Schlagwort: Rationalität (Seite 1 von 6)

Jonathan Swift: Gullivers Reisen (1726)

Bissige und unterhaltsame Gesellschaftssatire

Der Roman „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift ist keine schöne Kindergeschichte, als die sie weithin bekannt ist, sondern eine bissige Gesellschaftssatire für erwachsene Leser. Obwohl sie schon 1726 erschienen ist, hält sie auch für den modernen Leser noch manche Überraschung bereit. Im ganzen gelangt der Protagonist auf seinen Reisen zu vier verschiedenen Ländern:

Weithin bekannt sind noch die ersten beiden Länder: Liliput, ein Land von winzig kleinen Menschen, und das entsprechende Gegenteil, Brobdingnag, ein Land von riesenhaften Menschen. Interessant ist, dass immer auch die Vegetation entsprechend kleiner oder größer sein soll. Außerdem sind alle bereisten Länder ziemlich genau auf dem Globus verortet, in Regionen, die damals noch unerforscht waren. In Liliput und Brobdingnag werden vor allem politische Vorgänge aufs Korn genommen, durch Intrigen und Machtspiele, in die der Protagonist gerät.

Für den modernen Leser eher amüsant ist dann die Insel Laputa, eine Insel von Gelehrten, die im Grunde Fachidioten sind, und von Dienern begleitet werden, um sie notfalls aus ihrer inneren Versunkenheit zu wecken. Hier sind wiederum die „Projektmacher“ am besten getroffen: Leute, die bewährte Vorgehensweisen z.B. in der Landwirtschaft oder beim Hausbau zugunsten irrwitziger Ideen abschaffen, die für modern gelten. Man kennt das auch heute.

Im Land der Houyhnhnms schließlich begegnet der Protagonist einem Volk von sprechenden, menschenähnlich lebenden Pferden, die wahrhaft edelmütig gesinnt sind und praktisch den Idealstaat Platons realisiert haben. Alles wird durch Vernunft geregelt, nichts durch Emotion. Zugleich findet er dort aber auch verwilderte Menschen vor, die sogenannten Yahoos, die zu wilden, trügerischen Tieren geworden sind. An ihnen werden grundlegende Eigenschaften der Menschen kritisiert, und der Protagonist tut sich schwer, nach dieser Reise wieder mit normalen Menschen zu verkehren, ohne sich zu ekeln. Und man kann es nachvollziehen.

Interessant am Rande: In Laputa wird eine Maschine vorgestellt, die durch die Kombinatorik von Worten in verschiedenen flektierten Formen beliebige Werke hervorbringen soll. Das erinnert an die Ars Magna des Raimundus Lullus, und an die Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. April 2021)

Fritz Vahrenholt / Sebastian Lüning: Unerwünschte Wahrheiten – Was Sie über den Klimawandel wissen sollten (2020)

Warum Klimaskepsis völlig berechtigt ist – ein richtig gutes Buch

Der erste Eindruck beim Auspacken des Buches ist überraschend: Das ist nicht nur sachlich-fachlich ein gutes Buch, sondern allein schon optisch beeindruckend: Das Format ist etwas größer als gewohnt, man hat sozusagen „richtig viel Buch“ in der Hand, und damit ist auch die Gestaltung von Schrift, Kapiteln und den vielen Abbildungen sehr großzügig, schön und angenehm geraten. Ein Buch mit Stil, das man gerne liest, obwohl so viele Zahlen und Tabellen darin sind. Gratulation an Verlag und Autoren allein schon dazu!

Inhaltlich begegnen einem all die Themen und Fragestellungen wieder, die man selbst aus eigener Beobachtung der Debatte bestens kennt. Alles, was man über viele Jahre im eigenen kleinen Archiv abgelegt hat, findet sich hier bestens aufbereitet wieder, und noch so viel mehr. Und es wird nicht nur die Treibhausthese beleuchtet, sondern auch Alternativthesen, die politische Struktur der Wissenschaft, sofern es dann noch Wissenschaft ist, aber auch die Frage nach alternativen Energiequellen und ihren Problemen, und welchen Sinn eine nationale Radikal-Strategie überhaupt haben soll, wenn der Rest der Welt nicht mitzieht. Denn die vorherrschende Klima-Ideologie scheitert nicht nur an der wissenschaftlichen Kernfrage, sondern auch an einer ganzen Reihe weiterer Fragen. Die öffentliche Debatte hat sich längst nach Utopia verabschiedet, und mancher Spruch von „Fridays for Future“ klingt inzwischen regelrecht gefährlich.

