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Julian Nida Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (2020)

Gelungene Werbeschrift in Sachen KI: Digitaler Humanismus statt Silicon-Valley-Ideologie

Dieses Büchlein behandelt in zwanzig kurzen Kapiteln die wesentlichen philosophischen und ethischen Fragestellungen rund um das Thema Künstliche Intelligenz (KI). Es ist für ein breites Publikum geschrieben und vermeidet deshalb konsequent trockene, abstrakte Ausführungen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Szene aus einem bekannten Hollywood-Film als Aufhänger und macht daran die Problematik und die richtige Antwort auf diese Problematik klar. Dieses Verfahren ist sehr gut gelungen: Der Leser gleitet leicht und unbeschwert von einer bekannten Filmszene in eine niveauvolle Argumentation hinüber, ohne dass es langweilig oder kompliziert würde. Nebenbei lernt man auch einige neue Aspekte der besprochenen Filme kennen, die einem bislang noch gar nicht aufgefallen waren.

Diese Filme sind u.a.: Blade Runner, Matrix, Star Wars, I Robot, Wall-E, Der Rasenmähermann, RoboCop, Ghost in the Shell, Iron Man, Ex Machina, Metropolis. Ganz kurz werden auch einige literarische Werke genannt, die das Thema berühren, so z.B. E.T.A. Hoffmanns Sandmann, Mary Shelleys Frankenstein oder der Golem von Gustav Meyrink.

Kernthesen

Die Kernthese des Buches ist: Der richtige Umgang mit Künstlicher Intelligenz besteht in einem „Digitalen Humanismus“ und nicht in der aktuellen Ideologie von führenden Protagonisten des kalifornischen Silicon Valley. Diese „Silicon-Valley-Ideologie“ ist durch eine ganze Reihe von philosophischen Irrtümern gekennzeichnet, die typisch amerikanisch sind: Einerseits ein übertriebener Pragmatismus und Machbarkeitsglaube, andererseits ein puritanischer Reinheits- und Erlösungsgedanke: Dieser lädt Technik mit Metaphysik auf, gewissermaßen als Ersatzreligion. Dadurch geraten wesentliche Aspekte des Humanismus unter die Räder, was fatal ist: Der Digitale Humanismus hält dagegen, indem er den klassischen Humanismus auf die Welt der Künstlichen Intelligenz anwendet und die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie aufzeigt.

Der Irrtum der „starken KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich ein Bewusstsein und menschliches Fühlen und Denken entwickeln könnte. Doch das ist auf der Grundlage deterministischer Computer-Systeme nicht möglich. Wer an eine „starke KI“ glaubt, müsste im Umkehrschluss glauben, dass auch der Mensch nur eine Maschine ist. Damit wird aber der Mensch entmenschlicht: Er wird nicht mehr als freies und vernünftiges Wesen betrachtet, dessen Autonomie zu respektieren ist.

Auch der Transhumanismus ist ein fundamentaler Irrtum. Es wird eine klare Absage an die Idee der sogenannten „Emergenz“ erteilt: Man kann auf einer deterministischen, physikalischen Basis keine höhere Schicht einer echten menschlichen Freiheit aufbauen. Der Mensch ist keine Maschine und kann sich nicht zu einer Maschine oder in eine Maschine transformieren. Die dem Transhumanismus zugrunde liegende Psychologie ist narzisstisch und regressiv. Letztlich ist es eine Art von kindischer Flucht vor der Realität, ein quasi-religiöser Eskapismus vor den Beschränkungen der conditio humana.

Der Irrtum der „schwachen KI“ besteht in dem Glauben, dass Künstliche Intelligenz zwar kein echtes menschliches Bewusstsein entwickeln, aber doch jede menschliche Regung beliebig gut simulieren kann. Doch erstens sind die heutigen Simulationen immer noch himmelweit von der menschlichen Realität entfernt, und zweitens ist auch eine täuschend echte Simulation nur eine Simulation, und keine Realität.

Die Irrtümer rund um das Delegieren von ethischen Entscheidungen an eine Künstliche Intelligenz sind vielfältig: Zunächst sind nicht alle Parameter bekannt, die eine ethische Situation bestimmen, was das Berechnen einer ethischen Entscheidung erheblich erschwert. Eine Berechnung der Zukunft ist zudem aus Gründen der Komplexität nicht möglich. Hinzu kommt das ethische Verrechnungsverbot: Man kann z.B. nicht einfach ein Menschenleben gegen ein anderes verrechnen. Die „separateness of persons“ (John Rawls) muss beachtet werden. Auch Kants Kategorischer Imperativ taugt nicht als absolutes Kriterium. Eine Optimierung nach ökonomischen Gesichtspunkten kann ebenfalls nicht zu einer allgemeinen Ethik erhoben werden. Schließlich gibt es das liberale Paradoxon, das der Philosoph Amartya Sen entdeckt hat: Es ist unumgänglich, ein Stück ökonomische Optimierung zu opfern, um echte, menschliche Freiheit zu gewinnen.

Es gibt einen Grund, warum die Normen des demokratischen Rechtsstaates nicht konsequentialistisch formuliert sind (auf Folgen hin), sondern deontologisch (nach Pflichten).

Die Autoren verweisen auch auf ethische Fehlanreize, die entstehen können, wenn immer mehr Akteure eines Geschehens (z.B. im Straßenverkehr) nach den völlig gleichen ethischen Maximen handeln. Es könnte z.B. dazu kommen, dass Autos bewusst unsicher konstruiert werden, damit im Falle eines Unfalls die Gegenseite lieber ein anderes Auto als das eigene rammt.

Nebenthesen

Die Autoren wenden sich gegen die postmoderne These, dass es keine Wahrheit gäbe und diese beliebig konstruiert werden könnte. Wer das nicht auseinanderhalten könne, habe eine Psychose.

In der Kommunikation geht es nicht ohne Wahrhaftigkeit, denn Kommunikation ist nur in vertrauensvollen Beziehungen sinnvoll möglich.

Die Idee der Liquid Democracy, also einer Art Computer-Demokratie, in der alle Bürger jede Einzelfrage direkt per Knopfdruck entscheiden, ist aus prinzipiellen Gründen nicht realisierbar. Dem stehen u.a. das Condorcet-Paradoxon und das Arrow-Theorem entgegen.

Ein Grundeinkommen ist aus mehreren Gründen keine gute Idee, auch wenn es „sozial“ klingt. Zudem lehrt die Erfahrung mit historischen Innovationen, dass die Arbeit nicht ausgeht, sie wird nur anders organisiert.

Der Mensch sollte eine breite, humanistische Bildung haben: Dazu gehört u.a. auch „Orientierungswissen“ und eine Persönlichkeitsbildung, die auf einer Entwicklung beruht, sowie – in einer Gesellschaft, die zusammenhalten soll – ein Bildungskanon. Bloße Vielwisserei und Fachwissen sind völlig unzureichend.

Kritik

Durch den Werbecharakter dieses Büchleins ist manches philosophische Argument vielleicht doch etwas zu oberflächlich geraten. Insbesondere zur „schwachen KI“ wird immer wieder derselbe Fehler begangen, nämlich davon auszugehen, dass KI weit davon entfernt sei, menschliches Verhalten zu simulieren. Doch das ist zumindest teilweise falsch. Spätestens mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 dürfte der Zeitpunkt erreicht sein, wo es nicht mehr ganz so einfach ist, die Maschine vom Menschen zu unterscheiden.

Ethische Argumente, die fehlen, sind z.B. diese: Ein Algorithmus kann zwar nicht autonom entscheiden wie ein Mensch, aber er kann sehr viel schneller entscheiden. In einer zeitkritischen Situation wie z.B. einem Verkehrsunfall, kann das einen Unterschied zum Vorteil der KI ausmachen.

Undiskutiert bleibt auch der Mangel an Bildung bei vielen Menschen: Viele Menschen treffen ethische Entscheidungen auf einem Niveau, das unter einem gebildeten Gesichtspunkt recht dürftig ist, und das von einer KI leicht übertroffen werden könnte. Das will zwar nicht viel heißen, aber doch ist es so. Ein Algorithmus muss in ethischen Dingen nicht in jedem Fall schlechter sein als ein Mensch. Ein Argument gegen die Autonomie des Menschen darf das natürlich nicht sein. Es geht nur um die Frage, ob eine algorithmische Ethik wirklich immer schlechter ist als die real existierende menschliche Ethik.

Das Büchlein geht meistens von deterministischen Algorithmen aus. In diesem Sinne ist eine KI ein so hochkomplexer Algorithmus, dass zwar nicht sicher vorhersehbar ist, wie sich die KI entscheiden wird, obwohl es natürlich doch vorherbestimmt ist. Das lässt jedoch die Möglichkeit eines neuronalen Netzes außer acht, dem kein Algorithmus zugrunde liegt.

