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Hermann Hesse: Narziss und Goldmund (1930)

Durchspielen von Sinnlichkeit und Geistigkeit – Kritik am typisch „Deutschen“

Der Roman „Narziss und Goldmund“ schildert die Freundschaft zweier Klosterschüler, von denen der eine radikal sinnlich, der andere radikal geistig lebt. Narziss lebt ein Leben der Gelehrsamkeit, bleibt immer nur im Kloster, steigt zum Abt auf, und hat einen rationalen Durchblick durch die Zusammenhänge der Welt. Goldmund hingegen verlässt das Kloster, zieht wandernd durch die Lande, legt eine Frau nach der anderen flach, wird zum bildenden Künstler, und kehrt am Ende ins Kloster zurück. Während die Figur des Goldmund den Roman beherrscht, taucht Narziss nur am Anfang und Ende auf, und steht – obwohl ebenbürtig – nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Hermann Hesse wollte hier ganz offensichtlich zwei Charaktereigenschaften an zwei Menschen durchspielen, indem er sie jeweils völlig einseitig gestaltet und miteinander in freundschaftliche Verbindung bringt. Narziss muss Goldmund anfangs erst zur Erkenntnis seiner selbst befreien, bevor dieser hemmungslos sinnlich werden kann. Goldmund hingegen lässt Narziss zweifeln, ob ein rein geistiges Leben wirklich gut ist. Narziss hat Goldmund am Ende voraus, dass er dessen Sinnlichkeit anfanghaft versteht. Goldmund hingegen versteht die geistige Welt des Narziss noch nicht einmal im Ansatz. Goldmund bleibt bis zuletzt ein großes Kind, kuriert eine gefährliche Verletzung nicht aus, und stirbt blöde lächelnd (Hirnschlag?), ohne die Mehrzahl der von ihm geplanten Werke geschaffen zu haben. Narziss bleibt zweifelnd zurück.

Bedingt durch Bildungsmangel und die Irrtümer des Zeitgeistes fassen viele Leser diesen Roman falsch auf. Der erste Irrtum ist die Lesart als Lebensratgeber. Wie wenn Hermann Hesse dem Leser hätte sagen wollen: „Enthemme Dich, fick Dich durch’s Leben, die Rationalen sind die Dummen.“ Doch das ist nicht der Fall. Beide Charaktere sind gleich in ihrer Würde. Und beide Charaktere taugen nicht als Vorbild. Vorbildlich wäre eine richtige Mischung aus beidem. Der zweite verbreitete Irrtum ist die Lesart als homoerotischer Roman. Auch das ist Unfug. Die Liebe zwischen Narziss und Goldmund ist die Liebe von Mensch zu Mensch, jenseits aller Geschlechtlichkeit. Wer das nicht erkennt, hat etwas verpasst.

Thema Sinnlichkeit: Hier spielt das Bild der „Mutter“ eine große Rolle. Zunächst die eigene, verlorene Mutter, dann das Bild der „großen“ Mutter. Die Mutter als Verkörperung von Leben und Tod zugleich. Goldmund verfällt dieser Vorstellung völlig und wird von ihr in den Tod gezogen. Narziss sind solche Gedanken und Gefühle fremd.

Thema Kunst und Künstler: Der Werdegang von Goldmund zum Künstler, seine Begegnung mit Werken und mit dem Meister, sein innerer Drang, seine Gedanken über Gesehenes und seine inneren Bilderwelten geben dem Leser einen lebendigen Eindruck davon, was es heißt ein Künstler zu sein und Werke zu schaffen.

Thema Lebensweisheit: Der Roman umspannt das ganze Leben zweier Menschen und enthält deshalb auch eine Menge Lebensweisheit zu allen möglichen Themen (Jugend vs. Alter, Wanderschaft vs. Sesshaftigkeit, Lehre vs. Meisterschaft, Leben vs. Tod), die nicht zwingend mit dem Thema des Buches verbunden sind. Es könnte sich lohnen, das Buch mehrfach zu lesen.

Thema Kloster Maulbronn: Hermann Hesse hat das Kloster Mariabronn natürlich nach dem Kloster Maulbronn gestaltet, in dem er als Internatsschüler gescheitert war. Aber überraschenderweise ist die Darstellung der Klosterschule in diesem Roman durchgehend positiv! Das erfreut den Leser, der sich an die Depressivität des Romans „Unterm Rad“ erinnert, in dem Hesse seine negativen Erfahrungen im Kloster Maulbronn verarbeitet hatte.

Thema Mittelalter: Neben dem Kloster wird das ganze mittelalterliche Leben durchgespielt: Dörfer und Höfe, ein Ritter auf seiner Burg, die Bischofsstadt (die angeblich nach Würzburg gestaltet sein soll, aber Würzburg ist viel zu barock), der Statthalter des Kaisers in seiner Residenz.

Thema Pest: Auch die mittelalterliche Pest spielt eine Rolle. Es ist interessant, die heutigen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie mit dieser literarischen Darstellung der Pest zu vergleichen. Es gibt die Angst vor der Ansteckung, das Abstandhalten und Isolieren, die behördlichen Anweisungen, die Geschäftemacher usw.

Typisch „deutsch“:

Hermann Hesse schrieb dieses Buch 1927-1929, also noch vor der Zeit des Nationalsozialismus: „Ich habe mit diesem Buch der Idee von Deutsch­land und deutschem Wesen, die ich seit der Kindheit in mir hatte, einmal Ausdruck gegeben und ihr meine Liebe gestanden – gerade weil ich alles, was heute spezi­fisch ‚deutsch‘ ist, so sehr hasse.“ – Was könnte Hesse damit gemeint haben?

Viele denken an die im Roman geschilderte Verbrennung von Juden als Sündenböcken für die Pest. Narziss sagt, er würde eine Judenverbrennung zwar niemals anordnen, aber es könnte sein, dass er sie geschehen ließe, wenn er sie nicht verhindern könne, denn: „Die Welt ist nicht anders“. – Das mag vielleicht ein Aspekt des typisch Deutschen sein, den Hesse vielleicht auch meinte, aber Hesse schrieb dieses Buch vor der Zeit des Nationalsozialismus, und Judenpogrome waren und sind alles andere als typisch „deutsch“. Die Antwort des Narziss ist außerdem gar nicht so unvernünftig: Nicht mittun ist schon ziemlich viel getan. – Es könnte auch die Rationalität und Gelehrsamkeit des Narziss gemeint sein. Aber dieser kann es nicht allein sein, weil er ebenbürtiger Gegenspieler zu Goldmund ist, und weder Rationalität noch Gelehrsamkeit sind typisch „deutsch“. – Es könnten mit „deutsch“ auch die sesshaften Spießer gemeint sein, gegen die Goldmund als Vagabund polemisiert. Aber das ist nur ein Randthema.

Nein, es ist etwas ganz anderes, was die Menschen von heute nicht sehen, weil sie durch Bildungsmangel und Zeitgeist blind dafür geworden sind. Der Elephant im Raum ist natürlich die zentrale Figur des Goldmund, wie er mit größter Unbekümmertheit und Naivität durch das ganze deutsche Reich wandert, dabei Jung-Siegfriedhaft immer ein Kind bleibt, wie er sich gerne in Raufereien verwickelt und manchmal jemanden totschlägt, wie er die Jüdin Rebecca, die gerade ihre Familie auf dem Scheiterhaufen verloren hat, dämlich dazu auffordert, ihr Leben doch in sinnlicher Lust zu genießen, der sich nicht einmal ansatzweise (!) aufs Denken versteht, und der schließlich dem Todessog der großen Mutter verfällt. Dies ist die große Kritik am deutschen Volk, die Hermann Hesse hier gestaltet hat. Diese Figur ist es, die Hermann Hesse zugleich liebt und hasst. Also gerade das, was manche als positive Lebenslehre aus diesem Roman mitnehmen wollen, ist in Wahrheit die zentrale Kritik des typisch „Deutschen“.

Ein Vergleich zu Thomas Manns „Zauberberg“ von 1924 drängt sich auf: Auch hier meinen heute viele irrigerweise, der politisch Radikale Naphta wäre die große Warnung vor dem, was kommt. Doch in Wahrheit ist es der freundliche Herr Peeperkorn, der alle für sich vereinnahmt und nur inhaltsleere Gespräche führt, vor dem Thomas Mann vor allem warnen will. Auch dieses Buch wird in ganz ähnlicher Weise missverstanden.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Geschrieben 27. August 2020.