Besonders wohltuend ist die Sachlichkeit der Darlegung. Hier werden die Akzente richtig gesetzt, hier werden die Abwägungen richtig getroffen. Es kommt kein falscher Zungenschlag hinein, es wird kein Radikalismus mit Radikalismus beantwortet. Vahrenholt und Lüning sind mit ihrem Blog „Kalte Sonne“ die lebenden Beweise dafür, dass man weder „rechts“ noch gekauft sein muss, um der vorherrschenden Klima-Ideologie zu widersprechen. Menschlichkeit und Vernunft genügen völlig. – Das böse Gegenbeispiel ist natürlich der Verein EIKE, der personell immer noch mit dem bräunlichen Sumpf der siechen Gauland-AfD verbandelt ist. EIKE liefert den Vertretern der vorherrschenden Klima-Ideologie eine Steilvorlage dafür, Kritik mühelos abzubügeln. EIKE kann man nur den antitotalitären Grundkonsens aller Demokraten empfehlen, also einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit AfD und Linke.

Was Vahrenholt und Lüning hier vorlegen, verdient allemal, in den Medien sachlich verhandelt zu werden. Das sind keine Verschwörungstheorien und es ist keine gekaufte Wissenschaft. An der Frage, inwieweit die vorgelegten Debattenbeiträge von Politik und Medien aufgegriffen werden, entscheidet sich tatsächlich die Frage, ob diese Beiträge „unerwünscht“ sind, wie der Titel schon sagt, bzw. inwieweit Staat und Gesellschaft bei uns noch zu einer demokratischen Debatte fähig sind. In Inhalt, Augenmaß und Stil ein starkes Buch, ein gutes Buch, ein wichtiges Buch!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2020)

Israel Finkelstein / Neil A. Silberman: Keine Posaunen vor Jericho – Die archäologische Wahrheit über die Bibel (2001)

Sehr, sehr grundlegendes Allgemeinwissen für jedermann

Ich zähle „Keine Posaunen vor Jericho“ (Englisch: „The Bible Unearthed“) von Finkelstein und Silberman zu den 20 wichtigsten Sachbüchern, die man gelesen haben sollte. Warum? Weil darin sehr grundlegendes Wissen über unsere Weltwirklichkeit mithilfe der historisch-kritischen Methode vermittelt wird.

Das Buch legt verständlich aber fundiert den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar, was der reale Hintergrund für die Entstehung des grundlegenden Teiles der Bibel war: Es handelt sich weniger um Berichte von realen Ereignissen, als vielmehr um Texte, die in theopolitischer Absicht komponiert wurden, zusammengesetzt aus Historie, Mythen, Legenden, Wunschdenken und Zielvorstellungen, geschrieben zur Erreichung eines bestimmten Zwecks in einer konkreten Situation in der damaligen Gegenwart.

Was profitiert man davon?

Zunächst wird man von der Illusion befreit, die biblischen Geschichten seien wörtlich wahr. Dies ist für das persönliche Weltbild wichtig, da diese Geschichten immer noch in Kindergarten, Schule und Literatur erzählt werden, wie wenn sie historisch wahr seien.

Auch wenn man nie selbst an diese Geschichten glaubte, kann man mithilfe dieses Wissens die christlich-jüdisch-islamisch geprägten Kulturen besser verstehen. Und diese Kulturen prägen die gesamte Welt.

Man erwirbt sich die grundlegende Kompetenz, auch bei anderen Texten historisch-kritisch zu hinterfragen, ob sie denn wahr sein könnten und was die wahre Absicht ihrer Verfasser war. Das einmal kennengelernte Prinzip kann auf jeden anderen Text übertragen werden: Auf das Neue Testament, auf den Koran, auf antike Philosophen und Historiker, bis hin zu modernen Texten und Filmen und ihren Hintergründen.

Man bekommt auch ein Verständnis dafür, dass eine Entmythologisierung nicht unbedingt die Entwertung eines Mythos nach sich ziehen muss. Was nicht wörtlich wahr ist kann dennoch im übertragenen Sinn von Bedeutung sein. Und manchmal entpuppt sich ein Mythos auch als historische Wahrheit. Eine blindwütige Bilderstürmerei ist nicht angesagt.