Nur an wenigen Stellen wird auf neuronale Netze eingegangen. Das Hauptargument lautet: Der Name der neuronalen Netze würde täuschen, denn heutige neuronale Netze seien weit von der Komplexität und der Plastizität des menschlichen Gehirns entfernt. Ungesagt bleibt dabei, dass heutige neuronale Netze, die auf deterministischen Maschinen laufen, damit natürlich auch selbst wiederum deterministisch sind. – Das ist allerdings kein prinzipielles Gegenargument, denn was noch nicht ist, kann noch werden. Man müsste neuronale Netze also tatsächlich dem vegetativen Nervengeflecht des Gehirns nachbilden, um sie den Menschen ähnlich zu machen. Die Autoren vergessen diesen Punkt, vermutlich, weil die Technik davon noch weit entfernt ist.

Die Autoren steuern aber an anderer Stelle zusätzliche Argumente zu diesem Thema bei: Eine menschenähnliche KI könnte niemals durch das übliche „Training“ eines neuronalen Netzes erschaffen werden. Eine menschenähnliche KI müsste wie ein Mensch eine Kindheit haben, eine Familie, und über viele Jahre hinweg aufwachsen, um zu einem Menschen zu werden, bis hin zur humanistischen Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung. Dann hätte der Mensch sich tatsächlich selbst nachgebildet.

Allerdings würde sich dann die Frage stellen, ob es nicht einfacher wäre, ein echtes Kind zu zeugen und aufzuziehen? Und es würde sich die Frage stellen, ob es ethisch vertretbar wäre, eine solche umfassend gebildete, echt freie und menschliche Künstliche Intelligenz dann wie eine Maschine für sklavische Arbeit einzusetzen.

Höhere Kritik

Es erhebt sich noch ein letztes prinzipielles Problem, auf das die Autoren nur an einer einzigen Stelle kurz eingehen, nämlich das Problem, dass ja nicht nur der Computer, sondern auch die Physik insgesamt deterministisch ist. Die Physik kann zusätzlich auch noch probabilistisch sein, also zufälliges Verhalten zeigen. Aber die Physik kennt keine autonome, freie Entscheidung eines menschlichen Willens, genauso wenig wie ein deterministischer Computer. Wenn der menschliche Geist, egal ob als natürliches Gehirn oder als gut nachgebildetes neuronales Netzwerk, allein auf dieser Physik aufbauen würde, könnte er nicht frei sein.

Unter diesem Gesichtspunkt kann die menschliche Autonomie nur durch Metaphysik gerettet werden, nämlich durch die Postulierung eines menschlichen Geistes jenseits aller Physik, der sich in den scheinbar probabilistischen Phänomenen der Physik zum Ausdruck bringt. Dazu schreiben die Autoren nur, dass der Umstand, dass mentale Zustände durch Gehirnzustände realisiert werden, nicht heiße, dass sie von diesen verursacht werden (S. 39). Das Bewusstsein kann durch physikalische Prozesse nicht erklärt werden (Qualia-Argument). Das ist zu knapp. Dieses Thema hätte man ausführlicher behandeln müssen.

Die Schwachheit des Arguments

Natürlich ist eine solche metaphysische Dimension des menschlichen Geistes nicht beweisbar. Man kann sie nur postulieren. Weil sonst der Mensch kein Mensch mehr wäre, sondern nur eine komplizierte biologische Maschine. Weil sonst Bewusstsein, Freiheit, Rationalität und Personalität nur Illusionen wären, aber keine Realitäten. Weil damit der Humanismus gescheitert wäre, und die Sinnlosigkeit und die Unmenschlichkeit gesiegt hätte: Dann hätten die Materialisten und Zyniker und die Anhänger der Silicon-Valley-Ideologie Recht. Allerdings würde ihnen das nichts nützen. Denn dann wäre alles sinnlos geworden.

An diesem dünnen, seidenen Faden hängt der Humanismus. Man kann nur ex negativo zu seinen Gunsten argumentieren, und das ist ein schwaches Argument. Das Problem ist nicht neu. Friedrich der Große formulierte das Problem z.B. so:

Sinnlos ist eins, das andre unerklärlich,
Zwei Klippen starren, beide gleich gefährlich.
Da gilt die Wahl: Sinnloses gibt es schwerlich;
Drum wend’ ich selber mich zum Dunkeln hin
Und überlasse euch den Widersinn.

Ein erneuter Angriff auf den Humanismus

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz treibt dieses altbekannte Problem nun erneut auf seine Spitze. Natürlich ist der Humanismus das einzig Vernünftige, aber die Unterscheidungslinie zwischen Mensch und Maschine wird durch KI immer feiner und feiner gezogen. Es ist möglich, dass viele Menschen aus Denkfaulheit und falschem Pragmatismus keinen Unterschied mehr machen werden.

Es ist so, wie damals beim Aufkommen des Darwinismus: Ein oberflächliches und vulgäres Verständnis des Darwinismus führte zu Phänomenen wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Eugenik, Euthanasie und Rassenlehren, aber auch Kollektivismus und der Glaube an gesellschaftlich notwendige Entwicklungen, denen der Einzelne notfalls geopfert werden darf. Und so wie der Mensch damals zum Affen reduziert wurde, so wird der Mensch heute auf eine Maschine reduziert. Der Digitale Humanismus warnt genau vor solchen Fehlentwicklungen.

Kritik am Rande

Der Charakter einer leicht geschriebenen Werbeschrift führt dazu, dass manche Themen sich wiederholen. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Teilweise bauen sie aufeinander auf, ohne dass dies durch die Kapitelstruktur deutlich würde. Manchmal wurde ein Nebenthema in ein Kapitel mit „hineingestopft“, das man besser separat behandelt hätte.

Was das ethische Verrechnungsverbot anbelangt, wurde vergessen, dass es sehr wohl Situationen gibt, in denen eine gewisse Verrechnung erlaubt und auch geboten ist. Julian Nida-Rümelin hat dies selbst im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen formuliert: Es ist nicht zulässig, eine ganze Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen, nur um womöglich ein einzelnes Menschenleben zu retten. Ethische Dilemmata werden aber erwähnt.

In einigen Punkten folgen die Autoren linken Blütenträumen: Die Abkehr von der Atomenergie wird immer noch als richtige und wichtige Zukunftsentscheidung gefeiert. Es wird die irrige These vertreten, dass der Einzelne kein eigenes Auto mehr bräuchte, wenn es autonom fahrende Taxen gäbe. Wikipedia würde angeblich von „einem strengen Ethos epistemischer Rationalität getragen“. Und ein Gegenmittel zu den Fehlinformationen im Internet seien traditionelle, redaktionelle Medien – wobei Julian Nida-Rümelin ungesagt lässt, dass die traditionellen, redaktionellen Medien sich in einer schweren Vertrauenskrise befinden.

Fazit

Eine gelungene Werbeschrift für einen Digitalen Humanismus als Antwort auf die Irrtümer der Silicon-Valley-Ideologie, die sich gut liest und leicht verständlich ist. Das Schlusskapitel geht dann noch einmal alle lessons learned im Schweinsgalopp durch. Wer es systematischer, tiefer und theoretischer möchte, muss zu einem anderen Buch greifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Ahmad Mansour: Generation Allah – Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen (2015)

Erneuter Weckruf: Mut zur Wahrheit gegen das Establishment

Nach dem Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates aus dem Jahr 2007 ist „Generation Allah“ von Ahmad Mansour die zweite große Mahnung gegen die ideologisch begründeten Fehlentwicklungen in der Integrationspolitik. Wieder wagt ein Migrant den Widerspruch. Und wieder droht der Weckruf im Sande zu verlaufen.

Inhalt

Ahmad Mansour hebt das Thema Islam prominent ins Rampenlicht als einen zentralen Faktor bei der antidemokratischen Sozialisierung junger Menschen in unserem Land.

Ahmad Mansour erklärt schonungslos, dass nicht nur der islamistische Islam, der zu Gewalt und Terror aufruft, ein Problem ist, sondern schon der „normale“ traditionalistische Mainstream-Islam. Dieser traditionalistische Islam

  • hält die Gläubigen in einer inneren Verklemmtheit, so dass sich keine aufgeklärte Persönlichkeit entwickeln kann;
  • unterwandert durch seine Ansprüche und seine Organisationen die Gesellschaft, z.B. auf Kosten der Gleichberechtigung von Mann und Frau;
  • hat keine Brandmauer zum Islamismus, sondern geht gleitend in den Islamismus über.

Ahmad Mansour erklärt kompromisslos, dass nicht „der Islam“ als ganzes zu Deutschland gehören kann, sondern nur jene Formen von Islam, die sich zum Grundgesetz bekennen. Als Beispiel nennt er die Theologie von Mouhanad Khorchide. Kein einziger der traditionalistischen Moscheeverbände, die die deutschen Moschee betreiben, wird von Ahmad Mansour als akzeptabel genannt. Das ist sehr konsequent!