Christine Brückner: Letztes Jahr auf Ischia (1964)

Alltag, Allzu-Menschliches und Abgründe im Urlaubsparadies

Der Roman „Letztes Jahr auf Ischia“ von Christine Brückner beginnt harmlos, ja fast schon enttäuschend. Vier Deutsche, drei Männer und eine Frau, sind auf Ischia in einer Ferienwohnung zusammen gekommen, um auf der Insel gemeinsam einen Film zu drehen: Arne, Carlos, Paul und seine Freundin, die Erzählerin. Doch sie kommen damit nicht voran. Die Stimmung ist schwül. Die Beziehungen innerhalb der Gruppe changieren ebenso schwül, übergriffig und unentschieden hin und her. Der Millionärssohn Arne macht der Erzählerin ein Angebot. Paul verhält sich Oberlehrerhaft. Carlos stellt den Frauen nach. Man beobachtet, wie eine andere Deutsche sich den zurückgezogenen Signor Ernesto zum Liebhaber nimmt. Erwartungshaltungen werden enttäuscht. Illusionen gepflegt. Rücksichtslosigkeiten begangen.

Man möchte das Buch vor Langeweile am liebsten weglegen. Doch dann kommt es zu einem reinigenden Gewitter, zu einem Ausbruch von Zorn und einer Aussprache, und von da an nehmen die Dinge Fahrt auf.

Als erstes wird der unfertige Film symbolisch beerdigt. Dieses Projekt ist gestorben. Auf der Fiesta der Inselheiligen entjungfert Carlos eine Inselschönheit, woraufhin deren Clan Schwierigkeiten macht. Die Freunde halten dagegen zusammen. Und nun beginnt ein Reigen von Entlarvungen und Enhüllungen der biographischen Hintergründe der einzelnen Personen, die das Buch wahrlich lesenswert macht.

Der Frauenheld Carlos heißt eigentlich nur Karl, kommt aus NRW, und hat eine sehr praktisch denkende Ehefrau, die plötzlich auf der Insel auftaucht. Und schon ist Karl ein ganz anderer, biederer Mensch. Er verschwindet mit seiner Ehefrau nach Capri und damit aus der Geschichte. Ein Abendessen bei dem zurückgezogenen Signor Ernesto und seiner deutschen Partnerin verläuft surreal. Dann ein schwerer Autounfall von Arne und der Erzählerin, weil der Clan der Inselschönheit die Reifen gelockert hatte, um Carlos zu treffen. Die Einheimischen raten von rechtlichen Schritten ab. Auf dem Krankenbett die Offenbarung des Vorlebens der Erzählerin: Sie hat bereits einen Sohn, und ist jetzt Großmutter geworden. Arne stirbt an dem Autounfall: Er hätte eine vielversprechende Karriere als Komponist vor sich gehabt. Die Erzählerin und Paul raufen sich zusammen, versuchen für sich den Urzustand des Paradieses wiederzuerlangen. Weil der Autounfall die Falschen traf, wird die Inselschönheit von ihrem Clan zur Versöhnung in die Ferienwohnung der Deutschen geschickt: Zum Arbeiten. Dort wird sie mit einem deutschen Inselarzt verkuppelt, der auf Ischia gestrandet ist. Letzter Akt: Die deutsche Partnerin des Signor Ernesto schwimmt bei Unwetter ins offene Meer hinaus und muss durch ein riskantes Manöver gerettet werden. Jetzt werden auch noch die Hintergründe dieser beiden offenbart. Es sind Abgründe.

Man bekommt in diesem Buch auch viel vom Inselalltag auf Ischia mit. Man sieht das Urlaubsparadies durch die Brille von Menschen, die länger dort leben. Es ist langweilig, spießig und manchmal zynisch. Und immer wieder schön. – Ein Anachronismus zu heute ist der Umgang mit Frauen: Einer alleinreisenden Touristin wird solange von den „Pepis“ nachgestellt, bis sie sich einen Liebhaber nimmt. Erst dann hat sie Ruhe. Solches hört man heute vor allem aus noch weiter südlich gelegenen Staaten, damals war es aber wohl auch auf Ischia noch so. – Schließlich fehlt auch das Multikulti von heute: Die vier Kollegen aus Deutschland sind alles Deutsche, die Italiener sind alle Italiener. Heute würde ein Filmteam kaum mehr nur aus vier „Biodeutschen“ bestehen. Der moderne Leser hält Carlos zunächst z.B. für einen Spanier, und würde das auch für das Selbstverständlichste von der Welt halten, bis überraschend die Aufklärung kommt, dass er Karl heißt und aus NRW kommt.

Ein Punkt Abzug, weil das Buch keinen echten roten Faden hat. Die Dinge entwickeln sich, und man nimmt manche Einsicht zu Menschen und ihrem Charakter und Zusammenleben aus diesem Buch mit, ebenso manche Einsicht zu den Vorgängen hinter den Kulissen eines Urlaubsparadieses, aber eine zentrale Botschaft ist eher nicht zu erkennen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Mai 2018)

Andreas Eschbach: Der schlauste Mann der Welt (2023)

Köstliche Taugenichtsgeschichte mit Weisheiten am Rande

Der schlauste Mann der Welt: Das ist der Habenichts Jens Leunich, der sich die fernöstlichen Weisheiten auf ganz eigene Art zu Herzen nimmt. Es geht dabei um Weisheiten wie z.B. das Loslassen von allem Besitz, denn nicht Du besitzt ihn, sondern er Dich; oder um Meditation, also die große Kunst des Nichtstuns; oder um das Warten darauf, dass das Schicksal in das eigene Leben eingreift und eine Entscheidung herbeiführt, die man selbst nicht treffen möchte.

Mit einem naiven Vertrauen in diese Weisheiten und einer guten Portion Bauernschläue sowie einer weitgehenden Abwesenheit von Skrupeln kommt der Taugenichts Jens Leunich unverhofft zu viel Geld und reist nun den Rest seines Lebens von Luxushotel zu Luxushotel quer durch die Welt und tut dabei: Nichts.

Dabei sind durchaus einige Abenteuer zu bestehen. Denn manchmal wird es echt knapp für Jens Leunich. So geht es immer wieder um Frauen und wie man sie wieder los wird. Der Vorteil eines Escort-Service wird klar erkannt: Nach geleisteten Diensten entfernt sich die Frau von selbst aus dem eigenen Leben. Gutes zu tun ist ein Problem, während es sich mit einem gesunden Egoismus wunderbar leben lässt. Ein Politiker bekommt den Rat, einfach nichts zu tun, und hat damit Erfolg. Richtiggehend gefährlich sind alle, die an Leunichs Geld wollen.

Eine ganze Reihe von Klischees werden gnadenlos auf die Schippe genommen, u.a. Esoteriker, Amerikanische Banker, Schweizer Privatbankiers, Millionäre, Hoteliers, Schneider, Politiker, Polizisten, Entwicklungshelfer, Ökos und Gutmenschen. Der Leser verfolgt auch gerne, wie es sich in Luxushotels leben lässt und wen man dort alles trifft. Auch die Beobachtungen zu Land und Leuten in den verschiedenen Ländern erfreuen den Leser.

Kein Buch, was man gelesen haben muss, aber ein großes Vergnügen!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951) – Teil 1 der Trilogie des Scheiterns

Stilistische Sprachspiele im Geist der frühesten BRD

Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ ist eine sich ständig abwechselnde Aneinanderreihung von kleinen Fortsetzungsepisoden aus dem Alltag der Menschen um 1950 in München, die sich innerhalb eines Tages von morgens bis abends ereignen und sich zunehmend miteinander verweben, bis die Verwicklungen einem Höhepunkt zustreben.

Gefolgt wird u.a. dem Tageslauf eines alten Amtmannes, der einen schwarzen amerikanischen Besatzungssoldat begleitet, der wiederum von einer Deutschen ein Kind erwartet, die wiederum abtreiben lassen möchte, deren Mutter wiederum Schande in der Verbindung mit einem Schwarzen sieht; eine Kommerzienratstochter, die mehrere Häuser besitzt, die in der damaligen Zeit aber niemand kaufen will, weshalb sie ihren Hausrat und Schmuck zu Pfandleihern tragen muss; Ihren Freund, einen inspirationslosen Schriftsteller; ein ratloser Psychiater; ein bekannter Schriftsteller und eine Gruppe amerikanischer Lehrerinnen auf Deutschland-Tournee; Straßenkinder; Huren; ein Kapellmeister; ein frömmelndes Dienstmädchen; ein übertrieben träumendes Dienstmädchen; und allerlei andere Leute.

Die Episoden sind sprachlich verschränkt, was in der einen Episode ein sinnvolles Wort war, ist in der angeschlossenen Episode ein absurder Kontrast dazu. Eingestreut werden immer wieder Schlagzeilen aus damaligen Zeitungen, die ebenfalls das Geschehen absurd kontrastieren. Koeppen spielt mit der Sprache, fast wie Arno Schmidt, aber nicht so extrem, aber mehr noch und absurder als Thomas Mann. Absurde Assoziationen lassen auch absurde und verdrängte Erinnerungen an die Vergangenheit 1914-1945 aufkommen.