Einladung an gläubige Leser

Gläubige Leser sollten dieses Buch nicht zuerst als Angriff auf ihren Glauben lesen. Die Erkenntnis, dass ein heiliger Text nicht wörtlich wahr ist, entwertet diesen noch lange nicht als Grundlage für eine Religion. Natürlich bringt dieses Buch Erschütterungen für den Glauben mit sich, aber Erschütterungen können auch heilsam sein! Jedenfalls lehren alle Religionen das Vertrauen in die Vernunft, und dieses Vertrauen sollte man aufbringen. Gläubige Leser sollten sich insbesondere auch nicht gezwungen fühlen, gleich für alles eine Erklärung zu haben, sei es pro oder contra. Vernunft braucht Zeit. Man kann die Erkenntnisse dieses Buches auch erst einmal distanziert zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gedanklich spielen. Nach einer Weile wird sich dann ganz zwanglos herauskristallisieren, was sich bewährt, und wo umgedacht werden muss, und wie dieses Umdenken zu einem neuen Ganzen führt. Ganz falsch wäre es sicher, die Ideen dieses Buches bewusst nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dann hätte man gegen die Religion gehandelt, weil man nicht auf die Vernunft vertraute.

Vierteilige TV Doku

Zum Buch gibt es eine sehr gut gemachte vierteilige TV-Doku von 4 x 50 Minuten, die die Inhalte des Buches gut und umfassend präsentiert und mit Bildern von Ausgrabungen, Papyri, Keilschrifttexten usw. unterlegt, sowie Interviews mit an der Forschung beteiligten Wissenschaftlern zeigt. Sie wird unter verschiedenen Titeln auf DVD vertrieben, z.B. „Die Enthüllung der Bibel“ oder „Was die Bibel verschweigt“. Empfehlung!

Auf Englisch aktuell auf Youtube z.B. unter „The Bible Unearthed (Full Version)“ zu finden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. März 2011)

Norbert Bolz: Das Wissen der Religion – Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen (2008)

Allzu plumpe Religionsverneinung ist auch nicht rational

Sprache und Stil: Bolz spricht teilweise nicht sachlich und begründend, sondern in mythischer Sprache, in Andeutungen oder schwärmerisch. Auf diese Weise wird manches Richtige, was er zum Ausdruck bringen will, beschädigt. Bolz „raunt“ häufig, wie man es aus religiös motivierten Texten unserer Tage her nur allzu gut kennt; das kommt beim skeptischen Leser gar nicht gut an.

Geistesgeschichte überbewertet: Es ist ja richtig, dass Bolz die Geistesgeschichte anführt, um die allgemeinen Denkstrukturen der Gesellschaft kenntlich zu machen. Aber als Grund und Maßstab für das eigene Denken kann die Geistesgeschichte nicht dienen. Ich persönlich glaube doch nicht an x, nur weil sich x in der Gesellschaft als Denken entwickelt hat oder so und so bewährt hat. Etwas muss für mich ganz allein wahr sein, nicht allgemein oder bewährt, damit man es glauben kann. Diese persönliche, existentielle Perspektive kommt bei Bolz oft zu kurz.

Religion und Metaphysik werden bei Bolz nicht sauber unterschieden. Manches wäre richtig, wenn man es auf eine philosophische Metaphysik bezöge. Aber wenn man denselben Gedanken mit Religion statt Metaphysik formulliert, dann macht man eine viel zu weitgehende Aussage.

Alles in allem ein anregendes, aber über weite Strecken auch schwierig geschriebenes und deshalb anstrengend zu lesendes Buch, das gute Gedanken nicht sauber genug darlegt und eine viel zu große Nähe zur Religion pflegt; wer sich noch nie mit dieser Perspektive beschäftigt hat, sollte es lesen, aber die Wahrheit ist jenseits von Bolz und seinen Gegnern zu finden: Zwischen allen Stühlen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Elif Shafak: Der Architekt des Sultans (2013)

Erzählter Traum von einer besseren Türkei

Der Roman „Der Architekt des Sultans“ von Elif Shafak ist weniger ein realistischer Historienroman, der die wahre Historie trickreich mit einer spannenden Geschichte hinterlegen würde. Vielmehr ist es ein fast schon märchenhaftes Geschehen, das sich vor dem nur blass gezeichneten Hintergrund der Geschichte Istanbuls im 16. Jahrhundert entfaltet. Im Zentrum steht die Geschichte des Jungen Jahan, der als Elefantenführer nach Istanbul kommt und dort Schüler des berühmten Hofarchitekten Sinan wird.

