sei, liege allein im Auge des Betrachters (S. 33 f.). Die „Wahrheit“ umschließe sowohl Mythos als auch Fiktion (S. 27). Der Glaube an „Alice im Wunderland“ beim Lesen dieses Buches wird gleichgesetzt mit dem Glauben an die Erkenntnisse der Physik (S. 34). Statt von Wahrheit spricht Veyne lieber von Wahrheitsprogrammen oder Wahrheitspalästen, die viel größer sind als die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Mythos, Imagination und Wirklichkeit; obwohl sich die Wahrheiten der verschiedenen Wahrheitspaläste vielfach widersprechen, widersprechen sie sich doch nicht, denn in sich sei jeder von ihnen vernünftig und wahr (S. 105, 146 f.). So Paul Veyne.

Die Realität zählt bei der Feststellung von Wahrheit nicht. Mit Nietzsche sagt Paul Veyne: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.), denn Tatsachen existieren nicht für sich allein, sondern müssen immer interpretiert werden. Die Wahrheit stamme nicht aus der Realität (S. 105). Paul Veyne meint, dass Husserl irre, wenn er Imaginäres und Erfahrung zu trennen versuche, denn das Imaginäre sei letztlich genauso wahr (S. 108). Zwar gäbe es tatsächlich eine materielle Wirklichkeit, so Veyne, doch diese werde immer interpretiert oder ignoriert (S. 129). Für ihn steht alles auf einer Stufe: Religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins; Empirismus sei eine Größe, die man vernachlässigen könne, meint Veyne (S. 140).

Auch die Vernunft sei ganz nutzlos und eine Illusion. Statt der Vernunft würden die Menschen von ihren Interessen geleitet. Alle Wahrheiten kämen von der Einbildungskraft her, nicht von der Vernunft (S. 35). Deshalb entschuldigt Veyne auch das interessegeleitete Lügen, und es sei ganz falsch, einen Gegensatz von Philosophie und Rhetorik zu sehen, denn auch die Philosophie folge weder der Vernunft noch der Wahrheit, sondern allein dem Interesse (S. 72). Das sei auch dann so, wenn wir uns über uns selbst täuschen und unsere eigenen interessegeleiteten Motive nicht erkennen würden (S. 72). Es würden auch niemals Argumente miteinander ringen, sondern immer nur verschiedene Wahrheitsprogramme. Es gäbe gar keine Vernunft, sondern nur Interessen (S. 102-104). Auch hinter den Mythen oder den Menschenrechten stünden nur Interessen bzw. „Kräfte“; das alles habe keine Wahrheit sondern sei rein geschichtlich, das Denken des Menschen gehorche dem Willen zur Macht, womit Veyne wieder bei Nietzsche ist (S. 110). Wahrheit sei zu nichts zu gebrauchen, sie entspräche nur unseren Vorlieben, sie sei nur ein Deckmantel für den Willen zur Macht (S. 153).

An manchen Stellen nennt Paul Veyne statt Interessen und Vorlieben plötzlich den Zufall als die Ursache unserer Wahrheitspaläste, ohne diesen Widerspruch aufzulösen. Der Prozess der Geschichte sei eine Abfolge von Zufällen und basiere nicht auf Vernunftgründen oder den Produktionsverhältnissen (S. 142 f.). Alle geschichtlichen Prozesse jenseits von Ökonomie und Ideologie, also Mythos, Kunst und Wissenschaft, könne man nur beschreiben, wenn man Rationalität und Wahrheit fallen lasse; und auch die Sozial- und Ökonomiegeschichte sei ohne Wahrheit und Vernunft (S. 143 f.). Alles sei irrational, es gäbe keinerlei Determinismus, die Geschichte ist eine zufällige Abfolge von Wahrheitspalästen, ohne Vernunft (S. 145 f.; 153 f.).

Diese Verhältnisse bezieht Paul Veyne immer auf „uns“, also auf alle Menschen. Alle Menschen würden diesen Gesetzen quasi willenlos unterliegen, ohne Ausnahme. Wir alle würden nur Interessen verfolgen, auch wenn wir uns selbst über unsere Motive täuschen würden (S. 72). Unser Geist tue es ohne Unterlass, das sei unser Alltagsleben (S. 105 f.). Unsere Wahrheitsprogramme veränderten sich ohne unser Wissen, der Mensch sei kein denkendes Schilfrohr im Wind (S. 141). Damit ist gemeint: Das Schilfrohr kann sich nur passiv im Wind neigen, und der Mensch wisse noch nicht einmal, dass er nur wie ein Schilfrohr sei. Veyne meint auch, dass es gar nicht unaufrichtig sei, verschiedene Wahrheitsprogramme im Kopf zu haben, die sich widersprechen, denn auch das würden wir alle so tun; unser Geist täte dies ohne Unterlass (S. 105 f.).

Warum das falsch ist, und wie es eigentlich ist

Diese Grundideologie von Paul Veyne ist natürlich extrem zynisch und sinnleer. Man muss sich das nur einmal vorstellen! Aber natürlich ist diese Grundideologie vor allem auch einfach nur falsch. Es beginnt damit, dass Paul Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält. Das ist natürlich Unsinn. Die Erfahrung lehrt uns alle, dass diese Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn wir uns nicht gemäß der Realität verhalten, dann werden wir hart mit der Realität zusammenstoßen. Die Empirie erkennt diese Realität, und die Vernunft ordnet die einzelnen Erkenntnisse, so dass wir uns orientieren können, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Und nicht nur die Umwelt, sondern auch das Wesen des Menschen selbst ist teilweise vorgegeben. Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Das „Ding an sich“ von Immanuel Kant ist zwar letztlich nicht erkennbar, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass es doch existiert. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, dichtete schon Friedrich Schiller im Wallenstein.

Natürlich ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Realität gibt, und damit auch eine echte Wahrheit. Und zwar genau eine in sich konsistente Wahrheit, und nicht zwei Wahrheiten, die sich widersprechen. Natürlich kennen wir alle die eine, echte Wahrheit nicht, und wir alle sind immerzu auf dem Weg, uns der Wahrheit anzunähern, und natürlich begehen wir dabei auch Irrtümer, die uns wieder von der Wahrheit entfernen, aber deshalb ist es noch lange nicht vernünftig, Vernunft und Wahrheit kurzerhand ganz fallenzulassen. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Ja, die Tatsachen existieren nicht „einfach“, sondern bedürfen der Interpretation, das ist schon richtig. Aber das ist kein Grund, die Existenz der Tatsachen selbst anzuzweifeln. Zudem: Würde es weder Vernunft noch die Annahme einer gemeinsamen, anstrebbaren Wahrheit geben, dann würde der Diskurs unter den Menschen unmöglich werden, der eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft ist. Veyne stellt hier die Menschlichkeit des Menschen infrage.