Ahmad Mansour beschwert sich über die Politik, die lieber politisch korrekt bleibt und sinnlose symbolische Aktionen und Projekte finanziert. Das Vorgehen der Integrationsindustrie ist oft sinnlos

  • denn der Kern des Problems wird politisch korrekt ignoriert: Der Islam;
  • denn manche Sozialarbeiter sind selbst traditionalistische Muslime, so dass der Bock zum Gärtner gemacht wird;
  • denn einige Integrationsprojekte existieren nur auf dem Papier, und verschaffen der Integrationsindustrie manchmal auf fast schon mafiöse Weise Arbeitsplätze und Geld.

Diese Analyse ist sehr mutig.

Ahmad Mansour klagt die Politik an, dass sie aufgrund von ängstlicher politischer Korrektheit systematisch wegsieht und Nebelkerzen wirft und lieber Scheinprojekte finanziert, Hochglanzbroschüren produziert und auf Mahnwachen geht, als den Kern der Sache in den Blick zu nehmen. Ahmad Mansour fordert, dass die Politik endlich für ehrliche Statistiken sorgen muss, die die Probleme nicht verschleiern, sondern eine präzise Analyse zulassen.

Ahmad Mansour fordert die komplette Umkrempelung von Lehrplänen und Lehrerausbildung. Lehrer müssen befähigt werden, mit antidemokratischen jungen Muslimen umzugehen und ihnen Brücken zurück zu einer demokratischen Gesinnung zu bauen. Lehrpläne müssen Biographie-Arbeit mit den Schülern enthalten und aktuelle politische Geschehnisse, die Muslime erregen, aufgreifen. Ganz wichtig ist Elternarbeit: Nur wer die Eltern erreicht, erreicht auch die Kinder.

Es müssen gezielt Vorbilder gelungener Integration herausgestellt werden. Im Internet muss massiv mit gefährdeten Jugendlichen in ihrer Sprache kommuniziert werden. Jeder migrantische Jugendliche muss als Deutscher ernst genommen werden. Das Grundgesetz muss eingefordert werden, Fehlverhalten muss Sanktionen nach sich ziehen.

Ganz wichtig ist Ahmad Mansour eine Reform des Islams. Ahmad Mansour will keinen Islamunterricht unter der Führung der traditionalistischen Islamverbände, wie das unsere Politiker zur Zeit anstreben. Statt dessen will er einen Religionsunterricht für alle Kinder, in dem Grundwissen über alle Religionen und Weltanschauungen vermittelt wird, auch über ein modernes Verständnis von Islam.

Kritik

Ahmad Mansour schweigt zu der Frage, ob sein Ansatz überhaupt flächendeckend umsetzbar ist, und was uns das finanziell und kulturell kosten würde. Wie er selbst sehr eindrücklich beschreibt, finden sich die Probleme überall in Deutschland: Es sind hunderttausende junger Menschen. Ist es realistisch, zehntausende von Ahmad Mansours einzustellen und auszubilden, zehntausende von Lehrern zu schulen, und bewährte Lehrpläne für die Prävention islamistischer Gewalt umzubauen? Und das in kürzester Zeit? Und selbst wenn es möglich wäre und wir das täten: Geht das böse Spiel dann nicht in jeder Generation wieder von vorne los? – Die Frage nach der Grenze zwischen Machbarkeit und Utopie ist eine harte Frage, weil es um Schicksale geht. Sie muss aber gestellt werden.

Ahmad Mansours Ansatz wird dort einen dauerhaften Erfolg haben, wo Muslime noch eine kleine Minderheit sind. Aber dort, wo es nicht mehr genügend Nichtmuslime gibt, in die sich die muslimischen Jugendlichen integrieren können, wird man Erfolge nur im Einzelfall erzielen können, ohne die ideologisch prekäre Lage dauerhaft entschärfen zu können. Deshalb müssen die einschlägigen Milieus durch verschiedenste Maßnahmen aufgelöst werden. Die Zahlen der Migranten in Deutschland müssen sinken, z.B. durch folgende Maßnahmen:

  • Beenden der Multikulti-Rhetorik und Formulierung der klaren Erwartungshaltung an alle Migranten, entweder (transkulturell) Deutsche zu werden, oder zu gehen.
  • Kein weiterer Zuzug von traditionalistisch orientierten Menschen. Das gilt nicht nur für Muslime.
  • Städtebauliche Auflösung von Problemvierteln. Evtl. „bussing“ von Schulkindern aus Problemvierteln an andere Schulen.
  • Rückkehr-Programme für integrationsunwillige Menschen in ihre Heimatländer, mit sanftem Druck (Kürzung von Sozialleistungen) und Anreizen (Rückkehrprämien).
  • Keine Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft qua Geburt in Deutschland. Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft in Problemfällen. Zwangsweise Rückführung in Heimatländer in Problemfällen. Man wird Deutscher nicht durch ein Stück Papier in der Tasche. Ohne eine innere Einstellung hat eine Staatsbürgerschaft keinen Sinn. Danach muss sie verliehen werden. Danach muss sie auch wieder aberkannt werden. Und zwar gerade deshalb, weil Deutschsein nichts genetisch Angeborenes ist, sondern etwas kulturell Anerzogenes bzw. Erlerntes.

Können wir den Islam reformieren? Grundsätzlich ja. Es gibt tatsächlich einige wenige echte Reformer. Wir können und sollten Reformbemühungen im Islam unterstützen und gleichzeitig Traditionalisten zurückdrängen. Aber realistisch betrachtet wird ein Reformislam auf absehbare Zeit einer Minderheit vorbehalten bleiben. Diese Minderheit verdient Anerkennung und Unterstützung, aber an der Existenz einer Mehrheit von traditionalistisch orientierten Muslimen wird das so schnell nichts ändern. Reformislam kann in der Gegenwart nur eine Teillösung des Gesamtproblems sein, und ist vor allem eine Vision für eine spätere Zeit.

Ahmad Mansour kritisiert die politische Korrektheit scharf, stößt aber nicht zum Kern des Problems vor: Es ist die tiefsitzende linke Ideologie der deutschen Politik-Eliten, die sinnvolle Integrationsmaßnahmen verhindert:

  • Eine deutsche Identität wird kaum verhohlen abgelehnt.
  • Es gibt eine Hypertoleranz gegenüber allem Nichtdeutschen, einfach nur weil es nicht deutsch ist.
  • Konservativismus wird mit Traditionalismus in einen Topf geworfen. Ratzinger gilt z.B. als genauso schlimm wie islamische Traditionalisten. Ganz entsprechend ist in der Politik jeder Konservative automatisch „rechtsradikal“.

Wie Seyran Ates scheitert Ahmad Mansour in seiner Analyse an zwei Punkten:

  • Mansour will ein Happy-End für ausnahmslos alle Migranten in Deutschland erreichen: Das ist spätestens mit 2015 utopisch geworden.
  • Mansours eigene Linksliberalität hindert ihn, die linken Lebenslügen der Polit-Eliten der BRD zu durchschauen. Teilweise hängt Ahmad Mansour selbst diesen linken Lebenslügen an.

Diese linksliberale Selbstblockade von Ahmad Mansour ist an vielen Stellen erkennbar:

  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour die jungen Menschen für die Partizipation an der Demokratie der BRD begeistern möchte. Doch allzu begeisternd ist die Demokratie in der BRD leider nicht: Eine „Parteienoligarchie“ (Karl Jaspers) entmündigt das Volk, es herrscht weithin eine wohlbegründete Politikverdrossenheit.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour an keiner Stelle seines Buches den Gedanken formuliert, dass das Fehlen eines normalen, maßvollen Nationalbewusstseins ein ganz wichtiges Integrationshindernis ist! Eine Integration ohne eine positive Identifikation mit dem Aufnahmeland ist ein Ding der Unmöglichkeit.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour nur die Einhaltung der Verfassung und keine weitergehende Aneignung der Aufnahmekultur einfordert. Doch nur eine (transkulturelle) Aneignung der Aufnahmekultur, die Priorität vor der Herkunftskultur haben muss, führt zu echter Integration. Eine Multikulturalität, die die Aneignung der Aufnahmekultur vernachlässigt und duldet, dass die Herkunftskultur prioritär vor der Aufnahmekultur gelebt wird, verhindert Integration.
  • Erkennbar daran, dass Mansour alle Migranten als Deutsche akzeptieren möchte: Liebend gerne, aber gegen den erklärten Willen mancher Migranten ist das wenig sinnvoll. Mehr als anbieten kann man es nicht.
  • Erkennbar daran, dass Ahmad Mansour an keiner Stelle den Gedanken formuliert, dass ein Reformislam, der für traditionalistisch aufgewachsene Muslime attraktiv sein soll, natürlich nur ein konservativer (!) Islam sein kann. Denn man kann nicht von einem vormodernen Traditionalismus ohne Zwischenstufe direkt zu einer progressiven Einstellung springen. Eine lesbische Imamin wie beim Liberal-islamischen Bund LIB dürfte eher abschrecken. Nur ein moderner Reform-Konservativismus, wie er vergleichsweise von der katholischen Kirche (Ratzinger) verkörpert wird, kann attraktiv sein: Also z.B. ein klares Ja zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber mit der Ausnahme, dass im kultischen Bereich die Tradition gilt, und nur Männer Imame sein können. Merke: Man kann vom Islam nicht mehr verlangen als von der katholischen Kirche (aber auch nicht weniger).

