Schlagwort: Philosophie (Seite 1 von 3)

Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang (1970)

Den Rationalismus schärfen, festigen und im Niveau heben

Das Buch „Wider den Methodenzwang“ von Paul Feyerabend und seine Kritik am Rationalismus, vor allem an Karl Popper, ist ein wichtiges Werk zur Wissenschaftstheorie. Allerdings nicht deshalb, weil es Feyerabend gelingen würde, den Rationalismus zu widerlegen, sondern deshalb, weil dieses Werk für jeden Rationalisten eine große Hilfe dabei sein kann, die Denkfallen eines allzu einfach gedachten Rationalismus zu überwinden.

Die Kritik

Feyerabend wendet sich gegen die falsche Auffassung, dass man neue Erkenntnisse gewissermaßen zwangsläufig „ausrechnen“ könnte, wenn man nur von den Gegebenheiten ausgehend rational regelgerecht – methodengerecht – weiterdenken würde. Vielmehr sind neue Erkenntnisse gerade dadurch entstanden, dass Forscher die rationalen Regeln ihrer Zeit gebrochen hatten. Rationalität sei gewissermaßen abhängig vom Sprach- und Weltanschauungssystem: Was nach dem alten Paradigma rational war, ist es nach dem neuen nicht mehr, und umgekehrt. Sehr lesenswert Feyerabends Ausführungen zum Welt- und Menschenbild der homerischen Epen. Feyerabend zeigt auch sehr überzeugend, dass die Theorie der Hexenprozesse im Rahmen der damaligen Theologie und Philosophie sehr rational war. Auch heute unterscheide sich die Wissenschaft nach Auffassung von Feyerabend im Kern nicht von der Kirche und habe ihre Dogmen.

Die rationalistische Lehre von der Falsifikation von Thesen würde zu Dogmen führen, wenn eine Falsifikation schwierig ist, auch wenn vieles für andere Thesen spräche, die genauso wenig falsifizierbar seien, aber das Pech haben, nicht etabliert zu sein oder nicht dieselbe Zeit zur Entwicklung eingeräumt bekommen zu haben. Manche Auffassung hat sich dadurch durchgesetzt, dass die Forscher bewusst mogelten und geschickt darin waren, eine gute Propaganda für ihre neuen Thesen zu machen. Hier verweist Feyerabend z.B. auf Galileo Galilei. Nicht alles neue ist auch besser. Feyerabend lobt hier die Traditionelle Chinesische Medizin gegenüber der Schulmedizin.

Die Kritik der Kritik

Viele der Kritiken Feyerabends sind berechtigt und geben wertvolle Hinweise darauf, wie Wissenschaft funktionieren sollte – und wie nicht. Im Kern jedoch scheint Feyerabend seine Kritik auf einem falschen Verständnis von Rationalismus aufgebaut zu haben.

Was die Regelüberschreitung und die Begrenzung durch Sprache und Weltanschauung anbelangt, so ist es der Standpunkt des Rationalismus im Sinne Poppers, dass neue Thesen mithilfe von Phantasie geboren werden. Darin, in der Phantasie, ist jede mögliche Überschreitung von Regeln praktisch bereits enthalten. Dass die Vernunft in sich eine gewisse abstrakte, kulturunabhängige Regelhaftigkeit hat, hätte man bei Feyerabend gerne gelesen („Dass da eins zum anderen passt“ könnte man als die innerste Regel der Rationalität formulieren), doch Feyerabend schweigt dazu. Die Auffassung, es gäbe nicht die eine Vernunft, ist falsch; was verschieden ist, sind die Ausgangspunkte, auf die man sie anwendet, die Vernunft ist aber immer dieselbe.

Feyerabend tut so, als glaubten Rationalisten, dass sie völlig rationale Wesen seien. Nicht dass sie Vernunft hätten, sondern dass sie Vernunft seien. Doch das ist falsch. Der Mensch ist keine Vernunft, er hat Vernunft; und er kann sie gebrauchen oder auch nicht. Und er kann sie nur auf dieses anwenden oder nur auf jenes oder auch auf alles. Vor allem aber hat der Mensch auch noch andere Fähigkeiten, z.B. Phantasie. Der Mensch sollte eben versuchen, diese andere Dimension und die Vernunft in Einklang zu bringen. Es ist das alte Ideal des Weisen. Aus diesem steten Wechselspiel erwächst dann ein Erkenntnisfortschritt.

Bei Feyerabend hat man öfter den unabweisbaren Eindruck, er plädiere für völlige Irrationalität, für haltlose Anarchie. Doch wenn Phantasie und Kreativität, die auch vorübergehend gegen vermeintlich rationale Sichtweisen verstoßen dürfen, nicht immer wieder mit der Vernunft eingefangen und zu einem neuen rationalen System konsolidiert werden, kommt dabei auf Dauer keine Erkenntnis, sondern Chaos heraus. Erst das ständige, nie endende Wechselspiel beider Seiten, das Bemühen, beidem gerecht zu werden, macht die Erkenntnis aus und hält den Prozess lebendig.

Auch ist der Rationalismus nicht auf eine simple Scheidung der Erkenntnis in Wissen und Unwissen festgelegt. Vielmehr zeigt sich gute, rationale Wissenschaft häufig gerade daran, wie sie mit verschiedenen Graden von Ungewissheit umgeht und vernünftige Abwägungen trifft, indem sie einzelne Unwägbarkeiten gegeneinander abgleicht und zu einem plausiblen, wahrscheinlichen Gesamtbild integriert. Richtig ist allerdings auch, dass es viele „rationale“ Menschen gibt, die nur „hartes Wissen“ gelten lassen wollen, und damit in die Irre laufen, denn je sicherer das Wissen, desto seltener ist es.

Wenn Feyerabend kritisiert, dass sich die Wissenschaft gerne Dogmen schafft und alternative Thesen nicht in angemessener Weise würdigt, kritisiert er eher den real existierenden Wissenschaftsbetrieb als die Idee der Wissenschaft. Natürlich ist es richtig, dass eine Theorie nicht deshalb besser ist, weil sie etabliert ist, weil sie zuerst da war oder weil sie die größere Zahl an Fürsprechern hat, die gar nicht daran denken, ernsthaft nach einer Falsifikation zu suchen, weil eine Falsifikation ihren Status gefährden würde. Und natürlich ist es völlig richtig, dass man einer alternativen Theorie auch Zeit zur Entwicklung geben muss: Man muss eine Hypothese, die man zunächst nicht belegen kann und die wackeliger aussieht als andere Thesen, auch eine Zeitlang in der Schwebe halten und an ihr arbeiten und mit ihr spielen können. Aus diesen Überlegungen kann man Maßnahmen zur Ausbildung von Wissenschaftlern und zur Organisation des real existierenden Wissenschaftsbetriebes ableiten, damit die nötige Weite des Geistes (oder wenigstens Toleranz) herrscht. Eine Kritik am Rationalismus ist das jedoch nicht.

Die Kritik Feyerabends am real existierenden Wissenschaftsbetrieb ist im Übrigen zu hart und gerät teilweise rabulistisch. Die Gleichsetzung mit der Kirche ist doch stark übertrieben. Es gibt zwar auch in der Wissenschaft Phasen der Erstarrung und der Wissenschaftsgläubigkeit, aber diese Phasen sind meist auf eine Generation beschränkt, was eine grundsätzliche Reformfähigkeit belegt. Die Kirche jedoch kann ihre Dogmen über Jahrhunderte durchhalten, wenn die Umstände ihr kein Um- und Weiterdenken aufzwingen. Feyerabends Einschätzung des Prozesses von Galilei, dass nämlich die Kirche im damaligen Rahmen durchaus rational und richtig urteilte, während Galileo noch zu schwache Argumente hatte, mag zwar in Ordnung sein, aber Feyerabend hätte klarer hinzufügen sollen, dass es unabhängig von der Frage der Richtigkeit des Urteils ein Problem ist, wenn sich die Kirche ein solches Urteil anmaßt und Denkverbote erlässt.

Sehr unappetittlich ist es, dass Paul Feyerabend sein 1970 veröffentlichtes Buch mit längeren Zitaten von Lenin beginnt. Auch Engels, Ilja Ehrenburg und Mao kommen zu Wort. Es ist grausig, diese naive Unbefangenheit gegenüber mehr oder weniger verbrecherischen Charakteren zu sehen, die offenbar aus einer linksideologischen Verblendung Feyerabends herrührt: Hegel und Marcuse werden auch zitiert. Hier zeigt sich, dass Paul Feyerabend nicht immer erfolgreich darin gewesen sein kann, enge Denksysteme zu überwinden, sonst hätte er wenigstens eine menschenfreundliche Distanz gewahrt. Zudem handelt es sich um Zitate, die man in dieser Form und mit diesem Sinn sicher auch und besser bei anderen und gewiss größeren Persönlichkeiten gefunden hätte. In der bei Linken üblichen Weise unausgegoren ist auch Feyerabends Idee einer Instanz, die nach den sozialen Folgen von Wahrheit fragt; von der Liebe zur Wahrheit oder von einer Sensibilität gegen subtile Zensurmechanismen zeugt dies leider nicht. Wenn man die Unbekümmertheit von Feyerabends Linksdrall betrachtet, bekommt seine heillose Relativierung der Vernunft einen gefährlichen Zug; hatte nicht auch Lenin ein weltverneinendes Faible für Dada, eine Grundverzweiflung an Ordnung und Sinn? Aus dem Urgrund der Seele erwächst unvermutet das Böse.