Natürlich wird menschliches Denken und Handeln vielfach durch Interessen und durch Zufall bestimmt, und natürlich ist das dem denkenden Menschen oft nicht bewusst – aber zu behaupten, dies sei immer und grundsätzlich so, ist entschieden zuviel behauptet. Es ist doch gerade die Bildung, die den Menschen über sein bloßes materielles Dasein hinaus erheben möchte. Es ist doch ein Kennzeichen von Bildung, sekundäre Motivationen wie Interessen und Vorlieben zu erkennen, und die Vernunft besser und richtiger zu benutzen. Bildung ist es, an sich selbst zu arbeiten und innere Widersprüche im eigenen Denken aufzudecken und auszuräumen. Doch Paul Veyne tut so, als seien alle Menschen nur ungebildete, bornierte Kleinbürger. Aber selbst diese sind noch reflektierter als Veyne es zugeben möchte, deshalb noch niedriger: Als seien alle Menschen – alle! – Menschen nicht viel besser als Tiere, die nur ihren Reflexen gehorchen. Wer nach Vernunft und Moral strebe, der täusche sich nur über seine wahren Motive, meint Veyne. Für Veyne ist der gute, nach Vernunft, Moral und Wahrheit strebende Mensch praktisch nur ein unaufgeklärter Idiot, über den er müde lächelt. Veyne untergräbt hier die Grundlagen von Bildung und Kultur, und rührt mit diesem Weltbild auch an die Grundfesten des Humanismus. Es ist einfach nur verantwortungslos und falsch.

Das zynische Geschichtsbild von Paul Veyne

Auf der Grundlage der dargestellten Ideologie ist dann auch das Geschichtsbild von Paul Veyne einfach nur zynisch und sinnlos zu nennen. Es gäbe keine Kausalität im Ablauf der Geschichte, sie sei unvorhersagbar, meint Veyne. Alle Versuche, den Lauf der Geschichte im Nachhinein zu erklären, seien unglaubwürdig, weil selektiv. Es sei geradezu verwunderlich, dass es so etwas wie geschichtliche Kontinuitäten gäbe. Man müsse jedes geschichtliche Ereignis als Einzelereignis für sich allein betrachten, und dann könne man auch keine Erklärung mehr dafür geben.(S. 49-54)

Geschichtsschreibung sei ein Mittel der Glaubensbildung, wie – so Veyne – der Journalismus auch (S. 15). Reporter würden nicht glaubwürdiger, wenn sie die Quellen ihrer Recherchen nennen würden, meint Veyne (S. 21). Was sei die geschriebene Geschichte? Es sei einfach die Politik von früher (S. 82). Wo die Moderne in der Geschichte ein Ringen um Aufklärung sieht, sieht Paul Veyne nur ein rationales Mäntelchen zur Fortsetzung des Wunderbaren (S. 62).

Das Ideal der Geschichtsschreibung des Historikers Paul Veyne besteht darin, den zufälligen Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ginge darum zu beschreiben, was die Menschen sich jeweils als Wahrheitspalast errichtet hätten, und wie sie die materielle Realität selektiv wahrgenommen hätten (S. 150). Die Menschen könnten aus der Geschichte aber nichts lernen; eine reflexive Analyse führe nicht zu einer Annäherung an die Wahrheit, sondern nur zu einem anderen Wahrheitsprogramm (S. 150). Die Reflexion des Historikers ist somit nicht als ein Licht auf dem Weg zu verstehen, ein Blick zurück in die Geschichte würde in keiner Weise dabei helfen, den richtigen Weg zu finden (S. 153 f.). Die Wahrheit sei, dass die Wahrheit veränderlich sei, und das könne man ohne Selbstwiderspruch sagen, meint Paul Veyne (S. 141, 152). Die Aufgabe des Historikers sei es, Wahres über Wahrheitspaläste zu sagen (S. 152).

Man fragt sich natürlich, was eine solche Geschichtsschreibung noch für einen Sinn macht. Lernen soll man also nichts können aus der Geschichte. Soll der Geschichtsschreiber dann also mit einer Tinte schreiben, die sich sofort wieder selbst auslöscht, und nur leere Seiten bleiben, wie beim „Alten vom wandernden Berge“ in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende? Oder soll man sich den Geschichtsschreiber wie Sisyphos vorstellen, als einen glücklichen Menschen mit sinnloser Aufgabe? Und der Gipfel ist ja, dass Paul Veyne für sich als „Geschichtsschreiber neuen Typs“ in Anspruch nimmt, er könne echte Wahrheiten über die Pseudo-Wahrheiten aller anderen aussagen, und dass das kein Widerspruch sei. Sein hilfloser Versuch, dies mit dem Dilemma „Alle Kreter lügen, sagte ein Kreter“ zu begründen, verfängt nicht beim gebildeten Leser, der den Unsinn von Paul Veyne an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit gnädigen Augen liest. Er, Paul Veyne, stehe also irgendwie über den Dingen, und wenn er in diesem Buch ständig von „wir“ und „uns“ spricht, die wir alle ungebildet und dumm unseren tierischen Reflexen folgen, dann hat er sich selbst immer ausgenommen? Aha. Ist das jetzt das „Interesse“ und der „Wille zur Macht“ von Paul Veyne?

Falsche und zynische Darstellung der antiken Geschichtsschreibung

Nach einer langen, langen Einleitung kommen wir in dieser Rezension jetzt zum ersten Mal auf die Antike zu sprechen, um die es ja eigentlich gehen sollte, aber offensichtlich nicht geht. Noch vor den Mythen widmet sich Paul Veyne der antiken Geschichtsschreibung. Dreiviertel der Texte antiker Geschichtsschreiber gingen allein auf deren Einbildungskraft zurück, meint Veyne allen Ernstes (S. 124). Bei der antiken Geschichtsschreibung habe es sich um ein Mittel der Glaubensbildung gehandelt (S. 15). Das Wort „historia“ wird von Veyne als „Ermittlung“ im Sinne einer schlechten journalistischen Recherche gedeutet (S. 20).

Das kritische Denken, das wir bei Autoren wie Herodot sehr wohl finden, wird von Paul Veyne niedergemacht und schlechtgeredet, ohne Herodot beim Namen zu nennen (S. 18 f.). Die Aussage von Herodot, dass er sich verpflichtet fühle, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie hörte, auch wenn er selbst nicht daran glaube, wird von Veyne nicht als ein Fortschritt von Vernunft und Kritik gefeiert, sondern als angebliches Eingeständnis, dass alles, was Herodot bis zu diesem Punkt berichtet habe, eine unkritische Wiedergabe der Quellen gewesen sei (S. 23). Paul Veyne hegt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen die guten Absichten von antiken Geschichtsschreibern (S. 101 f.).

Die Bitte Ciceros, dass man seine Taten propagandistisch aufwerten möge, ohne dabei allzusehr auf die Regeln der historischen Gattung zu achten, wertet Veyne als Hinweis auf die Verlogenheit der Zeit, übersieht aber völlig, dass in dieser Bitte die Aussage enthalten ist, dass die historische Gattung Regeln kennt (S. 24). Und die Kritik, die Cicero und Livius an den Überlieferungen der Frühzeit üben, sei in keiner Weise eine historische Kritik, meint Veyne (S. 67). Der Geschichtsschreiber, der die Genealogie der Könige von Arkadien niederschrieb, habe wie ein Romanautor gehandelt, glaubt Veyne zu wissen (S. 125).

Wir können uns dieser zynischen, schiefen und falschen Sichtweise auf die antike Geschichtsschreibung natürlich nicht anschließen. Es tut weh, diesen üblen und unfairen Rabulismus auf Autoren wie Herodot angewandt zu sehen.