Ahmad Mansour ist in der Gefahr, zum nützlichen Idioten für das Establishment in Politik und Medien zu werden: Immer wenn es Probleme gibt, lädt man ihn in Talk-Shows ein und erweckt dadurch den Eindruck, es würde an Lösungen gearbeitet. Das hilft den Etabllierten, die Wähler zu beruhigen. Doch längst haben sie einen Pakt mit den traditionalistischen Islamverbänden geschlossen. Ahmad Mansour wehrt sich sichtlich gegen eine solche Vereinnahmung.

Fazit

Wie schon Seyran Ates mit ihrem „Multikulti-Irrtum“ von 2007 hat nun auch Ahmad Mansour eine eindrückliche Warnung ausgesprochen. Ahmad Mansours Schelte an Politikern und Integrationsindustrie lehnt sich weit aus dem Fenster und wird wie bei Seyran Ates dazu führen, dass seine Warnungen von den Etablierten in den Wind geschrieben werden. Ohne die Formierung neuer politischer Kräfte, die den Etablierten Druck zu machen vermögen, werden die Ideen von Ahmad Mansour nicht zum Zuge kommen können. Ahmad Mansour ist selbst allerdings noch nicht soweit, dies zu begreifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. März 2016 unter dem Titel: „Mut zur Wahrheit“: Ahmad Mansour auf AfD-Kurs. Weil die AfD sich rechtsradikal entwickelt hatte, wurde die Rezension bald danach vom Autor gelöscht. Für die Wiederveröffentlichung 2024 wurde die Rezension aus demselben Grund leicht modifiziert.

Tom Holland: In the Shadow of the Sword / Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs (2012)

Vernünftige, faire und maßvolle Aufklärung über die wahren Anfänge des Islam

Gleich vorweg: Tom Hollands Buch ist viel besser als seine BBC TV Dokumentation „Islam: The Untold Story“. Die TV Dokumentation musste wegen ihrer Kürze an diesem komplexen Thema scheitern, und statt Antworten lässt sie unnötigerweise viele Fragen offen. Vielleicht hat man die Antworten aus falsch verstandener „Rücksicht“ auf Muslime weggelassen? Das wäre dann sehr dumm gewesen, denn Muslime können mit den Antworten von Tom Holland sehr gut leben, mit den offenen Fragen der TV Dokumentation hingegen eher nicht.

Zum Buch

Nicht nur der Islam, sondern die Geschichte des gesamten Zeitalters der Spätantike wird von Tom Holland in den Blick genommen. So liefert er den dringend nötigen Kontext zum Verständnis der Entstehung des Islams. Dabei werden vom Leser zunächst unbemerkt alle die Elemente eingeflochten, die weiter hinten im Buch zur Erklärung des Islam benötigt werden und die klar zeigen, dass der Islam und seine Überlieferung Kind ihrer Zeit sind. Tom Hollands Rekonstruktionsversuch der Ursprünge des Islam ist einer der überzeugendsten und vollständigsten. Sein Buch ist absolut lesenswert.

Das gewählte Verfahren ist auch didaktisch geschickt: Indem Tom Holland zunächst die Wirren und Verfehlungen der religiösen Entwicklungen von Christentum, Judentum und Zoroastrismus und deren teils absichtslos, teils absichtlich verfälschte Überlieferungen aufzeigt, macht er den Leser an eher unumstrittenen Beispielen mit dem Wissen um die historisch-kritische Interpretation solcher Überlieferungen bekannt, um die historisch-kritische Interpretation dann später im Buch in überzeugender Weise auf den Islam anzuwenden. (Bemerkenswert ist Tom Hollands Würdigung des deutschen Beitrages zur Entwicklung der historisch-kritischen Methode, den er bis in die Gegenwart in Deutschland wirken sieht.)

Durch dieses Verfahren vermeidet Tom Holland zugleich auch den verbreiteten Irrtum, dass speziell der Islam ein Problem mit seinen Überlieferungen hätte. Wie der Leser zuvor an Christentum, Judentum und Zoroastrismus sehen konnte, haben alle Religionen dieses Problem, nicht nur der Islam. Es geht also nicht um „Islam-Bashing“, sondern darum, den Islam auf das heute übliche Niveau der Selbstkritik (!) von Religionen zu heben, auf dem sich andere Religionen zu ihrem eigenen Nutzen bereits befinden; Schaden haben sie dadurch jedenfalls keinen erlitten. Das Vorgehen von Tom Holland ist vernünftig, fair und maßvoll.

Keine maßlose Islamkritik

Muslime haben allen Grund, Tom Holland dankbar zu sein: Sein Werk bietet eine Lösung dafür an, wie man Islam und historische Kritik miteinander vereinbaren könnte. Aber für Gläubige (ob Christen oder Muslime), die zum ersten Mal mit historischer Kritik konfrontiert werden, sieht es leider immer so aus, als ob die Religion durch historische Kritik „komplett zerstört“ werden soll. Aber so ist es eben nicht. Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass manches anders ist, als man dachte, ohne dass dabei gleich alles verloren ist. Es geht nur um die Wahrheit, und wenn diese etwas anders aussieht, als man lange Zeit dachte, dann muss man der Wahrheit eben folgen, wo immer sie hingeht.

Tom Holland zeigt, dass die historische Kritik des Islams keineswegs zwangsläufig bei dem Resultat enden muss, dass es einen Propheten Mohammed gar nicht gab. Im Gegenteil: Tom Holland geht davon aus, dass es einen Propheten Mohammed sehr wohl gab, und dass der Koran im Kern auf Worte Mohammeds zurückgeht (ob diese Worte wiederum auf Gott zurückgehen, ist Glaubenssache). Mohammed wird als ein literarisch gebildetes Genie interpretiert, das vorhandene Lehren und Anschauungen auf geniale Weise (unter göttlicher Anregung? Auch das ist Glaubenssache) zu etwas Neuem verknüpfte: Gotteswort ist zugleich Menschenwort, in eine bestimmte Zeit hineingesprochen, wie bei anderen Religionen auch, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ebenfalls als authentisch islamisch werden von Tom Holland eingestuft: Der strikte Monotheismus, die Verträge von Medina, tägliche Gebete, die Verpflichtung zur Wallfahrt.

Man kann mit Tom Hollands Rekonstruktionen auch weiterhin Muslim sein, so wie Christen und Juden mit dem historisch-kritischen Wissen um die Enstehung ihrer Religionen auch weiterhin Christen und Juden sein können.

Spätere Hinzuerfindungen zum Islam sind nach Tom Holland z.B:

  • Ein Großteil der Hadith und der Prophetenbiographie sind für Tom Holland spätere Interpretationen oder Erfindungen; das ist nichts neues, sondern allgemeine Meinung unter seriösen Islamwissenschaftlern.
  • Im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, erst in späteren Texten von fünf.
  • Im Koran ist die Strafe für Apostasie die Hölle nach dem Tod, in späteren Texten jedoch sollen Apostaten hingerichtet werden. (Andere meinen mit Recht, dass der Koran gar nicht auf Apostasie als solche abzielt, sondern auf den militärischen Verrat, der im damaligen Kontext mit Apostasie verbunden war.)
  • Im Koran sind Ungläubige hauptsächlich Monotheisten, die ihren Monotheismus nicht streng nehmen. In den späteren Überlieferungen sind die Ungläubigen plötzlich Götzenanbeter: Auch hier wird deutlich, dass spätere Zeiten sich ein Lebensumfeld für Mohammed phantasievoll ausgemalt haben, das historisch so nicht existierte.
  • Im Koran ist die Strafe für Ehebruch die Auspeitschung. Das Steinigen hingegen geht auf jüdische Quellen zurück, nicht auf Mohammed.
  • Das Konzept des Dschihad als ein religiöser Angriffskrieg unter Selbstopferung wurde erst später in Anlehnung an die Askese christlicher Wüstenmönche entwickelt. Die angebliche chronologische Reihenfolge der Koransuren wurde nachträglich so fingiert, dass Dschihad-Suren chronologisch später kamen, um gegenteilige, frühere Lehren als „abrogiert“, d.h. aufgehoben, hinstellen zu können – wie es der offizielle Islam bis heute tut.
  • Die Vertreibungen und Massaker an den drei jüdischen Stämmen von Medina haben vermutlich niemals stattgefunden: Spätere Autoren haben mit diesen Erzählungen versucht, die Juden aus der Umma „herauszuoperieren“. Die Namen der Stämme tauchen nämlich nicht in den authentischen Verträgen von Medina auf, die Massaker sind auch sonst nirgends historisch belegt, wovon aber auszugehen wäre, wenn sie stattgefunden hätten.