Fazit

Ein wichtiges Buch für alle Rationalisten, um ihren Rationalismus zu schärfen, zu festigen und im Niveau zu heben: Vernunft ist nicht alles, aber ohne Vernunft ist alles nichts. Letztlich ist es trotz vieler richtiger Einzeleinsichten ein aufs Ganze gesehen irriges Buch.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. August 2012)

Ricarda Huch: Urphänomene (1946)

Vergewisserung der klassischen christlichen und humanistischen Bildungsinhalte inmitten der Doppelkatastrophe von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus

Das Buch „Urphänomene“ von Ricarda Huch stellt die These in den Raum, dass es gewisse unverlierbare Grundtatbestände des Menschlichen gibt, eben die Urphänomene. Diese Urphänomene werden in einer Reihe von Kapiteln besprochen, deren Überschriften eine christliche Schlagseite deutlich werden lassen:

  • Familie.
  • Geburt und Tod.
  • Gott.
  • der gestirnte Himmel.
  • die Jungfrau mit dem Sohne.
  • Dreieinigkeit.
  • Satan.
  • der Gottmensch.
  • der Prophet.
  • Gewissen und Recht.
  • Freiheit.
  • Schönheit.
  • Musik.
  • Liebe.

Zu jedem Urphänomen wird eine lange Reihe von Mythen, Philosophien, Dichtungen und Überlieferungen aufgelistet, quer durch die Menschheitsgeschichte und quer über alle Kulturen hinweg. Der Schwerpunkt dieser Aufzählungen liegt aber eindeutig auf der westlichen Kultur, und hier wiederum deutlich mehr auf dem Christentum als auf der philosophischen Tradition.

Mehr als diese Aufzählungen wird praktisch nicht geboten. Die Autorin macht nichts aus diesen Aufzählungen und zieht keine neuen oder originellen Schlussfolgerungen. Es wird auch nicht versucht, abstrakte Gemeinsamkeiten hinter kulturellen Ähnlichkeiten zu suchen. Die Autorin bleibt recht oberflächlich bei der bloßen These der Urphänomene und bei bloßen Aufzählungen stehen. Das enttäuscht zunächst. Wer eine gute Allgemeinbildung hat, für den ist das meiste nichts neues. Welchen Sinn hat dieses Buch?

Der Sinn dieses Buches

Man muss Ricarda Huchs „Urphänomene“ von seinem Sitz im Leben her interpretieren. Die Autorin schrieb dieses Buch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Jena in der Sowjetischen Besatzungszone. Es erschien 1946. Es geht in diesem Buch gar nicht darum, irgendetwas Neues oder Originelles auszusagen. Sondern es geht darum, sich der „alten“ Werte zu versichern, angesichts von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus. Und diese „alten“ Werte sind eben die Urphänomene: Sie bestehen im Wesentlichen in den Elementen einer klassischen Bildung, d.h. einer christlichen und humanistischen Bildung.

Deshalb wird auch wenig erklärt. Das Buch liest sich vielmehr wie eine Checkliste, die in kurzen Stichworten eine Inventur durchführt. Und ja, es ist eine Inventur von zutiefst menschlichen Themen, die den Wurzelgrund einer klassischen Bildung ausmachen, und die kulturelle Gemeinsamkeit und Vertrautheit in einer Gesellschaft stiften. Ein solches Buch benötigt kein „Ergebnis“, sondern die Vergewisserung an sich ist bereits das Ergebnis.

Der moderne Leser kennt solche Aufzählungen von esoterischen Werken: Auch dort werden die verschiedensten kulturellen Phänomene aufgezählt, um sie dann assoziativ zu einer esoterischen Ideologie zu verschwurbeln. Nicht zufällig fand sich das gelesene Exemplar in den Regalen des anthroposophisch angehauchten Antiquariats BuchKultur Opitz in Konstanz am Bodensee. Doch eine solche Verschwurbelung geschieht hier nicht. Es geht nicht um neue Ergebnisse, es geht um eine Vergewisserung der Grundlagen.

Dass es um Vergewisserung geht, wird auch im Nachwort deutlich. Ein ewiger Kampf um die Wahrheit wird beschworen. Und vor falschen Propheten gewarnt. Diese falschen Propheten sieht die Autorin erstaunlicherweise in allen, die über das Christentum hinauswachsen möchten. Auf den Nationalsozialismus trifft diese Beschreibung kaum zu, denn der Nationalsozialismus kann kaum als ein Hinauswachsen über das Christentum beschrieben werden. Diese Beschreibung trifft viel eher auf den Sozialismus der sich soeben herausbildenden DDR zu. Damit ist das Buch „Urphänomene“ weniger eine Vergewisserung im Gefolge der moralischen Niederlage des Nationalsozialismus, als vielmehr eine Vergewisserung gegen den aufstrebenden DDR-Sozialismus.

Und das nicht ohne Grund: Als das Manuskript dieses Buches 1946 von Jena an den Atlantis-Verlag im Westen geschickt wurde, kam auf ungeklärte Weise ausgerechnet das Kapitel „Freiheit“ abhanden; es wurde erst in der dritten Auflage 1966 abgedruckt. Im Jahr 1947 musste Ricarda Huch dann selbst in den Westen fliehen, nachdem sie noch als Alterspräsidentin des Thüringer Landtages fungiert hatte:

Es sei dem Lande Thüringen beschieden,
Dass niemals mehr im wechselnden Geschehen
Ihm diese Sterne untergehen:
Das Recht, die Freiheit und der Frieden
.

Leider hat Ricarda Huch mit ihrer Definition der falschen Propheten und ihrer Lehren als Versuchen, über das Christentum hinauszuwachsen, jede Form des Hinausdenkens über das Christentum verdammt. Das ist schon sehr konservativ. Damit würden dann auch Friedrich der Große und Goethe zu den falschen Propheten zählen. Ebenso Thomas Mann. Aufgrund der Knappheit des Büchleins bleibt unklar, ob dies wirklich ihre Meinung war, oder ob diese Schärfe nur der klaren Abgrenzung gegen den Sowjetsozialismus geschuldet war.

Einzelnes

Die Einteilung in Kapitel ist ein wenig willkürlich. Die Ehelosigkeit ist im Kapitel zur Familie mit enthalten, statt in einem eigenen Kapitel abgehandelt zu werden, was sie durchaus verdient hätte. Neben dem gestirnten Himmel hätte man z.B. auch das Meer, Gebirge und endlose Ebenen als menschliche Urphänomene nennen können. Es fehlen natürlich auch Krieg und Frieden. Ebenso Vernunft. Und der Unterschied zwischen einem Gottmenschen und einem Propheten wird nicht ganz klar. Der philosophischen Tradition gemäß hätte man außerdem ein Kapitel über den Weisen schreiben müssen, aber dazu ist dieses Buch zu christlich.

Zum Thema Familie fällt auf, dass sich Ricarda Huch positiv zur patriarchal geführten Familie äußert. Diese würde funktionieren, weil der Mann als Oberhaupt der Familie Verantwortung übernimmt, während der Abbau der Vorrechte des Mannes zur Instabilität der Familie geführt hätte. Daran mag manches richtig sein, es erscheint aber sehr konservativ gedacht.

Das Kapitel zur Liebe ist sehr christlich gehalten. Auch hier wurde zu wenig Mühe darauf verwendet, Ähnlichkeiten in der philosophischen Tradition zu finden. So hätte man z.B. den guten Gott Platons nennen können, während das Christentum den Begriff Liebe teilweise überzieht und verkitscht. Generell gilt: Ordnung und Liebe gehören eng zusammen.

Das Kapitel zur Freiheit stellt allein auf die innere Freiheit im Sinne des Paulus ab. Um äußerliche, gar um politische Freiheit, geht es kaum. Man fragt sich, warum ein sozialistischer Zensor dieses Kapitel entfernt haben soll? Doch die Zensur achtet oft wenig auf intellektuelle Inhalte, sondern wendet sich gegen Plakatives und gegen Schlüsselworte. Und „Freiheit“ ist natürlich ein Schlüsselwort, das unerwünscht war. Deshalb wohl.

Absolut wertvoll und wider Erwarten doch noch etwas Eigenständiges findet sich im Vorwort: Hier philosophiert die Autorin darüber, dass das Weltbild des Einzelnen und das öffentliche Weltbild immer auseinanderfallen werden, und was das für Konsequenzen hat. Sehr interessant!