Schief und falsch verwendete Begriffe senden unterschwellige Botschaften

Während der Lektüre fällt immer wieder auf, dass Paul Veyne bestimmte Worte nicht gemäß ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet. Seine teils schiefe, teils falsche Verwendung von Begriffen ist nicht etwa bloße Ungeschicklichkeit, und auch kein abkürzendes, „faules“ Sprechen, wie es dem Leser beim Beginn seiner Lektüre noch erscheinen will, sondern offenbar ganz bewusst so gewählt, um den Leser dadurch zu manipulieren. Zum einen verschwimmen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung, so dass die Klarheit der Bedeutung der Begriffe unterminiert wird. Auf diese Weise wird dem Leser Glauben gemacht, die Begriffe hätten keine hinreichend klare Bedeutung, so dass die Glaubwürdigkeit von Veynes vernunftwidrigen Thesen bei weniger gebildeten Lesern erhöht wird. Zum anderen werden durch die falsche Verwendung der Begriffe unterschwellige Botschaften transportiert. Wahres und Gutes erscheint als verlogen und schlecht, Schlechtes und Verlogenes als gut und wahr, ganz wie es die Ideologie von Paul Veyne fordert. Und nein: Diese Phänomene verdanken sich nicht einer schlechten Übersetzung; sie sind auch im französischen Originaltext vorhanden.

So spricht Veyne z.B. gerne kurzerhand in absoluter Weise von „Wahrheit“, wo er besser von „damals geglaubter Wahrheit“ gesprochen hätte (S. 9 f., 105). Ob mit dem Wahrheitsbegriff die Realität oder eine Bedeutung im übertragenen Sinn gemeint ist, wird von Veyne ebenfalls nicht unterschieden (S. 32 f.). Mit Nietzsche sagt er kurzerhand: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.). Aber um genau zu sein, hätte er besser davon gesprochen, dass sie nicht „einfach“ existieren, sondern – obwohl sie nämlich sehr wohl existieren – nicht ohne Interpretation zu haben sind. Vom Mythos meint Paul Veyne, dass er weder wahr noch falsch sei (S. 41). Aber das kann man so nicht sagen. Denn natürlich gibt es Mythen, die einfach nicht wahr sind, und dann gibt es wiederum Mythen, die einen beachtlichen wahren Kern haben. Aber Veyne interessiert das offenbar nicht. Dann meint Veyne, dass eine Lüge im Mythos solange nicht als Lüge gelte, solange der Erfinder der Lüge daraus keinen Vorteil ziehe (S. 41). Das ist eine sehr ungewöhnliche Definition von Lüge, die dem allgemeinen Verständnis von Lüge zuwiderläuft. Für gewöhnlich knüpft man das Wesen der Lüge an das Bewusstsein des Autors, ob er denn weiß, dass er lügt.

Völlig gegen das allgemeine Verständnis wird auch das Phänomen des Fälschers aufgefasst. Paul Veyne nennt auch das eine Fälschung, was ihr Autor völlig ernst meinte, und erst später als falsch erkannt wird (S. 126). Der Vorgang des Fälschens wird konsequent relativiert: Eigentlich sei doch jeder der Fälscher eines anderen Wahrheitsprogrammes, meint Veyne (S. 128). Der Fälscher sei gewissermaßen ein Fisch im falschen Gefäß (S. 130), und überhaupt seien die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung reine Konvention (S. 125). Man könne einfach nicht zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen unterscheiden, das ginge gar nicht, meint Veyne (S. 124). Paul Veyne vermeidet konsequent, den zentralen Gedanken des Fälschens auszusprechen: Dass sich ein Fälscher nämlich bewusst sein muss, dass er eine Unwahrheit produziert. Dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass jemand bewusst fälscht und deshalb mit Recht ein Fälscher genannt wird, und dass jemand, der nicht bewusst fälscht, auch nicht Fälscher genannt zu werden verdient, egal wie falsch seine Worte auch immer sein mögen, diese Idee wird bei Paul Veyne konsequent ausgeblendet, sie existiert gar nicht. Für Paul Veyne sind Fälscher und Lügner Menschen, die die Wahrheit sprechen, nur in einem anderen Bezugssystem. Was für ein Unsinn.

Für einen Historiker wie Paul Veyne besonders bezeichnend ist die ständig wiederholte Verwendung des Wortes „Geschichte“, wo man besser von „Geschichtsschreibung“ gesprochen hätte (z.B. S. 15, 125 f.). Dahinter steckt natürlich seine Idee, dass es keine echte Wirklichkeit gibt, sondern nur Wahrheitspaläste, die mit einer empirischen Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das allgemeine Verständnis des Wortes „Geschichte“ als dem, was wirklich passiert ist, wird deshalb von Veyne mit der Bedeutung des Wortes „Geschichtsschreibung“ überschrieben, also dem, was die Leute glauben, dass angeblich passiert sei. – Auch die Vernunft erleidet bei Paul Veyne dieses Schicksal: Überall dort, wo er eigentlich von einer „Rationalisierung“ sprechen müsste, nämlich einer rationalisierenden Deutung von Mythen, spricht Veyne konsequent von „Rationalismus“ (z.B. S. 84, 134). Nun ist aber nicht jede rationalisierende Deutung von Mythen auch rational(istisch). Im Gegenteil, oft ist eine rationalisierende Deutung von Mythen falsch und irrational. Aber für Paul Veyne gibt es ja keinen echten Rationalismus, und so spricht er kurzerhand von „Rationalismus“, wo er Rationalisierung meint. Dadurch wird die Rationalität, die Vernunft selbst, der Lächerlichkeit preisgegeben, und von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdet.

Ähnliches geschieht auch, wo Paul Veyne von den „verantwortungsbewussten“ Leuten spricht, die im Glauben an die vermeintlich gute Sache mit der Wahrheit nicht pingelig sind (S. 98). Natürlich sind Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, alles andere als „verantwortungsbewusst“. Solche Leute halten sich vielleicht selbst für verantwortungsbewusst und sie stellen sich vielleicht selbst als verantwortungsbewusst heraus (man vergleiche den Unbegriff des „Gutmenschen“), aber sie sind natürlich nicht wirklich verantwortungsbewusst. Paul Veyne hätte das Wort „verantwortungsbewusst“ an dieser Stelle in Anführungszeichen setzen müssen, um Ironie deutlich zu machen. Aber er hat es nicht getan. Denn für ihn ist es keine Ironie. Für ihn ist es ernst. – Und schließlich wird so auch der Begriff des „Patriotismus“ unterminiert. Paul Veyne verwendet das Wort „Patriotismus“ konsequent im Sinne von „Nationalismus“ (S. 100, 151). Auf diese Weise wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen einem Menschen, der sein Land liebt, und einem hässlichen Nationalisten. Für Paul Veyne ist das offenbar dasselbe. Wie primitiv.