Zentrale Themen des Buches sind Liebe, Vertrauen und Wohlwollen, dann auch Wissen und Bildung, und als Gegensatz dazu Hass, Verbitterung und religiöse Engstirnigkeit. Da ist zunächst die Liebe des Jungen zu seinem klugen Elefanten. Dann die mordende Geldgier des Kapitäns, der ihn nach Istanbul brachte. Dann der Hofarchitekt, der seine Schüler seltsamerweise danach aussucht, ob sie seelisch heilungsbedürftig sind. Die Sultane, die ihre Konkurrenten um den Thron ermorden lassen. Der schwelende Hass diverser Romanfiguren auf das Osmanische Reich, weil es ihr Land erobert und ihre Familien ermordet hat. Der Forscherdrang des Hofastronomen. Die Engstirnigkeit der Religionsgelehrten. Die Buchhändler voller Weisheit. Die Zusammenarbeit von Menschen verschiedener Religion und Herkunft. Eine islamische Gläubigkeit getragen von Liebe und Barmherzigkeit. Idyllische Zigeuner mit dem Herz am rechten Fleck. Usw. usf.

Shafaks Roman ist im Grunde ein Märchen, das auf die heutige Türkei abzielt, in der dieselben Kräfte wie im Roman immer noch schwer miteinander ringen.

Erzählerisch ist der Roman stark, die Sprache angenehm und gefällig. Man ist durch jede einzelne Episode aufs neue gefesselt. Eine Schwäche ist jedoch, dass der Roman nur einen dünnen roten Faden hat, in den viele kleine Nebenerzählungen eingewoben sind, die nicht dazu beitragen, die Geschichte voranzutreiben, und die teilweise so dramatisch sind, dass man jeweils einen eigenen Roman daraus hätte machen können. Auch die Auflösung diverser Verwicklungen am Schluss des Romans kommt etwas überraschend und hat sich eher nicht im Verlauf des Romans abgezeichnet. Auch die dramatische Eingangsszene wird im Roman dann eher beiläufig abgearbeitet, und auch der Prolog mit dem „Mittelpunkt des Universums“ ist am Ende nicht so zentral für diesen Roman, wie man erwarten könnte. Der Roman krankt ein wenig daran, dass er zu viele „zentrale“ Themen aufmacht, so dass am Ende keines davon mehr wirklich „zentral“ ist.

Eine weitere Schwäche ist eine teilweise zu sehr zur Schau gestellte Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Im wirklichen Leben geht es manchmal doch robuster zu, ohne dass es weniger herzlich wäre. Hier ist man versucht, das Wort vom „Frauenroman“ zu bemühen. Schließlich wurde das ganz am Anfang des Romans angeschlagene Gegensatzpaar „Liebe“ vs. „Liebe zum Lernen“ bzw. zur Wahrheit nicht wirklich bearbeitet. Richtig ist, dass Jahan kein Glück in der Liebe hat. Aber der Grund dafür scheint mir keineswegs seine Liebe zum Lernen und zur Wahrheit zu sein, die übrigens nur recht selten im Roman aufscheint. Beide Dimensionen bleiben unverbunden nebeneinander stehen, und stoßen sich nicht gegenseitig. Aus diesem Thema hätte man mehr machen können.