Man sagt, wer die Atmosphäre in der damaligen BRD kennenlernen möchte, sollte diesen Roman lesen. Das stimmt wohl, auch wenn es nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist.

Weltanschaulich und moralisch vertritt das Werk die These, dass die Menschen und ihr Leben und Streben wie „Tauben im Gras“ erscheinen, ein bekanntes Zitat von Gertrude Stein: Zufällig und sinnlos. Auch das passt zur damaligen Atmosphäre. Die Menschen und die Gesellschaft haben kein Ziel und vegetieren vor sich hin. Der bekannte Schriftsteller, der in einem Vortrag die Kultur des Abendlandes beschwört, wird von niemandem verstanden.

Insofern dies eine Zustandsbeschreibung ist, ist es sehr treffend. Und das ist die Stärke des Romans. Insofern der Roman aber keine Perspektive bietet, und mögliche Perspektiven sogar ablehnt, ist der Roman ein Werk des Nihilismus, und damit abzulehnen. Die Sinnvernichtung und Sinnzerstörung, die sich lange vorbereitend 1945 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wird durch diesen Roman leider bestätigt, statt dem etwas entgegen zu setzen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2018)

PS 07.10.2023

Im März 2023 entbrannte eine absurde Debatte um den Umstand, dass der Roman wiederholt das Wort „Neger“ verwendet. Das Wort „Neger“ war ein völlig wertungsfreies Wort der deutschen Sprache. Es war allgemein im Gebrauch, auch und gerade bei Gegnern des Rassismus. Erst etwa in den 1980er Jahren begann man damit, bewusst auf dieses Wort zu verzichten, weil es lautlich ähnlich wie das amerikanische N-Wort klingt. Man wollte also Missverständnisse vermeiden. Man verzichtete aber nicht deshalb auf das Wort, weil das Wort selbst abwertend gewesen wäre. Die englische Entsprechung zu „Neger“ ist auch nicht das N-Wort, sondern das Wort „negro“. Laut Wikipedia 2023 ist auch das Wort „negro“ an sich wertungsfrei.

Das Wort „Neger“ kommt im Roman in neutralen, in abwertenden und in positiven Kontexten vor. Man mache die Probe, und ersetze das Wort „Neger“ in abwertenden Aussagen durch das heute gebräuchliche „Schwarzer“, und man wird sehen, dass der abwertende Ton unverändert erhalten bleibt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie auch das Wort „Schwarzer“ in den entsprechenden Kontexten von den Romanfiguren gehässig hervorgestoßen wird. Es ist nicht das Wort „Neger“, das den abwertenden Effekt erzeugt.

Leider haben gewisse Kreise seit den 1980er Jahren ganze Arbeit in Sachen Desinformation geleistet. Sie haben die Unwahrheit verbreitet, dass das Wort „Neger“ ein abwertendes Wort gewesen wäre. Sie vermeiden außerdem konsequent, das Wort explizit auszusprechen, und sprechen statt dessen ständig vom „N-Wort“. Damit vermischen und verwirren sie aber das neutrale deutsche Wort „Neger“ mit dem amerikanischen N-Wort, das schon immer eindeutig abwertend gemeint war. Solche verwirrten Meinungen sind heute im real existierenden Wissenschaftsbetrieb vorherrschend.

Auf diese Desinformation ist im März 2023 offenbar eine Ulmer Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund hereingefallen. Sie glaubte tatsächlich, dass das Wort „Neger“ abwertend gemeint sei. Die „Urdeutschen“ wissen alle, dass das nicht der Fall ist, denn sie oder ihre Eltern haben das Wort bis in die 1980er Jahre völlig wertfrei benutzt. Aber die Deutschlehrerin mit Migrationshintergrund konnte das nicht wissen, weil sie und ihre Eltern in den 1980ern noch nicht in Deutschland lebten. (Oder sie verdrängte die Wahrheit, denn sie ist zugleich eine politische Aktivistin der bekanntlich recht einseitig ausgerichteten „Black Lives Matter“-Bewegung.) Also unterstellte sie dem Autor Wolfgang Koeppen und überhaupt der deutschen Gesellschaft insgesamt Rassismus. Sie mag es gut gemeint haben, aber sie hat natürlich vollkommen Unrecht.

Wir, die wir das Wort selbst noch wertfrei und deshalb völlig ohne Bedenken gebrauchten, kennen die Wahrheit aus eigenem Erleben. Aber man kann es auch belegen: Denn wenn man tatsächlich den Maßstab anlegen würde, dass das Wort „Neger“ wie das amerikanische N-Wort ein rassistisches Wort war, dann wären auch die edelsten Geister der letzten Jahrhunderte allesamt üble Rassisten gewesen, denn das Wort findet sich querbeet in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Insbesondere auch erklärte Gegner des Rassismus gebrauchten natürlich das Wort „Neger“, um jene Menschen zu bezeichnen, die sie in Schutz nahmen.

Es macht Sinn, das Wort „Neger“ heute nicht mehr zu verwenden, um Missverständnisse zu vermeiden. Aber im nachhinein sämtliche historischen Verwendungen des Wortes für rassistisch zu erklären, ist einfach nur falsch.

PS 25.01.2024

Weil es schon länger her ist, dass ich das Buch gelesen hatte, und weil die öffentliche Debatte unter dem „N-Wort“ derzeit unterschiedslos sowohl das N-Wort als auch das Wort „Neger“ subsumiert, ist mir gar nicht aufgefallen, dass der Roman neben dem Wort „Neger“ an einigen Stellen tatsächlich auch das N-Wort enthält. Aber auch das ist völlig in Ordnung, weil der Roman an diesen Stellen ganz offensichtlich rassistische Sprache wiedergeben will, wie sie nun einmal ist.

An dem Umstand, dass ich irrigerweise dachte, die Debatte ginge ausschließlich um das Wort „Neger“, kann man erkennen, zu welchen unnützen Verwirrungen diese Sprechverbote führen. Abgesehen davon, dass sie einfach nur überflüssig sind und dazu führen, dass man gar nicht mehr weiß, worüber man eigentlich spricht, sind diese Sprechverbote auch noch kontraproduktiv: Denn durch das Sprechverbot erschafft man erst eine „Beleidigung“ für Schwarze, die es vorher nicht gab. Plötzlich gilt bereits die bloße Nennung des Wortes als Beleidigung, selbst wo der Kontext völlig klar macht, dass es nicht als Beleidigung gemeint ist.

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

J.J. Abrams und Doug Dorst: S. – Das Schiff des Theseus, von V.M. Straka (2013)

Wirklich ein intelligentes Buch – mit Potential zum Kultbuch

— — — Was den Leser zunächst erwartet — — —

Der Leser hat mit dem Buch „Das Schiff des Theseus“ ein altes Bibliotheksexemplar dieses Werkes in der Hand. Der Autor nennt sich V. M. Straka. Es handelt sich um eine hochsymbolische Erzählung, die in allegorischer Form die Geschichte der Geheimorganisation S darstellt, und wie die Hauptperson S., die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern kann, zum ausführenden Arm dieser Organisation wird. In den einzelnen Kapiteln dieses Buches befinden sich außerdem teils verschlüsselte, teils im offenen Text versteckte Botschaften, die sich der Autor und seine Übersetzerin Kapitel für Kapitel gegenseitig zusandten.

Am Rand der Buchseiten dieses Bibliotheksexemplars befinden sich die Randnotizen der Studentin Jen und des Doktoranden Eric, die gemeinsam das Geheimnis von S ergründen, indem sie sich über diese Randnotizen austauschen. Diese Randnotizen sind nach vier verschiedenen Zeitebenen in vier verschiedenen Farbkombinationen gehalten. Hinzu kommen Einleger von Jen und Eric wie Briefe oder Postkarten, die im Zusammenhang mit den Randnotizen stehen.

Wer dieses Buch lesen will, sollte vor allem Geduld mitbringen. Notizen sind kein Muss, können aber helfen, den Überblick zu behalten (dafür gibt es aber inzwischen auch zahlreiche Internetseiten). Der Aufwand lohnt sich! Selten konnte der Leser eines Buches so unmittelbar erfahrbar an der Geschichte teilhaben.