Wie entstand die ismaelitische Bewegung?

Nach Tom Holland ist entscheidend, dass die Araber an einer Grenze des römischen bzw. byzantinischen Reiches lebten: So wie die Germanen im Norden, die außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches lebten, zunächst als Hilfstruppen angeworben wurden, um später selbst einen ausreichend hohen Organisationsgrad zu erreichen, um die Römer besiegen zu können, genauso sei es auch mit den Arabern geschehen, die im Niemandsland südlich der beiden rivalisierenden Reiche Byzanz und Persien lebten. Das lateinische Wort „Sarazenen“ für Araber könnte auf ein latinisiertes arabisches Wort für „Hilfstruppen“ zurückgehen.

Anders als Germanien war Arabien ein Rückzugsgebiet für christliche Häretiker, die aus dem Römischen Reich vertrieben wurden. Deren Lehren (z.B. Nabatäer, Nasoräer, oder das Evangelium des Basilides: Jesus nicht gekreuzigt, vgl. Sure 4:157) konnten in Arabien ungestört vor sich hinwuchern und unter Arabern auf fruchtbaren Boden fallen.

Hinzu kam das wachsende Selbstbewusstsein der Araber, als die direkten Nachkommen von Abrahams Sohn Ismael einen gleichberechtigten Platz neben Juden (und Christen) zu beanspruchen. Lange bevor Muslime sich „Muslime“ nannten, nannten sie sich „Ismaeliten“.

Mohammed lebte nicht in Mekka, sondern in der Region der Nabatäer, also an der Grenze des byzantinischen Reiches. Statt Mekka habe Mohammed das arabische Heiligtum von Mamre gemeint. Argumente dafür sind die Tradition von Mamre als Ort der Verehrung Abrahams durch die Araber, die Erwähnung von Sodom und Gomorrha im Koran als nahegelegener Ort, die Beschreibung des Heiligtums analog zu Beschreibungen von Mamre, das Fehlen von Agrikultur in Mekka, u.v.a.m. (Man beachte die Forschungen von Dan Gibson, der zeigen konnte, dass alle frühen Moscheen nicht nach Jerusalem, sondern nach dem nabatäischen Petra zeigten, von wo die Kaaba später nach Mekka verlegt worden sein soll.)

Mohammeds großes Werk scheint vor allem in der politischen Einigung der Araber bestanden zu haben. Diese politische Einigung war aber untrennbar verbunden mit dem ideellen Anspruch auf die Nachkommenschaft Abrahams. Mohammeds Monotheismus scheint eine direkte Reaktion auf das religiöse Chaos im arabischen Grenzgebiet zum römischen Reich seiner Zeit gewesen zu sein. Nicht Götzenanbeter, sondern „unklare“ und uneinige Monotheisten werden im Koran kritisiert, man solle wieder „zurück“ zur Religion Abrahams kehren.

Zündfunke für die ismaelitische Bewegung

Unmittelbar vor Entstehung des Islam gab es durch Pest und Krieg einen großen Mangel an Soldaten bei Byzantinern und Persern, weswegen verstärkt Araber als Hilfstruppen angeworben wurden. Immer mehr Araber wanderten deshalb nach Norden zur Grenze (Wanderung=Hidschra?), um sich zu verpflichten. Dadurch wurden diese Araber aus ihren traditionellen Stammesverbänden herausgelöst, so dass sich eine neue Identität entwickelte: eine arabische Nation (Umma) über den Stammesverbänden. Lange bevor sich Muslime „Muslime“ nannten, nannten sie sich auch „Muhadschirun“, d.h. die Ausgewanderten. Spätere Texte bezogen dies auf eine angebliche Auswanderung der Muslime von Mekka nach Medina, doch der wahre Hintergrund dieser Selbstbezeichnung dürfte ein anderer sein.

Hinzu kam, dass Byzanz unter Kaiser Heraklios damit begonnen hatte, Juden unter Zwang zu Christen zu „bekehren“. Viele Juden flüchteten deshalb über die Grenze nach Arabien, wo sie die Araber vermutlich ideell bestärkten, denn Juden transportierten mit ihrem Glauben die Idee, dass die Araber die Nachkommen von Ismael, dem Sohn Abrahams sind. In den Verträgen von Medina sind die Juden Teil der Umma.

Das durch Pest und Krieg stark geschwächte Römische Reich bot den Arabern reiche Beute. Man kann davon ausgehen, dass die politische Einigung der Araber stark durch die Aussicht auf Beute befördert wurde. Deshalb nimmt das Thema Beute auch im Koran eine prominente Stellung ein.

Gründe für die anfänglichen Siege der Ismaeliten

Vor der Zeit Mohammeds wütete eine Pest im ganzen Mittelmeerraum, die ähnlich verheerende Ausmaße annahm wie die Pest des Mittelalters. Zudem führten die beiden Großmächte Byzanz und Persien einen ausufernden Krieg gegeneinander, an dessen Ende beide Mächte erschöpft waren. In Persien brach daraufhin die Dynastie der Sassaniden zusammen; die Byzantiner hatten nicht mehr genügend Soldaten und mussten mehr Araber als sonst als Hilfstruppen werben. Die Verteidigungskraft war entscheidend geschwächt.

Insbesondere die Juden begrüßten die Araber anfangs überschwänglich: Sie wurden von der drohenden Zwangstaufe befreit und durften sogar wieder nach Jerusalem hinein, was ihnen lange verboten war. Der fromme Feldherr der Araber, Umar, begann sogar den Tempelberg für ein kommendes Bauwerk (der jüdische Tempel?) von Trümmern freizuräumen, weshalb Juden ihn als Retter feierten.

In Ägypten kam den Arabern zugute, dass die Ägypter als Monophysiten (Kopten) in ständigem Streit mit dem orthodoxen Byzanz lagen. Einige Ismaeliten sollen sich in Ägpyten angeblich sogar haben taufen lassen.

Nach Tom Holland wollte Mohammed nur das Heilige Land, das Land Abrahams und dessen „Heiligtum“, erobern. Dass die Araber mehr eroberten, lag einfach daran, dass die Motivation der Araber nicht rein religiös war. Erst später interpretierte man die weitergehenden Eroberungen als einen göttlichen Auftrag, die ganze Welt zu erobern.

Schneller Zerfall der religiösen Bewegung

Nach dem Tod von Mohammed und dessen General Umar ging die Herrschaft über die Ismaeliten und ihr Reich an die Familie der Umayyaden über. Diese waren etablierte Geschäftsleute, die schon vor Mohammeds Auftreten mit Byzanz Handel getrieben hatten und in Syrien Land besaßen. Mit anderen Worten: Wie immer nach einer Phase der Schwärmerei und der Begeisterung kamen nun wieder die wahren Realitäten zum Tragen, die das Menschengeschlecht von jeher bestimmen: Ökonomische Zwänge, soziale Milieus wie Besitzende, Gebildete, usw., und natürlich die Indifferenz der Massen.

Damit war das eroberte Reich kein religiöses, „islamisches“ Reich, sondern ein arabisches Reich, genauer: Ein Reich mit arabischen Herrschern und einem nicht-arabischen, vornehmlich christlichen Staatsapparat und Volk. Die Umayyaden gewährten für Christen und Juden eine gewisse religiöse Duldung, die gegenüber der byzantinischen Zeit eine echte Verbesserung darstellte. Mohammed begann, in Vergessenheit zu geraten. Weil ihre Beamten und Untertanen vornehmlich Christen waren, näherten sich die Umayyaden den Christen an, während sie von den Juden, den ursprünglichen Verbündeten der Araber, Abstand zu nehmen begannen. Der Umayyade Muawija pilgerte sogar wie ein Christ nach Jerusalem, um ein Zeichen für die Christen zu setzen. Münzen zeigten weiterhin christliche Symbole. Wer noch an Mohammed festhielt, stand am Rand und wurde bekämpft, so z.B. Ali und die Karidschiten.

Die Zoroastrier wurden nicht geduldet und konvertierten u.a. zum Christentum und wurden Nestorianer. Dadurch erlebte das Christentum eine unverhoffte Blüte! Christliche Missionare reisten bis nach Indien, China, und in die Mongolei. Christen sahen die Zukunft auf ihrer Seite! Von einem islamischen Reich war nicht die Rede.

Wiederaufleben der religiösen Bewegung zur Machtsicherung

Dann kam es zu einer Phase der Unruhen aus machtpolitischen Gründen, in der aus machtpolitischen Gründen auch wieder die Berufung auf Mohammed gesucht wurde. Auch die religiöse Opposition der Mohammed-Anhänger erstarkte jetzt wieder: Az-Zubair begann, sich auf Mohammed zu berufen und wurde von den Umayyaden verfolgt und vernichtet. U.a. wurde dabei die Stadt Medina erobert und ihre Bevölkerung massakriert bzw. massenvergewaltigt. Ebenso wurde ein „Heiligtum“ zerstört, das offensichtlich nicht in Mekka stand.