Eine kleine Liste weiterer Themen, die der Roman bearbeitet:

  • Das Verhältnis von Meister und Schüler.
  • Ein Leben voll begeisternder Arbeit, über der das Leben selbst zu kurz kommt.
  • Unerfüllte Liebe. Einsamkeit.
  • Abschied, Tod, Verlust, Verrat.
  • Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, Verkleidung als Mann.
  • Studienreisen von osmanischen Architekten nach Rom.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juli 2017)

Theodor Gomperz: Griechische Denker – Eine Geschichte der Antiken Philosophie (1896-1909)

Aufklärung über die Aufklärung anhand der griechischen Aufklärung

Das Werk

Obwohl Gomperz‘ dreibändiges Werk über die „Griechischen Denker“ in den Jahren 1896-1909 veröffentlich wurde, ist es dennoch erstaunlich modern: Der Grund dafür ist, dass der Verfasser politisch-weltanschaulich ein klassischer Liberaler war, der auch mit den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit bestens vertraut war, die bis heute die Grundlage unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bilden: Evolutionstheorie, Psychologie, Religionskritik, Ethnologie, Ökonomie, Atomphysik und Astrophysik, bis hin zu den Gedanken, dass hinter den Atomen noch kleinere Teilchen stehen könnten oder dass es im Weltraum noch andere Planeten mit Leben geben müsste. Teilweise stand der Autor mit den Vordenkern der Moderne in persönlichem Kontakt, etwa mit Sigmund Freud oder dem Physiker Ernst Mach. Aber auch unter historisch-kritischen Gesichtspunkten ist Gomperz immer noch modern genug: Eine gläubige Verklärung der Antike findet sich bei ihm nicht, auch wenn er noch nicht jede Hinterfragung kennt, von der wir heute, 100 Jahre später, wissen.

Das Werk nimmt mit seiner Eindringtiefe in den behandelten Stoff eine Mittelstellung zwischen kurzer Einführung und tiefgehender Einzelabhandlung ein. Dadurch kann Gomperz etwas bieten, was es heute so nicht mehr gibt: Neben der Behandlung der großen und bekannten Denker wie Demokrit, Platon oder Aristoteles, geht Gomperz einerseits auch auf viele „kleinere“ Denker ein, von denen man sonst eher selten liest, so z.B. die Megariker, die Kyrenaiker und die Kyniker, oder Theophrast und Straton. Andererseits kann Gomperz so viel besser die Entwicklungszusammenhänge zwischen den Denkern aufzeigen, so z.B. die Einteilung der Vorsokratiker in die Ionischen Naturphilosophen, die Eleaten und spätere komplexere Denker, oder die Entstehung der Stoiker und Epikureer aus den Kynikern und Kyrenaikern, über die man nur selten liest. Gomperz breitet den ganzen Horizont vor seinen Lesern aus: Nicht nur Philosophen im engeren Sinne, sondern das ganze geistige Umfeld wird erfasst: Er beginnt mit Religion und Mythos, und vergisst nicht den wesentlichen Einfluss von Dichtern und Geschichtsschreibern. Gleichzeitig verliert sich Gomperz aber auch nicht in Teilproblemen, wie dies Spezialabhandlungen tun. Gomperz geht teilweise recht tief, bleibt dabei aber doch immer klar.

Gomperz bringt die Dinge auf den Punkt, und zwar ihren eigenen Punkt. Wo andere eher beschreiben als erklären, oder ihre moderne Ideologie in der antiken Philosophie wieder entdecken wollen, dort ist Gomperz ein Meister in der Kunst, den entscheidenden Punkt, die innere Motivation, die tiefere Triebkraft herauszuarbeiten, die hinter den antiken Entwicklungen steht. So erst werden Inhalte und Entwicklungen der antiken Philosophie wirklich verständlich.

Wer Gomperz lesen will, muss vor allem Geduld und Konzentration mitbringen. Pausen empfehlen sich. Notizen ebenfalls. Man wird später auch immer wieder noch einmal nachlesen, was Gomperz sagte, und dabei immer noch neues entdecken. Man hätte sich eine bessere Gliederung des Stoffes in einer Hierarchie von Unterkapiteln wünschen können, um dadurch einenn besseren Überblick und eine mnemotechnisch nützliche Wissensordnung zu haben. Besonders ungünstig ist die Kapiteleinteilung im dritten Band, aber auch im ersten Band ist z.B. das Kapitel über Demokrit und die Atomlehre ungünstig gehalten. Die Sätze sind manchmal etwas verwickelt und altertümlich, hier hilft lautes Lesen.

Der Inhalt

Das Hauptthema der Antike ist natürlich der Prozess der Aufklärung und die Gewordenheit unserer heutigen geistigen Welt. Gomperz weiß noch ganz genau, warum die Beschäftigung mit der Antike so wichtig ist, während der Zeitgeist uns weismachen will, die Antike sei von gestern.