— — — SPOILER-WARNUNG: Lese-Methode — — —

Um das Buch zu lesen, muss man zunächst das (gedruckte) Buch von vorne bis hinten lesen, und danach jeweils die Randnotizen mit den zugehörigen Einlegern mehrfach, je Zeitebene, von vorne nach hinten. Man kann aber z.B. auch die erste Zeitebene der Randnotizen zusammen bei der Lektüre des gedruckten Buches Kapitel für Kapitel mit erledigen. Es empfiehlt sich, die Information über die Farben der vier Zeitebenen der Randnotizen aus dem Internet zu besorgen, da sie sich dem Leser nur schlecht aus dem Kontext erschließen, zumal sich die verwendeten Farben der Zeitebenen teilweise überschneiden.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, muss der Leser bei der Lektüre dieses Buches so gut wie keine Rätsel lösen. Vielmehr schaut der Leser passiv dabei zu, wie die Protagonisten des Buches die Rätsel lösen. Das Buch ist also im Prinzip wie ein ganz normaler Roman zu lesen, nur dass die Lesereihenfolge der einzelnen Passagen kein einmaliges Durchlesen von vorne nach hinten erfordert, sondern ein mehrfaches Lesen von vorne nach hinten auf den verschiedenen Zeitebenen.

— — — SPOILER-WARNUNG: Inhalte — — —

Die symbolische Erzählung des gedruckten Buches handelt von S., der eines Tages ohne Erinnerung an seine Vergangenheit auf ein Schiff entführt wird. Auf diesem Schiff haben alle Matrosen bis auf einen zugenähte Münder. Das Schiff bringt S. zu verschiedenen Orten, wo er verschiedene Dinge erlebt und verschiedene Aufträge zu erfüllen hat. Das Schiff erneuert sich immer wieder, deshalb die Anspielung auf das „Schiff des Theseus“. (Und wegen Theseus und Ariadne; aber eine Anspielung auf die Rolle des Schiffs des Theseus beim Tod des Sokrates findet sich nicht.) – Der große Gegenspieler von S. ist der Waffenfabrikant Vévoda, der unbotmäßige Arbeiter verschwinden lässt, ein Massaker unter streikenden Arbeitern anrichtet, und eine neue Massenvernichtungswaffe entwickelt hat: Die Schwarzranke, oder Schwarzrebe. Sie tötet mit klebriger Tinte. Ebenso mit klebriger Tinte schreiben die Matrosen im Bauch des Schiffes endlose Texte, die sie bisweilen an Land bringen. S. wird auch zu verschiedenen Mordaufträgen geschickt, und auch Vévoda ermordet Mitglieder der Organisation S.

Diese symbolische Erzählung verschlüsselt eine echte Geheimorganisation von Schriftstellern von Anfang / Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich mit Vogelnamen tarnen und gegen den Waffenfabrikanten Bouchard zusammengetan haben. Mit ihm befinden sie sich in einem „Krieg der Erzählungen“. Während sie wie Enthüllungsjournalisten arbeiten bzw. Samisdat-Literatur verbreiten, hat Bouchard die Presse in der Hand, die die Menschen mit Tinte in Massen belügt. Die gegenseitigen Morde sind leider nicht symbolisch zu verstehen, sondern real. Bouchard kann auch einige Überläufer gewinnen. Straka und seine Übersetzerin FXC waren die Hauptpersonen von S.

Im Heute von Jen und Eric, 2012, scheint es ruhig um S. geworden zu sein, und nur noch wenige Literaturwissenschaftler wie Eric und sein Doktorvater Moody befassen sich mit V.M. Straka und seinen Werken, um die wahre Geschichte von Straka und der Organisation S zu ergründen. Als Jen und Eric Erfolge bei ihren Recherchen erzielen, werden ihnen plötzlich Steine in den Weg gelegt. Es entwickelt sich eine spannende Geschichte um Recherche, Widerstand und Liebe, gedoppelt auf der Zeitebene von Straka und FXC, sowie auf der Zeitebene von Jen und Eric.

Das Buch schlägt u.a. folgende Themen an:

  • Erwachsenwerden, Eltern, Kindheit, Studium, Job, seinen Weg finden, eine Identität bilden, eine Aufgabe finden.
  • Beziehungen aufarbeiten, Liebe finden, Stärken und Schwächen kennen, zusammenwachsen, gemeinsam etwas erschaffen.
  • Wie soll man in Welt etwas bewegen, bzw. kann man überhaupt etwas bewegen?
  • Soll man sein Leben für eine Aufgabe opfern? Oder soll man einfach nur sein Leben genießen? Oder etwas dazwischen?
  • Der Einfluss von Industrielobbies auf das Weltgeschehen, hier speziell die Rüstungsindustrie.
  • Geheimorganisationen als Möglichkeit, das Weltgeschehen zu beeinflussen. (Man denke an: Freimaurer. Ku-Klux-Klan. Terrorgruppen. Kommunistische Partei.)
  • Krieg der Erzählungen, Worte als Waffe.
  • Literarische und philologische Analyse von Texten: Sehr gut.
  • Konstruktion und Dekonstruktion von Identität durch Erzählen.
  • Wahrnehmung von Zeit, das Vergehen des Lebens.

Es gibt eine ganze Reihe von Running Gags in diesem Buch, die teils anspielungsreich sind, teils geheimnisvoll bleiben, so z.B.:

  • Immer wieder taucht die Zahl 19 auf.
  • Vögel tauchen immer wieder auf, Chiffren für die S-Mitglieder.
  • Überall findet sich das Symbol „S“, und man weiß nicht, wie es dahin kam.
  • Sola, die Geliebte von S., taucht immer wieder auf, bleibt jedoch unerreichbar.

Das große Fazit am Ende des Buch ist die Erkenntnis, dass die Liebe im Zweifelsfall wichtiger ist als die „Sache“. Einen Beweis für die Identität Strakas haben Eric und Jen bis zum Schluss nicht gefunden, sie arbeiten aber weiter daran. Solange sie sich lieben, ist der Weg das Ziel.

— — — Bewertung — — —

Dieses Buch ist ein Volltreffer! Das originelle Buchkonzept lässt den Leser haptisch an der Story teilhaben, wie es nur ein echtes, gedrucktes Buch bieten kann. Es geht um eine düstere Story und zwei junge Leute, die nicht nur ein vergangenes Geheimnis, sondern auch das Leben und die Liebe erkunden. Der Leser ist in akuter Gefahr, sich in dieser Welt zu verlieren und paranoid zu werden: Dieses Buch hat das Potential zu einem Kultbuch! Die Welt scheidet sich fortan in Menschen, die es gelesen haben, und solche, die es nicht gelesen haben.

Es werden eine Menge Themen auf intelligente Weise bearbeitet. Hier wird Bildung auf interessante und vergnügliche Weise geboten! Und zwar eine Bildung, die den Menschen als ganzes erfasst, in allen Facetten seines Daseins. Eine wahrhaft humanistische Bildung. Unbedingte Leseempfehlung! Jedoch mit einem deutlichen Caveat, siehe die Kritik.

— — — Kritik — — —

Zunächst: Keine nennenswerte Kritik sollte man an dem Umstand üben, dass die Geheimorganisation S offensichtlich eine „linke“ Gruppierung ist. Straka versteht sich zwar nicht als Kommunist (S. 222), hat aber Sympathien für Trotzki (S. 363). Die Stoßrichtung der Organisation ist simpel gegen Kapitalismus und Waffenhandel und für die Arbeiterschaft. Das ist nicht per se kritikwürdig, denn irgendeine Geheimorganisation musste es nun einmal sein, und da ist jede auf ihre Weise einseitig. „S“ könnte man übrigens auch als Chiffre für „Sozialismus“ lesen. So konkret wird das Buch aber an keiner Stelle.

Sehr kritikwürdig ist hingegen der Umstand, dass die „andere“ Seite, der Bösewicht Bouchard, allzu simpel gezeichnet wird. Hier hätte man sich mehr von jener Lebensweisheit gewünscht, dass jede Seite einen Zipfel der Wahrheit in Händen hält. Die Menschlichkeit der „anderen“ Seite bleibt völlig unterbelichtet. Sie wird nur an wenigen Stellen thematisiert (Suizid der Ehefrau von Bouchard; Liebe unter Agenten).

Sehr kritikwürdig ist, dass die Geheimorganisation S mordet. Denn immerhin zeigen die Protagonisten Jen und Eric klare Sympathien für Straka und FXC. Das wäre völlig in Ordnung, wenn S wirklich nur einen „Krieg der Erzählungen“ geführt hätte. Ein Kampf mit den Mitteln des Wortes und der Überlegenheit der Intelligenz. Sympathie für diese Methode des Kampfes, und für die Tatsache an sich, dass man für irgendetwas kämpft, ist immer angebracht. Aber S begann auch zu morden. Damit hat S sich nicht nur von den Prinzipien des Humanismus abgewandt, sondern zudem auch die Intelligenz verraten, denn man tötet die Hydra nicht, indem ihr einige Köpfe abschlägt.