Um seinen Herrschaftsanspruch gegen religiös aufgeladene Unruhen abzusichern, begann der Umayyade al-Malik, die Definitionsmacht über die religiöse Bewegung der Ismaeliten für sich zu beanspruchen. Zu diesem Zweck formte er aus der wenig definierten ismaelitischen Bewegung den Islam als eine Religion in seinem Sinne:

  • Al-Malik übernahm die Berufung auf Mohammed von az-Zubair.
  • Erste Sammlung des Koran (nicht Uthman, wie später überliefert).
  • Al-Malik nannte sich erstmals „Kalif“ (Stellvertreter), und zwar Stellvertreter Allahs!
  • Erst jetzt wurde Arabisch als Amtssprache eingeführt.
  • Bau des Felsendoms in Jerusalem, solange das „Heiligtum“ in der Hand von az-Zubair war, als Konkurrenz zu diesem „Heiligtum“ und als Konkurrenz zur christlichen Grabeskirche, von der der Felsendom architektonische Anleihen nahm.
  • Definition der ismaelitischen Religion im Felsendom als „Islam“ = Unterwerfung (freundlicher: Hingabe).
  • Nach Zerstörung des „Heiligtums“ verlegen die Umayyaden das „Heiligtum“ nach Mekka. Die Gebetsrichtung wurde dementsprechend im ganzen Reich umorientiert.
  • Da die Religion an Bedeutung gewinnt, waren christliche Beamte u.a. jetzt motiviert, zum Islam zu konvertieren. Dadurch beginnt der Islam, zu einer Religion auch für Nichtaraber zu werden, obwohl er als ismaelitische Bewegung, also als arabische Bewegung, begonnen hatte.

Intellektualisierung und juristische Formung des Islam

Die Christen, Juden und Zoroastrier, die nach und nach zum Islam konvertieren, beginnen den Islam nach ihren Vorstellung zu formen. Das geschieht vor allem dadurch, dass immer neue Aussprüche Mohammeds (Hadith) „entdeckt“ werden, die diesen Vorstellungen entsprechen. Um einen Hadith als „echt“ zu beglaubigen, wird immer die angebliche Kette der mündlichen Überlieferer angegeben (Isnad).

Vorbild für dieses Verfahren sind die jüdischen Gelehrten der mesopotamischen Schulen, in deren Nähe die neuen Schulen der islamischen Rechtsgelehrten entstanden. Die dortigen jüdischen Gelehrten hatten bereits lange zuvor genau dasselbe Verfahren entwickelt, um eine angebliche mündliche Überlieferung von Worten des Moses aufzuschreiben. Auch hier wurde zu jedem angeblich überlieferten Wort eine Kette von mündlichen Überlieferern angegeben, die angeblich bis zu Moses zurückreichte.

Was brachten Christen, Juden und Zoroastrier in den Islam hinein? Auf jüdischen Einfluss dürfte z.B. die Steinigung als Strafe für Ehebruch zurückgehen; im Koran ist dafür nur das Auspeitschen vorgesehen. Zoroastrier brachten ihre fünf Gebete ein, das Tötungsgebot für Apostaten, und die zoroastrische Zahnpflege – im Koran ist nur von drei Gebeten die Rede, für Apostaten ist nur die Hölle nach dem Tod als Strafe vorgesehen, und von Zahnpflege ist nicht die Rede. Auf christliche Askese-Mönche könnte die Idee des Selbstaufopfern für die Sache Allahs zurückgehen. Auch die angebliche Chronologie der Suren des Koran, die damals ausgearbeitet wurde, scheint darauf hin angelegt worden zu sein, die Suren nach „friedlich“ und „kriegerisch“ zu sortieren und eine entsprechende Hintergrundstory zu erfinden, um das Argument vorbringen zu können, dass die späteren „kriegerischen“ Suren die früheren „friedlichen“ Suren aufheben würden.

Religiöse Abbasiden verdrängen weltlich gesinnte Umayyaden-Herrscher

Die nichtarabischen Religionsgelehrten trugen am Ende den Sieg über die arabischen Kalifen davon, indem sie die Definitionsmacht über den Islam an sich ziehen konnten. Demgegenüber war der Anspruch der Umayyaden, „Stellvertreter Allahs“ zu sein, eine Blasphemie.

Gestützt auf die alten Anhänger Mohammeds und die Lehren der Religionsgelehrten vertrieben die Abbasiden die Umayyaden von der Macht und nannten sich nun „Stellvertreter des Propheten“. Damit war die Vorherrschaft der Araber vollends gebrochen und der Islam zu einer Weltreligion für alle geworden. Jetzt wurde mit Baghdad die „Stadt des Friedens“ gebaut und an die Tradition des (hellenistisch geprägten) Perserreiches angeknüpft. Jetzt erst schrieb Ibn Ishaq die Prophetenbiographie, die alle bislang gestrickten Legenden zu einer zusammenhängenden Erzählung vereinigte, die von der wahren Geschichte natürlich stark abweicht.

* * *

Hinweis: Der Originaltitel „In the Shadow of the Sword – The Battle for Global Empire and the End of the Ancient World“ lässt niemanden vermuten, dass es sich um ein Buch über den Islam handelt, denn „Islam“ taucht in diesem Titel nicht auf, und dass es kein reißerisches Buch ist, sondern eine sehr niveauvolle Aufarbeitung der historisch erforschten Umstände und offenen Fragen der Entstehung des Islams. Die erste deutsche Ausgabe trug zunächst den Titel: „Im Schatten des Schwertes – Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs“. Später wurde der Untertitel zum Haupttitel gemacht, was absolut sinnvoll ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. August 2013)

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten – Freiheit, Sein und Aprikosencocktails (2016)

Geläuterte Anhängerin schreibt rundum gelungene Geschichte des Existentialismus

Das „Café der Existentialisten“ von Sarah Bakewell ist ein rundum gelungenes Buch! Schritt für Schritt entfaltet die Autorin das Panorama der Existentialisten und ihrer gegenseitigen Beeinflussungen im 20. Jahrhundert in kluger, lehrreicher und äußerst lesenswerter Weise. Beginnend mit dem Phänomenologen Husserl bis hin zu Patocka und Vaclav Havel. Im Zentrum stehen Sartre und Heidegger. Das Buch ist an keiner Stelle „schwer“, sondern durchgehend eine reine Lust zu lesen.

Das eigentliche Wunder dieses Buches ist eindeutig die Autorin: War sie in ihrer Jugend selbst eine „gläubige“ Anhängerin des Existentialismus, sieht sie heute mit einem geläuterten Blick auf die Helden ihrer Jugend zurück. Auf dieser Grundlage entwickelt sie eine liebevolle aber auch objektive Sicht auf die Vergangenheit. Sarah Bakewell hat einen Blick dafür, was zeitlos und gut am Existentialismus war und was nicht, und sie hat ein gutes Urteil über die damaligen Irrungen und Wirrungen der Beteiligten. Sie entschuldigt nichts, und folgt einem glaubwürdigen Wertekompass, schafft aber auch Raum für Verständnis, warum die Protagonisten damals so dachten und handelten. Vor allem hat sie begriffen, dass nicht nur die Ideen eines Philosophen, sondern ebenso auch die Person des Philosophen hinter den Ideen von Bedeutung ist. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen.

Fazit: Gold wert!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 12. Oktober 2019)

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Julia Voss: Darwins Jim Knopf (2009)

Michael Endes Jim Knopf als positive „Bannung“ und Umprogrammierung negativer Mythen und Bilder

Der deutsche Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende (1929-1995) begann seine Karriere 1960/62 mit dem zweibändigen Werk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, das zu einem Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur wurde. Lange Zeit galt das Werk als ein gelungenes Erzeugnis der freien Phantasie des Autors. Doch 2009 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss eine Untersuchung, derzufolge Michael Ende mit den Motiven dieses Jugendbuches Motive des Nationalsozialismus aufgriff, um sie durch eine alternative Bilderwelt zu überschreiben und umzuprogrammieren, mithin also positiv zu „bannen“.