Gomperz legt aber nicht nur die Entwicklung der Aufklärung in der Antike dar, sondern zeigt ständig die Zusammenhänge und Parallelen zur modernen Aufklärung und Wissenschaft auf. Er erklärt anhand der Antike die aufklärerischen Prinzipien von philosophischem und wissenschaftlichem Denken im allgemeinen, so dass der der Leser nicht nur die Schritte der Aufklärung der griechischen Denker kennenlernt, sondern auch selbst Schritt für Schritt aufgeklärt wird.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Bei Gomperz lernt man das Denken selbst. Dazu gehört nicht nur exakte Berechnung und konsequente Logik, sondern vor allem auch die Fähigkeit der richtigen Einschätzung. Die Kunst des Abwägens. Das Maß der Erkenntnis. Das richtige Interpretieren anhand von Indizien. Man lernt auch, wie Dinge sich entwickeln, und dass vieles nur schrittweise voran geht, dass auch Irrwege nützlich sein können, usw.

Aus heutiger Sicht ist Gomperz erfrischend vernünftig und unideologisch. Die Lektüre dieser 100 Jahre alten Abhandlung ist eine wahre Labsal für die vom Zeitgeist geplagte Vernunft. Gomperz hat in vielen Punkten den richtigen, differenzierten Ansatz, er trifft an den entscheidenden Weggabelungen der Erkenntnis die richtigen Entscheidungen, während ein irriger Zeitgeist die falschen Abzweigungen nimmt und eine schiefe Ideologie entwickelt.

Die Sophisten werden von Gomperz korrekt als eine Stufe des Fortschreitens der Aufklärung gesehen; man darf dabei nur nicht vergessen, dass Sokrates die nächste, höhere Stufe ist: Nach der De-konstruktion kommt die Re-konstruktion. – Bei Platon ist Gomperz ungewöhnlich kritisch: Fast schon respektlos kritisiert er Platon als einen Denker des Absoluten, der in seiner absoluten Präzision oft genug absolut falsch lag. Auch wenn Gomperz hier nicht immer Platons Genialität voll erfasst hat, so ist sein respektlos kritischer Ansatz berechtigt und anregend. – Platon wird bei Gomperz einseitig Demokratie-kritisch und Tyrannen-freundlich gesehen. Hier und in anderen Punkten erliegt Gomperz dem Geist seiner Zeit. – Aristoteles erscheint bei Gomperz als ein Ausbund an Inkonsequenz und kompromisslerischem Pragmatismus. Was für die Philosophie im engeren Sinne eher fragwürdig ist, hat sich für Politik und Wissenschaft jedoch als Segen erwiesen: Hier hat Aristoteles mehr Erfolge bewirkt als Platon. Im letzten dürften sich beide Ansätze jedoch in der Mitte treffen, zumal Platon in den Nomoi bereits den Weg hin zu mehr Pragmatismus zu gehen begonnen hatte, und Aristoteles nicht zufällig ein Schüler Platons war. Diese Erkenntnis deutet sich bei Gomperz an, wird jedoch nicht in dieser Klarheit formuliert.

Der Autor

Erschreckend ist es zu lesen, wie Gomperz kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Auffassung vertritt, die Staaten Europas seien auf einem guten Wege des Friedens, der Freiheit und des Wohlstandes, und würden immer enger zusammenrücken; Krieg sei undenkbar geworden. Im Sinne des „Zauberberges“ von Thomas Mann ist Gomperz ein wahrer „Settembrini“, ein durchaus sympathischer aber vielleicht doch allzu optimistischer klassischer Liberaler mit etwas zu wenig Einfühlungsvermögen in das „absolute“ Denken Platons. Da es aber besser so als andersherum ist, verzeiht man ihm diese Schwäche gern.

