Schlagwort: Rationalität (Seite 1 von 5)

Andreas W. Müller: Der Westen – Ein Nachruf (2012)

Philosophische Denkanstöße für Umdenker und Querdenker

Dieses Buch ist ein thematisch gruppiertes Sammelsurium von kürzeren Texten über Dinge wie Kunst, Politik, Geschichte, Krieg, Moral, Menschenrechte, Tierrechte, Hirnforschung, und die Kernthemen der Philosophie. Was auf den ersten Blick etwas willkürlich und oberflächlich erscheint, hat es aber faustdick in sich! Der Autor ist nämlich Objektivist, d.h. ein Anhänger der Philosophie des Objektivismus, die von der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand begründet wurde. Und das bedeutet, dass die gebotenen Texte sich durch ein hohes Maß an Rationalität und Realismus auszeichen. Das macht sie interessant und lesenswert, auch wenn man gewiss nicht allem zustimmen kann. Eine dogmatische Überwältigung des Lesers durch den Objektivismus findet in diesem Buch definitiv nicht statt, es geht durchweg rational zu.

Die gebotenen Texte sind hervorragende Denkanstöße, denn wegen ihrer Rationalität kann der Leser sie nicht einfach pauschal ablehnen. Vielmehr ist der Leser gezwungen, mit einem „ja aber“ sein eigenes differenzierendes Nachdenken darüber zu beginnen, wie es denn nun wirklich ist – und schon ist man mitten drin im eigenen Denken. Wer sein Denken öffnen will, wer sich prüfen will, wer entschlossen ist, sich hinterfragen zu lassen, für den ist dieses Büchlein eine große Hilfe. Wer hingegen mit Vorurteilen an die Lektüre geht, und Denkfehler weder verzeiht noch als Einladung zum Selberdenken versteht, dem ist von diesem Buch abzuraten.

Als Objektivist kann der Autor manchen Kontrapunkt gegen den herrschenden Zeitgeist setzen: Warum echter Egoismus gar kein solcher ist. Warum soziale Wohltaten und Tierrechte nett aber falsch sind. Warum Sexualität weder unterdrückt noch wild ausgelebt werden sollte. Warum wir zusätzlich zu den Naturwissenschaften trotzdem noch Philosophie brauchen. Usw. Der absolute Hit dürfte aber das philosophische Konzept einer Metaphysik sein, die an die Materie gebunden ist. Also die Ablehnung von Materialismus und Religion gleichermaßen. Die allermeisten Menschen wissen vermutlich gar nicht, dass es diese Denkmöglichkeit überhaupt gibt. Deshalb verharren sie in den Extremen Materialismus und Religion, aus denen so viele Übel hervorgehen.

Neben einigen Gastbeiträgen anderer Autoren enthält das Buch auch eine Untersuchung der Philosophie der Harry-Potter-Welt. Zahlreiche Weblinks und Literaturangaben geben nützliche Hinweise für das eigene Weiterlesen. Einzig ärgerlich ist vielleicht der Titel des Buches: Denn statt einem defätistischen Abgesang auf den Westen liefert das Buch zahlreiche Anstöße für die Renaissance des Westens.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. September 2013)

PS 16. Mai 2025

Der Autor Andreas W. Müller hat sich inzwischen von der Philosophie des Objektivismus entfernt und deshalb den Vertrieb dieses Kindle-Buches eingestellt. Zum Blog des Autors hier: https://feuerbringer.wordpress.com/autorundwerk/

Jack London: König Alkohol (1913)

Lesenswert: Gesellschaftskritik und Weltschmerz eines Alkoholikers

Das autobiographische Buch „König Alkohol“ (original: „John Barleycorn – Alcoholic Memoirs“) von Jack London beschreibt, wie der Lebensweg des Autors aus verschiedenen Gründen immer von Alkohol begleitet war, bis in die Sucht hinein, die den Autor bald nach der Veröffentlichung des Buches im Alter von 40 Jahren in den Tod führen sollte. Überraschenderweise steht dabei weniger die Alkoholsucht als solche im Zentrum des Buches, sondern vielmehr die „verschiedenen Gründe“ für das Trinken. Diese Gründe lassen sich im wesentlichen in drei Themenbereichen zusammenfassen:

Thema (1): Soziale Akzeptanzrituale, die für sich allein betrachtet sinnlos, albern oder sogar schädlich sind (Gessler-Hut-Rituale): In diesem Buch ist es das gemeinsame Trinken von Alkohol, durch das man als „Mann“ anerkannt wird. Aber es sind andere Beispiele von Ritualen aus unserer heutigen Lebenswelt denkbar, die zur Akzeptanz in gewissen Milieus führen: Vom Reden und Prahlen über Fußball und Autos, über die Verfemung von Microsoft, Wehrdienst und George W. Bush, bis hin zum gemeinsamen Bordell-Besuch. Das Problem ist: Entweder man macht mit, oder man bleibt einsam und erfolglos. Und wer mitmacht, gewöhnt sich daran.

Thema (2): Die Entfremdung des lesenden Menschen von den „normalen“ Menschen durch seine Bildung. Das Problem ist: Der Abgrund zu den weniger gebildeten Menschen ist auch durch ein gewolltes Herablassen auf deren Niveau nicht wirklich überbrückbar. Man bleibt innerlich einsam, und wird nur noch von wenigen, einzelnen Mitmenschen wirklich verstanden, die leider schwer zu finden sind.

Thema (3): Desillusionierungen über Gesellschaft, Mitmenschen, Religion und Weltanschauung, die zu einer verschärften Form der Sinnfrage führen (Weltschmerz, Weltekel). Das Problem ist: Entweder man findet neue, eigene Antworten auf die Sinnfrage, oder man endet in Verzweiflung und Zynismus.

Jack London hatte sich als junger Mann dem Ritual des gemeinsamen Alkoholtrinkens hemmungslos hingegeben, um Abenteuer und Kameradschaft zu erleben, was ihn für die Sucht vorbereite. Später wurde ihm die Herablassung auf das Niveau der weniger gebildeten Menschen durch den Alkohol erleichtert. Er hatte aber auch jene wenigen, einzelnen Menschen gefunden, mit denen er sich ganz ohne Alkohol auf Augenhöhe unterhalten konnte, darunter seine Ehefrau. Bis zu diesem Punkt kann noch nicht von einer Sucht gesprochen werden.

In die Sucht geriet Jack London durch die Sinnfrage. Jack London war Sozialist und vor allem Materialist. Anders als die meisten Materialisten hatte er die Folgerungen dieser Weltanschauung jedoch konsequent zu Ende gedacht, sowie mögliche Alternativen rigoros abgelehnt, so dass er dem Leben keinen Sinn mehr abgewinnen konnte. Alles wurde schal und sinnlos für ihn, und seine Perspektive auf die Welt und die Menschen wurde zynisch. Es gab offenbar nichts mehr, was seinen Geist durch Sinnhaftigkeit in Stimmung bringen konnte: Kein Streben nach Wissen, kein Suchen nach etwas Unbekanntem, keine Anschauung des Schönen, und zuletzt vielleicht auch kein echter Glaube mehr an die Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen.

Um sich gegen Pessimismus und Zynismus immer wieder in Stimmung zu bringen, musste Jack London zur Flasche greifen, und verfiel auf diese Weise schrittweise der schleichenden Sucht.

Man könnte es auch andersherum deuten: Möglicherweise führte der langjährige, „soziale“ Alkoholkonsum zu einer Depression, und diese Depression war es, die eine rationale, positive Antwort auf die Sinnfrage verhinderte („Weiße Logik“ des Alkohols), und das wiederum ließ Jack London am Ende freiwillig zur Flasche greifen. Ob nun eher eine kranke Psychologie (Depression wegen Alkoholkonsum), oder eher eine falsche Philosophie (Materialismus mit allen Konsequenzen) die Ursache für das finale Scheitern waren, wird sich wohl nie mehr ganz klären lassen. Das eine schließt das andere ja keineswegs aus.

Am Ende des Buches behauptet Jack London überraschend, dass er die „Weiße Logik“ überwinden konnte, indem er gelernt habe, der Sinnfrage auszuweichen. Trinken würde er allerdings dennoch hin und wieder, weil er sich daran gewöhnt hatte, Alkohol mit der guten Erinnerung an Geselligkeit und Kameradschaft in Verbindung zu bringen. Das ist alles andere als ein überzeugender Schluss! Denn erstens kann man der Sinnfrage nicht auf Dauer ausweichen. Und zweitens befindet sich Jack London damit immer noch in dem Zustand, Alkohol gerne zu trinken, um eine angenehme Stimmung hervorzurufen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Mai 2018)

Niccolò Machiavelli: Der Fürst (1513)

Der erwartete Klassiker mit Einsichten am Rande

Das bekannte Buch von Machiavelli liest sich recht schnell und bietet im Original tatsächlich ungefähr das, was man überall darüber lesen kann: Es ist eine Anleitung für Fürsten, wie sie die Macht erlangen und erhalten, wobei die Wahl der Mittel ohne Rücksicht auf moralische Bedenken geschieht. Auch der immer wieder zitierte Rat kommt vor, dass man den Untertanen nicht an den Geldbeutel oder die Frau gehen soll, was fast schon tröstlich ist, da dadurch eine gewisse Grenze und ein gewisser Schutz für die Untertanen vor ihren Fürsten definiert wird, auch wenn es ein rein egoistischer Rat ist.

Der Gipfel der Skrupellosigkeit ist der Mord von Cesare Borgia an diversen Verschwörern in Senigallia 1502, wohin er sie eingeladen hatte. Machiavelli stellt diese Beseitigung von Rivalen als herrschaftssichernde Maßnahme dar, die sehr erfolgreich und deshalb legitim war.

Interessant ist das „Schachspiel“ der Mächte untereinander: Wer mit wem gegen wen, und wie man jemanden in Schach hält, oder ihn unfreiwillig zur Eroberung einlädt usw. Hier können naive Menschen gut lernen, dass gutgemeinte Taten oft das Gegenteil dessen zur Folge haben, was beabsichtigt war. Man bekommt zudem Einblicke in die politischen Verhältnisse im Italien der damaligen Zeit: Franzosen, Venezianer, der Papst … alle ringen um Einfluss und Herrschaft.