Zuletzt fällt auf, dass die wenigen lateinischen Sentenzen in diesem Buch nicht übersetzt werden. Daran sieht man, welchen Bildungsanspruch die Autorin gegenüber ihren Lesern hatte.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Thomas Paine: The Age of Reason (1794/95/1807)

Amazingly modern criticism of religion in the age of the Enlightenment

Thomas Paine presented with „Age of Reason“ a criticism of Christianity which is based upon inconsistencies and other problems within the Bible. Here, 200 years before the development of „historical criticism“, Thomas Paine puts forward amazingly modern arguments. Furthermore, Thomas Paine rises some philosophic arguments of greater depth: First, that reason and abstract thinking is the way to real truth (he compares the truth of Euclid’s elements to the truth of the Bible!), then, that morals is based in ourselves, and not in beliefs from books. Immanuel Kant is not far from this.

Thomas Paine does not only criticise Christianity but every other religion, too. And what is more, he presents an alternative: Deism, the belief in one god based on the true word of god which is for Thomas Paine the creation itself, and science to read in this „book“.

Unfortunately, Thomas Paine is too angry and disrespectful towards believers and priests. He fails to realize their psychology and thus, the book is valuable more for ex-believers than for for believers still to be convinced. Especially the realization, that historical criticism does not necessarily lead to a full devaluation of a religion but rather to its reform and renewal based on reason, is totally absent in his book.

The edition of Cosimo Classics is terrible: All the footnotes are incorporated into the fluent text, they are no footnotes any more! Every other page you have to think about, where your sentence stops, a footnote suddenly begins, and where your sentence continues! This is modern computerized book publishing as it should not be!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

Platon: Die Apologie des Sokrates (4. Jhdt. v. Chr.)

Der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation

Platons Apologie des Sokrates ist der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Viele werden jetzt fragen: Ist das nicht zuviel gesagt? Ist nicht die Bibel der Grundlagentext der westlichen Zivilisation? Und wieso überhaupt die Apologie? Die kennt doch so gut wie niemand? Und wie kann ein so kurzer Text so wichtig sein?

Nun, die Bibel ist natürlich ebenfalls ein unverzichtbarer Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Aber die Bibel gab es schon lange bevor die spezifisch westliche Zivilisation mit Renaissance und Aufklärung ins Leben trat. Deshalb kann die Bibel nicht Zentrum und Ursache sein, sondern nur Wegbereiterin. Demgegenüber war die Apologie des Sokrates das ganze Mittelalter über verloren gewesen. Erst mit der Renaissance wurde der Text wieder verfügbar, und zwar präzise mit der ersten lateinischen Übersetzung von Platons Gesamtwerk durch Marsilio Ficino in den Jahren 1484/85. Erst von diesem Zeitpunkt an konnte die Apologie des Sokrates ihre Wirkung neu entfalten.

Der Geist der Apologie

Aber was war das für eine Wirkung? Um was geht es in der Apologie? Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede des Sokrates in jenem Prozess, an dessen Ende er wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend zum Tode verurteilt wurde. Zu Rechtfertigung seiner „Missetaten“ erzählt Sokrates, wie er zur Philosophie kam und was es damit auf sich hat. Wir lernen dabei folgendes:

  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss sich zunächst einmal klar machen, wie wenig er weiß. Im streng philosophischen Sinne des Wortes „Wissen“ wissen wir Menschen so gut wie gar nichts. Viel zu viele Menschen jedoch bilden sich ein, dass sie etwas wüssten. Doch fast immer, wenn Sokrates damit anfängt, nachzufragen, stellt sich heraus: Die Leute wissen nicht, was sie zu wissen glauben, und ihre Meinungen sind haltlos.
  • Wer sich der Wahrheit nähern will, muss in einen Dialog verschiedener Meinungen eintreten. Genau das tut Sokrates immer wieder und wieder. Denn erst in dem Dialog verschiedener Meinungen lässt sich eine neue und bessere Meinung entwickeln, die näher und näher an die Wahrheit herankommt. An die Stelle von „Wissen“ im Vollsinn des Wortes treten Meinungen, die möglichst gut begründet sein sollten. Je nach dem Grad der Begründetheit haben diese Meinungen eine hohe oder niedrige Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und sind dann entweder Überzeugungen auf der Grundlage von guten Argumenten, oder doch nur „bloße“ Meinungen.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss seine Meinung zur Debatte stellen. Denn auch eine wohlbegründete Meinung ist kein sicheres Wissen. Immer ist es möglich, dass weitere Aspekte auftauchen, die noch nicht bedacht wurden. – Sokrates blieb nicht beim Nichtwissen stehen, sondern begann, im Dialog mit Freunden und Gegnern verschiedene Thesen zu entwickeln, die tragfähig waren. Um dieses Werk fortzusetzen gründete Platon später eine Philosophenschule vor den Toren Athens, im Hain des Akademos. Platons Schüler strickten an dem neuen Erkenntnisgebäude weiter, darunter auch Aristoteles. Daraus entstand die Wissenschaft.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss respektlos vor Autoritäten sein. Wir sehen, wie Sokrates auch vor angesehenen Politikern nicht haltmacht und auch diese befragt, was sie denn eigentlich wissen. Und es stellte sich heraus: Von allen Menschen wissen die Politiker am wenigsten, während die Handwerker, die praktischen Menschen, sich immerhin auf ihr praktisches Handwerk verstehen. Aber auch die Religion blieb von den Fragen des Sokrates nicht verschont.

Das ist das Zentrum unserer westlichen Welt: Sokrates und Platon haben eine Revolution der Erkenntnisgewinnung eingeläutet und auf diese Weise unser Denken für immer verändert. Es ist der Siegeszug der Rationalität. Und mit ihm auch der Siegeszug der Liberalität, denn nur freie Bürger können sich erlauben, respektlose Fragen zu stellen und gefährlich ins Offene und Unbekannte hinein zu denken. Dieser Geist begann ab 1484/85 wieder zu wirken.

Die Apologie heute

Es ist wahr, dass die Apologie des Sokrates heute kaum noch jemandem bekannt ist. Die Reduktion der humanistischen Bildung quer durch alle Schulfächer bis hin zur Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichtes hat ganze Arbeit geleistet. Damals hieß es, man könne doch auch Übersetzungen lesen. Das ist wahr. Aber Lehrpläne, die die Lektüre dieser Übersetzungen vorsahen, wurden nie erstellt.

Ich selbst habe den wunderlichen Sokrates durch meinen Deutsch- und Geschichtslehrer Bruno Epple kennengelernt, der als Mundartdichter unseres Bodensee-alemannischen Dialektes bekannt war. Es war beeindruckend, wie er zwischen den Schulbänken auf und ab tigerte und ein ums andere mal ausrief: „Die waren doch verrrrrückt! Diese alten Griechen: Verrrrückt! Was die für komische Fragen gestellt haben! Das muss man sich mal vorstellen: Was die sich herausgenommen haben! Lauter Verrrrückte! usw.“ – Das war im siebten Schuljahr, um 1985, auf einem baden-württembergischen Gymnasium. Man muss dazu wissen: Bruno Epple hielt sich selten an die Vorgaben der Lehrpläne und setzte eigene, eher traditionelle Schwerpunkte. Womöglich sind andere Lehrer zur gleichen Zeit ohne viel Aufhebens über Sokrates hinweggegangen. Im Schulbuch waren Sokrates anderthalb Seiten gewidmet, seiner Befragung der Mitbürger aber nur ein Absatz. Den Originaltext der Apologie des Sokrates haben wir an der Schule nie gelesen. Auch in höheren Klassenstufen nicht. Und das, obwohl sich dieser Text aufgrund seiner Kürze als Schullektüre hervorragend eignen würde.

Heute kennt in der Tat kaum noch jemand die Apologie des Sokrates. Und das könnte ein wichtiger Teil der Probleme unserer Zeit sein. Denn heute geschehen schier unglaubliche Dinge, die niemand akzeptieren kann, der einmal vom Geist der Apologie ergriffen wurde:

  • Wir haben öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die nicht nur behaupten, kompetent zu sein (das wäre noch in Ordnung, wenn’s denn nur wahr wäre), sondern die doch tatsächlich auch noch behaupten, objektiv zu sein! Natürlich sollte jeder danach streben, so objektiv wie möglich zu sein, aber wir alle nähern uns der Wahrheit von verschiedenen Seiten her an. Es ist grundsätzlich nicht möglich, dass jemand auftritt und legitim sagen kann, er wäre der Verkünder objektiven Wissens. Das konnte einst die Kirche im Mittelalter tun. Aber in einer modernen Gesellschaft sollte das nicht mehr möglich sein.
  • Ständig werden wir dazu aufgefordert, irgendwelchen „Experten“ zu glauben. „Follow the Science“ ist ein beliebter Slogan. Aber es gibt doch gar nicht „den Experten“, der uns objektives Wissen verkünden könnte, denn verschiedene Experten vertreten verschiedene Meinungen. Und auch „die Wissenschaft“ gibt es so nicht, denn die Wissenschaft lebt davon, dass sich verschiedene Meinungen im freien Dialog miteinander befinden.
  • Sogenannte „Faktenfinder“ tragen „Fakten“ zu komplexen Fragen zusammen, und jubeln uns ihre Urteile als unumstößliche „Fakten“ unter. Nicht selten tragen solche Faktenfinder eine durchaus hilfreiche Sammlung von Informationen zusammen. Aber würde man sich sein Urteil nicht lieber selbst bilden?
  • In den sozialen Netzwerken des Internet werden aus den „Faktenfindern“ die berüchtigten „Faktenchecker“, die ihre Urteile als Verurteilungen auch gleich in die Tat umsetzen: Im Auftrag der sozialen Netzwerke bzw. der Regierungen unterdrücken sie unliebsame Meinungen, auch wenn diese gar nicht strafbar sind. Sie tun diese durch die Markierung von Beiträgen, durch die Drosselung der Reichweite, durch Shadow-Banning, durch die vollständige Sperrung einzelner Beiträge, durch Demonetarisierung oder durch die Sperrung von ganzen Kanälen und Accounts. Aber woher nehmen diese „Faktenchecker“ die übermenschliche Weisheit, zu wissen, was „wahr“ und was „falsch“ ist?
  • Carolin Ehmcke wurde 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Jahr 2024 sprach sie sich auf der Konferenz „re:publica“ allen Ernstes und unter frenetischem Beifall des „progressiven“ Publikums gegen Pro- und Contra-Formate in den Medien aus. Ehmcke glaubt, dass die Experten in vielen Fragen schon wissen würden, was die „richtige“ Wahrheit ist. Deshalb würde ein Pro- und Contra-Format die Menschen nur verwirren, denn dort würde die „richtige“ Wahrheit einer „falschen“ Wahrheit gleichberechtigt gegenübergestellt. Das ist schön gedacht. Aber weiß Carolin Ehmcke wirklich, welche Experten die „richtige“ Wahrheit besitzen? Eine dermaßen „richtige“ Wahrheit, dass man keine Fragen mehr stellen darf? Und wie kann sie sich sicher sein, dass nicht doch eines Tages eine Frage auftaucht, an die keiner gedacht hatte? Sollte die „richtige“ Wahrheit nicht triumphal überzeugen, wenn sie einer „falschen“ Wahrheit tatsächlich völlig gleichberechtigt gegenübergestellt wird? Und bezieht die „richtige“ Meinung nicht gerade daraus ihre Legitimität als „richtige“ Meinung, dass sie gegen andere Meinungen bestehen kann? Wie steht es denn um die Legitimität einer „richtigen“ Meinung, wenn sie der Konfrontation mit anderen Meinungen systematisch aus dem Weg geht?
  • Unsere Universitäten folgten einst dem Ideal des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt, dass Forschung und Lehre so miteinander verwoben sein sollten, dass die Studenten das Fragen und Hinterfragen lernen. Doch mit den Bologna-Reformen ist davon nicht viel übrig geblieben. Ob Preußen oder die humanistische Bildung: Mit solchen „ewiggestrigen“ Dingen will man heute nichts mehr zu tun haben, denn man will „progressiv“ sein. Aber ist es denn wirklich progressiv?
  • Die einflussreiche Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeitet nach dem Prinzip des „neutralen Standpunktes“. Gemeint ist in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Objektivität, wie Wikipedia immer noch festlegt („möglichst objektiv“). Die Darstellung verschiedener Meinungen soll nach Möglichkeit vermieden werden. Auch wenn die heutige Version des Wikipedia-Artikels „Neutraler Standpunkt“ viel von der Darstellung verschiedener Meinungen spricht, ist das früher sehr viel schärfer formulierte Prinzip eines möglichst einheitlichen, objektiven Standpunktes immer noch das Ziel. Objektivität ist für Menschen aber nicht zu erreichen. In der Praxis führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabgewürdigt oder als unwürdig ausgeblendet werden. Diese Praxis entspricht zwar lexikographischer Tradition, aber sollte ein modernes Lexikon nicht besser den Standpunkt eines Beschreibers der Gesamtwirklichkeit einnehmen? Dieser würde es sich zur Aufgabe machen, überhaupt keine Meinung zu vertreten, also wirklich neutral zu sein, sondern alle existierenden Standpunkte wertfrei darzustellen. Eine legitime Unterscheidung verschiedener Standpunkte wäre der Grad ihrer Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit: Erst stellt man Unstrittiges dar, dann die Mehrheitsmeinung, und zuletzt – etwas kleiner, aber wertfrei – Minderheitsmeinungen. Wer seinen Mitmenschen „Wissen“ vermitteln will, dabei aber immer nur eine einzige Meinung mitteilt, statt verschiedener Meinungen und ihrer Begründungen, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Denn die Legitimität einer „richtigen“ Meinung beruht zentral darauf, dass sie die Konfrontation mit anderen Meinungen überlebt. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder.

Wer einmal mit Sokrates durch Athen gegangen ist und gesehen hat, wie Sokrates Handwerker, Händler und Politiker in Dialoge verwickelte, um herauszufinden, was sie wirklich wissen und was wirklich die Wahrheit ist, sofern sich dies überhaupt herausfinden lässt, der erkennt den Unsinn unserer Tage mit einem Blick. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir die Texte, die einst Renaissance und Aufklärung entfachten, nicht mehr lesen, dann versteht es sich von selbst, dass uns die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung langsam wieder abhanden kommen. Wenn der Westen sich wieder auf sich selbst besinnen will, dann muss er zurück zu den Quellen: Ad fontes!

Anderes

Die Apologie hat noch mehr zu bieten: Sie zeigt Sokrates als einen Weisen, der nicht nur in Worten philosophiert, sondern seiner Philosophie auch mit großer Konsequenz Taten folgen lässt. Sokrates gibt seinen Anklägern nicht nach und geht auch keine faulen Kompromisse ein. Das Todesurteil am Endes des Prozesses nimmt er gelassen auf sich und nutzt auch diese Gelegenheit noch einmal, um seine Philosophie zu bekräftigen: Andersdenkende aus dem Weg zu räumen, ist weder schön, noch wird es Erfolg haben.

Die Rede ist außerdem voller Ironie und deshalb sehr vergnüglich zu lesen. Ein weiteres Thema ist die Schwierigkeit, Menschen zum Umdenken zu bewegen, nachdem sie über lange Zeit mit einer bestimmten Meinung indoktriniert wurden. Das Verhältnis von Bürger und Staat wird beleuchtet. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Rede vor Gericht, weshalb sich auch manche Weisheit und Einsicht rund um die Juristerei finden lässt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Thilo Sarrazin: Wunschdenken – Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert (2016)

Handbuch für kommende Politiker – lesenswerte Zusammenstellung

In diesem Buch abstrahiert Sarrazin völlig von den aktuellen Problemen und erklärt, was gute Politik ausmacht, und wie der Politikbetrieb funktioniert. Die aktuellen Probleme kommen zwar vor, werden aber als Fallbeispiele für schlechte Politik besprochen. Damit hat Sarrazin eine Art Handbuch für künftige Politiker geschrieben, aber auch eine Grundlage des Verstehens für Wähler gelegt, warum Politik so läuft wie sie läuft. Es gibt nicht die große Verschwörung, sondern es gibt viel Dummheit und Machtgerangel.

Sarrazin erklärt einmal mehr, wie gute Politik aussehen sollte, und warum die aktuelle Politik falsch ist, denn sie beruht auf Wunschdenken, das die Realität ausblendet. Der gute Politiker sollte eine langfristige Perspektive haben, auch eine Rückbindung an Philosophie, hier z.B. Karl Popper. Kurzfristig wird er jedoch wenig erreichen, und seine Themen nur durchsetzen, wenn der Moment günstig ist. Nicht das bessere Argument, sondern Machtkonstellationen entscheiden häufig darüber, welche politische Meinung sich durchsetzt.

Für erfahrene Vielleser ist das Buch ein wenig hausbacken und wiederholt vieles, was man auch woanders her schon kennt. Doch es ist eine schöne Zusammenstellung von Überlegungen, die – wie gesagt – fast schon Handbuchcharakter haben.

Was fehlt ist eine Besprechung der konkreten Mode-Ideologien, die den Zeitgeist früher und heute beherrschen, sagen wir angefangen mit den 1950er Jahren.

Außerdem ist Sarrazin gegenüber militärischen Interventionen in Nahost zu skeptisch. Sicher wurde dabei auch schon viel falsch gemacht, aber gar nicht zu intervenieren könnte auch falsch sein. Obama hat den Nahen Osten jedenfalls nicht friedlicher gemacht, indem er in Ägypten den Muslimbruder-Präsidenten stützte, in Syrien mitzündelte, in Libyen Gaddafi wegbombardierte, ohne einen Plan für das Danach zu haben, und natürlich auch die Truppen aus dem Irak kopflos abzog, um die Bahn für den IS freizumachen, der dann aus Syrien in den Irak einfiel. George W. Bush hingegen hat den Irakkrieg vor Ort durchgefochten, bis der Terror besiegt war, und ist darüber hinaus dort geblieben, und bis heute stellen die irakischen Kurden und die irakische Regierung zwei (den Umständen entsprechend) demokratische Stabilitätsfaktoren in der Region dar, die sich George W. Bush verdanken, und die heute den Kampf gegen den IS führen. Man muss eine Intervention eben ganz oder gar nicht machen, könnte man sagen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise (2007)

Moderne Philosophie-Einführung eines linksliberalen Epikureers

Mit „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ hat Richard David Precht eine moderne Einführung in die Philosophie vorgelegt, die lesenswert ist. Moderne Fragestellungen werden in einer modernen Sprache abgehandelt, und insbesondere die Einbeziehung der Hirnforschung in die Philosophie sieht man selten so konsequent durchgeführt. Wer damit beginnt, sich mit Philosophie zu beschäftigen, sollte verschiedene Autoren lesen, da jeder Autor auf seine Weise einseitig sein muss; diese Einführung von Precht darf durchaus dazu gehören.