Damit weckt dieses Buch Sympathien für eine höchst einseitige „Sache“, und senkt bei den Lesern zugleich die Hemmschwelle, auch Mord als politisches Mittel zu begreifen. Denn eine klare Absage an Straka aufgrund seiner Morde findet sich in diesem Buch nirgends. FXC formuliert sogar den unglaublichen Satz, dass solche Dinge zwar vorgekommen seien, dass sie aber darüber hinweggesehen habe (S. 300). Und die Sympathie von Jen und Eric für FXC und Straka bleibt ungebrochen. – Mit diesem anti-humanistischen mindset sind einst die linksradikalen Massenmörder um Pol Pot von westlichen Universitäten (namentlich Paris) nach Kambodscha aufgebrochen, um dort ihr ideologisches Werk in den Killing Fields zu beginnen. Auch bloße Worte können reale Folgen haben, deshalb klarer Widerspruch!

Ebenfalls kritikwürdig sind einige Passagen, in denen behauptet wird, wir könnten uns selbst völlig frei definieren. Wir seien die Erzählungen, die wir über uns erfinden (S. 430 Brief Jen, S. 452, u.a.). Hierzu gehört auch der völlige Gedächtnisverlust von S. am Anfang der Geschichte, mit dem er zu leben lernt. Dabei handelt es sich offenbar um die im linken Milieu der US-Universitäten verbreitete Ideologie des Poststrukturalismus [Postmoderne; 29.09.2023]. Auch das ist eine Einseitigkeit, die man von zwei Seiten her hätte beleuchten sollen. Den meisten Lesern wird es aber kaum aufgefallen sein.

Die Umsetzung des Buchkonzepts ist teils etwas unglücklich. Die verschiedenen Zeitebenen erschließen sich nicht so einfach, zumal für verschiedene Zeitebenen teilweise dieselbe Farbe verwendet wird. Auch der Code des 10. Kapitels ist nicht wirklich einfach zu knacken. – An einigen Stellen wurde die falsche Schriftfarbe verwendet, so dass es kleine Brüche in der Chronologie der Ereignisse gibt. Insbesondere die Schriftfarben der Postkarten verwirren. – Das alles berührt das Lesevergnügen aber nur am Rande.

— — — Anschlussempfehlung — — —

Ein gutes, aber einseitiges Buch darf legitimerweise mit einer ebenso einseitigen, guten Buchempfehlung gekontert, nein besser: ergänzt werden, nämlich mit „Atlas wirft die Welt ab“ von Ayn Rand. Auch in diesem Buch geht es um eine Geheimorganisation, deren Umfang und wahres Ziel sich erst im Laufe einer spannenden Geschichte enthüllt. Auch diese Geheimorganisation verwendet antike Chiffren, doch anders als S mordet diese Geheimorganisation nicht, sondern hat einen genialischen Plan, sich der „anderen“ Seite zu erwehren. Doch die Akteure sind nicht „links“, sondern im Gegenteil Unternehmerpersönlichkeiten (übrigens auch Frauen, während S ziemlich patriarchalisch erscheint), die sich gegen die Zerstörung von Wohlstand und Gerechtigkeit durch linke Akteure zur Wehr setzen! Natürlich: Auch hier liegt die Schwäche des Buches in der Einseitigkeit. Doch wer von S redet, kann zu Atlas nicht schweigen. Die Ähnlichkeiten von S und Atlas sind so groß, dass man sich fragt, ob Abrams und Dorst sich ihre Inspiration für S bei Ayn Rand geholt haben?

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21.01.2019)

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

„Werther für Erwachsene“ – Starker Anfang, starkes Nachlassen, interessante Nebenthemen

Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ von 1809 handelt vom Wechselspiel der Gefühle in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen; wie sie sich zu Paaren finden, oder wieder lösen, um sich in anderer Kombination neu zu verbinden, und welche subtilen und teils romantischen, teils unromantischen Antriebe und Motive hinter all dem stecken.

Im ersten Drittel geht es sehr subtil zu, und das ist auch der starke Teil des Romans: Im Zentrum steht das Paar Eduard und Charlotte, die glücklich verheiratet auf einem Schloss wohnen. Doch bereits das Zustandekommen dieser Idylle war nicht geradlinig: Schon als Jugendliche waren sie einander zugetan, dann aber in andere Ehen gekommen, und nur das Schicksal hat es ihnen erlaubt, am Ende doch noch zusammen zu kommen. Dabei hatte Charlotte jedoch zunächst versucht, Eduard mit ihrem jüngeren Patenkind Ottilie zu verkuppeln. Doch Eduard hatte nur Augen für Charlotte, und so kam diese scheinbar perfekte Ehe zustande.

Als Eduard seinen Freund, einen Hauptmann, und Charlotte Ottilie zum dauerhaften Mitwohnen in ihr Schloss einladen, kommt es zu weiteren Wechselfällen der Gefühle: Eduard und Ottilie fühlen sich zueinander hingezogen, und ebenso Charlotte und der Hauptmann. Dabei sind Eduard und Ottilie die eher schlichteren Gemüter, während Charlotte und der Hauptmann sich an Feinsinnigkeit gleichen, und über Eduard und Ottilie lächeln. Dem entsprechend verfallen Eduard und Ottilie ihren Leidenschaften, während Charlotte und der Hauptmann ihre Beziehung platonisch halten.

Der Roman verflacht zusehends, als die Leidenschaft zwischen Eduard und Ottilie irrational aufflammt und gewissermaßen kindisch wird, und bis zum Ende des Romans nicht mehr zur Vernunft kommt, sondern sich auf eine unnötige Weise zu einer überromantischen Tragik steigert. Gegen Ende stört es einfach nur noch, und man möchte nur noch möglichst schnell zum unvermeidlichen und offensichtlichen Ende kommen, wenn die „heilige“ Ottilie sich endlich entschlossen zu haben scheint, auf Eduard zu verzichten, und sie diesen Entschluss dann doch wieder über den Haufen wirft, aber auch das wieder nicht richtig. Oder wenn Charlotte auf die Gefühle von Eduard und Ottilie eine Rücksicht nimmt, die sie nicht verdient haben, die ihnen auch nicht gut tut, und die Charlottens eigenes Schicksal völlig unterpflügt. Das ist dann kein subtiles Seelenleben mehr, sondern Kitsch und Unvernunft. Das ist dann wieder „Werther für weniger erwachsene Leser“, und man fragt sich, warum Goethe seinem Roman diese Wendung gegeben und den größeren Teil seines Romans auf solche Geschehnisse verwendet hat. Hatte er nicht immer darunter gelitten, vor allem als der Autor des „Werther“ zu gelten? Wirklich entfernt davon hätte er sich mit dem größeren Teil dieses Romans nicht.

Vielleicht handelt es sich bei den „Wahlverwandtschaften“ wie bei „Wilhelm Meister“ um einen Roman ohne geradlinigen Plot, der sich spontan und wenig planvoll entwickelt hat, und bei dem zeitweise manches Nebenthema wichtiger wird als die Handlung selbst, so dass sich die Handlung der Präsentation eines Nebenthemas unterordnen muss?

Folgende Nebenthemen werden behandelt:

  • Landschaftsgartenbau. Gärtnerei. Architektur. Wandmalerei. Der Hauptmann. Der Architekt. Der Gärtner.
  • Chemie: Von hier kommt der Begriff der „Wahlverwandtschaften“, der sich in der damaligen Chemie auf Stoffe bezog, die sich einander unwillkürlich anzogen, deshalb aus vorhandenen Bindungen lösten, und miteinander eine neue Bindung eingingen.
  • Diskussion um die Institution der Ehe. Der Graf und die Baronesse. Mittler. Es ist keineswegs ausgemacht, was genau die Meinung Goethes ist.
  • Erziehung. Gebote statt Verbote. Der Gehülfe aus der Pension. Mittler.
  • Gesellschaftliches Leben. Frechheit siegt. Die Tochter Charlottens.
  • Übernatürliche Empfindungen. Wunderglaube. Pendeln. Nanny. Der Begleiter des Lords.
  • Diverses: Tableaux vivants. „Dunkle Kammer“ zur Zeichnung von Landschaftsbildern.

Fazit

Das erste Drittel ist ein starker Einblick in das subtile Seelenleben der Menschen. Die Nebenthemen sind interessant. Es ist jedoch kein runder Roman. Die Stärke des ersten Drittels wird den Roman über nicht durchgehalten, und das Abdriften der Handlung ins allzu Romantische, Irrationale, Kitschige stört den guten Eindruck aus dem ersten Teil doch sehr.