Interessant sind auch die Ratschläge, wie man verschiedene Länder zu einem Land zusammenschließt. Der Fürst sollte entweder Teile der Bevölkerung umsiedeln, oder seine Residenz im neu eroberten Gebiet nehmen. Republiken könne man nur durch Zerstreuung der Bevölkerung dauerhaft in den Griff bekommen, weil die Erinnerung an die einstige Freiheit zu stark ist. Für die Konstrukteure des EU-Überstaates sind hier wertvolle Einsichten zu finden, die zeitlos gültig sind.

Der viel beschworene Begriff der „virtù“ fiel mir bei der Lektüre der Übersetzung nicht auf. Vermutlich fällt er bei Machiavelli in einem eher unscheinbaren Nebensatz, und man muss schon einen Blick dafür haben, dies zu erkennen und die Neuerung im Denken darin zu sehen. Das Denken Machiavells ist sicher eine Befreiung gegenüber einem scholastischen Denken, aber es ist andererseits doch wieder zu zügellos.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Dezember 2017)

Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Anregende und wirkmächtige Geistesgeschichte Deutschlands

Heinrich Heines „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ von 1834/5 ist aus mehreren Gründen absolut lesenswert: Zum einen, weil es eine sehr persönliche Sicht auf den Verlauf der Geistesgeschichte in Deutschland bietet, die durch Ehrlichkeit, Individualität und Offenheit überzeugt. Hier geht es nicht darum, Objektivität vorzutäuschen, sondern hier sagt jemand seine Meinung, und der Leser ist zum Selberdenken aufgefordert. Auch dort, wo man die Darstellung für zu oberflächlich und einseitig hält, hat Heine doch immer einen guten Punkt getroffen. Heine hat hier einige Einsichten mit Worten geprägt, die fast zu Sprichworten geworden sind.

Zum anderen sollte man dieses Buch deshalb lesen, weil es von vielen gelesen wurde, und ein Bild der deutschen Geistesgeschichte erzeugt hat, das von vielen geteilt wird. Auch und gerade, weil es auch Fehler hat, sollte man um die Wirkmächtigkeit dieser Irrtümer wissen. Schließlich ist Heines Werk aber auch ein Zeitdokument, das einem die Augen öffnet, wie die Dinge in den damaligen Zeiten gelaufen sind – und wie sie wohl zu allen Zeiten laufen bzw. laufen könnten.

Für Heinrich Heine mündet die Reihe Kant, Fichte, Schelling, Hegel in Pantheismus, in „Naturphilosophie“. Im Pantheismus, in der Romantik, lebt auch das alte Germanentum wieder auf, während die Juden als „Schweizergarde des Deismus“ nicht in das pantheistische Bild passen. Heine weiß, dass in der Naturphilosophie auch Gefahren liegen: Das Wiederaufleben der „Berserkerwut“ des Germanentums aus „tausendjährigem Schlummer“. Man meint, eine Prophezeiung auf Marx und Hitler zu lesen.

Hier gibt es eigentlich keinen Grund für Optimismus und Fortschrittsglaube. Es ist unverständlich, wie Heine den Gang der Geistesgeschichte einschließlich ihrer Gefahren so beschreiben kann, aber dann relativ optimistisch dabei ist. Heine hätte hier die Frage nach einer besseren Alternative stellen müssen. Aber das tut er nicht. Heine scheint vielmehr im Ganzen recht einverstanden zu sein mit der „Naturphilosophie“. Die Gefahren scheint er nicht ernst zu nehmen.

In diesen Zusammenhang muss wohl auch die Aussage Heines eingeordnet werden, dass er das Christentum selbst dann noch erhalten wollte, wenn der Glaube geschwunden ist. Das ist eine sehr unphilosophische Aussage. Hier wird deutlich, dass Heine selbst kein ganz klarer Kopf ist. An anderer Stelle äußert er, wie ihm unwohl ist, wenn Kant Gott seziert; damit zeigt er eine unphilosophische Religiosität. Von diesem Punkt aus lassen sich Heines Irrtümer und Fehlurteile verstehen.

Hierher gehört wohl auch, dass Heine seinen eigenen Fortschrittsoptimismus ein wenig relativiert, ohne ihn im Kern zu hinterfragen. Man kann sicher sein, dass Heine vor ideologischem Handeln und Fanatismus zurückgeschreckt wäre. Aber Heine mäßigt seinen Optimismus nur, statt dass er ihn grundsätzlich hinterfragt. Auch hier wird die Gefahr von Heine gesehen, aber kleingeredet. Eine bessere Alternative zum naiven Fortschrittsoptimismus wird nicht gegeben. Heine ist ganz offenkundig fasziniert von dem Neuen und will daran nur das vermeintlich Gute sehen. Heinrich Heine ist einer der ersten, die die Greuel von Kommunismus und Nationalsozialismus vor lauter Faszination nicht sehen wollten – wenn auch nur auf einer theoretischen Ebene.

Die Aufgabe des modernen Lesers ist es, sich dieser Faszination Heinrich Heines zu entziehen, und bessere Alternativen zu suchen.

Interessant die Aussagen über das deutsche Wesen: Methodisch, gründlich, langsam, auch im Hass, und mit einer Wirkung aufgrund der Gedankentiefe, die die Welt erschüttern wird. Die Deutschen sind generell langsam, wenn sie aber einmal eine Bahn eingeschlagen haben, verfolgen sie diese bis zum Ende.

Ein Irrtum ist u.a. die Auffassung, dass es eines Luthers bedarf, um etwas zu bewegen, und dass ein Erasmus und Melanchthon es allein nicht geschafft hätten. Denn Heine selbst spricht später davon, dass Kant und seine Nachfolger eine Wirkung entfalten würden, gegen die die französische Revolution nichts sei.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. August 2014)

E.T.A. Hoffmann: Der goldene Topf (1814)

Skurriler und phantastischer Klassiker der Romantik – Großartiger Kunstmythos

Die Geschichte beginnt grau in grau im Dresden der Gegenwart (1814), doch nach und nach schleichen sich skurrile und phantastische Elemente in die Geschichte ein, die fast schon psychedelischen Charakter haben. Die Übergänge sind fließend und der Text ist voller Symbole, Anspielungen und Rückbezüge, so dass die Lektüre den Leser in eine reichlich seltsame Welt versetzt, in der er sich erst zurechtfinden muss. Auch das Aufeinandertreffen von skurrilen und läppischen Aspekten mit phantastischen und erhabenen Momenten trägt zur einzigartigen Atmosphäre dieser Geschichte bei. Ebenso die Sprache, die zunächst umständlich altertümlich erscheint, dann aber als stilistisch durchgearbeitet erkennbar wird, bis man sich zum Ende hin daran gewöhnt hat und sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass diese großartig-phantastische Erzählung in einer anderen Sprache hätte geschrieben werden können.

Die Handlung: Der Student Anselmus wird durch den Archivarius Lindhorst und durch die Liebe zu dessen Tochter Serpentina in die Wunderwelt der Poesie eingeführt, das hier als eigenständige Parallelwelt zur wirklichen Welt gestaltet ist. Ihnen gegenüber stehen die spießigen Philister, der Konrektor Paulmann mit seiner Tochter Viktoria, die unbedingt einen Hofrat heiraten möchte, sowie der Registrator Heerbrand. Es zeigt sich, dass der Archivarius Lindhorst einst aus dem Wunderreich der Poesie verbannt wurde, weil er den Funken des Gedankens in die Welt brachte, womit er die geliebte Lilie im Garten des Zauberreiches der Poesie verdarb, und erst zurückkehren kann, wenn er seine drei Töchter an poetisch gesinnte Jünglinge verheiratet haben wird. Jede Tochter bringt als Mitgift eine goldenen Topf mit in die Ehe, aus dem dann wieder eine Lilie erwächst. Derweilen trägt Lindhorst in dieser Welt einen Kampf mit dem sogenannten Äpfelweib aus, einer Hexe, die junge Leute vom Zugang ins Reich der Poesie abhalten möchte. Anselmus gerät zwischen die Fronten und muss sich entscheiden. Am Ende steht der Eingang und die endgültige Rückkehr ins Wunderreich der Poesie, wo alle Wesen im Einklang mit der Natur leben.

Ziel des Werkes ist es, die Wunderwelt der Poesie als einer Welt von eigenem Recht neben der schnöden Wirklichkeit darzustellen, die Abkehr von der einen und die Rückkehr zur anderen Welt zu propagieren, und die Spießer in ihrer Blindheit für das Schöne und Wahre kenntlich zu machen.

Der Text wird vom Autor selbst ein Märchen genannt, und die moderne Literaturwissenschaft spricht von einem Kunstmärchen. Doch ist diese Bezeichnung unzutreffend. Schließlich will der Text den Leser davon überzeugen, dass es tatsächlich eine dichterische Parallelwelt gibt, die ebenso Wirklichkeit für sich beanspruchen kann wie die Wirklichkeit der Philister. Dieser Anspruch bezieht sich natürlich selbstreflexiv auch auf den Text selbst, der das behauptet. Beweisbar ist das natürlich nicht, und die Wunderwelt wird reichlich mit dichterischer Phantasie ausgeschmückt. Aber das ist in diesem Fall kein Gegenargument, denn gerade das ist es ja, was die behauptete Parallelwelt ausmacht. Kurz: Hier liegt das Prinzip eines erdichteten „Platonischen Mythos“ vor, der mehr als eine bildhafte Allegorie ein tatsächlich Wahres darstellen will, aber nicht mit Argumenten und Belegen aufwartet, und die Wahrheit des Behaupteten letztlich offen lässt. Es ist also in Wahrheit kein Märchen, sondern ein Platonischer Kunstmythos.

Kritik

Zentrales Problem ist die scharfe Abgrenzung des Reiches der Poesie von dieser Welt. Die hohe Kunst wäre es gewesen, Wirklichkeit und Poesie zu einer Synthese zu bringen. Doch das Gegenteil geschieht. Damit verfehlt E.T.A. Hoffmann beides, die Poesie und die Wirklichkeit. Denn hier wird das Reich der Poesie zu einer weltfremden Zufluchtsstätte, in die sich der Poet flüchtet, statt sich der Realität zu stellen. Und zugleich wird der Realität jede Fähigkeit zur Poesie abgesprochen.