Gewisse Einseitigkeiten sind in einem so umstrittenen Gebiet wie der Philosophie unvermeidbar, doch hat es Precht mit der Einseitigkeit leider übertrieben. Von einer Einführung könnte man erwarten, dass sie einen Überblick auch über die Meinungen verschafft, die dem Autor nicht gefallen.

Es befremdet, wie apodiktisch Precht manche Meinung völlig einseitig vorträgt, auch wenn dem eine Argumentation vorgeschaltet ist: Sinn könne nur eine subjektive Sache sein. Punkt. Abtreibung in den ersten Wochen einer Schwangerschaft sei moralisch unproblematisch. Punkt. Er mag mit seinen Argumenten Recht haben – aber wo bleibt die Offenheit eines einführenden Werkes gegenüber Andersdenkenden? Vieles bei Precht ist zudem schief argumentiert. Nicht selten möchte man kommentieren: Ja, aber nicht ganz. Oder: Ja, aber nicht aus diesem Grund.

Die Gehirnforschung in Ehren, aber bei Precht entsteht der Eindruck, dass der Mensch eine biologische Maschine ist; zwar eine sehr komplexe Maschine, aber eben doch nur eine Maschine. Precht verschwendet keinen Gedanken auf eine metaphysische Dimension des Menschen. Die Unmöglichkeit eines Lebens mit dem klaren Bewusstsein, dass man selbst nur ein Phänomen ohne eigene Existenz ist, dass man selbst nur eine Illusion ist, wird nicht thematisiert. Dabei gibt es interessante Gehirnexperimente zur Frage nach metaphysischen Effekten, die man zumindest hätte erwähnen können.

So suggeriert Precht denn ein materialistisches Weltbild, auch wenn er dies nirgends explizit formuliert. Nebenbei stellt Precht auch das direkte Erleben der eigenen Gedanken und Gefühle auf eine Stufe mit der Hirnforschung – obwohl klar sein muss, dass die Erkenntis von Gehirnen bereits eine Konstruktion unserer Wahrnehmung ist, und damit eine Stufe tiefer stehen muss. Nichts kann unmittelbarer sein als das Selbsterleben, denn vielleicht ist ja die Erkenntnis von Gehirnen nur eine von einer Matrix erzeugte Illusion?

Die Frage nach Gott wird wiederum ausschließlich rational abgehandelt, ein Zugang zu Gott über ein rationales Vertrauen in eine Überlieferung oder den irrationalen Weg der Mystik bleibt undiskutiert. Ein religiöser Mensch wird mit Prechts Buch aufgeschmissen sein, weil er keine Brücke schlägt zwischen der philosophischen und der religiösen Denkwelt.

Zwischen dem Verständnis des Gehirns als biologischer Maschine und der Frage nach Gott gibt es bei Precht keinerlei abgestufte Überlegungen zur Metaphysik. Es lässt sich aber mehr denken als nur die beiden Extreme Materialismus und traditioneller Gottesglaube. Wer nicht in dem Bewusstsein der Selbstauflösung versinken will, muss eine metaphysische Dimension postulieren – die dann aber zunächst fast völlig unbestimmt ist, von einem Gott ist damit noch nicht die Rede.

Ein völlig enthemmtes Verhältnis scheint Precht zum Pflichtgefühl und zur Befriedigung, die die Erfüllung der Pflicht mit sich bringt, zu haben. Wer wie Precht die Befriedigung von Lust höher oder auch nur gleich ansetzt wie die Erfüllung von Pflicht, der hat wohl niemals seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan; man kann nicht Lust empfinden in dem Bewusstsein, seine Pflicht vernachlässigt zu haben; und wie groß kann die Lust daran sein, etwas richtig gut gemacht zu haben, wie es einem zu tun zukam! Ergo: Erst kommt die Pflicht, dann die Lust; alles andere ist blanker Unsinn. In Prechts Hinterkopf geistert vermutlich eine unausgegorene und verklemmte Vorstellung von Pflicht herum, die Pflicht als Gehorsam gegenüber Autoritäten und Gesetzen definiert; aber Gehorsam ist nur ein Faktor in einem viel umfassenderen Pflichtkalkül – am Ende gehört es nämlich auch zur Pflicht des Menschen, frei zu sein und sich Lust zu gönnen. Notorisch kritisiert Precht Kants Pflichtethik, dass sie ungenügend sei, und man hat ständig das Gefühl, dass Precht nichts von Kant verstanden hat.

Ebenso seltsam ist es, wenn Precht Leid und Glück miteinander verrechnet. Müsste auch hier nicht der Gedanke andiskutiert werden, dass man zunächst einmal das Leid minimieren muss, bevor man daran geht, das Glück zu maximieren? Denn ein Mehr an Glück, das ich durch ein Mehr an Leid erlange, würde durch das Bewusstsein des zu diesem Zweck zugefügten Leides sofort annulliert. Jedenfalls bei anständigen Menschen.

Alles in allem scheint Precht ein Weltbild zu haben, das man philosophisch als vulgär-epikureisch, politisch als linksliberal-hedonistisch bezeichnen könnte. Es ist das Weltbild des dekadenten Kleinbürgers, der den berechtigten Abbau des religiösen Weltbildes vergangener Zeiten erfolgreich gemeistert hat, die Früchte des „kapitalistischen“ Systems klammheimlich genießt, seinen intellektuellen Style aber aus den Trümmern linker Weltbilder zusammenstrickt, und nun meint, damit den Gipfel der Aufklärung erlangt zu haben. Er lebt seinen Gelüsten und fühlt sich zu kaum noch etwas richtig verpflichtet. Er pflegt praktisch eine Weltanschauung der Weltanschauungslosigkeit (Albert Schweitzer). Mit diesem Bewusstsein kann man eine ganze Gesellschaft in ihren Untergang führen (vgl. z.B. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab).

Sinn könne nach Precht nur eine subjektive Sache sein, die Suche nach Sinn in der Wirklichkeit sei von vornherein sinnlos. Praktisch läuft das auf existentielle Sinnlosigkeit hinaus. Es passt zum Materialismus. – Die Einbeziehung von Gefühlen in die Moral ist ein richtiger Gedanke, doch beschwört Precht manchmal Gefühle, wo sie in der Argumentation nicht hingehören; es entsteht der Eindruck der willkürlichen Moral nach Gefühlslage.

Politisch ist Prechts Linksliberalität gut zu fassen: Der Westen und der Sozialismus werden aus einer Perspektive der Äquidistanz abgehandelt, wobei der Westen natürlich wie üblich verkürzt als „Kapitalismus“ bezeichnet wird – unter Vernachlässigung der Aspekte Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Sozialstaat. Der Vietnam-Krieg wird beschworen, Abtreibung allzu simpel befürwortet. Ein Böll-Zitat wird zu einem romantischen Lob der Faulheit aufgebaut, eine Geringschätzung für den Glücksbeitrag von Pflicht, Leistung, Erfolg, Ehrgeiz und materieller Sicherheit klingt nur allzu deutlich an. Immer wieder sind allzu simple Rekurse auf die Zeit des Nationalsozialismus eingeflochten; wie wenn etwa alle Deutschen damals von der Ermordung der Juden gewusst und ihr auch zugestimmt hätten.

Zu guter Letzt: So flott das Buch auch geschrieben ist, so anspruchsvoll ist es teilweise auch. Nicht jeder Gedankensprung wird dem Durchschnittsleser nachvollziehbar sein. Die Tragweite mancher Idee ebenfalls nicht. Da es ein Bestseller ist, frage ich mich, wie dieses Buch auch unter diesem Gesichtspunkt wohl bei den meisten Lesern angekommen sein mag. Ob man das Buch vielleicht einfach nur deshalb gut fand, weil es „in“ ist und der Autor ein gutaussehender junger Mann ist, der auch reden kann?

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 17. Dezember 2010)

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

Gert Scobel: Weisheit – Über das, was uns fehlt (2008)

Ein abgrundtief törichtes Buch

Der Ansatz von Scobel ist vielversprechend: Ob es hinter den Religionen und Philosophien nicht eine tiefere Dimension der Weisheit gäbe. Doch das Buch enttäuscht fundamental.