Man beachte: Der Roman ist keinesfalls ein Plädoyer für Beliebigkeit und Laisser-faire, als der er von weniger gebildeten Menschen gerne verstanden wird.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2022)

Patrick Tschan: Schmelzwasser (2022)

Ein fürchterlich verunglücktes Buch

Dieser Roman will anhand der Geschichte der Überlinger Buchhändlerin Eleonore Weber (1900-1992), die 1947 ihre überregional bekannte Buchhandlung eröffnete, einen Einblick geben, wie die deutsche Gesellschaft nach 1945 den nationalsozialistischen Ungeist zurückdrängte und in die Zeit von 1968 aufbrach. Doch leider ist dieses Vorhaben gründlich missglückt.

Es beginnt damit, dass der Roman völlig ahistorisch ist. Mit der Anlehnung an die Person von Eleonore Weber wird Historizität angedeutet, doch in Wahrheit ist der Roman fast vollständig frei erfunden. Die historische Person Eleonore Weber wird völlig verfehlt. Warum dann nicht gleich völlig frei erfinden? Nicht einmal als Lokalroman für die Stadt Überlingen taugt das Buch, denn auch die Stadt Überlingen bleibt mit einigen spärlichen Anspielungen seltsam blass. Es geht eher um irgendeine imaginierte deutsche Kleinstadt als um Überlingen. Hinzu kommt die Verfremdung durch Pseudonyme: Eleonore Weber heißt in diesem Roman „Emilie Reber“. Der Name der Stadt bleibt ungenannt. Warum dieses Versteckspiel? Und aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wird die „Sozialistische Partei Deutschlands“ (S. 283): Das ist fast schon eine Schändung der Tradition der SPD.

Auch die Handlung ist leider sehr unrealistisch. Man hat das Gefühl, es mit Stehaufmännchen zu tun zu haben. Den Protagonisten gelingt im Grunde immer alles, es sind Tausendsassas ohne Charakter. Und wenn sich die Buchhändlerin Emilie Reber in der Überlinger Stadtgesellschaft unbeliebt gemacht hat, dann ändert sie einfach die Strategie und schon ist sie wieder obenauf – in der Realität würde das nicht so funktionieren. Im Hintergrund steht dabei immer die französische Besatzungsmacht, die Emilie Reber eine besondere Macht über ihre schuldigen Mitmenschen verleiht. Das ist eine sehr unwirkliche Situation (und auch moralisch etwas fragwürdig.) Man könnte versuchen, diese unwirkliche Handlung symbolisch zu lesen. Aber dafür ist das Buch wieder nicht symbolisch genug.

Die Unglaubwürdigkeit setzt sich damit fort, dass die Realität der Nachkriegszeit völlig verfehlt wird. In diesem Buch gibt es auf der einen Seite eine durch und durch schuldig gewordene und eisern schweigende deutsche Gesellschaft, angeführt von einer Reihe alter Nazis, die so alt und so dumpfbackig sind, wie es nur eben geht. Dem gegenüber stehen junge, weibliche, dynamische „Aufklärer“, die die Gesellschaft aufmischen. Eine klare Polarität. So war es aber nicht. Die Schuld am Nationalsozialismus war in der deutschen Gesellschaft sehr ungleich verteilt, dazu gleich mehr. Und so mancher Nazi war jung, clever, elegant und unangenehm anpassungsfähig. Im Roman fehlt z.B. auch die katholische Kirche in Form eines Stadtpfarrers oder der katholischen Jugend völlig. Die Kirche spielte in Baden sowohl im als auch nach dem Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Auch das Handeln der Franzosen als Besatzungsmacht wird an keiner Stelle kritisch hinterfragt. Die Rollen von Gut und Böse sind in diesem Roman so klar verteilt, dass es weh tut. Wer sich für die Nachkriegszeit interessiert, sollte besser „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen. Koeppen hat diese Zeit selbst miterlebt und beschreibt sie sehr realistisch. Auch was die Stimmung anbelangt: Dort findet man viele kleine und große Sorgen der Menschen, serviert mit erstaunlich viel Humor, und von Schuldgefühlen eher keine Spur. „Aufklärer“ sind in der Nachkriegsgesellschaft eines Wolfgang Koeppen völlig überflüssig.

Neben die unrealistische Zeitdiagnose wird eine unrealistische Therapie gesetzt: Dieser Roman glaubt allen Ernstes, den Nationalsozialismus mit „Literatur, Musik, Mode, Frisuren, Aufklärung, Sex“ überwinden zu können, so heißt es wortwörtlich (S. 210). „Aufklärung“ meint dabei Sexualaufklärung, nicht philosophisch-politische Aufklärung. Hannah Arendt oder Thomas Mann werden zwar genannt, aber die Inhalte ihrer Werke bleiben in diesem Roman stumm: Dabei wäre hier viel Gutes zu finden gewesen. Statt dessen treten die „Aufklärer“ des Romans den Rechtsstaat, den sie angeblich aufbauen möchten, mit Füßen, indem sie das Briefgeheimnis wiederholt und systematisch brechen, um Nazis zu bekämpfen. Am Ende wird sogar ein Mord am Obernazi des Romans als finale Erlösungstat angedeutet, denn er wird in seinem Rollstuhl bei Nacht und Nebel hinaus aufs Eis des Bodensees geschoben (und ward danach wohl nie mehr gesehen; das bleibt aber ungesagt).

Es kommt hinzu, dass die „Aufklärung“ der kleinstädtischen Gesellschaft erstaunlich kommerziell verläuft. Die Protagonisten des Romans verkaufen ständig irgendetwas: Sie verkaufen Taschenbücher, Frisuren, Jeans, Beate-Uhse-Kataloge, Musik und Eintrittskarten in die Disko, wo dann wieder Getränke verkauft werden. Auch das große Konzert am Ende des Romans hat einen genau bezeichneten Eintrittspreis, nämlich 5 DM, und die örtlichen Vereine verkaufen Bratwurst und Getränke, wie sorglich vermerkt wird. Und die Protagonisten loben sich gegenseitig mehrfach für ihren Geschäftssinn. Natürlich, nicht selten gehen Fortschritt und Kommerz Hand in Hand. Aber diese Einseitigkeit hat doch ein Gschmäckle.

Was die Schuld der Deutschen anbelangt, wiederholt dieser Roman doch tatsächlich das ewig falsche Mantra, dass jeder von dem kommenden Unheil durch die Nationalsozialisten hätte wissen können und deshalb jeder voll schuldig sei: Jeder Deutsche also ein vollschuldiger Massenmörder (S. 301). Man denke aber nur, wie kurzsichtig und oberflächlich die große Masse der Wähler auch heutzutage politische Fragen beurteilt: Es ist unrealistisch, allzu hohe Forderungen an die Masse der Menschen zu stellen. Zwar gibt es eine gewisse Schuld auch bei den „kleinen“ Leuten, doch sie ist meist klein oder auch gar nicht vorhanden. Die Hauptschuld ist natürlich vor allem bei den „Vorbetern“ der Gesellschaft zu suchen. Abgesehen davon, dass die NSDAP in den letzten Wahlen vor der Machtergreifung nicht 100% sondern 33% erzielte, und selbst nach der Machtergreifung bei ungebremster Propaganda und Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nur auf 43,9% kam. Die badischen Wahlergebnisse bewegten sich dabei ziemlich genau im Durchschnitt Gesamtdeutschlands. Der Überlinger Lokalhistoriker Oswald Burger, den Patrick Tschan als eine seiner Quellen anführt, urteilt: „Ein Nazinest war Überlingen vor 1933 allerdings eindeutig nicht.“

Zumal sich die Frage stellt, was es denn genau ist, was man vorher über die Verbrechen der Nationalsozialisten hätte im voraus wissen können, vorausgesetzt, man wäre intellektuell wach gewesen. Es sei an Hannah Arendt erinnert, die als verfolgte Jüdin und Intellektuelle am ehesten in der Lage hätte sein sollen, Dinge vorauszusehen. Doch als 1945 die Nachrichten aus den KZs in die Zeitungen kamen, brauchte sie eine gewisse Zeit, um zu begreifen, dass der Holocaust keine alliierte Propaganda sondern Realität war. Wenn Hannah Arendt Schwierigkeiten hatte, die Monstrosität des Nationalsozialismus im nachhinein zu begreifen, wie soll es dann der Otto-Normal-Deutsche im vorhinein hätte sehen können? Die Schuldfrage wird in diesem Roman ganz platt und falsch behandelt, wie wenn alle Deutschen bei einer freien und geheimen Volksabstimmung mit einem willentlichen und wissentlichen „Ja“ explizit für die massenhafte Ermordung von Menschen gestimmt hätten. Das ist grotesk. Die komplexe Realität der Schuldfrage wird von diesem Roman vollkommen verfehlt.