Das wird auch in der Darstellung der spießigen Philister deutlich. Ein Kennzeichen des Philistertums bei E.T.A. Hoffmann sind ihre Lateinkenntnisse, und dass sie Ciceros „De Officiis“ lesen. Damit wird aber die humanistische Bildung und die Philosophie verspottet. Doch ist es nicht gerade die humanistische Bildung und die Philosophie, auf deren Grundlage die Synthese von schnöder Realität und Poesie am ehesten gelingen kann? Die Verherrlichung des „kindlich poetischen“, „kindlich frommen“ Gemütes, verstanden als Gegensatz zur „sogenannten Weltbildung“ des „entarteten Menschengeschlechtes“ ist jedenfalls eine grob verfehlte Vorstellung von gelungener Menschenbildung. Beides zu synthethisieren, ohne dass das eine oder das andere zu kurz kommt, wäre die Kunst.

Ebenfalls kritikwürdig ist die Vorstellung von der höchsten Erkenntnis als dem „Innersten der Natur“, dem „tiefsten Geheimnis der Natur“, nämlich des „heiligen Einklangs aller Wesen“. Denn wieso gerade die Natur? Wenn es um den Einklang mit sich selbst gegangen wäre, was bereits ein hoher Anspruch ist, oder um den Einklang der Menschen untereinander, wäre das Anspruch genug, ohne gleich die ganze Natur einzubeziehen. Aber die Menschen werden zur Natur offenbar nicht dazugezählt. Ein Einklang mit der ganzen Natur ist also recht hoch gezielt. Zugleich ist Natur aber wieder zu wenig. Denn dieser pantheistische Einklang aller Wesen schreit geradezu nach einer Antwort auf die Frage nach einem gemeinsamen geistigen Bande, letztlich nach Gott. Aber zu solchen Fragestellungen dringt der Text nicht vor. Die Erkenntnis vom Einklang mit der Natur ist gewissermaßen eine seltsam blinde Erkenntnis, die sich mit diesem gefühlten Einklang begnügt, und dann nicht weiterdenkt und weiterfragt.

Hier wie bereits oben wird deutlich, dass die Rationalität dem spießigen Philistertum zugeordnet wird, während der Dichter sich in die reine Gefühligkeit flüchtet. Philosophie wird verspottet (Cicero) und das Wesen der Natur verabsolutiert und nicht hinterfragt. Der Funke des Gedankens gilt als verderblich, Vernunft und Gefühl sind hier Gegensätze. Schließlich wird vor allem auch die Welt der Menschen als Gegensatz zur Natur begriffen, obwohl die Menschen zweifelsohne Teil derselben sind. Damit haben wir so ziemlich alle Irrtümer beisammen, an denen die Romantik krankt.

Der humanistisch gebildete Klassiker Goethe kritisierte E.T.A. Hoffmann scharf, der gefährlich romantische Traumtänzer Karl Marx hingegen liebte ihn.

Fazit

Es ist trotzdem ein großartiges Werk, das mit seiner Phantastik und seiner Skurrilität einen ganz eigenen Charme entfaltet, und das insofern seine Berechtigung teilweise behält, als die Menschen leider tatsächlich überwiegend allein der „sogenannten Weltbildung“ zuneigen und tatsächlich ein „entartetes Menschengeschlecht“ sind, vor dem man sich nur allzu oft und allzu gerne in das Refugium des Geistes flüchtet. Auch wenn die Zuordnung von Vernunft und Gefühl zu diesen beiden Welten anders ist bzw. sein sollte, als dargestellt, und Flucht letztlich keine Lösung ist. Und was die poetischen, schwärmerischen, gefühligen Aspekte eines erhabenen geistigen Lebens anbelangt, so erinnert einen dieses Werk wohltuend an diese vernachlässigte Seite unseres Daseins. Man sollte allerdings nicht bei diesen Einseitigkeiten stehen bleiben.

Atlantis

Die phantastische Wunderwelt der Poesie wird von E.T.A. Hoffmann kurzerhand Atlantis genannt. Das verwundert, denn mit Platons Atlantis hat Hoffmanns phantastische Wunderwelt der Poesie rein gar nichts zu tun. Platons Atlantis spielt eine radikal andere Rolle als E.T.A. Hoffmanns Atlantis. Hier gibt es keinen tragfähigen Vergleichspunkt. Zudem dürfte Platon über die allzu freie Phantasie in Hoffmanns Zauberreich wenig erbaut gewesen sein, denn Platon wollte eine an die Rationalität gebundene Dichtung. Aber das nur am Rande.

Der Name Atlantis wird hier als bloße Chiffre für ein dichterisches Sehnsuchtsland benutzt, und das, obwohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts Atlantis noch keineswegs gemeinhin als eine Erfindung galt. Es gab damals immer noch zahlreiche Wissenschaftler, die verschiedene Existenzhypothesen vertraten. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts kippte die Meinung unter dem Eindruck neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen die Existenz von Platons Atlantis.

Es wäre interessant nachzuvollziehen, wie E.T.A. Hoffmann dazu kam, den Namen Atlantis als eine Chiffre für ein Wunderland der Poesie zu benutzen, das als Parallelwelt gedacht ist. Wären andere Namen nicht näher gelegen, insbesondere z.B. Arkadien oder das Goldene Zeitalter? – Bekannt ist, dass E.T.A. Hoffmann durch die „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ des romantischen Naturforschers Gotthilf Heinrich Schubert von 1808 beeinflusst war. Dort ist Atlantis im Sinne neuerer französischer Theorien ein Ort im hohen Norden, wo die Menschheit noch im Einklang mit der Natur gelebt haben soll. Allerdings ist das immer noch ein realer Ort. Schubert entnahm seine Thesen offenbar der 1781 von Michael Hißmann übersetzten „Neuen Welt- und Menschengeschichte“ von Delisle de Sales, wie sich an der Wortwahl zeigen lässt. – Eine weitere Möglichkeit wäre, dass E.T.A. Hoffmann Atlantis mit dem Adjektiv „verloren“ in Verbindung brachte, das auch damals vielfach durch die Literatur über Atlantis geisterte. Und bei Hoffmanns Reich der Poesie handelt es sich in der Tat um ein „verlorenes“ Reich, das es wiederzufinden gilt. – Eine sehr interessante Möglichkeit wäre eine direkte Reaktion auf den Göttinger Materialisten und Empiristen Michael Hißmann. Michael Hißmann hatte 1781 in seiner Übersetzung der „Neuen Welt- und Menschengeschichte“ eine sehr gehässige Darstellung von Platons Atlantis als einer bloßen Erfindung eingefügt, in der auffällig viele Worte Verwendung finden, die wir im „Goldenen Topf“ von E.T.A. Hoffmann so oder so ähnlich wieder antreffen, z.B. Atlantis als „Wunderwelt“ oder „Feenwelt“. Indem er orientalisch inspirierte Träumereien und Erdichtungen als „lächerlich und abgeschmackt“ verurteilte, handelte Hißmann gerade so wie die spießigen Philister in E.T.A. Hoffmanns „Goldenem Topf“, für die Poesie als „orientalischer Schwulst“ gilt. Und „die Träumereien über Platons Traum“ seien „weit erbärmlicher und unterträglicher“ als die Fabel selbst, meinte Hißmann. Hißmann entwarf zudem eine Theorie der schönen Künste und der Poesie, die sich ganz auf materialistische Antriebe stützte, und jede Schwärmerei verurteilte. Es scheint, als habe E.T.A. Hoffmann den „Goldenen Topf“ auch als eine Antwort auf diese Anschläge Hißmanns auf die dichterische Phantasie verfasst, denn er gestaltete sein poetisches Reich Atlantis präzise so, dass es jede Verurteilung und jeden Vorwurf von Hißmann aufgriff. Damit hätte das spießige Extremurteil des geistlosen Materialisten Hißmann die Überreaktion des dichterischen Phantasten Hoffmann provoziert. – Diese Thesen wären allerdings noch im Einzelnen nachzuweisen.

Jedenfalls hat E.T.A. Hoffmann durch die Wahl des Namens Atlantis für sein Wunderland der Poesie mit dazu beigetragen, Platons Atlantis in der allgemeinen Wahrnehmung den Ruf einer phantastischen und rein dichterisch zu verstehenden Welt zuzuschreiben. Das ist bedauerlich. So verwendete noch 1939 Hermann Rauschning in seinem Werk „Gespräche mit Hitler“ den Namen Atlantis in unmissverständlicher Anspielung an E.T.A. Hoffmann als Chiffre für alle möglichen Phantastereien. Manche haben Rauschnings Worte als Beleg dafür verstanden, dass die Nationalsozialisten an die Existenz von Atlantis glaubten – eine Deutung, die falscher nicht sein könnte.

Der goldene Topf

Der Titel des Werkes ist ein Missgriff. Der goldene Topf ist in diesem Kunstmythos nur eine phantastische Requisite neben anderen, seine Symbolik überflüssig oder mindestens nebensächlich. Die Geschichte hätte auch ganz ohne goldenen Topf funktioniert. Es ist nicht recht verständlich, warum der goldene Topf also den Titel der Erzählung ausmacht. „Das Wunderland Atlantis“ wäre ein sehr viel zutreffenderer Titel gewesen, oder auch „Wiederfindung des verlorenen Wunderlandes Atlantis“.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. August 2020)

Ulf Poschardt: Shitbürgertum (2025)

Die Geburt des Shitbürgers aus dem Ungeist des NS-Wendehalses

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen neuen Begriff geprägt für etwas, was wir schon kennen: Das „linksliberale“ Bürgertum der BRD. In seiner anekdotischen Beschreibung des „linksliberalen“ Elends hat dieses Buch viele Überschneidungen mit anderen Werken zum Thema, etwa „Unter Linken“ von Jan Fleischhauer.

Das Besondere dieses Buches

Ulf Poschardt liefert allerdings keine heiter-gelassene Beschreibung des Shitbürgertums. Bei Poschardt kommt ein aggressiver Ton hinzu: Das Shitbürgertum muss weg. Weil es uns inzwischen kaputtzumachen droht. Die letzten Reste liberalkonservativer Bürgerlichkeit sind aufgezehrt, der Marsch durch die Institutionen ist vollendet. Niemand hindert das Shitbürgertum mehr an seinem selbstzerstörerischen Wirken. Die Antwort auf den Marsch durch die Institutionen muss die Schleifung der Institutionen sein.