Der Leser gerät bei der Lektüre in ein wahres Gewitter von wildesten Assoziationen zu Religion, Philosophie, Wissenschaft, Weisheiten und Plattitüden, die auf eine Art miteinander verquickt, verbunden und verwechselt werden, wie man es sonst nur von pseudo-wissenschaftlichen Publikationen her kennt. Solange etwas nur ähnlich klingt oder ähnlich aussieht wird es in einen Topf geworfen, Konsequenzen werden außer Acht gelassen. War man anfangs noch entschlossen, dem Buch wenigstens wegen seines Ansatzes und wegen der vielen Anregungen einen Gnadenpunkt zu geben, muss man am Ende eines sich steigernden Hexensabbates der Narreteien auf der niedrigsten Bewertung bestehen: So viele Irrtümer, so viel oberflächliches Denken, so viel Nichtverstehen und so viel fehlende Einsicht haben nichts anderes verdient. Dieses Buch kann höchstens als Übung zum Erkennen von Denkfehlern, Denkfallen und Irrtümern herhalten. Da wird die fernöstliche Dualität von Ying und Yang vermengt mit der coincidentia oppositorum von Cusanus, vermengt mit der Subjekt-Objekt-Beziehung von Kant, vermengt mit dem Binärkonzept der digitalen Rechenmaschine. Da wird der „Erste Beweger“ mit dem Hinweis auf spontante Umorganisationen in komplexen Systemen für überflüssig erklärt. Da wird das Gehirn als deterministisches System beschrieben, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. Da werden die unhinterfragten Evidenzen menschlichen Denkens mit religiösem Glauben verwechselt. Auch die Himmelsscheibe von Nebra muss für wirre Thesen herhalten.

Eine halbwegs tragfähige Definition von Weisheit sucht man vergebens. Der Anspruch auf S. 9 des Vorwortes zur Taschenbuchausgabe, „Dieses Buch hilft Ihnen dabei, auf eine seriöse, gründliche Art und Weise zu verstehen, was gemeint ist, wenn man … von Weisheit spricht“, wird in keiner Weise eingelöst. Es kristallisiert sich im Laufe der Lektüre heraus, dass der Autor unter Weisheit offenbar vor allem die buddhistische Variante im Auge hat und die Meditation als Weg zur Weisheit ins Zentrum stellt. Es sei dem Autor zugestanden, dass er keine esoterische sondern eine nüchterne Wahrnehmung von Buddhismus pflegen will.

Das ganze Buch über springt der Autor zwischen zwei Grundkonzepten von Weisheit hin und her, ohne zu bemerken, dass sie nicht dasselbe sind. Das eine Konzept ist Weisheit durch Meditation, also vor allem auch durch Nichtdenken. Das andere Konzept ist Weisheit durch Bewältigung von Komplexität (das ohne Denken wohl kaum möglich ist). Es ist immer wieder atemberaubend, wie der Autor von dem Problem der Bewältigung von Komplexität nahtlos zum Thema Meditation übergeht, wie wenn das eine Lösung wäre. Wie wenn sich Komplexität durch Nichtdenken bewältigen ließe. Das scheint offenbar die Auffassung des Autors zu sein, wie wir gleich sehen werden.

Ganz übel mitgespielt wird der westlichen Weisheitstradition, also z.B. Platon oder dem Stoizismus. Diese werden nur selten einmal erwähnt und dann meist schief im Sinne des Autors interpretiert. Wenn es im Vorwort zur Taschenbuchausgabe S. 9 heißt, dass das Buch „auf die üblichen Zitate und Einführungen, beispielsweise der griechischen Philosophie, und somit auf gewisse Wiederholungen verzichtet“, dann ist das praktisch eine Ausrede dafür, dass der Autor ein Gegner der westlichen Weisheitstradition ist. So hart muss man es leider sagen, denn: S. 31 wird der Prozess der Aufklärung kurzerhand mit buddhistischer Erleuchtung gleichgesetzt (keuch!) und zugleich die Errungenschaft der Rationalität damit abgetan, dass „das Spüren eines Sonnenstrahls auf der Haut“ ja mit Rationalität nicht viel zu tun habe …

Dabei antwortet die westliche Weisheitstradition gerade auf das Problem der Bewältigung von Komplexität. Stark verkürzt könnte man die westliche Weisheitstradition so beschreiben: Hier steht die Rationalität im Zentrum als ordnende Kraft, die alle Erkenntnisse (Bücherwissen, Erfahrung, Gefühl, einfach alles) zu einem großen Erkenntnisgebäude zusammensetzt, und dabei Ordnungsmuster erkennt. Man könnte es eine individuelle (nicht kollektive!) Weltanschauung nennen. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens und des Machbaren wird in diese große Ordnung eingewoben, das Unbekannte abgeschätzt und eingehegt. Aus dieser ständig fortgestrickten Gesamtordnung ergibt sich immer mehr Überblick. Ein Überblick, der Gelassenheit verschafft. Man steht buchstäblich über den Dingen. Eine solche Ordnung aufzubauen leitet auch zum richtigen Handeln an: Zum Selberdenken. Zu Denkstrategien und Denkregeln (Dialektik, Heuristik, in Gegenseite versetzen, Logik, Wissenschaftstheorie). Zum Wissen und Erfahrungen sammeln. Zum praktischen Leben, gegen intellektuelle Abgehobenheit. Zur Annahme der Realität wie sie nun einmal ist. Zu einem geregelten Leben, in dem Fühlen, Mitfühlen, Triebe, Mühe und Entspannung in Balance sind. Glück kommt aus der Gelassenheit des geordneten Überblicks und dem geordneten Leben; besondere Glücksmomente sind Fortschritte in der Ordnung, wenn wieder ein Zusammenhang neu oder besser erkannt wurde, wenn wieder ein Puzzleteil richtig ins Gesamtbild eingesetzt werden konnte. Der stoische Weise ist das klassische Beispiel für westliche Weisheit.

Aber auch viele andere, nicht-westliche Weisheitskonzepte kommen in diesem Buch unter die Räder, sie werden von vornherein gar nicht systematisch erfasst. Denn viele von ihnen ähneln dem westlichen Konzept von Weisheit, so z.B. Konfuzius. Der „westliche“ Weg heißt ja nur deshalb „westlich“, weil er im Westen als erstes und am konsequentesten beschritten wurde, namentlich im alten Athen, dem Urbild aller vernünftigen und freien Gesellschaften. Aber eigentlich ist es ein universaler Ansatz, der für alle Menschen der beste Weg ist. Nur unweise Zyniker würden einwenden, dass dies die Weltherrschaft der Micky Maus bedeuten würde; doch vom Christentum würde auch keiner behaupten, dass es ihm geschadet hätte, durch die klärende Phase der Aufklärung hindurch gegangen zu sein, also kann es anderen Kulturen ebensowenig schaden, sondern im Gegenteil nur nützen.

Um eine Klärung des Verhältnisses von Religion und Weisheit drückt sich der Autor konsequent. Generell erweckt er den Eindruck, Religion und Weisheit gingen konform. Dass aber gerade westliche Weisheit ganz maßgeblich mit der Hinterfragung von Religion, z.B. des Buddhismus, zu tun hat, blendet er aus. Weisheit wird zudem als eine tiefere Dimension hinter den Religionen gedeutet. Dass aber Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen oft eine identitäre Einheit bilden, übersieht er. Die Frage, inwieweit Weisheit eine elitäre Angelegenheit ist, während für die Masse eine Religion notwendig bleibt, übergeht der Autor. Einzig bei seiner Kritik am Weltethos von Hans Küng liegt der Autor dann doch einmal richtig: Einerseits erkennt er darin zurecht den Versuch, die Vernunftreligion Kants zu verwirklichen; andererseits fällt ihm bei den Religionen auf, was ihm bei den Weisheitskonzepten verborgen bleibt: Dass sie nämlich nicht kompatibel sind.

Der Autor scheint ein Opfer linksliberalen Denkens zu sein, das dem Zeitgeist verhaftet ist. Linksliberales, dekadentes Denken lässt sich an vielen Punkten dieses Werkes belegen. So irritiert zunächst, dass Weisheit mit Werterelativismus und sozialer Kompetenz in Verbindung gebracht wird. Doch hat man sich einen weisen Menschen nicht bislang eher als einen prinzipientreuen Menschen gedacht, der mit der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen eher Schwierigkeiten hat? Auch der typisch linke Alarmismus, mit dem die Kultivierung der Weisheit zu einer Überlebensfrage der Menschheit hochstilisiert wird, will wenig weise erscheinen.

Die Abneigung gegen die eigene Kultur, gegen das westliche Weisheitskonzept, fügt sich ebenso gut in das Gesamtbild linksliberalen Denkens wie das völlige Verkennen des Wesens anderer Kulturen, die romantisch verklärt werden. Dass Religion und Weisheit in nichtwestlichen Kulturen nicht so getrennt werden können, wie der Autor meint, erwähnten wir schon. Hinzu kommt eine schwärmerische Verklärung der Aristoteles-Rezeption in der islamischen Welt mit Averroes im Kalifat von Cordoba in Andalusien als Höhepunkt, das natürlich als ein Hort von Toleranz und Weltoffenheit beschrieben wird; wer es wissen will, weiß, dass es so nicht war. Insbesondere die Ideen des Averroes sind im islamischen Raum leider nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, es wäre zu schön gewesen. Hinzu kommt der Selbstwiderspruch, dass Aristoteles natürlich für die westliche, rationale Weisheitstradition steht, für die der Autor offenbar plötzlich doch etwas übrig hat, wenn sie sich im islamischen Raum entfaltet, und Europa seine damalige Ignoranz unter die Nase gerieben werden kann. Der Gipfel ist dann die Behauptung des Autors, die schöne Geschichte von Andalusien würde heute gerne übergangen – in Wahrheit kommt uns dieses Märchen aus 1001 Nacht schon zu den Ohren heraus!