Wer ein vernünftiges, rundes, schönes, klares, erhellendes, bildungsbürgerliches, vollständiges, gutes, menschenfreundliches Buch über die antiken Denker lesen möchte, das nicht angekränkelt ist von den Irrtümern unserer Zeit, sondern wesentliche und richtige zeitlose Einsichten als Basis für eigenes Weiterdenken vermittelt, der ist mit den „Griechischen Denkern“ von Gomperz bestens bedient. Sicher eines der Bücher, die man gelesen haben sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juni 2013)

Andreas W. Müller: Der Westen – Ein Nachruf (2012)

Philosophische Denkanstöße für Umdenker und Querdenker

Dieses Buch ist ein thematisch gruppiertes Sammelsurium von kürzeren Texten über Dinge wie Kunst, Politik, Geschichte, Krieg, Moral, Menschenrechte, Tierrechte, Hirnforschung, und die Kernthemen der Philosophie. Was auf den ersten Blick etwas willkürlich und oberflächlich erscheint, hat es aber faustdick in sich! Der Autor ist nämlich Objektivist, d.h. ein Anhänger der Philosophie des Objektivismus, die von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründet wurde. Und das bedeutet, dass die gebotenen Texte sich durch ein hohes Maß an Rationalität und Realismus auszeichen. Das macht sie interessant und lesenswert, auch wenn man gewiss nicht allem zustimmen kann. Eine dogmatische Überwältigung des Lesers durch den Objektivismus findet in diesem Buch definitiv nicht statt, es geht durchweg rational zu.

Die gebotenen Texte sind hervorragende Denkanstöße, denn wegen ihrer Rationalität kann der Leser sie nicht einfach pauschal ablehnen. Vielmehr ist der Leser gezwungen, mit einem „ja aber“ sein eigenes differenzierendes Nachdenken darüber zu beginnen, wie es denn nun wirklich ist – und schon ist man mitten drin im eigenen Denken. Wer sein Denken öffnen will, wer sich prüfen will, wer entschlossen ist, sich hinterfragen zu lassen, für den ist dieses Büchlein eine große Hilfe. Wer hingegen mit Vorurteilen an die Lektüre geht, und Denkfehler weder verzeiht noch als Einladung zum Selberdenken versteht, dem ist von diesem Buch abzuraten.

Als Objektivist kann der Autor manchen Kontrapunkt gegen den herrschenden Zeitgeist setzen: Warum echter Egoismus gar kein solcher ist. Warum soziale Wohltaten und Tierrechte nett aber falsch sind. Warum Sexualität weder unterdrückt noch wild ausgelebt werden sollte. Warum wir zusätzlich zu den Naturwissenschaften trotzdem noch Philosophie brauchen. Usw. Der absolute Hit dürfte aber das philosophische Konzept einer Metaphysik sein, die an die Materie gebunden ist. Also die Ablehnung von Materialismus und Religion gleichermaßen. Die allermeisten Menschen wissen vermutlich gar nicht, dass es diese Denkmöglichkeit überhaupt gibt. Deshalb verharren sie in den Extremen Materialismus und Religion, aus denen so viele Übel hervorgehen.

Neben einigen Gastbeiträgen anderer Autoren enthält das Buch auch eine Untersuchung der Philosophie der Harry-Potter-Welt. Zahlreiche Weblinks und Literaturangaben geben nützliche Hinweise für das eigene Weiterlesen. Einzig ärgerlich ist vielleicht der Titel des Buches: Denn statt einem defätistischen Abgesang auf den Westen liefert das Buch zahlreiche Anstöße für die Renaissance des Westens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. September 2013)

PS 16. Mai 2025

Der Autor Andreas W. Müller hat sich inzwischen von der Philosophie des Objektivismus entfernt und deshalb den Vertrieb dieses Kindle-Buches eingestellt. Zum Blog des Autors hier: https://feuerbringer.wordpress.com/autorundwerk/

Jack London: König Alkohol (1913)

Lesenswert: Gesellschaftskritik und Weltschmerz eines Alkoholikers

Das autobiographische Buch „König Alkohol“ (original: „John Barleycorn – Alcoholic Memoirs“) von Jack London beschreibt, wie der Lebensweg des Autors aus verschiedenen Gründen immer von Alkohol begleitet war, bis in die Sucht hinein, die den Autor bald nach der Veröffentlichung des Buches im Alter von 40 Jahren in den Tod führen sollte. Überraschenderweise steht dabei weniger die Alkoholsucht als solche im Zentrum des Buches, sondern vielmehr die „verschiedenen Gründe“ für das Trinken. Diese Gründe lassen sich im wesentlichen in drei Themenbereichen zusammenfassen:

Thema (1): Soziale Akzeptanzrituale, die für sich allein betrachtet sinnlos, albern oder sogar schädlich sind (Gessler-Hut-Rituale): In diesem Buch ist es das gemeinsame Trinken von Alkohol, durch das man als „Mann“ anerkannt wird. Aber es sind andere Beispiele von Ritualen aus unserer heutigen Lebenswelt denkbar, die zur Akzeptanz in gewissen Milieus führen: Vom Reden und Prahlen über Fußball und Autos, über die Verfemung von Microsoft, Wehrdienst und George W. Bush, bis hin zum gemeinsamen Bordell-Besuch. Das Problem ist: Entweder man macht mit, oder man bleibt einsam und erfolglos. Und wer mitmacht, gewöhnt sich daran.