Die Gefährlichkeit der Ideologie von Paul Veyne

Der gebildete Leser hat natürlich längst erkannt, wie gefährlich die Ideologie von Paul Veyne ist. In ihr ist das Potential zu jedem beliebigen Unsinn und damit zu jedem beliebigen Verbrechen angelegt. Wir sind jedoch nicht darauf angewiesen, solche Auswüchse lediglich theoretisch zu schlussfolgern, nein, Paul Veyne präsentiert uns noch in demselben Büchlein mehrere bedauerliche Anwendungsfälle seiner Ideologie, wo es richtig gefährlich wird.

Zunächst steht die Ideologie von Paul Veyne jeder Form von Wissenschaft diametral entgegen. Wenn es keine Annäherung an die Wahrheit geben kann, keinen Rückbezug zur Empirie, und alles nur frei schwebende Illusion ist, dann kann es auch keine Wissenschaft geben. So meint Paul Veyne denn auch konsequenterweise, dass religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins auf einer Stufe stünden (S. 140). Die Erfindung des Mikroskops durch Leeuwenhoek und die dadurch möglich gewordene Entdeckung der Mikroben seien nach Meinung von Paul Veyne außer zur Konversation zu nichts gut gewesen (Fußnote 215). So spannt er auch das naturwissenschaftliche Prinzip der Auffindung immer besserer Erkenntnisse in das Prokrustes-Bett seiner Ideologie und spricht auch hier von der „wissenschaftlichen Wahrheit, die dauernd provisorisch ist“, obwohl das Wort „Wahrheit“ hier natürlich nicht hingehört, das ist der springende Punkt, und er spricht vom „Mythos der Wissenschaft“ (S. 138). An einer Stelle verteidigt Veyne auch eine rhetorisch interessegeleitete Lüge von Galen (S. 72), und wie gesehen gibt es für Paul Veyne eigentlich keine Fälscher. Letztlich stellt Paul Veyne damit auch seine eigene Profession infrage, denn wie will er unter diesen Voraussetzungen Geschichtsschreibung als Wissenschaft betreiben?

Zum Nationalsozialismus finden wir bei Paul Veyne besonders unappetitliche Aussagen. Auch der Nationalsozialismus war nach Meinung von Paul Veyne eine „Erfindung“ aus heiterem Himmel, und lasse sich nicht auf auf wesentliche Gründe und Ursachen zurückführen, sondern sei in keiner Weise vorhersagbar gewesen (S. 52), woran kleine Kausalitäten nichts ändern, die Paul Veyne immerhin doch sieht. Ganz so aus heiterem Himmel wurde der Nationalsozialismus dann aber wohl doch nicht „erfunden“, wie Veyne meint, auch wenn eine starke Kausalität ebenfalls eine Übertreibung wäre. Da Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält, kommt er konsequent zu der Ansicht, dass allein das Interesse, nicht an Auschwitz glauben zu wollen, genüge, um alle Zeugnisse über Auschwitz unglaubwürdig werden zu lassen (Fußnote 8). Folgerichtig wird dann der Holocaustleugner Faurisson nicht als Fälscher gedeutet – wir sahen oben schon, dass es für Veyne gar keine Fälscher im eigentlichen Sinne gibt – sondern als Mythenmacher (!), dessen Fehler allein darin bestand, zu argumentieren, und eben nicht, wie es ein guter Mythenmacher im Sinne von Paul Veyne hätte tun sollen, einfach apodiktische Behauptungen zu verbreiten (S. 127 f.). Paul Veyne findet es zudem angebracht, einen dummen Witz über den Holocaustleugner Faurisson zu reißen: Auch der Fälscher selbst sei eine Fälschung gewesen, denn es gäbe gar keine Holocaustleugner, wenn man nur aufhören würde, an die Existenz solcher mythischen Wesen zu glauben (S. 126 f.). Aber da müssen wir mit Bertrand Russell kontern: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben. Schließlich witzelt Veyne auch noch dumm über das Thema Verantwortung herum: Verantwortungslosigkeit sei ja sooo schlimm, und deshalb „sicherlich“ auch falsch; Diodor könne das bestätigen, meint er nur sarkastisch-ironisch (S. 142). Mit anderen Worten: Das ganze Geschwätz von der Verantwortung ist genauso Unfug wie das Geschwätz über geschichtliche Wahrheit, denn beides gibt es für Veyne nicht. Gott sei Dank geht es darum ja gar nicht, meint Paul Veyne. Das ist nur logisch: Wo es keine Wahrheit gibt, kann es keine Verantwortung und auch keine Schuld geben. Wir müssen uns Paul Veyne als glücklichen Kollaborateur des Vichy-Regimes vorstellen – oder was sollte man von jemandem erwarten, der Wahrheit und Vernunft beiseite wischt und statt dessen vom „Willen zur Macht“ spricht?

Wir sahen oben schon, dass die Ideologie von Paul Veyne – horribile est dictu – ein Angriff auf den Humanismus ist. Wenn es keine Wahrheit gibt und die Empirie vernachlässigbar ist, dann kann der Mensch auch nichts lernen, und es sind auch keine vernünftigen Diskurse unter den Menschen möglich. Auch Wissenschaft ist ohne Humanismus nicht möglich. Der Gedanke, dass es gerade die Bildung ist, die den Menschen über seine Abhängigkeiten, über seine Interessen und Vorlieben erhebt und zu einem selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Menschen macht, fehlt bei Paul Veyne völlig. Für Veyne muss man gleich ein „Genie“ sein, um aus einem Wahrheitsprogramm, in dem man sich befindet, wieder herauszukommen (S. 141). Bloße Bildung reicht offenbar nicht bzw. existiert in Veynes Welt nicht. Es gibt natürlich auch keine Moral. Allein die moralische Grundfrage, was denn zu tun ist, sei schon verfehlt; nur der Anthropozentrismus glaube an eine Antwort auf diese Frage, so Veyne (S. 151). Die meisten Jahrhunderte hätten sich diese Frage zudem gar nicht gestellt, meint Veyne (S. 151). Wirklich? Da haben wir die Geschichte aber ganz anders verstanden. Veyne meint auch, dass es keine der Natur der Dinge einbeschriebene Struktur gäbe, die eine Moral begründen könnte: Auch Kritiken wie Entmystifizierung, Sprachkritik und Ideologiekritik seien nur Romane (S. 151). Vorstellungen von Sinn und Moral seien immer Fälschungen und als solche leicht erkennbar: Sie verströmen menschliche Wärme, und das sei per se schon falsch (S. 151). Wahrheit sei einfach zu nichts zu gebrauchen (S. 153). Im vorletzten Absatz des Buches schreibt Veyne: „der Mensch ist eben kein denkendes Schilfrohr. Habe ich deshalb dieses Buch auf dem Lande geschrieben? Ich beneidete die Tiere um ihre Gelassenheit.“ (S. 154) Das ist eine unmissverständliche Absage an den Humanismus, in Form der Bevorzugung des Nichtdenkens der Tiere.