Der schwarze Junge und Held des Buches Jim Knopf entspricht dem realen Jemmy Button, dem Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle begegnete: Damit ist das Thema des Darwinismus gesetzt. Die Drachenwelt Kummerland, zu der keine Halbdrachen Zugang haben, entspricht der Welt des Nationalsozialismus, die auf Reinrassigkeit wert legte. Der autoritäre Lehrerdrache Frau Malzahn verwandelt sich später in einen Drachen der Weisheit und des Glücks. Und schließlich führt die Reise von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer in eine versunkene Stadt, die am Ende der Geschichte aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht. Dabei entpuppt sich die kleine Insel Lummerland, die Heimat von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, als die höchste Bergesspitze eines versunkenen Kontinentes. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker herbei, um in trauter Eintracht in dem neuen Land zu leben. Der Name „Atlantis“ wird bei Michael Ende zwar nicht explizit genannt, doch ist das Motiv unverkennbar. Ähnlich wie in Thomas Manns Joseph und seine Brüder ist Atlantis bei Michael Ende nicht der Ursprungsort einer „reinen“ Rasse, sondern im Gegenteil ein Ort, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben. Ähnlich wie bei Thomas Mann ist bei Michael Ende nicht etwa die Vernichtung des Bösen, sondern die Erneuerung und Verwandlung des Bösen zum Guten das Ziel: Der Drache Mahlzahn verwandelt sich in einen Drachen der Weisheit und des Glücks, und das versunkene Atlantis taucht wieder auf.

Woher Michael Ende die Idee hatte, dass es eine Verbindung zwischen Atlantis und Nationalsozialismus gab, ist unbekannt. Die Schulszene mit dem Lehrerdrachen Frau Mahlzahn lässt vermuten, dass Michael Ende seine persönlichen negativen Eindrücke über den Nationalsozialismus hauptsächlich in der Schule gewonnen hatte. Einzelne Lehrer können ihre Schüler mit dem Thema Atlantis traktiert haben, obwohl dies nicht der offiziellen Parteilinie entsprach. Eine wichtige Rolle der Schule vermutet auch Julia Voss, allerdings verengt auf den Biologieunterricht. Vielleicht würde man fündig, wenn man statt des Biologie- den Geschichts- oder Geographieunterricht in den Blick nehmen und statt nach offiziellen Lehrplänen nach den konkreten Lehrern des Schülers Michael Ende fragen würde?

Fehler

Leider sind Julia Voss einige typische Irrtümer unterlaufen, die im Zusammenhang mit dem Thema Atlantis und Nationalsozialismus im Umlauf sind, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. So schreibt sie z.B.: „Atlantis, der alte Mythos, den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umkodiert hatten. … … … Mit dem Nationalsozialismus war die Wahnvorstellung massentauglich geworden. … … … … fand … der Atlantis-Mythos seinen größten Umschlagplatz in der Kinder- und Jugendbuchliteratur.“

Natürlich spielte Atlantis im Nationalsozialismus keine Rolle, erst recht keine öffentliche Rolle, und Julia Voss kann natürlich keine „unzähligen Kinderbücher“ vorweisen, in denen das Atlantisthema im Nationalsozialismus verarbeitet worden wäre. Das einzige Beispiel, das Julia Voss vorweist, ist die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis. Das ist aber erstens kein Kinderbuch, und zweitens ist diese Serie keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ganz im Gegenteil: Unter Einfluss der Nationalsozialisten musste eine der beiden Hauptfiguren der Serie – ein Schwarzer – erst künstlich aus der Serie entfernt werden, wie Julia Voss selbst beschreibt. Schließlich ist Sun Koh eine Phantasiegeschichte, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wegen Sun Koh hat im Nationalsozialismus gewiss niemand an Atlantis geglaubt, geschweige denn vermutet, dass Atlantis etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben könnte. Im Gegenteil hat Sun Koh dazu beigetragen, dass Atlantis als ein literarischer Topos für phantasievolle Groschenromane und nicht als ein realer Ort wahrgenommen wurde.

Dass die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis nicht als Ausdruck eines engen Verhältnisses von Nationalsozialismus und Atlantis gesehen werden kann, wird auch daran deutlich, dass es seit 1941 eine US-Comicserie gab, die eine ganz ähnliche Thematik hatte und ein ganz ähnliches look and feel aufwies: Aquaman. Aquaman ist ein moderner Mensch, der sich unter Wasser bewegen kann und dessen Mutter von Atlantis stammt. Die bevorzugten Gegner von Aquaman während des Zweiten Weltkrieges waren nationalsozialistische U-Boote: Hier waren Atlantis und Nationalsozialismus also Gegensätze. Aquaman ist bis heute eine feste Größe in der US-amerikanischen Popkultur. Im Jahr 2018 erschien der Kinofilm Aquaman, der Kinostart in Deutschland war am 20. Dezember 2018.

Auch bei den möglichen Ursachen der angeblichen Atlantisbegeisterung der Nationalsozialisten folgt Julia Voss den klassischen Irrtümern: Theosophen und Ariosophen werden als Quellen dieser Idee genannt. Doch Julia Voss weiß weder etwas von Gleizès und Richard Wagner, noch vom Artamanenbund.

Diese populären Irrtümer schmälern natürlich in keiner Weise die großartige Entdeckung von Julia Voss, dass Michael Endes Jim Knopf der Versuch einer systematischen Umprogrammierung vermeintlicher oder echter Motive des Nationalsozialismus war.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung als Unterkapitel in Thorwald C. Franke: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis, 2016)

PS 28.02.2024

Am 22. Februar 2024 ging die Schreckensmeldung durch die Presse: Nun ist auch Michael Endes Jim Knopf im Sinne des Wokismus sprachlich und bildlich „bereinigt“ worden. Das Wort „Neger“ wird vermieden und als angeblich rassistisches „N-Wort“ geschmäht, und auch das schöne Wort „Mandelaugen“ fiel dem Rassismusvorwurf zum Opfer. Die bekannten Grafiken wurden retuschiert, z.B. um die „schwarzen“ Eigenschaften von Jim Knopf weicher zu zeichnen.

Der Vorgang ist an sich schon grotesk, aber im Falle von Michael Endes Jim Knopf zeigt sich die ganze Lächerlichkeit des Wokismus mit besonderer Deutlichkeit: Denn eine zentrale Technik in den Werken Michael Endes ist die positive „Bannung“ von Vorurteilen und Stereotypen, indem diese positiv gewendet und „umprogrammiert“ werden, wie oben beschrieben. Der Effekt dieser positiven Bannung geht nun jedoch teilweise verloren, denn umprogrammieren kann man nur das, was man auch offen und unverblümt darstellt!

Durchgeführt wurde die Säuberungsaktion vom Verlag Thienemann, in Abstimmung mit den Erben Michael Endes. Der ganze Vorgang ist an Dummheit und Unverschämtheit kaum zu überbieten. Es handelt sich um nichts anderes als um einen Anschlag auf einen sehr wertvollen Teil unserer deutschen Kultur. Denn wo sonst finden wir einen so konstruktiven und aufbauenden Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Jan Assmann: Weisheit und Mysterium – Das Bild der Griechen von Ägypten (1999)

Ein schönes, kenntnisreiches Büchlein – Anwendungsfall Atlantis

Dieses Büchlein überrascht zunächst durch seine Aufmachung: Obwohl ein Taschenbuch, hat es ein edles Cover mit Goldprägung. – Im Inneren erwarten einen dann kenntnisreiche Ausführungen von Assmann zum Beziehungsverhältnis zwischen Griechenland und Ägypten. Dabei pflegt Assmann seinen bekannt angenehmen Plauderton, der den Stoff gefällig präsentiert. Leider fallen dabei ein paar harte Fragen unter den Tisch, wie z.B. die Diskussion, ob wirklich alle griechischen Ägyptenreisenden auch tatsächlich in Ägypten waren.

Auch Platons Atlantis-Erzählung wird kurz angesprochen, um die Beziehungen der Griechen zu Ägypten zu verdeutlichen. Allerdings lässt Assmann zu Platons Atlantis viele Fragen offen und verfolgt so manchen Gedankenfaden nicht weiter. Wer in diesem Punkt wissen möchte, was man aus dem Wissen in Assmanns Büchlein in bezug auf Platons Atlantis machen kann, sei verwiesen auf: Franke: „Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis“. – Empfehlung!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Januar 2007)

Andrea Marcolongo: Warum Altgriechisch genial ist – Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann (2018)

Schwärmerisch-merkwürdige Auffrischung des Altgriechischen: Con passione!

Der Inhalt dieses Büchleins ließe sich kurz dadurch beschreiben, dass darin all jene Ratschläge, Eselsbrücken, Weisheiten, Anekdoten und Zusatzinformationen zusammengestellt wurden, die ein Altgriechischlehrer seinen Schülern im Verlaufe des Altgriechischunterrichtes über den bloßen Lehrstoff hinaus vermittelt. Es ist ein lockeres Revue-Passieren der altgriechischen Literatur, Sprachlehre und Grammatik. Wer einmal Altgriechisch gelernt hatte, wird darin eine willkommene, lockere Auffrischung seines Wissens finden. Wer noch nie Altgriechisch gelernt hat, wird mit diesem Büchlein wenig anfangen können. Dem sei besser „The Greek Way“ von Edith Hamilton empfohlen.