Weiter tischt dieser Roman die uralte Lüge auf, dass der Nationalsozialismus ganz dem jahrhundertealten deutschen Wesen entsprochen habe, das im Nationalsozialismus lediglich zu seiner reinsten Form kulminiert sei. Zitat: „Seit Generationen werden in diesem Land Menschen gedemütigt, gefügig gemacht, abgerichtet. Wie Sie. Weitergegeben von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Wie bei Ihnen. Das ist das Wesen dieses Landes, das Europa zweimal in den Abgrund geführt hat. Millionen und Abermillionen Tote wegen dieser Zucht: demütigen, gehorchen, die nächsten demütigen, zum Kadavergehorsam, zu Maschinen wie Sie erziehen, in den Krieg schicken und so weiter und so weiter.“ (S. 301 f.) „Und dass alle diese Eichmanns in diesem Land das Resultat einer Erziehung zum Kadavergehorsam durch Demütigung und Strafen sind, die seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben worden ist. Er sei genauso eine Ausgeburt deutscher Zucht, die stets gedankenlos den noch Schwächeren tritt.“ (S. 304)

Die Idee, dass das Wesen des Deutschen „seit Jahrhunderten“ in „deutscher Zucht“ zum „Kadavergehorsam“ bestünde, die „stets“ gedankenlos den noch Schwächeren tritt, ist einfach nur Quatsch. Man versuche mal Goethe und Schiller mit dieser Idee im Hinterkopf zu lesen. Oder Immanuel Kant und Friedrich den Großen. Kadavergehorsam gab es in der SS, in der Tat. Aber schon in der Wehrmacht sah es anders aus, und das mitten im Nationalsozialismus. Selbst Wikipedia weiß es besser: „In Wirklichkeit setzt gerade die vom preußischen und deutschen Militär (unter anderem in beiden Weltkriegen) sehr erfolgreich umgesetzte Auftragstaktik das Gegenteil von Kadavergehorsam voraus.“ Der Nationalsozialismus war nur eine Karikatur des wahren deutschen Wesens, wenn überhaupt. Den Nationalsozialismus als höchste Manifestation des deutschen Wesens zu beschreiben, ist ein sehr, sehr radikaler Standpunkt, dessen logische Konsequenz die Auslöschung von allem ist, was deutsch ist. Nur weniger gebildete Menschen vertreten solche Thesen. Gebildete Menschen hingegen hätten nicht nur Goethe und Schiller gelesen, sondern wüssten z.B. auch, dass die Frage nach der Kriegsschuld beim Ersten Weltkrieg, der von Patrick Tschan hier in einem Atemzug mit dem Zweiten Weltkrieg genannt wird, sehr differenziert betrachtet wird. Wer glaubt denn heute noch daran, dass der „verrückte Kaiser Wilhelm“ und die „kadavergehorsamen Deutschen“ die volle und alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg tragen?

Aber damit nicht genug. Dieser Roman schöpft den Brunnen der Peinlichkeit voll aus. Nicht nur das deutsche Wesen, auch Preußen wird klischeehaft in die Pfanne gehauen. Angeblich hätte Preußen nach der Niederschlagung der badischen Revolution von 1849 überall in Baden „Statthalter“ eingesetzt. So z.B. auch den Vorfahren des Roman-Obernazis, der ein Überlinger Landgut erhalten hätte, das zuvor einem Revolutionär gehört hätte. Diese Obernazi-Familie hätte von 1849 durchgehend bis in den Nationalsozialismus hinein Überlingen mit Kadavergehorsam beherrscht (S. 296). Und der alte Obernazi hätte noch in den 1920er Jahren seinen Sohn „nach alter preußischer Schule“ (S. 291) Spießruten laufen lassen. Die „Kaiserzeit“ wird wiederholt negativ genannt.

Auch das ist alles ganz falsch und unhistorisch. Preußen hat gewiss keine „Statthalter“ in Baden eingesetzt, sondern Preußen hatte Baden für ein gutes Jahr komplett militärisch besetzt. Später wurde Baden durch eine dynastische Beziehung des badischen Prinzregenten Friedrich mit der preußischen Prinzessin Luise (ab 1855) an Preußen gebunden. Es gab auch nie ein Spießrutenlaufen „nach alter preußischer Schule“. Das Spießrutenlaufen war im Zeitalter des Absolutismus überall in Europa verbreitet und kein preußisches Spezifikum. Im Gegenteil. Preußen schaffte das Spießrutenlaufen als eines der ersten Länder im Jahr 1806 ab. In süddeutschen Ländern geschah dies erst viel später, z.B. in Württemberg erst 1818, in Österreich sogar erst 1855. Und der reale Überlinger Obernazi, Kreisleiter Gustav Robert Oexle (1889-1945), war kein preußischer Gutsbesitzer, sondern stammte aus einer Tagelöhnerfamilie. Romanautor Patrick Tschan muss das gewusst haben, denn den Motorradunfall von Zänglers Sohn im Roman und dessen Bestrafung nach 1945 hat er sichtlich dem realen Motoradunfall von Oexles Nachfolger Ernst Bäckert nachempfunden. Zuguterletzt sei an die Autobiographie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki erinnert: Darin kommt Reich-Ranicki immer wieder mit lobenden Worten auf das preußische humanistische Gymnasium zu sprechen. Wer aber nur Patrick Tschans Roman gelesen hat, wird gar nicht verstehen, wie man „Preußen“ und „Humanismus“ in einem Atemzug nennen kann.

Fazit

Für ein Buch des Jahres 2022 hätte man sich wahrlich mehr Gedankenreichtum über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewünscht. Wir wissen inzwischen, dass die Aufarbeitung im Zuge von 1968 so ihre Probleme hatte. Johannes Gross prägte das Wort: „Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Es ist viel Ungerechtigkeit der damaligen Generation gegenüber geschehen, und es wurde oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es musste immer gleich alles, was deutsch oder preußisch ist, dran glauben. Ein Unding! Abgesehen davon, dass es sachlich falsch ist, stellt sich zudem die Frage, wie man mit einer solchen Einstellung jemals wieder ein Land namens Deutschland aufbauen soll? Eine konstruktive Vision für Deutschland und die deutsche Kultur außer Sex und Jeans und Rock’n’Roll findet sich in diesem Roman nicht. Das hätte man von einem Roman aus dem Jahr 2022 aber erwarten können. Das Rad der Geschichte hat sich inzwischen doch deutlich weitergedreht.

Dieser Roman verrät mehr über den Zeitgeist des Jahres 2022 in einem bestimmten linken „juste milieu“ als über die wahren Vorgänge der Nachkriegszeit. Denn dieser Roman tut nichts anderes, als die infantilen Phantasien linker Spätgeborener, die geistig irgendwo in den 1980er Jahren stehen geblieben sind, in die Vergangenheit zu projizieren. Dieser Roman ist schrecklich falsch: Literarisch falsch. Historisch falsch. Politisch falsch. Es ist kein Wunder, dass dieser Roman sich nicht an der historischen Realität orientieren konnte sondern fast alles frei erfinden musste: Denn dieser Roman ist die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Phantasie, die mit der Realität nichts zu tun hat. Historizität wird nur vorgetäuscht. Der Roman hätte statt „Schmelzwasser“ auch den Titel „Li-La-Lustiges Nazi-Bashing mit Claudia Roth und Greta Thunberg“ tragen können. In die Tonne damit!

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 07. Oktober 2022)

Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)

Kommunistisches Zerrbild der NS-Verfolgung – dennoch lesenswert

In Anna Seghers Roman „Das Siebte Kreuz“ geht es um einen Kommunisten namens Georg Heisler, der mit sechs Mithäftlingen aus einem KZ bei Mainz ausbricht und quer durch die Rhein-Main-Region flieht, bis ihm schließlich die Flucht aus Deutschland mithilfe von ehemaligen Genossen gelingt, während die anderen sechs wieder gefangen genommen und an für diesen Zweck vorbereitete „Kreuze“ geschlagen werden: Das siebte Kreuz aber bleibt leer, die Diktatur ist nicht unbesiegbar. – Georg Heisler begegnet auf seiner Flucht den Deutschen in ihrem Alltag im Nationalsozialismus und erlebt, wie sie sich mit der Diktatur arrangieren und wie sie sich verhalten, wenn sie vor eine risikoreiche Gewissensentscheidung gestellt werden. Von der inneren Emigration über gedankenloses Mittun in der Diktatur bis hin zum überzeugten Nazi ist alles vertreten.

Kritik

Der Roman zeigt Kommunisten nur von ihrer Schokoladenseite, d.h. als idealistische Kämpfer mit einem ungebrochenen humanitären Anspruch. Doch das ist grober Unfug.