Der ideologische Hintergrund

Paul Veyne kommt oft auf Nietzsche zu sprechen, erwähnt hin und wieder Max Weber, lobt den Rationalismus-Gegner Paul Feyerabend (Fußnote 166), und nennt einmal die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus, konkretisiert in der Auseinandersetzung von Habermas und Foucault (S. 143). Hier sind wir genau beim Punkt. Das postmoderne Denken von Michel Foucault ist die Quelle von Paul Veynes Ideologie. Es war Foucault, der statt Vernunft und Wahrheit Interessen und Machtverhältnisse ins Zentrum rückte. Es war Foucault, der Begriffe und Werte beliebig umdefinierte: Wahrheit gab es nicht mehr, Kranke galten nicht mehr als krank, Wahnsinnige nicht mehr als wahnsinnig, Kriminelle nicht mehr als kriminell. Und Foucault stützte sich auf den Nihilismus Nietzsches und dessen radikale Vernunftkritik.

Michel Foucault fand viele Anhänger, stieß aber auch auf heftige Kritik: Schon Sartre warf ihm vor, den Humanismus zu verwerfen und die Grundlagen des aufklärerischen Denkens infrage zu stellen. Foucault wurde vorgeworfen, unklare und konfuse Begriffe zu verwenden und selbstwidersprüchlich zu sein. Außerdem habe er historische Fakten unzuverlässig verwendet. Für den Historiker Hans-Ulrich Wehler war Michel Foucault „ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“.

Auch das Denken von Michel Foucault hatte gefährliche Konsequenzen: So unterstützte bzw. verharmloste Michel Foucault sowohl die Errichtung eines totalitären Gottesstaates im Iran als auch die massenmörderische Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha.

Warum Paul Veyne seine eigene Ideologie nicht glaubt

Es gibt einige Stellen und Aspekte, wo deutlich wird, dass Paul Veyne offenbar nicht wirklich von seiner eigenen Ideologie überzeugt ist. Da ist zunächst der Umstand zu nennen, dass Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben hat. Wozu, wenn es keine Wahrheit gibt, an die man sich annähern kann? Wozu, wenn argumentieren nicht hilft? Wozu, wenn man aus der Geschichte nichts lernen kann? Und wozu, wenn Veyne in seinem ganzen Wissenschaftsverständnis nicht ernst genommen werden kann? Im Grunde hat er ja gar kein Wissenschaftsverständnis, sondern das Gegenteil davon: Ein Verständnis, dass Wissenschaft unmöglich und sinnlos ist. – Und dennoch hat Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben, das er als wissenschaftlicher Historiker geschrieben hat, und in dem er keine apodiktischen Mythen verbreitet sondern teilweise argumentiert. Wie sollen wir ihm da glauben, dass er an seine eigene Ideologie glaubt?!

Wir sahen schon eine Reihe von Beispielen, wo Paul Veyne selbstwidersprüchlich argumentiert. Aber vielleicht glaubt er ja wirklich an die Möglichkeit seiner Selbstwidersprüche. Interessant ist jedoch, dass er bei der Frage nach der Entstehung des Nationalsozialismus entgegen seiner vollmundigen Thesen, dass Geschichte sich rein zufällig ereigne, und dass der Nationalsozialismus gewissermaßen eine zufällige Erfindung der Geschichte sei, dennoch „kleine kausale Serien“ sehen will (S. 52). Wie das? Woher kommt jetzt diese kleine Kausalität?! So klein sie auch sein mag, ist es doch eine Kausalität. Hier ist Veyne nicht konsequent. – Nachdem Veyne zunächst erklärt hatte, dass die verschiedenen Wahrheitsprogramme sich gar nicht widersprechen könnten, weil es eben nicht um Wahrheit ginge, und ein Mensch auch völlig widerspruchsfrei mehrere sich gegenseitig (dann also wohl nur scheinbar?) widersprechende Wahrheitsprogramme zugleich im selben Kopf haben könne, erklärt Veyne, dass ein vernünftiges Ringen von Argumenten in Wahrheit ein Kampf verschiedener Wahrheitsprogramme miteinander sei (S. 92). Doch wie das, wenn sie sich gar nicht widersprechen? Können sich verschiedene Wahrheitsprogramme nun widersprechen oder nicht? Paul Veyne klärt dieses Rätsel an keiner Stelle auf.

Immer wieder stellt Paul Veyne in diesem Büchlein klare Behauptungen mit Wahrheitsanspruch auf, obwohl es doch seiner Auffassung nach gar keine Wahrheit geben kann. Besonders deutlich in seiner apodiktischen Aussage „Die Wahrheit ist einfacher: ….“ (S. 104, „La verité est plus simple“), die ausgerechnet inmitten einer Orgie von Aussagen getätigt wird, dass es keine Wahrheit gäbe. Auf den Doppelpunkt folgt zudem ein Argument – wie aber kann Veyne argumentieren, wo das doch seiner Auffassung nach nichts bringt? Vom „Patriotismus“ behauptet Veyne, dass er Millionen Tote gefordert habe (er meint natürlich den Nationalismus, aber lassen wird das jetzt), und gibt sich sehr überzeugt davon (S. 151). Der Wahrheitsanspruch ist auch hier nicht übersehbar. Auch der Satz „Die zweite Interpretation ist die einzig richtige“ formuliert eine überraschend klare Wahrheitsbehauptung (S. 131). Und wenn es um Heidegger geht, den er offenbar nicht mag, ist plötzlich wieder Kritik gefragt, obwohl die doch laut Veyne gar nicht möglich ist: „Man hat den Verdacht, dass ein wenig historische und soziologische Kritik besser wäre als noch so viel Ontologie.“ (S. 130).

Wir erinnern uns auch, dass Paul Veyne sich sehr viel Mühe damit gegeben hatte, den Menschen als von Motiven geleitet darzustellen, über die er sich selbst gar nicht bewusst ist: Nicht Vernunft, Wahrheit und Moral würden den Menschen leiten, sondern Interesse, Vorlieben und Zufälle. Doch in Fußnote 33 erfahren wir plötzlich, dass Kinder, Primitive und Gläubige nicht naiv seien: Sie würden Imaginäres und Wirkliches gar nicht verwechseln, obwohl Veyne uns doch glauben machen wollte, dass man das gar nicht unterscheiden könne. Wir erfahren auch von einem Stamm, der Menschen, die sich aus religiös-rituellen Gründen für Wildschweine halten, klar von echten Wildschweinen zu unterschieden weiß. Sieh an, wer hätte das gedacht! Ist die Empirie also doch nicht vernachlässigbar?!

Und im Schlusssatz dieses Büchleins meint Paul Veyne dann: „Schon beim Lesen des Titels wird jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt, vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ “ Hier nun endlich, im letzten Satz, taucht sie doch noch versteckt auf, die Bildung! Die Bildung, die es angeblich gar nicht geben soll. Die Bildung, die es uns ermöglicht, aus unserem modernen Bezugssystem auszubrechen, in dem die antiken Mythen keine Wahrheit mehr haben, und uns in das Bezugssystem antiker Menschen zu versetzen, die natürlich in verschiedentlichster Weise an ihre Mythen glaubten. Es ist diese Bildung, die diese Transferleistung im Denken ermöglicht, mithilfe der Vernunft und der Wahrheit als Ziel, und man muss dazu noch nicht einmal ein Genie sein, wie Paul Veyne behauptete.