Vor allem aber überrascht das Buch mit seiner Kritik an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Etwas ist gründlich schief gegangen bei der Vergangenheitsbewältigung, und zwar von Anfang an, und es zieht sich bis heute durch. Den Ursprung des Shitbürgertums sieht Ulf Poschardt in der inneren Abspaltung der bösen Vergangenheit durch NS-Wendehälse wie Günter Grass oder Walter Jens. Diese NS-Wendehälse belehrten uns ihr ganzes Leben lang, wie böse und faschistisch die BRD-Gesellschaft doch sei, aber dann stellte sich heraus, dass diese Gestalten selbst überzeugte Nazis gewesen waren!

Diese innere Abspaltung des eigenen Bösen hat eine manichäische Haltung von absolut rein und gut vs. absolut schmutzig und böse hervorgebracht, die bis heute beim „linksliberalen“ Bürgertum anhält. Das Shitbürgertum ist in diesem Sinne infantil und regressiv, weil es ein radikal simplifiziertes Weltbild hat: Das Böse, das ist immer das „Eigene“, also das Deutsche und das Normale, und die Bösen, das sind immer die anderen. Wer nicht „linksliberal“ ist, der ist „Nazi“. Dieser Manichäismus ist auch der Grund, warum dieses „linksliberale“ Bürgertum jeden selbstzerstörerischen und selbstverleugnenden Unsinn mitmacht, so dass sich die Gesellschaft immer mehr in einen autoritären Kindergarten verwandelt. Diese Kritik ist ein fulminanter Angriff gegen das juste milieu der BRD, und ja: Ulf Poschardt trifft den wunden Punkt unserer Gesellschaft sehr gut.

Für das Shitbürgertum dürfte allein die Tatsache, dass ihre „linksliberalen“ Ikonen wie Günter Grass und Walter Jens fast alle (!) ehemalige Nazis waren, eine ungeheure Provokation sein. Bislang nimmt man dieses Phänomen immer noch als Einzelfall wahr. Dass aber die BRD geistig dermaßen stark durch ehemalige Nazis geprägt wurde, die auf Wendehals machten, ist bislang noch nicht zu Bewusstsein gekommen. Dieser Teil unserer Geschichte wird immer noch tapfer verdrängt, und mit ihm die üblen Konsequenzen bis heute.

Was dem gegenüber wieder gewonnen werden muss, ist die Fähigkeit zur Ambivalenz, die Integration der eigenen Schattenseiten in das eigene Bewusstsein, gewissermaßen ein Erwachsenwerden hin zum Realismus und weg von manichäischen Illusionen über sich und andere. Deutschland liegt bei Ulf Poschardt also auf der Couch und bedarf der Therapie. Auch das ist kein völlig neuer Gedanke.

Rettung sieht Ulf Poschardt von der Pop-Kultur her kommen: Diese ist rücksichtslos und frech, aber auch zur Ambivalenz fähig. Die Kettensäge von Milei oder Donald Trump sind für Ulf Poschardt popkulturelle Phänomene.

Kritik – Weiterentwicklungen des Shitbürgertums

Mindestens zwei historische Weiterentwicklungen des Shitbürgertums werden bei Ulf Poschardt nicht oder nicht ausreichend thematisiert. Die Urquelle des Shitbürgertums sind zweifelsohne die NS-Wendehälse. Das ist richtig.

Aber 1989/90 kam der Antifaschismus der DDR hinzu. Die DDR definierte sich kurzerhand als antifaschistischer Staat, was zur Folge hatte, dass die DDR zur Selbstkritik nicht mehr fähig war. Im ZK der SED tummelten sich die NSDAP-Funktionäre, die Freie Deutsche Jugend wurde maßgeblich von Hitlerjugend-Funktionären aufgebaut, die Volksarmee der DDR war von einer NS-Aufarbeitung so weit entfernt wie der Mond, und auch die starke Skinhead-Szene der DDR verdankt sich der völligen Unfähigkeit der DDR, die deutsche Vergangenheit adäquat aufzuarbeiten. Die DDR war gewissermaßen der Staat-gewordene NS-Wendehals, der manichäische Abspaltung betrieb. Mit der Wiedervereinigung kamen in diesem (Un-)Geist geprägte Gestalten aus der DDR an die Schaltstellen von Politik und Gesellschaft in der BRD.

Die zweite große Weiterentwicklung des Shitbürgertums kam aus dem angelsächsischen Raum: Dort hatte sich eine ganz ähnlich shitbürgerliche Deutung der dortigen Kolonialvergangenheit herausgebildet, die alles, was früher war, verteufelte. Zugleich hatten sich an den US-Universitäten postmoderne Ideologien durchgesetzt, die den klassischen Humanismus zersetzten: Vernunft, Realismus oder Freiheit sind für postmoderne Ideologen lediglich Machtmittel von „alten, weißen Männern“, die es zu dekonstruieren gälte. Dieser Ungeist schwappte mit voller Wucht in unsere Gesellschaft herüber und wurde von den hiesigen Shitbürgern begierig aufgesogen. Ein irrwitziger Multikulti-Fanatismus und eine realitätsverleugnende Gender-Ideologie machten sich breit, bis hin zur Zerstörung unserer geliebten deutschen Sprache. Teilweise wurde in sklavischer Übernahme angelsächsischer Shit-Ideen sogar versucht, den Holocaust gegenüber der deutschen Kolonialvergangenheit herunterzuspielen. Antisemitismus ist der heimliche Trumpf im heutigen Shitbürgertum.

Kritik – Zentraler Irrtum von Ulf Poschardt

In einem entscheidenden Punkt übernimmt Ulf Poschardt eine shitbürgerliche These der NS-Wendehälse, statt diese als einen wesentlichen Bestandteil ihrer inneren Abspaltung von allem Bösen zu erkennen: Ulf Poschardt meint, dass die deutsche Kultur vor 1933 tatsächlich schlimm, schlecht und böse gewesen sei und mehr oder weniger zwangsläufig zum Nationalsozialismus geführt habe. Also ganz so, wie die NS-Wendehälse es uns einzureden versuchten.

Dabei ist diese Art der Geschichtsbetrachtung doch allzu leicht als ein integraler Bestandteil der Abspaltungsstrategie zu durchschauen! Denn die totale Schlechtredung von allem, was früher war, ist gewissermaßen der Gipfel der inneren Abspaltung. Je reiner die NS-Wendehälse sich selbst fühlen wollten, desto schmutziger musste alles andere sein. Und der Gipfel des Schmutzes ist es natürlich, wenn nicht nur die Nazis Nazis waren, sondern am besten alle Deutschen, und das nicht nur 1933-45, sondern möglichst schon seit es Deutsche gibt. Das ermöglichte es den NS-Wendehälsen auch, sich über ihre Mitmenschen zu erheben: Denn wenn sie auch keine Nazis mehr waren, so waren sie doch immer noch Deutsche, trugen also das „böse Erbe“ in jedem Fall noch in sich. Die Flucht vor dem Deutschsein nach „Europa“, die Flucht in einen völlig irrwitzigen Multikulti-Fanatismus haben hier ihre Erklärung, und ebenso natürlich der Hass auf alles Deutsche, wie er in der Gendersprache zum Ausdruck kommt.

Dass Ulf Poschardt bei all seiner Einsicht in das Wesen der NS-Wendehälse dieses zentrale Märchen nicht erkannt hat, ist bedauerlich und fast schon seltsam. Es gibt übrigens noch eine weitere Steigerung dieses Märchens der NS-Wendehälse: Die nächste Steigerung wäre, dass alle Menschen verdorben und schlecht, mithin „Nazis“ sind, und dass die Übel der Welt nur durch die Überwindung des Menschen selbst ausgerottet werden können. Da sind wir dann bei den postmodernen Klimaapokalyptikern und Extinktionalisten angelangt, für die die „unberührte“ Natur alles ist, und der Mensch nichts.

Im den folgenden Abschnitten widerlegen wir im Detail die Argumente, mit denen Ulf Poschardt die ganze deutsche Vergangenheit vor 1933 zum Problem erklärt, danach nehmen wir den Faden der Kritik wieder auf.

Widerlegung: Gegen die Vollschuldigkeit aller Deutschen

Die These, dass die Deutschen im Nationalsozialismus gewissermaßen kollektiv und allesamt schwer schuldig geworden waren, ist völlig falsch. Diese These spiegelt nicht die Realität, sondern natürlich nur die manichäische innere Abspaltung der NS-Wendehälse. Denn wenn alle Deutschen mehr oder wenig schuldig waren, dann ist auch ihre eigene Schuld nicht mehr so groß. Außerdem kann man sich hinterher umso besser moralisch über seine Mitbürger erheben, wenn man sie alle für schuldig erklärt.

In Wahrheit ist die Schuld am Nationalsozialismus jedoch sehr ungleich verteilt. Für Humanisten gilt immer die individuelle Verantwortung. Jeder sündigt für sich allein. Es gibt keine Kollektivschuld und keine Sippenhaft.

Die meisten Deutschen waren keine Nazis. Thomas Mann und Karl Jaspers waren z.B. auch Deutsche: Wie sollte man auf die Idee kommen, ihnen eine nennenswerte Schuld zu unterstellen? Martin Walser erzählte von seiner Mutter, die für den NS-Seniorenbund Kuchen backte und sich dort mit älteren Damen zum Kaffeekränzchen traf: Diese Seniorinnen waren wohl kaum sehr schuldig, sondern hatten ganz einfach keine Ahnung von dem, was wirklich geschah. In den letzten wirklich freien Wahlen gewannen die Nationalsozialisten gerade einmal 33% der Stimmen. Das ist erstaunlich wenig. Und auch die meisten Wähler der NSDAP hatten vermutlich höchst naive Vorstellungen über die Politik, die von den Nationalsozialisten gemacht werden würde. Das war damals nicht anders als heute: Was weiß der durchschnittliche Wähler denn z.B. schon davon, was Angela Merkel mit ihrer Euro-Rettungspolitik angerichtet hat? Wenn die Medien nicht Alarm schlagen, wird es die Masse der Menschen nicht realisieren. So war es immer, so wird es immer sein.

Gerade weil die Deutschen meistens nur wenig oder gar nicht schuldig waren, war es 1945 eine effektive Methode zur Entnazifizierung, die Deutschen durch die KZs zu führen: Denn das, was die Deutschen da zu sehen bekamen, war nicht das, was sie gewollt hatten, jedenfalls die meisten nicht. Und es musste ihnen gezeigt werden, damit sie es glauben konnten, sonst hätten sie es – irrig aber ehrlich – rundweg abgestritten. Hätten die Deutschen diese Verbrechen gewollt, hätten die Führungen durch die KZs keinen Effekt gezeigt. Hier ist auch an Hannah Arendt zu erinnern, die nach den ersten Berichten aus den befreiten KZs an alliierte Propaganda glaubte und einige Tage benötigte, um zu begreifen, dass die Berichte wahr sind. Wenn schon eine Hannah Arendt es nicht wusste und erst nicht glauben konnte, wie dann erst ein Otto-Normal-Deutscher?