  • Seghers stellt Kritik an Stalins Sowjetunion (wo Millionen verfolgt wurden und sterben mussten) als dummes Nachgeplapper von antikommunistischer Propaganda hin (S. 239).
  • Seghers begann diesen Roman 1938 in Frankreich zu schreiben, also genau in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, der u.a. zur Folge hatte, dass die Kommunisten in Frankreich den Einmarsch der Deutschen unterstützten. Aber kein Wort davon im Roman.
  • Viele sehen eine Quintessenz des Romans darin, dass Heisler im Gegensatz zu den anderen sechs Geflohenen die Flucht gelang, weil er Hilfe von seinen Genossen bekam. Da erhebt sich aber die Frage, warum die Genossen nur den Genossen halfen? Wäre es nicht human gewesen, wenn sie jedem geholfen hätten, ob Genosse oder nicht?
  • Mehrfach wird der Traum beschworen, nach Spanien zu fliehen, und dort im Spanischen Bürgerkrieg mitzukämpfen. Aber auch dort zeigte der Kommunismus seine hässliche Seite: Massenhaft Morde an Zivilisten, Morde z.B. an Priestern nur weil sie Priester waren, Morde an „Verrätern“, und überhaupt der Kampf nicht etwa für eine „Republik“, wie es oft heißt, sondern natürlich für die Diktatur, eben für eine kommunistische Diktatur. Auch Genosse Erich Mielke ging einst nach Spanien, nachdem er in Deutschland zwei Polizisten ermordet hatte, und begann dort seine Karriere als Stasi-Schnüffler, indem er „Verräter“ ans Messer lieferte.
  • Die überzeugte Kommunistin Anna Seghers floh 1941 nach Mexiko. In Mexiko wurde aber nur ein Jahr zuvor der kommunistische Dissident Leo Trotzki von den Häschern Stalins aufgespürt und brutal ermordet. Seghers schrieb da immer noch an diesem Buch. Hätte die Sensibilität einer Literatin nicht dazu führen müssen, dass sich diese Untaten im Namen des Kommunismus irgendwie in ihren Werken niederschlagen?

Kurz: Als Demokrat, der dem antitotalitären Grundkonsens verpflichtet ist, und ausnahmslos jede radikale Ideologie ablehnen muss, kann man diesen Roman nicht wirklich ernst nehmen. Da bekommt man also vorgeführt, wie die Genossen sich gegen eine inhumane Verfolgung wehren und sich als Idealisten rühmen, aber in Wahrheit sind sie selbst zu genau derselben Verfolgung von politisch missliebigen Personen fähig und bereit und haben sie auch aktiv begangen: Tausendfach, millionenfach, in der Sowjetunion, in Spanien, in Deutschland, weltweit.

Die Widmung des Buches an alle „toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands“ klingt da wie reiner Hohn. Denn Erich Mielke ist da mitgemeint. Nicht zufällig spielte Anna Seghers in der stalinistischen DDR-Diktatur später eine wichtige Rolle. Die Schwere ihrer Schuld gegenüber den Opfern der DDR-Diktatur vernichtet jeden Anspruch von Anna Seghers auf eine humane Gesinnung.

Die Judenverfolgung spielt in diesem Roman übrigens eine erstaunlich harmlose Rolle. Ganz am Rande der Handlung erfährt man, dass mit einem jüdischen Arzt rücksichtslos umgegangen wird. Mehr aber nicht: Keine Verhaftung, kein Berufsverbot. Und man liest von jüdischen Tuchhändlern, die ihren Laden ausverkaufen und auswandern. Tatsächlich gab es in den 1930er Jahren zunächst „nur“ eine Diskriminierung, aber noch keine Verfolgung der Juden in Deutschland. Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden begann erst 1938. Also genau in dem Jahr, in dem Seghers ihren Roman zu schreiben begann! Hätte man da nicht erwarten können, dass Seghers das Schicksal der Juden etwas mehr bearbeitet? Im Roman sieht es so aus, als ob die Kommunisten die Hauptleidtragenden des Nationalsozialismus gewesen wären.

Es stimmt auch nicht, dass der Roman die ganze deutsche Gesellschaft in allen ihren Schichten abbildet, wie manche meinen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den kleinen Leuten, den Bauern, Schäfern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Umzugspackern und deren Ehefrauen, die fast immer Hausfrauen und sonst nichts sind. Die Mittelschicht wird höchstens gestreift. Die Oberschicht kommt nicht vor. Völlig abwesend sind auch Liberale und Konservative und deren Widerstand gegen die Diktatur. Man hört nichts von Christen, Monarchisten, Adligen, Gutsbesitzern, Beamten, Militärs und Unternehmern, die gegen den Nationalsozialismus sind. Man hört auch nichts von SPDlern, nichtkommunistischen Gewerkschaftern, Intellektuellen, Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern.

Das ganze Buch ist bei näherem Hinsehen ein viel zu simples Schwarz-Weiß: Auf der einen Seite die kleinen, „proletarischen“ Leute und die edelmütigen Kommunisten, auf der anderen Seite der Rest …. und der Rest zählt offenbar nicht, oder wird kurzerhand gleich ganz den Nazis zugerechnet. Dieses Zerrbild der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus ist völlig unakzeptabel!

Anna Seghers lebte von 1933 an im Exil. Das bedeutet, dass ihre Darstellung der Zustände im nationalsozialistischen Deutschland nicht auf ihre eigene, unmittelbare Erfahrung zurückgeht. Bei literarisch „aus der Ferne“ geschriebenen Werken besteht immer die Gefahr, dass Dinge verzerrt und über- oder auch unterzeichnet werden. Und wie wir sahen, ist bei Anna Seghers in der Tat eine ganze Menge verzerrt und über- bzw. unterzeichnet.

Es gibt wahrlich genügend Autoren, die ihre realen Erlebnisse schildern. Es wäre besser, sich an diese Autoren zu halten. Ein gutes Beispiel ist hier Françoise Frenkel mit ihrem bewegenden Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“: Eine jüdische Polin, die eine französische Buchhandlung in Berlin betrieb, vor den Nazis nach Frankreich floh, dort mit der Hilfe guter Menschen (nein, keine Kommunisten) der Verfolgung durch die französischen Behörden entkam und schließlich in die Schweiz fliehen konnte. Mit der Realität kann keine Fiktion mithalten.

Dennoch lesenswert

Es gibt dennoch gewisse Gründe, warum man dieses Buch lesen sollte:

  • Zunächst ganz einfach deshalb, weil das Buch heute vielgelesen und vielgerühmt ist. Man sollte wissen, was da gelesen und gerühmt wird. Das ist natürlich kein rühmlicher Grund, dieses Buch zu lesen.
  • Die Zeichnung des gehetzten Denkens eines Fliehenden und des vorsichtige Ratens und Ertastens, ob ein Gegenüber ebenso denkt wie man selbst und auch in Gefahr verlässlich ist, ist literarisch gut gelungen.
  • Die Zeichnung der kleinen Leute und ihres häufig sehr irrationalen Denkens und ihres oft eigenwilligen Arrangements mit der Obrigkeit ist literarisch gut gelungen und sehr lehrreich, allerdings unabhängig von der speziellen Situation der NS-Diktatur. Denn die kleinen Leute sind immer so, unabhängig von dem System, in dem sie leben. Sie machen auch Witze über andere Herrscher, und ducken sich gleichermaßen vor ihnen. Sie arrangieren sich auch mit der Demokratie nicht etwa deshalb, weil sie überzeugte Demokraten wären. Kleine Leute haben keine Überzeugungen von dieser Art. Dieses Denken der kleinen Leute wird von Anna Seghers recht gut eingefangen. Zum Vergleich könnte man etwa „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen lesen, das dieselben kleinen Leute unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zeigt. Sie machen immer noch ihre Witze, sie arrangieren sich immer noch, sie haben immer noch keine echte Überzeugung.

Aperçu: „Neger“-Debatte

Auch in Anna Seghers Buch „Das Siebte Kreuz“ taucht das Wort „Neger“ auf. Es dient zur Beschreibung der rußgeschwärzten Gesichter von Schweißern in einer Werkstatt, Zitat: „… Blicke, aus schrägen Augen, in denen sich die weißen Augäpfel drohend zu rollen schienen, wie die Augen von Negern, …“ (S. 331)

Interessanterweise ist aber noch niemand auf die Idee gekommen, dieses unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Political Correctness äußerst delikate Zitat aus diesem Buch tilgen zu wollen. Man vergleiche mit dem harmlosen „Negerkönig“ aus Pippi Langstrumpf. Ob es wohl daran liegt, dass Anna Seghers eine Säulenheilige der Linken ist?

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Juli 2018)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

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