Wir glauben nicht, dass Paul Veyne wirklich ungebrochen an seine eigene Ideologie glaubt. Es ist ein Mythos, dass Veyne im „ungebrochenen Mythos“ seiner Ideologie lebt. Wir glauben dies nicht, erstens, weil dies gar nicht geht. Theoretisch nicht. Und praktisch erst recht nicht. Wir glauben es aber auch zweitens nicht, weil Paul Veyne – wie gezeigt – mehrfach deutlich erkennen ließ, dass er nicht daran glaubt. Die Frage ist, inwieweit sich Paul Veyne darüber im Klaren ist? Wir fühlen uns unwillkürlich an Erich von Däniken erinnert, dessen saftige Selbstironie ja auch nicht zu übersehen ist: Auch er glaubt und glaubt doch nicht wirklich an seine eigenen Mythen. Beide, Paul Veyne und Erich von Däniken, sind in einer bedauernswerten Gemengelage von Irrtum und Durchschauen des Irrtums gefangen. Das Durchschauen des Irrtums hat aber den Durchbruch zur Dominanz im Denken beider nicht geschafft.

Endlich: Das Thema Mythen!

Jetzt endlich kommen wir in dieser Rezension zu dem eigentlichen Thema von Veynes Büchlein, das im Titel angekündigt wurde, und wegen dessen die meisten Leser dieses Büchlein zu lesen begonnen haben werden – zu Ende gelesen werden es aber nur die wenigsten haben, denn es geht, wie gesehen, zuerst um ganz andere Themen, und dann erst um Mythen.

Leider ist Paul Veyne nicht in der Lage, die bei den Griechen entstehende Mythenkritik angemessen zu würdigen. Denn für Paul Veyne gibt es ja keine Annäherung an eine Wahrheit, und man könne auch nichts lernen, und es würde immer nur ein Wahrheitspalast durch einen anderen ersetzt, ohne Beteiligung der Vernunft. Deshalb wohl macht sich Paul Veyne lustig darüber, dass die Griechen die Frage nach der Wahrheit stellten, und redet von „Denkpolizist“ (S. 76). Die geistige Leistung der Griechen und der kulturelle Fortschritt sind für Veyne nur ein Witz. Er meint in unverständlichen Worten, dass die Kritik am Mythos durch die Transformation der Zeitlichkeit entstand, aber wie das zuging, wolle er eigentlich gar nicht wissen (S. 47). Der Leser ist schockiert: Das ist doch genau sein Thema, und er will es nicht wissen?! An anderer Stelle wendet er sich ebenfalls gegen Versuche, die Mythenkritik zu erklären, weil sie ein Ergebnis vieler Zufälle sei (S. 48 f.). In Fußnote 210 erfahren wir dann, dass sich Paul Veyne Hampl anschließe, demzufolge – angeblich – Mythos, Sage und Märchen nicht unterscheidbar seien. Das ist eine weitreichende Aussage, warum nur in einer späten Fußnote? Und nirgendwo finden wir eine saubere Unterscheidung verschiedener literarischer Gattungen: Sage, Legende, Mythos, Märchen, usw. – Wir sehen, dass sich die Ideologie von Paul Veyne äußerst negativ auf seine Behandlung des Themas auswirkt.

Tatsächlich werden alle Fragestellungen, die man zu Mythen haben kann, bei Veyne in der ein oder anderen Weise aufgeworfen und angesprochen. Doch die Perspektive ist häufig schräg, und es wird selten hinreichend differenziert. Oft wird rabulistisch über die verschiedenen Zeiten hinweggegangen, und viel zu weitreichende Pauschalurteile gefällt („die Griechen glaubten …“). Man könnte immerhin sagen, dass Paul Veyne eine Fundgrube für interessante Gedanken zum Thema Mythen ist. Das ja. Man kann dieses Büchlein zur Anregung lesen, um auf Gedanken zu kommen, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Wir zählen nur kurz einige Themen auf, die angesprochen werden:

  • Das mythische vs. das historische Zeitalter.
  • Mythos und Logos seien nicht einfach ein Gegensatz.
  • Glaube variiert in Graden und Formen.
  • Glaube variiert nach sozialer Schicht, Bildung.
  • Glaube variiert je nach Jahrhundert, von Homer bis Pausanias.
  • Text ohne Autor; Tradition schafft Autorität.
  • Mythen haben soziale Funktionen.
  • Kriterium Entmythologisierung: Vergangenheit nicht wunderbarer als Gegenwart.
  • Kriterium Entmythologisierung: Wahren Kern herausschälen.
  • Dass Mythen völlig unwahr sind, also Lüge, hätten „die Griechen“ nicht erkannt.
  • Pausanias mache dann den Schritt zur allegorischen Deutung.
  • Der Entmythologisierer begründet selbst einen neuen Mythos.
  • Mythensammler schufen Kanon, Varianten, verursachten einen Kahlschlag der Varianten.
  • Mythen können Chiffren in diplomatischer Sprache sein.
  • Problem der Entmythologisierung wurde nie gelöst, sondern wurde durch Christentum obsolet.

Paul Veyne kommt immer wieder darauf zurück, dass die Griechen nie erkannt hätten, dass die Mythen einfach Lügen seien (z.B. S. 136). Der Leser fragt sich: Kann man das denn so pauschal sagen? – Immer wieder kommt Veyne darauf zurück, dass die heute gültige, moderne Deutung von Mythen die Deutung als Archetypen sei, also eine psychologisierende Deutung im Sinne von C.G. Jung (z.B. S. 26 f., 39, 75, 94). Doch das ist nur eine mögliche moderne Deutung von vielen! Wie kommt Paul Veyne darauf, dass es nur diese eine gäbe?! – Wiederholt meint Veyne, dass die griechische Skepsis, Rationalität und Geschichtsschreibung nicht so sei wie die unsere (S. 13, 115). Doch in welcher Weise? Das ist doch im Kern sehr zu bezweifeln, dass ihre Rationalität eine völlig andere war als unsere. – Einmal sagt Veyne, dass die Griechen bis zur Entmythologisierung unkritisch gläubig und unkritisch skeptisch gegenüber ihren Mythen gewesen wären (S. 26). Ein andermal sagt er, dass man mit Mythen bis zu Nietzsche und Max Weber unkritisch umgegangen sei. Weder das eine noch das andere kann den Leser überzeugen. Hier wird viel zu wenig differenziert. – Veyne behauptet, dass Hesiod seine Werke frei erfunden und zugleich daran geglaubt habe (S. 42). Das kann er einem gebildeten Menschen nicht erzählen. – Cicero hätte nicht an die Götter geglaubt (S. 65). Das bezweifle ich doch sehr. Es kommt darauf an, was man unter „Glaube“ und unter „Göttern“ versteht. – Autoren, die die Wahrheit von Mythen hochhalten, seien wie Philologen, die die erhaltenen Textstellen eines antiken Textes hochhalten (S. 91). Der Vergleich hinkt schwer.