Eine größere Schuld trifft natürlich intellektuelle Menschen, die ideologische Texte zugunsten des Nationalsozialismus produziert hatten und in die NSDAP eingetreten waren. Das trifft auf die von Ulf Poschardt ins Auge gefassten NS-Wendehälse meistens zu. Es ist kein Wunder, dass gerade solche Leute das Märchen in die Welt setzen wollen, dass „die Deutschen“ insgesamt schuldig am Nationalsozialismus geworden seien. Das liegt doch auf der Hand! Warum hat Ulf Poschardt das nur nicht gesehen?

Widerlegung: Gegen eine pauschale Deutschfeindlichkeit

Von George Steiner, einem US-Literaturwissenschaftler, zitiert Ulf Poschardt zustimmend, dass man offenbar zugleich Goethe und Rilke lesen und Menschen in Auschwitz Menschen ermorden könne. Und: „For let us keep one fact clearly in mind: the German language was not innocent of the horrors of Nazism.“

Die Vorwürfe von George Steiner sind leicht zu widerlegen. Haben denn britische Kolonialoffiziere, die Verbrechen begangen haben, keinen Shakespeare gelesen? Was will man damit überhaupt aussagen, dass klassische Bildung angeblich nichts nütze gegen Verbrechen?! Das Gegenteil ist doch richtig: Natürlich kultiviert Bildung den Menschen. Natürlich trägt sie zur Humanisierung bei. Das ist doch gar keine Frage! Wer jedoch von den Ausnahmen her ein Argument gegen Bildung konstruieren will, der schüttet das Kind mit dem Bade aus. Es wird immer Menschen geben, die sich dem tieferen Sinn von Bildung gegenüber verschlossen zeigen und diese falsch und schief interpretieren. Das macht die Bildung aber nicht wertlos.

Genau dieser falsche Vorwurf an die klassische Bildung, womöglich zum Nationalsozialismus beigetragen zu haben, wurde von den NS-Wendehälsen erhoben, die Poschardt kritisiert. So z.B. Alfred Andersch in seinem Buch „Der Vater eines Mörders“, in dem auf groteske Weise versucht wird, dem Vater Heinrich Himmlers, der Direktor an einem humanistischen Gymnasium war, eine Mitschuld am Nationalsozialismus anzuhängen (mit der vergifteten Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“). Es ist völlig unverständlich, warum Ulf Poschardt diese falsche und freche Verleumdung der klassischen Bildung durch die NS-Wendehälse mitmacht, indem er George Steiner zustimmend zitiert.

Schließlich noch zu dem Vorwurf von George Steiner, dass schon die deutsche Sprache schuldig sei. Hier sind wird dann endgültig bei der These angekommen, dass die deutsche Kultur schlechthin verdorben und Nazi-artig sei. Wenn das wahr wäre, dann müsste man die deutsche Kultur tutto completto abräumen. Von Walther von der Vogelweide bis Michael Ende. Genau das ist ja auch das Ziel nicht weniger „Linksliberaler“. Es ist die reine Deutschfeindlichkeit. Aber sie ist natürlich nur dumm und falsch. Wer die 1000jährige deutsche Geschichte – oder auch die jahrhundertealte Geschichte Preußens – nur als ein Vorspiel zum Nationalsozialismus verstehen will, der hat schlicht eine Macke. Man kann es nicht anders sagen.

Gewiss kann und soll und muss die deutsche Kultur gereinigt und erhöht werden – aber nur, wie jede andere Kultur auch. Wer Adolf Hitler zum Inbegriff des Deutschen schlechthin macht, ist auf dem Holzweg. Ulf Poschardt verweist selbst auf Thomas Mann und dessen These von der Ambivalenz der deutschen Kultur (S. 150). Eine Ambivalenz existiert aber nur dort, wo es auch das Gute gibt.

Widerlegung: Gegen ein falsches Preußenbild

Ein zentrales Argument Poschardts für die Schuldigkeit der deutschen Kultur ist die Forschung der britischen Historikerin Helen Roche zu preußischen Militärschulen und zu nationalsozialistischen Napola-Militärschulen. Helen Roche glaubt, dass in beiden Fällen das „Härteideal Spartas“ eine zentrale Rolle gespielt habe, beidemale als Antwort auf Niederlagen (gegen Napoleon und 1918). Poschardt spricht auch von dem „unbarmherzigen Preußentum“. (S. 21)

Es hört sich zunächst martialisch und unmenschlich an: Das Härteideal Spartas an preußischen und NS-Schulen. Aber es handelt sich um eine große psychologische Irreführung. Die Wahrheit ist viel banaler.

Die Wahrheit ist zunächst, dass im 19. Jahrhundert die klassische Bildung in ganz Europa Hochkonjunktur hatte. Es dürfte überall in Europa an allen Militärschulen aller Länder über Sparta nachgedacht worden sein. Sparta steht im klassischen Bildungskanon für das Militärische wie nichts anderes, und nichts lag deshalb näher, als sich an Militärschulen mit Sparta zu befassen. Nicht nur in Preußen, sondern auch in England oder Frankreich. Rezensionen zur Forschung von Helen Roche merken an, dass ihre Belege für die Rezeption Spartas an preußischen Kadettenschulen weniger eindeutig sind als die für die NS-Napola-Anstalten und mehr als ein Hinweis auf die damals vorherrschende klassische Bildung zu deuten sind (z.B. Hagen Stöckmann auf H-Soz-Kult 31.03.2014).

Zum Militärischen gehören auch heute noch Dinge wie Pflicht, Gehorsam, Drill, Opferbereitschaft, Patriotismus. Ein Militär ist ohne diese Dinge schlicht nicht denkbar. Auch jede moderne Armee muss sich damit auseinandersetzen. Und warum sollte man das nicht mit dem antiken Sinnbild für das Militärische schlechthin tun? Man sollte hoffen, dass auch heute noch in den Bildungseinrichtungen der Bundeswehr klug über Sparta nachgedacht wird. Aber natürlich auch über Athen.

Denn im 19. Jahrhundert stand unter Gebildeten nicht Sparta, sondern Athen im Mittelpunkt. Wir lesen in der Gefallenenrede des Perikles, dass auch die Athener sich auf das Militär verstanden, und zwar nicht schlechter als die Spartaner. Das wusste man auch im 19. Jahrhundert. Die Ideen der preußischen Reformer hören sich jedenfalls wesentlich mehr nach Athen als nach Sparta an, darunter die Heeresreform mit ihrem Konzept des Bürgers als dem geborenen Verteidiger seines Landes. Auch die Flottenbegeisterung zur Kaiserzeit konnte wesentlich besser an Athen als an Sparta anknüpfen, denn Sparta galt als Landmacht, Athen jedoch als Seemacht.

Hinzu kommt, dass der Militarismus Spartas noch keinen Rassismus, ja, überhaupt nicht zwingend irgendeinen Antihumanismus bedeuten muss. Die „bösen“ Spartaner haben jedenfalls keinen Völkermord begangen, sondern ausgerechnet die „guten“ Athener, nämlich gegen die Bewohner der Insel Melos. Der berühmt-berüchtigte Melierdialog bei Thukydides gehört zum unverlierbaren Bildungsgut der Menschheit als Mahnung für alle Zeiten. Seit damals stellen sich Historiker die Frage, wie es möglich war, das gerade eine Bildungsnation wie Athen einen Völkermord begehen konnte. Es ist dieselbe Frage, die man sich im 20. Jahrhundert zu Deutschland und dem Holocaust stellte, denn auch Deutschland war ein Land der Bildung. Wer da in einer Befassung mit Sparta ein besonderes Problem sehen will, hat den Ernst der Lage nicht erkannt.

Schließlich ist Ulf Poschardt einfach völlig auf dem Holzweg, wenn er von „unbarmherzigen Preußentum“ spricht. Das war die primitive Sicht der ungebildeten Nazis auf das Preußentum. Kadavergehorsam war eine Idee der Nazis, nicht Preußens. Preußen lebte auch von seinen Legenden und Mythen, und eine dieser unverlierbaren, wahren Legenden ist die des preußischen Generals von der Marwitz (1723-1781), der einen Befehl Friedrichs des Großen aus Gewissensgründen verweigerte. Ikonisch schrieb man auf seinen Grabstein: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“ Dieser Satz gehört fest zum kollektiven Gedächtnis Preußens. Und er hat Wirkung gezeigt, z.B. im bekannten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Gleichzeitig machte sich Hitlers Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel über diverse moralischen Bedenken der preußischen Offiziere in der Wehrmacht lustig. Keitel war eben kein Preuße, sondern ein Nazi.

In Wahrheit war Preußen einfach ein Staat wie jeder andere, sagen wir: wie England, mit Höhen und Tiefen, mit guten und schlechten Seiten. Die Kritik an Preußen ist bestens bekannt und teilweise auch berechtigt. Aber Preußen stand – durch Friedrich den Großen und Immanuel Kant – eben auch für die Aufklärung. Die preußischen Reformer und die Humboldt-Brüder standen für Fortschritt, Aufklärung, Geist und Moderne.

Das Spießrutenlaufen schaffte das „unbarmherzige“ Preußen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab, also genau in der Phase, in der an preußischen Militärschulen über das Härteideal Spartas nachgedacht wurde. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855.

In der Revolution von 1848 zeigte sich der preußische König mit der schwarz-rot-goldenen Fahne, nachdem ein versehentlicher Schuss (bis heute ungeklärt woher) zu Barrikadenkämpfen in Berlin geführt hatte. Jedenfalls gab es keinen Befehl zum Schießen und die Kämpfe begannen in jedem Fall ungewollt. Ebenso wurden die Berliner Straßenkämpfe nicht erst beendet, nachdem alle Revolutionäre besiegt waren, sondern der König selbst ließ den ohne Befehl spontan ausgebrochenen Kampf wieder beenden, zeigte sich mit der schwarz-rot-goldenen Fahne und ehrte die Getöteten. Man kann ehrlicherweise nicht behaupten, dass Preußen die Revolutionäre zusammenschießen ließ wie es die Kommunisten am 17. Juni 1953 taten. Alles andere als das. Aber die Shitbürger plappern munter von der „Unbarmherzigkeit“ Preußens.