Thema (2): Die Entfremdung des lesenden Menschen von den „normalen“ Menschen durch seine Bildung. Das Problem ist: Der Abgrund zu den weniger gebildeten Menschen ist auch durch ein gewolltes Herablassen auf deren Niveau nicht wirklich überbrückbar. Man bleibt innerlich einsam, und wird nur noch von wenigen, einzelnen Mitmenschen wirklich verstanden, die leider schwer zu finden sind.

Thema (3): Desillusionierungen über Gesellschaft, Mitmenschen, Religion und Weltanschauung, die zu einer verschärften Form der Sinnfrage führen (Weltschmerz, Weltekel). Das Problem ist: Entweder man findet neue, eigene Antworten auf die Sinnfrage, oder man endet in Verzweiflung und Zynismus.

Jack London hatte sich als junger Mann dem Ritual des gemeinsamen Alkoholtrinkens hemmungslos hingegeben, um Abenteuer und Kameradschaft zu erleben, was ihn für die Sucht vorbereite. Später wurde ihm die Herablassung auf das Niveau der weniger gebildeten Menschen durch den Alkohol erleichtert. Er hatte aber auch jene wenigen, einzelnen Menschen gefunden, mit denen er sich ganz ohne Alkohol auf Augenhöhe unterhalten konnte, darunter seine Ehefrau. Bis zu diesem Punkt kann noch nicht von einer Sucht gesprochen werden.

In die Sucht geriet Jack London durch die Sinnfrage. Jack London war Sozialist und vor allem Materialist. Anders als die meisten Materialisten hatte er die Folgerungen dieser Weltanschauung jedoch konsequent zu Ende gedacht, sowie mögliche Alternativen rigoros abgelehnt, so dass er dem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Alles wurde schal und sinnlos für ihn, und seine Perspektive auf die Welt und die Menschen wurde zynisch. Es gab offenbar nichts mehr, was seinen Geist durch Sinnhaftigkeit in Stimmung bringen konnte: Kein Streben nach Wissen, kein Suchen nach etwas Unbekanntem, keine Anschauung des Schönen, und zuletzt vielleicht auch kein echter Glaube mehr an die Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen.

Um sich gegen Pessimismus und Zynismus immer wieder in Stimmung zu bringen, musste Jack London zur Flasche greifen, und verfiel auf diese Weise schrittweise der schleichenden Sucht.

Man könnte es auch andersherum deuten: Möglicherweise führte der langjährige, „soziale“ Alkoholkonsum zu einer Depression, und diese Depression war es, die eine rationale, positive Antwort auf die Sinnfrage verhinderte („Weiße Logik“ des Alkohols), und das wiederum ließ Jack London am Ende freiwillig zur Flasche greifen. Ob nun eher eine kranke Psychologie (Depression wegen Alkoholkonsum), oder eher eine falsche Philosophie (Materialismus mit allen Konsequenzen) die Ursache für das finale Scheitern waren, wird sich wohl nie mehr ganz klären lassen. Das eine schließt das andere ja keineswegs aus.

Am Ende des Buches behauptet Jack London überraschend, dass er die „Weiße Logik“ überwinden konnte, indem er gelernt habe, der Sinnfrage auszuweichen. Trinken würde er allerdings dennoch hin und wieder, weil er sich daran gewöhnt hatte, Alkohol mit der guten Erinnerung an Geselligkeit und Kameradschaft in Verbindung zu bringen. Das ist alles andere als ein überzeugender Schluss! Denn erstens kann man der Sinnfrage nicht auf Dauer ausweichen. Und zweitens befindet sich Jack London damit immer noch in dem Zustand, Alkohol gerne zu trinken, um eine angenehme Stimmung hervorzurufen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Mai 2018)

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

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