Platon und Mythen

Geradezu dramatisch ist der Umstand, dass Paul Veyne in einem Werk über antike Mythen allen Ernstes glaubt, Platon auslassen zu können: „Doch überschlagen wir dieses Kapitel, vor dem selbst die kühnsten Kommentatoren zurückschrecken würden“; denn Platon mache alles, er deute Mythen allegorisch, oder mit geschichtlich wahrem Kern, oder er mache sogar eigene Mythen (S. 81). Das ist natürlich gar zu schrecklich, sich mit so einem wetterwendischen Wicht wie Platon zu befassen, das lässt man dann lieber gleich bleiben als Wissenschaftler, nicht wahr? Dass Platon eine absolut zentrale Rolle im antiken Diskurs über Mythen spielt, fällt für Paul Veyne offenbar nicht ins Gewicht. Er spricht diesen Umstand noch nicht einmal aus. Auch wegen dieses kühnen Übergehens von Platon ist Paul Veyne einfach nicht ernst zu nehmen. Dabei ist Paul Veynes Furcht nur allzu verständlich, denn Platon steht für alles, was Veyne ablehnt: Für Vernunft und das Streben nach der Wahrheit.

Durch die Hintertür hat sich Paul Veyne natürlich trotzdem mit Platon befasst. Es finden sich ungefähr zehn Stellen in diesem Büchlein, an denen Veyne auf Platon eingeht. Nur gibt Paul Veyne nicht zu, dass Platon wichtig ist. Offenbar will Paul Veyne Platon „vernichten“, indem er ihn lächerlich macht, systematisch fehlinterpretiert und vor allem ausblendet. Das ist dann fast schon kindisch.

Veyne unterstellt, dass Platon geglaubt habe, dass alle Mythen von Dichtern erfunden worden seien (S. 77). Das ist natürlich Unsinn, aber ganz im Sinne von Veyne. – Platons Diktum, dass man die Unwahrheit der Wahrheit so gut wie möglich nachbilden müsse, deutet Veyne so, dass jede Unwahrheit eigentlich nur eine Ungenauigkeit sei (S. 87). Auch das ist falsch, denn es gibt für Platon auch die klare Unwahrheit, Lüge und Fälschung, die kein Annäherungsversuch an die Wahrheit ist. Aber Veyne, für den es keine echten Fälscher gibt, sieht das natürlich anders. – In Platons Aussage zur Kriegstauglichkeit von Frauen deutet Veyne die Aussage zu den Sauromaten so, als würde Platon die Sauromaten als Kern des Amazonen-Mythos deuten (S. 112 f.; Nomoi VII 806ab). Doch das ist falsch. Es wird nur verglichen, „wie die Sauromatinnen“, aber es findet keine Ausdeutung des Mythos im Sinne von Paul Veyne statt. – An einer Stelle meint Veyne, die Griechen hätten sich nie mit dem Problem der Überlieferung befasst (S. 85). An einer anderen Stelle schreibt Veyne, dass man die Prinzipien der Kritik der Überlieferung bei Platon finden könne (S. 68). – Meistens wird die Zeitlichkeit der Mythen mit der Zeit bis zum Trojanischen Krieg angegeben (S. 11, 55, 92 ff.). An einer Stelle wird die Zeitlichkeit der Mythen jedoch lapidar „platonisch“ genannt (S. 40). Die platonische Vorstellung von Zeit war aber eine ganz andere als die der traditionellen Mythologie, nämlich zyklisch, wie Paul Veyne wiederum an anderer Stelle richtig erkannt hat (S. 64). Auch hier also eine flapsige Ungenauigkeit. Für Paul Veyne ist das aber vermutlich egal, und Flapsigkeit völlig gerechtfertigt, da ja ohnehin alles nicht wahr ist, da ja ohnehin kein Wert auf Vernunft gelegt werden kann, usw. usf.

In Fußnote 5 nennt Paul Veyne das Werk „Greece before Homer: Ancient Chronology and Mythology“ von John Forsdyke 1957 als eine seiner Quellen. Wir haben die Vermutung, dass Paul Veyne sich bei der Abfassung seines Büchleins allzu sehr auf dieses Werk gestützt haben könnte. „Allzu sehr“ nicht im Sinne eines Plagiates, aber in dem Sinne, dass auch bei Forsdyke Platon mehr oder weniger ausgeblendet wird, und dass auch bei Forsdyke eine übertriebene Schwerpunktbildung auf Pausanias zu beobachten ist, ganz wie bei Veyne.

Platons Atlantis

In Fußnote 89 kommt Paul Veyne sehr versteckt auch auf Platons Atlantis zu sprechen. Dort heißt es: „Zu den mythischen Zeitaltern bei Platon (Politik [Politeia] 268-269b; Timaios 21a-d; Gesetze 677d-685e), der sie richtig stellt und nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias, vgl. Raymond Weil, Archéologie de Platon, Paris 1959, S. 14, 30, 44.“

Mit den „mythischen Zeitaltern bei Platon“ ist zunächst nur von Platons zyklischem Geschichtsbild die Rede, auch wenn dies eng mit Platons Atlantis zusammenhängt. Doch mit der Stellenangabe Timaios 21a-d, in der nicht von Zeitaltern sondern von Ur-Athen und Atlantis zu erzählen begonnen wird, und dem Verweis auf Raymond Weil, in dessen Werk es zentral um Platons Atlantis geht, ist der Bezug zu Platons Atlantis dann unmissverständlich hergestellt. Und Platons Auffassung über – unter anderem – Atlantis ist Paul Veyne zufolge also, dass Platon „nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias“.

Wir könnten daraus jetzt ohne weiteres ableiten, dass Paul Veyne glaubt, dass Platon seine Atlantisgeschichte völlig ernst gemeint hat. Ohne weiteres könnten wir sagen, dass Paul Veyne damit gegen die Mehrheit der Historiker und Philologen steht, denenzufolge Atlantis eine Erfindung von Platon ist. – Doch halt! Paul Veyne verwischt ja gerade den Unterschied von Erfindung und Wahrheit. Für Paul Veyne gibt es auch keinen Fälscher, sondern nur verschiedene Wahrheitspaläste – die sich aber allesamt wiederum nur unserer Einbildungskraft verdanken. Die Empirie ist für Veyne vernachlässigbar. Wenn man dies bedenkt, dann ist Paul Veyne natürlich wieder ganz anders einzuordnen. Veyne glaubt vielleicht tatsächlich, dass Platon an Atlantis glaubte, aber Veyne glaubt zur gleichen Zeit auch daran, dass Platon Atlantis erfand. Ganz so, wie Veyne es auch für Hesiod sagt (S. 42). Das ist zwar Unsinn, aber Veynes Meinung. Mit anderen Worten: Paul Veyne hat eine Meinung, die wie ein Pudding ist, den man nicht an die Wand nageln kann. Auch der Verweis auf Raymond Weil ist vielsagend. Denn anders als Paul Veyne, demzufolge Platon daran glaubt, auch wenn er es erfunden hat, ist Raymond Weil ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat.

Immerhin können wir trotz allem eines ganz klar festhalten: Paul Veyne glaubt gewiss und sicher daran, dass Platon an seine Atlantisgeschichte glaubte. Veyne glaubt zwar zugleich auch, dass Platon die Atlantisgeschichte erfand, doch ändert das nichts daran, dass Paul Veyne sich in ganz klarem Widerspruch zu den meisten Historikern, Philosophen und Philologen befindet, die meistens der Auffassung sind, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat. Wenigstens diesen Widerspruch zur vorherrschenden Meinung können wir aus der Meinung von Paul Veyne herausdestillieren. Da gibt es nichts zu rütteln.