Man beachte auch, dass die Frankfurter Nationalversammlung dem preußischen Königshaus die deutsche Kaiserkrone antrug. Preußen scheint also in den Augen der Frankfurter revolutionären Parlamentarier nicht der Inbegriff alles Bösen gewesen zu sein. Jeder weiß auch, dass Preußen die Kaiserkrone wegen Österreich ablehnen musste, um einen innerdeutschen Krieg zu vermeiden (der dann 1866 doch noch kam). Auch die Erschießung des Abgeordneten Robert Blum war ein Werk der Österreicher, nicht der Preußen. Der ganze Vormärz wurde von den Österreichern und ihrem Staatskanzler Metternich beherrscht.

Historiker wie Hedwig Richter haben darauf hingewiesen, dass das Kaiserreich moderner und demokratischer war als viele meinen.

Es ist einfach eine falsche und ungerechte schwarze Legende, dass Preußen „unbarmherzig“ und „hart“ gewesen wäre, und dass dies mehr oder weniger zielstrebig im Nationalsozialismus geendet hätte. Diese primitive Sicht auf Preußen wurde dann nahtlos von den NS-Wendehälsen in die BRD hineingetragen. Es macht traurig, dass Ulf Poschardt in diesem Punkt den NS-Wendehälsen auf den Leim gegangen ist.

Schließlich ist es Ulf Poschardt selbst, der Preußen auf S. 87 positiv konnotiert und damit seiner eigenen Preußenfeindlichkeit vom Anfang des Buches widerspricht. Dort echauffiert sich Poschardt darüber, dass Oskar Lafontaine „den preußischen Hanseaten“ Helmut Schmidt attackierte, um gegen die preußischen Sekundärtugenden zu polemisieren. Hier hat Ulf Poschardt die Verhältnisse wieder gerade gerückt: Oskar Lafontaine ist der Shitbürger, der die preußische Vergangenheit abspaltet und Sekundärtugenden nur verachtet, obwohl sie wertvoll sind, während Helmut Schmidt diese preußische Vergangenheit nicht abspaltet, sondern in seine Persönlichkeit inkorporiert, und auf vernünftige Weise für seine Gegenwart fruchtbar macht.

Ulf Poschardt wiederholt hier übrigens denselben Denkfehler, den auch Andreas Rödder in seinem Buch „Konservativ 21.0“ begangen hat: Erst sagt Rödder, dass es durch den Nationalsozialismus einen Traditionsbruch gegeben habe, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen. (Was für ein Unsinn! Gerade deshalb, weil der Nationalsozialismus ein Bruch war, kann man sehr wohl an das, was davor war, wieder anknüpfen.) Später dann beruft sich Rödder auf den Preußen Wilhelm von Humboldt und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern ein. Auch hier bei Rödder finden wir also diese völlig verklemmte Selbstwidersprüchlichkeit im Umgang mit Preußen: Erst verdammt man gut shitbürgerlich alles, dann erachtet man aber doch dies oder das oder jenes für wertvoll, und merkt den Widerspruch nicht.

Kritik – Keine konstruktive Vision

Fahren wir mit unserer Kritik fort: Ulf Poschardt erhofft sich Rettung von der Popkultur und deren respektlosen Zerstörung der Verhältnisse. Aber eine konstruktive Vision ist das eigentlich nicht. Gut, es ist eine libertäre Vision. Aber nach dem libertären Kettensägenmassaker muss eine Ordnung übrig bleiben, und die will konstruktiv gedacht sein. Hier schwächelt Poschardt.

Was fehlt, ist natürlich eine positive Vision für Deutschland. Ein geläutertes Nationalbewusstsein ohne Abspaltungen: Darum geht es Poschardt doch! Ein Deutschland, das mit sich im Reinen ist. Ein Deutschland, das stolz auf den – sprechen wir es aus – preußischen Humanismus ist. Ein Deutschland, das auch Zuwanderer gerne in seine wunderbare Kultur integriert, die eine offene und humanistische Kultur ist, aber keinesfalls eine selbstvergessene Kultur. Aber solche Töne fehlen bei Poschardt. Vielleicht hätte ihm das zu national gesinnt geklungen? Es wäre aber nur folgerichtig.

Man hätte z.B. die Vision entwickeln können, den Staat Preußen als ganz normales Bundesland, bestehend aus den historischen Gebieten auf dem Boden der ehemaligen DDR, wiederzuerrichten. Wer die falsche Abspaltung der NS-Wendehälse überwinden wollte, müsste genau das tun. Endlich die volle Versöhnung mit der eigenen Geschichte, endlich die volle Ambivalenz ins eigene Nationalbewusstsein integriert. Deutschland macht ohne Preußen gar kein Bild in der Seele, hier ist erst der Schlüssel zu allem!

Vielleicht scheitert Ulf Poschardt aber gerade deshalb an einer solchen positiven Vision, weil er den Shitbürgern in einem Punkt auf den Leim gegangen ist: Dass Deutschland und die deutsche Kultur vor 1933 durchweg „böse“ und schuldig seien. Auf dieser ideologischen Basis kann man nie mehr zu einer Geisteshaltung ohne Abspaltung kommen.

Kritik – Shitbürgertum von Rechts kaum thematisiert

Ulf Poschardt erwähnt, dass die starken Männer in der AfD gegen den Westen und gegen den Liberalismus sind (S. 144). Aber leider zieht er nicht die direkte Verbindung zum Shitbürgertum, die hätte gezogen werden müssen!

Wenn wir Alexander Gaulands Buch „Anleitung zum Konservativsein“ lesen, finden wir dort im Zentrum des Buches in mehreren Kapiteln (!) eine fundamentale Kritik an Preußen. Gauland zieht alle nur erdenklichen Register der preußenfeindlichen Propaganda. Schließlich meint Gauland, dass Preußen gesellschaftlich und territorial verloren sei, und will auf gar keinen Fall – und niemals nicht! – dass Preußen wieder sei. Das ist schon auffällig nahe am Shitbürgertum.

Gleichzeitig freut sich Gauland darüber, wie die Osteuropäer wieder an die Zeit vor 1933 anknüpfen, bevor sie durch Nationalsozialismus und Kommunismus geknebelt wurden. Und das, obwohl diese Länder kaum weniger als Preußen „gesellschaftlich und territorial“ gelitten haben. Auch hat Alexander Gauland überhaupt kein Problem mit Bayern, und das, obwohl Bayern das Bundesland mit den engsten Bindungen zum Nationalsozialismus war: München war die Hauptstadt der Bewegung, Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage, und in Bayreuth residierte der große Inspirator des Nationalsozialismus auf dem Grünen Hügel. Für Gauland kein Problem. Aber Preußen mit seiner Rationalität und seinem preußischen Humanismus, das ist für Gauland ein Riesenproblem.

Auch sonst ist Gauland der typische Shitbürger: Sein Antiamerikanismus ist unübersehbar. Sein Antiliberalismus ist penetrant. Und konservativ ist er eigentlich auch nicht, wenn man es recht bedenkt. Sondern unangenehm bräunlich. Eine Fixierung auf Hitler scheint offensichtlich.

Schließlich missbraucht Alexander Gaulands Freund Björn Höcke Preußen immer wieder als Projektionsfläche für seine schrägen Phantasien. Höcke kann dies tun, weil das juste milieu der BRD ihm Preußen völlig überlassen hat. Höcke kann über Preußen den größten Unsinn verzapfen, wie einst die NS-Wendehälse, und niemand widerspricht ihm.

Insbesondere aber denkt Höcke keine Sekunde daran, Preußen als Bundesland wiederherzustellen. Das wahre Preußen wäre für Höcke ein Problem. Das wahre Preußen ließe sich nicht so leicht missbrauchen. Es stünde Höckes Visionen von Deutschland nur im Wege. Wir erinnern uns, wie Kaiser Wilhelm II. in seinem Exil in Doorn mehrere Stunden vergeblich versuchte, Göring zu erklären, dass man Deutschland nur in Ländern regieren könne: „Zwei Stunden lang habe ich diesem Rindvieh klarzumachen versucht, dass man Deutschland nur auf der Grundlage des Föderalismus regieren kann.“

Kritik – Kleine Fehler

Richard von Weizsäcker wird von Ulf Poschardt den Shitbürgern entgegengestellt (S. 37). Er hätte seine Rede vom 8. Mai 1985 nur deshalb halten können, weil er selbst aufgrund seiner Familiengeschichte die Ambivalenzen integriert hätte. Doch das ist falsch. Ganz falsch. Bekanntlich wurde Weizsäckers Rede für die Aussage gefeiert, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung war. Doch diese Einseitigkeit der Perspektive auf den 8. Mai ist genau die Abspaltung von allem Bösen und Problematischen, das Ulf Poschardt anprangert. Denn viel besser als Richard von Weizsäcker hatte es der erste Bundespräsident Theodor Heuss gesagt, der in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 eine andere Deutung des 8. Mai präsentiert hatte, die bis 1985 unter Liberalkonservativen unbestritten war: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ Hier, bei Theodor Heuss, finden wir die Integration der Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, während Richard von Weizsäcker einfach nur ein weiteres abspalterisches Dogma des Shitbürgertums bestätigt hat.

Martin Walser wird bei Ulf Poschardt zu den Shitbürgern und Antisemiten gezählt, seine Friedenspreisrede in der Paulskirche scharf kritisiert (S. 32). Diese Perspektive ist fragwürdig. Martin Walser hatte sich von der linksliberalen Schickeria losgesagt und gründlich zu denken begonnen („Nichts ist wahr ohne sein Gegenteil“), weshalb er ausgegrenzt blieb. Auch seine Paulskirchenrede ist nicht einfach antisemitisch, sondern im Gegenteil ein Versuch, die Ambivalenz, nach der Ulf Poschardt verlangt, wieder sichtbar zu machen. (Es wäre interessant zu wissen, was Ulf Poschardt von Hans Magnus Enzensberger denkt.)