Wie gesehen hat der Autor auch kein Problem damit, das Gehirn für ein deterministisches Organ zu halten; dass er damit den Weg des Materialismus beschreitet und jeglicher Religiosität und Metaphysik den Boden unter den Füßen entzieht, fällt ihm nicht als Problem auf. Das Buch bewegt sich völlig auf der Schiene eines oberflächlichen Zeitgeistes. Die Zeitgeistigkeit wird noch unterstrichen durch häufig eingestreute politsche Seitenhiebe, die alle in eine naive ökopaxe und linksliberale Richtung tendieren. Immer wieder zitierte Philosophen sind Heidegger und Habermas.

Oberflächliche Zeitgeistigkeit könnte einen weiteren Grund für die Ablehnung der westlichen Weisheitstradition liefern: Diese macht nämlich Mühe und Arbeit. Es gibt hier keinen „Königsweg“, also keine Abkürzung zur Weisheit. Weil nur wenige den mühevollen Weg des Ordnens gehen, und jeder verschieden weit auf dem Weg voran kommt, kann westliche Weisheit auch zu Kränkungen bei denen führen, die erkennen müssen, dass sie nicht weit gekommen sind. Meditation hingegen verspricht Weisheit gerade aus dem Nichtdenken, aus dem Abschalten, aus „Präsenz“ und „Achtsamkeit“. Das erscheint vergleichsweise einfach, und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Meditation so in Mode ist. Meditation könnte als psychologisch nützliche Technik in das große Puzzle der westlichen Weisheitstradition integriert werden, aber ins Zentrum könnte sie dort niemals rücken.

In diesem Buch erfährt man wenig über Weisheit, aber viel über die Weltanschauung des Autors: Diese ist ungeordnet, schwärmerisch, flatterhaft und haltlos, und damit zutiefst unweise. Immerhin gibt er selbst zu, kein Weiser zu sein. Hätte er dann nicht besser über Weisheit geschwiegen?

Buchempfehlungen für alle, die an ihrer Weisheit arbeiten (!) wollen:

  • Platon, Die Apologie des Sokrates.
  • Cicero, Gespräche in Tusculum.
  • Edith Hamilton, The Greek Way.
  • Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Teil I und II).
  • Neil Postman, Die zweite Aufklärung.
  • Peter Prange, Die Philosophin.
  • Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.
  • Walter Nutz: Vom Mythos der Freiheit.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Geschrieben September 2011)

Julian Nida Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (2020)

Gelungene Werbeschrift in Sachen KI: Digitaler Humanismus statt Silicon-Valley-Ideologie

Dieses Büchlein behandelt in zwanzig kurzen Kapiteln die wesentlichen philosophischen und ethischen Fragestellungen rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Es ist für ein breites Publikum geschrieben und vermeidet deshalb konsequent trockene, abstrakte Ausführungen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Szene aus einem bekannten Hollywood-Film als Aufhänger und macht daran die Problematik und die richtige Antwort auf diese Problematik klar. Dieses Verfahren ist sehr gut gelungen: Der Leser gleitet leicht und unbeschwert von einer bekannten Filmszene in eine niveauvolle Argumentation hinüber, ohne dass es langweilig oder kompliziert würde. Nebenbei lernt man auch einige neue Aspekte der besprochenen Filme kennen, die einem bislang noch gar nicht aufgefallen waren.

Diese Filme sind u.a.: Blade Runner, Matrix, Star Wars, I Robot, Wall-E, Der Rasenmähermann, RoboCop, Ghost in the Shell, Iron Man, Ex Machina, Metropolis. Ganz kurz werden auch einige literarische Werke genannt, die das Thema berühren, so z.B. E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Mary Shelleys Frankenstein oder der Golem von Gustav Meyrink.

Kernthesen

Die Kernthese des Buches ist: Der richtige Umgang mit Künstlicher Intelligenz besteht in einem „Digitalen Humanismus“ und nicht in der aktuellen Ideologie von führenden Protagonisten des kalifornischen Silicon Valley. Diese „Silicon-Valley-Ideologie“ ist durch eine ganze Reihe von philosophischen Irrtümern gekennzeichnet, die typisch amerikanisch sind: Einerseits ein übertriebener Pragmatismus und Machbarkeitsglaube, andererseits ein puritanischer Reinheits- und Erlösungsgedanke: Dieser lädt Technik mit Metaphysik auf, gewissermaßen als Ersatzreligion. Dadurch geraten wesentliche Aspekte des Humanismus unter die Räder, was fatal ist: Der Digitale Humanismus hält dagegen, indem er den klassischen Humanismus auf die Welt der Künstlichen Intelligenz anwendet und die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie aufzeigt.

Der Irrtum der „starken KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich ein Bewusstsein und menschliches Fühlen und Denken entwickeln könnte. Doch das ist auf der Grundlage deterministischer Computer-Systeme nicht möglich. Wer an eine „starke KI“ glaubt, müsste im Umkehrschluss glauben, dass auch der Mensch nur eine Maschine ist. Damit wird aber der Mensch entmenschlicht: Er wird nicht mehr als freies und vernünftiges Wesen betrachtet, dessen Autonomie zu respektieren ist.

Auch der Transhumanismus ist ein fundamentaler Irrtum. Es wird eine klare Absage an die Idee der sogenannten „Emergenz“ erteilt: Man kann auf einer deterministischen, physikalischen Basis keine höhere Schicht einer echten menschlichen Freiheit aufbauen. Der Mensch ist keine Maschine und kann sich nicht zu einer Maschine oder in eine Maschine transformieren. Die dem Transhumanismus zugrunde liegende Psychologie ist narzisstisch und regressiv. Letztlich ist es eine Art von kindischer Flucht vor der Realität, ein quasi-religiöser Eskapismus vor den Beschränkungen der conditio humana.

Der Irrtum der „schwachen KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz zwar kein echtes menschliches Bewusstsein entwickeln, aber doch jede menschliche Regung beliebig gut simulieren kann. Doch erstens sind die heutigen Simulationen immer noch himmelweit von der menschlichen Realität entfernt, und zweitens ist auch eine täuschend echte Simulation nur eine Simulation, und keine Realität.

Die Irrtümer rund um das Delegieren von ethischen Entscheidungen an eine Künstliche Intelligenz sind vielfältig: Zunächst sind nicht alle Parameter bekannt, die eine ethische Situation bestimmen, was das Berechnen einer ethischen Entscheidung erheblich erschwert. Eine Berechnung der Zukunft ist zudem aus Gründen der Komplexität nicht möglich. Hinzu kommt das ethische Verrechnungsverbot: Man kann z.B. nicht einfach ein Menschenleben gegen ein anderes verrechnen. Die „separateness of persons“ (John Rawls) muss beachtet werden. Auch Kants Kategorischer Imperativ taugt nicht als absolutes Kriterium. Eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten kann ebenfalls nicht zu einer allgemeinen Ethik erhoben werden. Schließlich gibt es das liberale Paradoxon, das der Philosoph Amartya Sen entdeckt hat: Es ist unumgänglich, ein Stück ökonomische Optimierung zu opfern, um echte, menschliche Freiheit zu gewinnen.

Es gibt einen Grund, warum die Normen des demokratischen Rechtsstaates nicht konsequentialistisch formuliert sind (auf Folgen hin), sondern deontologisch (nach Pflichten).

Die Autoren verweisen auch auf ethische Fehlanreize, die entstehen können, wenn immer mehr Akteure eines Geschehens (z.B. im Straßenverkehr) nach den völlig gleichen ethischen Maximen handeln. Es könnte z.B. dazu kommen, dass Autos bewusst unsicher konstruiert werden, damit im Falle eines Unfalls die Gegenseite lieber ein anderes Auto als das eigene rammt.

Nebenthesen

Die Autoren wenden sich gegen die postmoderne These, dass es keine Wahrheit gäbe und diese beliebig konstruiert werden könnte. Wer das nicht auseinanderhalten könne, habe eine Psychose.

In der Kommunikation geht es nicht ohne Wahrhaftigkeit, denn Kommunikation ist nur in vertrauensvollen Beziehungen sinnvoll möglich.

Die Idee der Liquid Democracy, also einer Art Computer-Demokratie, in der alle Bürger jede Einzelfrage direkt per Knopfdruck entscheiden, ist aus prinzipiellen Gründen nicht realisierbar. Dem stehen u.a. das Condorcet-Paradoxon und das Arrow-Theorem entgegen.

Ein Grundeinkommen ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, auch wenn es „sozial“ klingt. Zudem lehrt die Erfahrung mit historischen Innovationen, dass die Arbeit nicht ausgeht, sie wird nur anders organisiert.