Merken wir noch an, dass Paul Veyne seine Meinung über Atlantis säuberlich in eine Fußnote versteckt hat, und auch innerhalb dieser Fußnote nur implizit durch einen Stellenverweis auf Platons Timaios und den Literaturverweis auf Raymond Weil deutlich werden lässt. Offenbar war es Paul Veyne unangenehm, seine eigene Ideologie auf das Thema Atlantis angewendet zu sehen. Er hätte ja auch ganz einfach explizit schreiben können: Platon glaubte an Atlantis und erfand es zugleich, so wie er es bei Hesiod ja auch macht. Aber vermutlich fürchtete er, es könne ihn jemand beim Wort nehmen: „Platon glaubte an Atlantis“, ohne den ganzen Wahnwitz seiner Ideologie zu erfassen: „und erfand es zugleich“. Es ist doch immer wieder interessant, was Wissenschaftler zum Thema Atlantis nur in Fußnoten zu schreiben wagen.

Formale Kritik

Da wir jetzt schon soviel Text in diese Rezension investiert haben, sollten wir auch vor einer Kritik formaler Aspekte nicht zurückschrecken. Wie viele Autoren hat Paul Veyne zahlreiche Informationen in Fußnoten gepackt, die man gerne im Haupttext gesehen hätte. Angenehm ist aber, dass die Fußnoten nicht für jedes Kapitel, sondern für das ganze Buch durchgängig nummeriert sind. Das erleichtert den Umgang mit ihnen erheblich. Andererseits sind die Fußnoten leider nicht als Fußnoten gesetzt, sondern am Ende des Buches als Endnoten gesammelt. Das erschwert die Arbeit mit ihnen wiederum deutlich.

Einige Kapitel sind mit Überschriften versehen, in denen thematisch etwas ganz anderes zur Sprache kommt, als die Überschrift erhoffen lässt. Es gibt bei Veyne zahlreiche Wiederholungen von Aussagen, was ein Hinweis darauf ist, dass er sein Buch nicht hinreichend durchstrukturiert hat.

Der deutsche Übersetzer hat einige Fehler begangen. So schreibt er z.B. Titus-Livius und Sextus-Empiricus mit Bindestrich. Euhemeros wird zu Ephemerios – wie ephemer? – und Euhemerismus zu Ephemerismus. Auf S. 138 wurde statt mit DNA mit ADN übersetzt.

Wertvolle Gedanken

Es gibt auch einige wenige wertvolle Gedanken in Paul Veynes Büchlein. Die Frage, woher der Brauch kam, seine Quellen anzugeben, wird mit der Kontroverse beantwortet (S. 22 f.). Die Konkurrenzsituation ist es, die den Autor zwingt, seine Belege anzugeben. Das ist auch ganz mein Gedanke zu Herodot: Herodot war deshalb nicht konsequent in der Anwendung seiner Methode (zu der allerdings mehr gehört als nur Quellen anzugeben), weil er noch außer Konkurrenz stand. Thukydides verzichtet allerdings noch weit mehr auf Quellenangaben.

Das Wissen darum, dass man etwas wissen kann, genügt bereits, um dorthin zu gelangen (S. 112). D.h. es gibt zumindest im Prinzip kein unerreichbares Wissen, das nur Privilegierten und Eingeweihten offensteht. – Der Zweck eines Studiums besteht nicht nur darin, die Inhalte eines Fachs zu lernen, sondern auch darin, den Autoritätsglauben bezüglich dieses Faches abzulegen (S. 114). Im Idealfall ja. – Schließlich der Gedanke, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich auch nicht seriöser sind wie die Geisteswissenschaften, weil der Umgang mit „Fakten“ kein Erkenntnisprivileg bedeutet, denn auch Fakten müssen interpretiert werden (S. 139).

Schluss

Dies ist ein richtig schlechtes Buch, das das gewählte Thema nicht nur für die Darlegung einer abseitigen Ideologie missbraucht, sondern auch das Thema selbst schlecht darstellt. Statt etwas über Mythen zu erfahren, wird der Leser im Laufe der Lektüre immer tiefer in eine ideologische Wahnwelt verstrickt und hat das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Im Grunde ist es geradezu frech, was Paul Veyne hier vorgelegt hat. Es ist gewissermaßen das Paradebeispiel für ein Produkt der Geisteswissenschaften, das diese wie „Geschwätzwissenschaften“ aussehen lässt. Paul Veyne ist bestallter Professor und wird vom Steuerzahler bezahlt – da hätte man sich etwas mehr Ernsthaftigkeit und Qualität schon erwarten können. Fehlt Paul Veyne der Bezug zu den arbeitenden Menschen, die seinen Posten finanzieren?

Fast kann Paul Veyne einem leid tun. Was für ein Selbstbild muss ein Mensch haben, der die Welt so zynisch sieht, dass Vernunft und Wahrheit und Moral absolut gar nichts zählen, sondern nur und ausschließlich Zufälle, Interessen und der Wille der Macht? Oder ist Paul Veyne ein Blender? Müssen wir dieses Machwerk als den „Willen zur Macht“ und als das „Interesse“ von Paul Veyne interpretieren? Oder ist es beides: Paul Veyne glaubt diese Dinge wirklich, aber er hat sie zugleich auch erfunden. Im Sinne der Ideologie dieses Büchleins wird es wohl beides sein, so wie Paul Veyne es auch von Hesiod glaubt (S. 42). Wir erinnern erneut an die oben gezogene Parallele zu Erich von Däniken.

Da ist es tröstlich, wenn wir in diesem Büchlein wenigstens Spuren finden, die uns erahnen lassen, dass Paul Veyne nicht ungebrochen an den Unfug glaubt, den er uns hier aufgetischt hat. Diese Spuren könnten Ansätze zur Heilung von Paul Veyne sein, damit die Einsicht in ihm wächst, dass er auf dem Holzweg ist, und dass sein Büchlein leider nur den Geist der Holzsprache atmet. Wir erwarten Paul Veyne zurück auf dem Pfad der Menschlichkeit, der Vernunft und der ewigen Suche nach der einen Wahrheit.

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Die genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Atlantis-Scout im September 2020)

Bibliographie und externe Links

Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übersetzt von Markus May, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. Original: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Éditions du Seuil, Paris 1983. Englisch: Did the Greeks believe in their Myths? An essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, The University of Chicago Press, Chicago / London 1988.

Französische Originalversion, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=ZX6BAAAAQBAJ&pg=PT1
Englische Version, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=EpbZLRPGgBsC&hl=de&pg=PP1
Deutsche Version, nicht zugänglich:
https://books.google.de/books?id=q3iYAAAACAAJ

Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller, Postmodernismus: Status quo einer philosophischen Strömung. Einleitung – Überblick der Beiträge, in: Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hrsg.), Kritik der postmodernen Vernunft – Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt WBG, Darmstadt 2007; S. 7-28.

Simon Goldhill, Review of: Paul Veyne, Did the Greeks Believe in their Myths? An Essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, University of Chicago Press, 1988, in: The Classical Review Vol. 40 Issue 1 (April 1990); S. 172.

Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Veyne

books & ideas: The Curious Monsieur Veyne
https://booksandideas.net/The-Curious-Monsieur-Veyne.html