Fazit

Mit „Shitbürgertum“ hat Ulf Poschardt einen laut vernehmbaren Weckruf in die Welt gesandt, der hoffentlich zu einer vermehrten Bewusstseinsbildung beiträgt, indem Realitäten auf Begriffe gebracht werden, vor allem den Begriff des „Shitbürgertums“. Völlig richtig ist, dass Ulf Poschardt den Kern des Übels in einer falschen Vergangenheitsbewältigung sieht. Leider ist Ulf Poschardt selbst nicht völlig frei von den Lebenslügen der Shitbürger. Deshalb bleibt seine positive Vision für Deutschland auch seltsam dünn. Aber es ist eine Streitschrift, lanciert zum Streiten. Und das ist gut, denn es ist der Anfang von aller besseren Erkenntnis.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Christian Rieck: Die 36 Strategeme der Krise – Erfolgreich werden, wenn andere scheitern (2020)

Tricks und Taktiken erkennen und durchschauen lernen

Die Welt ist oft nicht so, wie sie uns erscheint. Speziell dort, wo verschiedene Kräfte miteinander ringen, kommen auch Listen, Tricks und Täuschungen zum Einsatz. Das ist natürlich vor allem in der Politik so, aber auch im ökonomischen Wettbewerb, im Ringen um philosophische oder theologische Standpunkte, im real existierenden Wissenschaftsbetrieb, im persönlichen Wettbewerb um Posten und Karriere, bis hin zum Gerangel im Ehe- und Familienleben. „Strategem“ ist der Fachbegriff für Listen, Tricks und Täuschungsmanöver. Professor Christian Rieck, ein Ökonom mit Spezialgebiet Spieltheorie, hat dazu einiges zu sagen, unterfüttert durch seine wissenschaftliche Sicht.

Das Buch

Auf der Grundlage historischer Sammlungen von Strategemen, speziell der chinesischen „36 Strategeme“, die dem General Tan Daoji (gestorben 436 n.Chr.) zugeschrieben werden, aber auch der „Strategemata“ des Römers Sextus Iulius Frontinus (ca. 40-103 n.Chr.), hat Christian Rieck eine Sammlung von Strategemen vorgelegt. Dazu werden immer zuerst die traditionellen Titel und Geschichten der Strategemata präsentiert, wozu auch Fabeln und Sinngeschichten gehören. Danach zeigt der Autor auf, wo diese Strategeme im modernen Leben zu beobachten sind.

Hauptzweck des Büchleins ist die Sensibilisierung für das Erkennen von Strategemen. Der Leser soll seine Naivität verlieren, Skepsis gewinnen, und geübt darin werden, hinter die Kulissen zu schauen. Das gelingt dem Autor in überzeugender Weise, nicht zuletzt durch eine ganze Reihe von hochaktuellen Fallbeispielen (das Buch wurde offensichtlich in späteren Auflagen aktualisiert). Die Einschätzungen des Autors zu Vorgängen unserer unmittelbaren Zeitgeschichte sind hochgradig zustimmungsfähig. Wer schon etwas älter ist, wird vieles finden, was er sich schon selbst gedacht hatte. Speziell jüngere Leser dürften durch dieses Buch schneller auf die Sprünge gebracht werden, besser zu erkennen, in was für einer Welt sie leben.

Interessant, aber weniger gelungen, ist der Ansatz, eine Krise als einen Akteur von Strategemen zu begreifen: Wie wenn uns eine Krise als handelnde Person mit List und Tücke begegnen würde. Das ist als Denkfigur zwar geeignet, um das Denken in Strategemen zu üben, ist aber in der Realität nicht so. Eine Krise handelt nicht. Sie vollzieht sich. Hier hat der Autor versucht, sein Buch als Ratgeber für aktuelle Krisen (Corona, Finanzkrise, was immer) aufzuhübschen und Leser mit der Idee zu ködern, von Krisen profitieren zu können. Strategeme sind aber nicht nur ein Thema für Krisenzeiten, sondern beherrschen auch den Alltag.

Kritik

Kritik muss an formalen Aspekten geübt werden. Das Buch ist teils schlampig zusammengestellt. Speziell die Einleitungen der verschiedenen Kapitel knallen dem Leser ohne Zusammenhang erst den chinesischen Titel des Strategems, dann z.B. eine Fabel von Aesop, dann vielleicht auch eine Anekdote aus der römischen Geschichte, und zuletzt auch die traditionelle chinesische Geschichte zum jeweiligen Strategem vor die Nase. Hier fehlen Einleitungen, Überleitungen und Einordnungen. Man hätte sich jeweils auch einen modernen Untertitel zu jedem Kapitel gewünscht, der die Essenz jedes einzelnen Strategems für moderne Leser besser auf den Punkt bringt. Dann wäre auch das Inhaltsverzeichnis des Büchleins „sprechender“ geworden.

Speziell von einem Wissenschaftler hätte man sich noch etwas mehr Abstraktion erwartet: Die 36 traditionellen Strategeme überlappen sich häufig gegenseitig, wie der Autor immer wieder mit Recht bemerkt. Hier hätte man sich den Versuch gewünscht, die 36 Strategeme auf eine noch kleinere Zahl von Elementarstrategemen einzudampfen. Wünschenswert wäre auch eine Tabelle gewesen, die aufzeigt, welche Strategeme mit gleichen Mitteln arbeiten. Ein kleines Literaturverzeichnis hätte nicht geschadet. Etwas mehr historischer Hintergrund wäre nicht schlecht gewesen. Nicht einmal der Name des chinesischen Generals Tan Daoji als Autor der „36 Strategeme“ fällt.

Immer wieder sind Worte in blassblauer Farbe gedruckt: Es handelt sich um Weblinks, die in der gedruckten Fassung des Buches natürlich nicht funktionieren und auch nirgendwo ausgeschrieben vorliegen (etwas in Fußnoten oder einem Anhang). Rechtschreibfehler kommen vor, jedoch nicht allzu häufig. Der aktuelle Preis von 9,99 EUR für die Kindle-Ausgabe und 18,- EUR für Softcover ist zu hoch. 6,- bzw. 12,- EUR wäre angemessener gewesen.

Fazit

Das Buch erfüllt seinen Zweck und lohnt zu lesen, ist aber etwas zu schlampig gemacht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit (1511)

Rundumschlag quer durchs Leben, gelungen und doch irreführend

Erasmus lässt die personifizierte Torheit eine Lobrede auf sich selbst halten. Versteckt hinter der Maske der Torheit und der Ironie kann Erasmus die Fehler der großen und kleinen Leute durchsprechen. Teilweise ist das anregend und witzig und auch für die heutige Zeit oft gut getroffen.

Teilweise ist es aber auch sehr unübersichtlich: Dummheit als Hauptthema einer Arbeit eröffnet ein viel zu weites Feld, als dass noch ein gemeinsames Band hinter allem zum Vorschein käme.

Teilweise ist es auch irreführend. Die Torheit redet teils so überzeugend und doppelt-ironisch, dass der Leser an manchen Stellen wirklich nicht mehr wissen kann, was Erasmus nun selbst ernst meint, und was er nur ironisch meint. Weniger gebildete Leser werden so manchen Rat der Torheit ernst nehmen und ihn entweder als Provokation empfinden oder sogar gutheißen! Das zynische Klischee des Weisen, der am Leben vorbeilebt und von den Frauen verschmäht wird, das Klischee von den Frauen, für die man sich zum lächerlichen Narren machen müsse, um sie zu gewinnen, das Klischee vom erfolgreichen Toren und dem erfolglosen Weisen (leidvolle Erfahrungen von Erasmus?): Sie sind wenig hilfreich und polarisieren die Leser, statt zu differenzieren.

Teilweise ist so manches, was die Torheit als Torheit hinstellt, in Wahrheit gar nicht töricht, wodurch das Werk schiefe und halbwahre Aussagen trifft. Witz, Ironie und Höflichkeit als Dummheiten hinzustellen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde, ist irrig. Ebenso irrig ist es, das „Ich weiß dass ich nichts weiß“ des Sokrates für töricht zu halten.

Gegen Ende des Werkes kommt Erasmus auf die Vernunftlogik des Glaubens zu sprechen, die in den Augen der Nichtgläubigen Torheit ist (Paulus: Wir sind Narren um Christi willen; Gott lässt die Weisheit der Weisen zuschanden werden und offenbart sich in Torheit). Dass die Worte des Paulus nicht vernunftfeindlich gemeint sind, sondern lediglich besagen, dass man mit derselben Vernunft zu anderen Schlüssen kommt, wenn man von anderen Voraussetzungen ausgeht (Jesus lebt, oder eben auch nicht), kommt nicht zum Ausdruck. Die Verwirrung zwischen Torheit und Vernunft ist perfekt.

Der eigentliche Wert des Werkes liegt vermutlich weniger in dieser oder jener Aussage, sondern in der Provokation selbst. Diese ist zweifelsohne in mehrfacher Hinsicht gelungen. Die Frage ist, ob Erasmus es mit der Provokation nicht übertrieben hat, und wohin die Provokation führen soll, da es doch teilweise an Klarheit mangelt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das Werk stark an Wert. Das „Lob der Torheit“ ist ein Querschläger, der schief und krumm in der Landschaft herumsteht, und viel Nebel verbreitet. Auch die heutigen Interpreten sind sich nicht völlig einig darin, was Erasmus eigentlich wollte, jeder sieht es wieder ein wenig anders.

Teilweise ist der Mangel an Klarheit auch dem Umstand geschuldet, dass Erasmus mit diesem Werk die politische Korrektheit seiner Zeit unterlief und unter der Maske der Torheit Dinge aussprach, die man nicht ungestraft sagen konnte. Erasmus soll durch dieses Büchlein das Aufbrechen von Tabus gelungen sein, so dass er als Wegbereiter der Reformation gilt.

Es finden sich interessante Reformgedanken zum Christentum, bis hin zu historisch-kritischen Denkweisen: Zum einen in der Feststellung, dass die Apostel einst kaum über das theologisch spitzfindige Wissen der Theologen aus Erasmus‘ Zeit verfügt haben werden, und was für einen Sinn es dann haben sollte? Zum anderen z.B. in der Feststellung, dass auch der Apostel Paulus die Altarinschrift für den unbekannten Gott in Athen zu seinen Gunsten zurechtbog. Beides erstaunliche Gedanken, die das scholastische Christentum massiv hinterfragen.

Die Anzahl der antiken Anekdoten, die Erasmus einbaut, ist erstaunlich. Die Interpreten sagen, die Torheit würde mit ihnen nur so um sich werfen, weil sie selbst sage, dass die Toren mit Zitaten nur so um sich werfen. Aber gleichzeitig kann Erasmus so seine Belesenheit beweisen, ohne selbst als töricht zu gelten.