Der Mensch sollte eine breite, humanistische Bildung haben: Dazu gehört u.a. auch „Orientierungswissen“ und eine Persönlichkeitsbildung, die auf einer Entwicklung beruht, sowie – in einer Gesellschaft, die zusammenhalten soll – ein Bildungskanon. Bloße Vielwisserei und Fachwissen sind völlig unzureichend.

Kritik

Durch den Werbecharakter dieses Büchleins ist manches philosophische Argument vielleicht doch etwas zu oberflächlich geraten. Insbesondere zur „schwachen KI“ wird immer wieder derselbe Fehler begangen, nämlich davon auszugehen, dass KI weit davon entfernt sei, menschliches Verhalten zu simulieren. Doch das ist zumindest teilweise falsch. Spätestens mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, wo es nicht mehr ganz so einfach ist, die Maschine vom Menschen zu unterscheiden.

Ethische Argumente, die fehlen, sind z.B. diese: Ein Algorithmus kann zwar nicht autonom entscheiden wie ein Mensch, aber er kann sehr viel schneller entscheiden. In einer zeitkritischen Situation wie z.B. einem Verkehrsunfall, kann das einen Unterschied zum Vorteil der KI ausmachen.

Undiskutiert bleibt auch der Mangel an Bildung bei vielen Menschen: Viele Menschen treffen ethische Entscheidungen auf einem Niveau, das unter einem gebildeten Gesichtspunkt recht dürftig ist, und das von einer KI leicht übertroffen werden könnte. Das will zwar nicht viel heißen, aber doch ist es so. Ein Algorithmus muss in ethischen Dingen nicht in jedem Fall schlechter sein als ein Mensch. Ein Argument gegen die Autonomie des Menschen darf das natürlich nicht sein. Es geht nur um die Frage, ob eine algorithmische Ethik wirklich immer schlechter ist als die real existierende menschliche Ethik.

Das Büchlein geht meistens von deterministischen Algorithmen aus. In diesem Sinne ist eine KI ein so hochkomplexer Algorithmus, dass zwar nicht sicher vorhersehbar ist, wie sich die KI entscheiden wird, obwohl es natürlich doch vorherbestimmt ist. Das lässt jedoch die Möglichkeit eines neuronalen Netzes außer acht, dem kein Algorithmus zugrunde liegt.

Nur an wenigen Stellen wird auf neuronale Netze eingegangen. Das Hauptargument lautet: Der Name der neuronalen Netze würde täuschen, denn heutige neuronale Netze seien weit von der Komplexität und der Plastizität des menschlichen Gehirns entfernt. Ungesagt bleibt dabei, dass heutige neuronale Netze, die auf deterministischen Maschinen laufen, damit natürlich auch selbst wiederum deterministisch sind. – Das ist allerdings kein prinzipielles Gegenargument, denn was noch nicht ist, kann noch werden. Man müsste neuronale Netze also tatsächlich dem vegetativen Nervengeflecht des Gehirns nachbilden, um sie den Menschen ähnlich zu machen. Die Autoren vergessen diesen Punkt, vermutlich, weil die Technik davon noch weit entfernt ist.

Die Autoren steuern aber an anderer Stelle zusätzliche Argumente zu diesem Thema bei: Eine menschenähnliche KI könnte niemals durch das übliche „Training“ eines neuronalen Netzes erschaffen werden. Eine menschenähnliche KI müsste wie ein Mensch eine Kindheit haben, eine Familie, und über viele Jahre hinweg aufwachsen, um zu einem Menschen zu werden, bis hin zur humanistischen Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung. Dann hätte der Mensch sich tatsächlich selbst nachgebildet.

Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob es nicht einfacher wäre, ein echtes Kind zu zeugen und aufzuziehen? Und es würde sich die Frage stellen, ob es ethisch vertretbar wäre, eine solche umfassend gebildete, echt freie und menschliche Künstliche Intelligenz dann wie eine Maschine für sklavische Arbeit einzusetzen.

Höhere Kritik

Es erhebt sich noch ein letztes prinzipielles Problem, auf das die Autoren nur an einer einzigen Stelle kurz eingehen, nämlich das Problem, dass ja nicht nur der Computer, sondern auch die Physik insgesamt deterministisch ist. Die Physik kann zusätzlich auch noch probabilistisch sein, also zufälliges Verhalten zeigen. Aber die Physik kennt keine autonome, freie Entscheidung eines menschlichen Willens, genauso wenig wie ein deterministischer Computer. Wenn der menschliche Geist, egal ob als natürliches Gehirn oder als gut nachgebildetes neuronales Netzwerk, allein auf dieser Physik aufbauen würde, könnte er nicht frei sein.

Unter diesem Gesichtspunkt kann die menschliche Autonomie nur durch Metaphysik gerettet werden, nämlich durch die Postulierung eines menschlichen Geistes jenseits aller Physik, der sich in den scheinbar probabilistischen Phänomenen der Physik zum Ausdruck bringt. Dazu schreiben die Autoren nur, dass der Umstand, dass mentale Zustände durch Gehirnzustände realisiert werden, nicht heiße, dass sie von diesen verursacht werden (S. 39). Das Bewusstsein kann durch physikalische Prozesse nicht erklärt werden (Qualia-Argument). Das ist zu knapp. Dieses Thema hätte man ausführlicher behandeln müssen.

Die Schwachheit des Arguments

Natürlich ist eine solche metaphysische Dimension des menschlichen Geistes nicht beweisbar. Man kann sie nur postulieren. Weil sonst der Mensch kein Mensch mehr wäre, sondern nur eine komplizierte biologische Maschine. Weil sonst Bewusstsein, Freiheit, Rationalität und Personalität nur Illusionen wären, aber keine Realitäten. Weil damit der Humanismus gescheitert wäre, und die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit gesiegt hätte: Dann hätten die Materialisten und Zyniker und die Anhänger der Silicon-Valley-Ideologie Recht. Allerdings würde ihnen das nichts nützen. Denn dann wäre alles sinnlos geworden.

An diesem dünnen, seidenen Faden hängt der Humanismus. Man kann nur ex negativo zu seinen Gunsten argumentieren, und das ist ein schwaches Argument. Das Problem ist nicht neu. Friedrich der Große formulierte das Problem z.B. so:

Sinnlos ist eins, das andre unerklärlich,
Zwei Klippen starren, beide gleich gefährlich.
Da gilt die Wahl: Sinnloses gibt es schwerlich;
Drum wend’ ich selber mich zum Dunkeln hin
Und überlasse euch den Widersinn.

Ein erneuter Angriff auf den Humanismus

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz treibt dieses altbekannte Problem nun erneut auf seine Spitze. Natürlich ist der Humanismus das einzig Vernünftige, aber die Unterscheidungslinie zwischen Mensch und Maschine wird durch KI immer feiner und feiner gezogen. Es ist möglich, dass viele Menschen aus Denkfaulheit und falschem Pragmatismus keinen Unterschied mehr machen werden.

Es ist so, wie damals beim Aufkommen des Darwinismus: Ein oberflächliches und vulgäres Verständnis des Darwinismus führte zu Phänomenen wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Eugenik, Euthanasie und Rassenlehren, aber auch Kollektivismus und der Glaube an gesellschaftlich notwendige Entwicklungen, denen der Einzelne notfalls geopfert werden darf. Und so wie der Mensch damals zum Affen reduziert wurde, so wird der Mensch heute auf eine Maschine reduziert. Der Digitale Humanismus warnt genau vor solchen Fehlentwicklungen.

Kritik am Rande

Der Charakter einer leicht geschriebenen Werbeschrift führt dazu, dass manche Themen sich wiederholen. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Teilweise bauen sie aufeinander auf, ohne dass dies durch die Kapitelstruktur deutlich würde. Manchmal wurde ein Nebenthema in ein Kapitel mit „hineingestopft“, das man besser separat behandelt hätte.

Was das ethische Verrechnungsverbot anbelangt, wurde vergessen, dass es sehr wohl Situationen gibt, in denen eine gewisse Verrechnung erlaubt und auch geboten ist. Julian Nida-Rümelin hat dies selbst im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen formuliert: Es ist nicht zulässig, eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen, nur um womöglich ein einzelnes Menschenleben zu retten. Ethische Dilemmata werden aber erwähnt.

In einigen Punkten folgen die Autoren linken Blütenträumen: Die Abkehr von der Atomenergie wird immer noch als richtige und wichtige Zukunftsentscheidung gefeiert. Es wird die irrige These vertreten, dass der Einzelne kein eigenes Auto mehr bräuchte, wenn es autonom fahrende Taxen gäbe. Wikipedia würde angeblich von „einem strengen Ethos epistemischer Rationalität getragen“. Und ein Gegenmittel zu den Fehlinformationen im Internet seien traditionelle, redaktionelle Medien – wobei Julian Nida-Rümelin ungesagt lässt, dass die traditionellen, redaktionellen Medien sich in einer schweren Vertrauenskrise befinden.

Fazit

Eine gelungene Werbeschrift für einen Digitalen Humanismus als Antwort auf die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie, die sich gut liest und leicht verständlich ist. Das Schlusskapitel geht dann noch einmal alle lessons learned im Schweinsgalopp durch. Wer es systematischer, tiefer und theoretischer möchte, muss zu einem anderen Buch greifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

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