Fazit

Eine geschickte und wirkmächtige, aber leider auch teils undurchsichtige Provokation, die das mittelalterliche Denken ordentlich durchschüttelte und bis an seine Grenzen in Richtung der Moderne dehnte. Nebenbei auch mancher Ratschlag, manche Einsicht der Lebensklugheit und Menschenkenntnis, die auch heute noch von Wert ist.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Januar 2014)

Julian Nida-Rümelin: Humanismus als Leitkultur – Ein Perspektivenwechsel (2006)

Humanismus als gute Gesprächsbasis – aber welcher Humanismus?

Das vorliegende Buch ist eine Sammlung von Reden, Aufsätzen und einem Interview von und mit Nida-Rümelin, die im Zeitraum 1999-2006 gehalten bzw. geschrieben worden waren. Dabei kommt es teilweise zu mehrfachen Wiederholungen derselben Thematik, was andererseits auch verschiedene Aspekte derselben Sache eröffnen kann.

Klassischer Humanismus

Zunächst ist es wohltuend, von einem Politiker, der Nida-Rümelin ja als Kulturstaatsminister 2001-2002 war, einige tiefer gründende Worte zu Themen wie Kultur und Bildung zu hören. Für Nida-Rümelin ist Bildung gerade nicht zuerst Berufsausbildung, sondern Menschenbildung, die den Menschen als ganzes entfaltet, und zur Selbständigkeit und Urteilsfähigkeit erzieht. Damit wird der Mensch kommunikationsfähig, gesellschaftsfähig, und letztlich auch fähig, sich verschiedensten beruflichen Situationen zu stellen, gerade auch in unserer heutigen einen Welt. Nida-Rümelin rückt dafür – auch im Buchtitel – den Humanismus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

An einigen Stellen lässt Nida-Rümelin durchblicken, dass der Humanismus geerdet ist in seiner Tradition von der Antike bis z.B. zu Wilhelm von Humboldt. Damit ist der Humanismus keine beliebige Leerformel. Nida-Rümelin sieht den Humanismus auch zurecht als Widerspruch gegen das allzu Nützliche, gegen ein ökonomisches Diktat, oder gegen die Vereinnahmung durch den zynischen Zeitgeist. Auch sieht sich Nida-Rümelin eher dem Klassischen als dem Romantischen verbunden.

Das ist in der Tat die Grundlage, auf der unsere Gesellschaft eine Zukunft haben kann. Das ist auch die Grundlage, auf der sich die Zukunft von Kultur und Bildung zwischen den verschiedenen politischen Lagern zu diskutieren lohnt. Nida-Rümelin ist natürlich ein Linker, ein SPD-Mitglied. Aber eines, mit dem sich offenbar reden lässt. Das muss man festhalten.

Kritikpunkte

Leider hält Nida-Rümelin die Linie von Rationalität und Tradition nicht konsequent durch. In manchen seiner Texte schwebt der Humanismus als abgehobener Begriff im Raume herum, und wird zu einer Leerformel, mit der sich die Irrtümer des Zeitgeistes verbinden. So plädierte Nida-Rümelin z.B. für die „Vielfalt-Gesellschaft“, in der Religion bzw. Weltanschauung und Nationalkultur eines Menschen nur als irgendwelche Aspekte unter mehreren angesehen werden, die sich beliebig kombinieren und austauschen ließen, so dass daraus eine bunte, vielfältige Gesellschaft entstünde. Bei Nida-Rümelin heißt das „humanistischer Individualismus“. In Wahrheit handelt es sich aber nur um das alte, dumme Multikulti, nur anders verpackt.

Ebenso denkt Nida-Rümelin über einen Mittelweg zwischen Hobbes und Rousseau nach: Zwischen einer Gesellschaft, die durch Zwang von oben zusammenhält, und einer Gesellschaft, die durch Homogenität zusammengehalten wird, glaubt er an ein Modell der Kooperation von Bürgergesellschaft und starken Institutionen des Staates, und einen ethischen Minimalkonsens, der stets neu auszuhandeln sei. Nida-Rümelin übersieht damit völlig, wie stark die Bindekräfte von Traditionen, des Gewachsenen schlechthin, sind, und wie schwer so etwas wieder herzustellen ist, wenn es erst einmal kaputt gemacht wurde. Vielleicht sind Hobbes und Rousseau auch einfach die falschen Gegenpole. Jedenfalls wird weder ein Minimalkonsens, der gerade einmal aus den Menschenrechten besteht, noch ein stets neues Aushandeln je zu einer stabilen Gesellschaft führen. Multikulti funktioniert nur dort, wo es in die klaren Regeln einer Mehrheitsgesellschaft eingebettet ist. Oder anders ausgedrückt: Es funktioniert eigentlich per se überhaupt nicht.

Richtig ist allerdings, dass eine Toleranz aus Indifferenz nicht funktioniert. Toleranz ist nur dort echt, wo sie ganz bewusst Toleranz ausübt gegenüber einer Meinung, die man klar für falsch hält. Toleranz aus Respekt in diesem Sinne ist eine Tautologie. Toleranz ist Respekt vor dem Andersdenkenden, ist Empathie mit den Irrenden.

Auch andere linke Projekte werden von Nida-Rümelin ideologisch gestützt. So z.B. die Ganztagsschule, die angeblich zur Persönlichkeitsbildung beitrage. Oder planwirtschaftliche Elemente wie die Buchpreisbindung. Oder linke Theorien von Gerechtigkeit (John Rawls), denen zufolge Ungleichheit dann gerecht sei, wenn sie den Schwächeren nützt. Da kann man sehr geteilter Meinung sein, ob das den Schwächeren wirklich nützt! Jedenfalls kann man alles übertreiben, und gerade diese positive Diskriminierung scheint heute doch sehr übertrieben zu werden.

Erfrischend unideologisch

Andererseits ist Nida-Rümelin wiederum erfrischend unideologisch. Er wendet sich gegen die anti-humanistischen Impulse im marxistischen und freudianischen Denken: Wer immer nur cui bono? frage, oder immer nur nach psychologisch tieferen Absichten forsche, der verpasse es, den Menschen als Menschen ernst zu nehmen. Nida-Rümelin hatte auch ein richtiges Urteil über den Ostblock, womit er sich keine Freunde machte. Auch möchte Nida-Rümelin Karl Popper rehabilitieren, worin sich Nida-Rümelin mit Thilo Sarrazin trifft, der einstmals zusammen mit Helmut Schmidt Propaganda für Karl Popper in der SPD machte.

Kurz: Man muss nicht alles mögen, was Nida-Rümelin sagt und schreibt, aber man muss Nida-Rümelin als ein faires Gesprächsangebot verstehen, weil tiefere gemeinsame Grundlagen da sind: Der Humanismus. Mit der Idee des Humanismus gibt es eine gemeinsame Basis, auf deren Grundlage man die Zukunft gestalten kann. Linksliberale und Liberalkonservative gemeinsam.

Humanismus ist gewiss ein wichtiger Aspekt der gemeinsamen deutschen Leitkultur. Hier ist nun wiederum allerdings schade, dass Nida-Rümelin diesen Gedanken nicht auch historisch so durchbuchstabiert hat, dass sich humanistisches Denken in allen Kulturen der Welt vorfinden lässt, vom Christentum über den Islam bis hin zum Konfuzianismus.

Einige Randthemen

Sehr wohltuend sind Passagen, in denen Nida-Rümelin den real existierenden Wissenschaftsbetrieb auf die Schippe nimmt. Seiner Meinung nach hätten viele kreative Forscher vergangener Zeiten im heutigen System keine Chance mehr. Wie wahr. – Er wendet sich auch sehr richtig gegen ein Ausspielen der „exakten“ Naturwissenschaften gegen die „Geschwätzwissenschaften“ der Geisteswissenschaften. – Gut beobachtet auch, dass Platon in den Nomoi gegenüber der Politeia umdenkt. – Sloterdijk war wohl anders, als Nida-Rümelin denkt, kein Anti-Humanist. Sarrazin übrigens auch nicht, aber den erwähnt Nida-Rümelin nicht. – Schließlich noch eine Kuriosität: In einem Vortrag von 2001 bezeichnet Nida-Rümelin den historischen deutschen Sonderweg seit 1990 für beendet. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. Oktober 2016)

Philipp Melanchthon: Glaube und Bildung – Texte zum christlichen Humanismus (16. Jhdt.)

Absolut lesenswertes Zeugnis eines wahren Humanismus

Philipp Melanchthon war ein in der Wolle gefärbter Humanist, der von Martin Luther sofort als Denker entdeckt wurde. Während Luthers Reformation, die von dem führenden Humanisten Erasmus von Rotterdam mit Recht als zu radikal abgelehnt wurde, stand Melanchthon unter dem teils ungünstigen Einfluss von Martin Luther und lehnte z.B. die Philosophie als schädlich ab. Melanchthon war unbestritten der eigentliche Denker der Reformation, während Luther eher der Macher war. Nach Luthers Tod befreite sich Melanchthon innerlich von Luthers Radikalität und gelangte wieder zu moderateren Auffassungen in bezug auf Philosophie und Religion.

Melanchthon hat zweifelsohne viel für die Verbreitung der humanistischen Bildung getan, und seine Schriften über Bildung sind eine wahre Wohltat in unserer heutigen Zeit. Dort liest man noch, wie die Sprache den Geist bestimmt, wie Sprache gebildet werden muss, um den Menschen zu bilden, dass die Bildung „aus der Hand kommt“, dass der Mensch erst durch eigenes Schreiben so richtig gebildet wird.

Das Verhältnis von Philosophie und Religion bestimmt Melanchthon – anders als zur Zeit Luthers – positiv: Philosophie und Glaube betreffen verschiedene Erkenntniswege, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern ergänzen. Es gibt nichts, wovor die Philosophie Halt machen sollte. Nur wo die Philosophie glaubt, ohne die Religion auskommen zu können, setzt Melanchthon der Philosophie eine Grenze. Mehr kann man von einem religiösen Menschen eigentlich nicht verlangen.

Die Schule ist für Melanchthon das Abbild des Goldenen Zeitalters, der Ort des Lehrens und Lernens als heilige Tätigkeit unter philosophischen Geistern. Die griechische Sprache wird über alles gelobt. Alles in allem hat sich Philipp Melanchthon seinen Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“, d.h. Lehrer Deutschlands, redlich verdient.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 31. Januar 2014)

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