Das Buch hat einen großartigen Ansatz, aber leider ist die Umsetzung etwas problematisch. Die Autorin, die sich übrigens selbst als „merkwürdig“ bezeichnet, schwärmt leidenschaftlich vom Altgriechischen und hat über ihrer Schwärmerei die Genauigkeit vergessen. Vieles wird nicht völlig korrekt dargestellt. Meistens meint die Autorin zwar das richtige (so hofft man wenigstens!), sie formuliert aber schräg und schief und trifft den Punkt nicht. Auf diese Weise wird das Büchlein für den kundigen Leser auch zu einer kleinen Denksportaufgabe, was der Auffrischung des Stoffes nur gut tun kann – unfreiwillig.

Teilweise verliert sich die Autorin trotz gegenteiliger Beteuerung doch etwas zu sehr in trockener Grammatik, und versäumt, den Sinn dahinter in den Vordergrund zu stellen. Manches Thema wurde nicht behandelt, obwohl es sich angeboten hätte, so z.B. das Verhältnis von Philosophie und Altgriechisch, oder die Fähigkeit des Altgriechischen durch Verkettung von Worten neue Worte zu bilden. Und dort, wo es richtig spannend wird, nämlich in der Frage, wie das Altgriechische die Schüler für immer verändert, ist die Autorin viel zu kurz angebunden.

Eine gewisse Oberflächlichkeit ist leider nicht zu verkennen. Sie fand sich auch in einer Podiumsdiskussion mit der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse am 13.10.2018 wieder. Dort wurde u.a. davon gesprochen, dass die Welt der griechischen Stadtstaaten durch ihre sprachliche Identität zusammengehalten wurde, und dass dies ein Modell für Europa sein könnte. Der Vergleich ist aber höchst schief, denn Europa ist keine Sprachgemeinschaft. Man könnte eher einen Vergleich zu den angelsächsischen Staaten ziehen. Schiefheiten und Oberflächlichkeiten von dieser Art erwarten den Leser in diesem Buch.

Man muss der Autorin allerdings zugute halten, dass sie mit ihrem unbeholfenen Büchlein und vielleicht mehr noch durch ihre sympathische Person etwas geschafft hat, was Anerkennung verdient: Sie hat positive Aufmerksamkeit auf das Erlernen der alten Sprachen gelenkt. Es soll inzwischen beachtliche 500.000 verkaufte Exemplare weltweit geben! Deshalb bekommt dieses Büchlein einen Punkt mehr, als es eigentlich verdient hätte. Die Autorin ist eben in einem positiven Sinne merkwürdig, wie sie selbst sagt. Nehmen wir sie und ihr Buch so, wie sie sind – con passione – und freuen wir uns über die Aufmerksamkeit, die die Autorin erregen konnte. Denn auch das ist eine Kunst.

Atlantis:

An zwei Stellen bindet Andrea Marcolongo das Thema Atlantis ein. Auf S. 45 gibt sie als Ursachen für den Wandel der griechischen Sprache in den dunklen Jahrhunderten Eroberungen, Migration und gesellschaftlichen Wandel an, und stellt ihren Leser dann die rhetorische Frage, ob sie etwa an Naturkatastrophen oder gar Atlantis geglaubt hatten? Auf S. 237 spricht sie über dieselbe Epoche der dunklen Jahrhunderte, über die es „zahlreiche trostlose Legenden“ über „Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis“ gäbe, die „den Untergang ganzer Inseln und Völkerschaften bewirkt haben sollen“. Eine unmissverständliche Anspielung auf Atlantis!

Die Autorin lässt damit offen, wie sie zum Thema Atlantis steht. Sie behandelt das Thema mit einem Augenzwinkern. Die anfänglich Atlantis-skeptische erscheinende rhetorische Frage bleibt ohne klare Antwort, und wird durch den späteren Verweis auf die Legenden über Atlantis konterkariert. Aber es sind eben nur Legenden. Die Autorin spielt mit dem Thema Atlantis, ohne sich zu entscheiden. Das muss sie auch nicht.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 01. November 2018)

Wolfram Weimer: Das konservative Manifest – Zehn Gebote der neuen Bürgerlichkeit (2018)

Oberflächlicher Kurzkatechismus, aber gute Zusammenfassung und zeitkritisch

Das konservative Manifest von Wolfram Weimer ist keine tiefgründige Überlegung zur problematischen Lage und Zukunft des konservativen Denkens. Das Büchlein hält sich nicht einmal mit einer Definition von „konservativ“ auf, sondern geht gleich in medias res und entfaltet konservatives Denken zu den Themen: Würde, Familie, Heimat, Nation, Kulturkreis, Tradition, Recht, Eigentum, Tugend, Gott.

Dabei werden sämtliche Gemeinplätze des Konservativen heruntergerattert, oft in zu Sprachspielen verdichteten Sentenzen à la „Keine Zukunft ohne Herkunft“. Teilweise kippt der Text ins phrasenhafte ab. Für eine Wahlkampfrede nach Art von Franz-Josef Strauß findet man hier alles nur erdenkliche Material.

Doch diese Darstellung ist zu einfach und zu glatt, obwohl nicht wirklich falsch. So konnte man über Konservativismus vielleicht in den 1980er Jahren sprechen, heute geht das nicht mehr. Auf folgende Probleme gibt das Manifest überhaupt keine Antwort:

  • Was bedeuten Ehe und Familie heute: Wie weit kann man die Begriffe öffnen, und wo ist die Grenze? Sollte der Staat die Definitionsmacht über diese Dinge nicht vielmehr wieder ins Private zurück verlegen und sich besser an neutralen Nützlichkeitskriterien orientieren?
  • Wie kann lokale, nationale Tradition und Kultur bestehen, angesichts der Globalisierung?
  • Wie können wieder mehr Kinder geboren werden?
  • Was sagt der Konservative zum internationalen Bündnis von Zeitgeist-Linken und Kapital?
  • Wie kann die EU sinnvoll gestaltet werden, jenseits von EU-Fanatismus und Nationalismus?
  • Wie kann man das Bündnis mit der angelsächsischen Welt in den Köpfen der Menschen wieder sinnhaftig machen?
  • Wie soll Integration jenseits der beiden Extreme Multikulti und völliger Assimiliation aussehen?
  • Wie soll man mit dem Islam umgehen, dessen Hauptproblem nicht der Islamismus sondern der Traditionalismus ist?
  • Wie kann man von Gott oder Sinn sprechen, wenn immer mehr Menschen sich von den Kirchen abwenden und auch sonst keine Christen mehr sein wollen? Mehr klassisch-humanistische Tradition für alle wagen?
  • Wie kann das konservative Denken wieder einen Fuß in die Tür einer Gesellschaft bekommen, in denen sich Linke und Liberale zu Tode gesiegt haben?

Immerhin könnte man sagen, dass das Büchlein eine durchaus brauchbare Bestandsaufnahme früherer Konzeptionen von Konservativismus liefert. Daran kann man anknüpfen. Und noch eine Stärke hat dieses Büchlein: Es wendet konservatives Denken immer wieder auf gegenwärtige Missstände an. Und hier wird manches offene Wort gesprochen, insbesondere auch gegen die anti-konservative Politik von Angela Merkel.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Februar 2022)

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (1999)

Ein sehr lehrreiches Buch und allein schon deshalb ein gutes Buch!

Dieses Buch ist für den aufmerksamen Leser in vielerlei Hinsicht lehrreich: Man erfährt etwas über deutsche Geschichte, über den linksliberalen Zeitgeist der BRD, und nicht zuletzt erhält man auch zahlreiche Anregungen für die eigene Lektüre.

Was die deutsche Geschichte anbetrifft, fallen zwei Dinge auf: MRR lobt immer wieder das „preußische Gymnasium“ und dessen humanistischen Geist. Negative Assoziationen werden hingegen mit dem Wort „deutsch“ verknüpft. Das ist schon bemerkenswert. – Was den Holocaust anbetrifft, so liest man hier (wie oft auch anderswo), dass sich quasi bis zu allerletzt niemand vorstellen konnte, auch unter Juden nicht, dass Hitler die Juden nicht nur schikanieren und vertreiben, sondern einfach massenhaft töten würde. Das wird von MRR mehrfach betont.

Was den linksliberalen Zeitgeist anbelangt, so war MRR natürlich ein Teil davon. Aus den Ausführungen von MRR kann man Dinge entnehmen, die die negativen Seiten dieser Szene betreffen, also die Charakterschwächen, die Seilschaften und die Machtspiele um die Meinungshoheit. Man erkennt, dass die Generation von MRR durch den Nationalsozialismus so verschreckt war, dass sie in ihrem Trauma offenbar zu pauschal alles abwehrte, was nicht links war. Es war also keinesfalls böse Absicht, sondern ein verständliches Trauma, das sie leitete und ihre Sensibilität störte.

Natürlich war es gut, dass es MRR gab. Ganz so simpel linksliberal wie manch anderer war er nämlich auch gar nicht. Für MRR stand es außer Frage, dass es eine erhaltenswerte deutsche Kultur gibt. Schließlich hatte er sein Leben der Aufgabe gewidmet, Werbung für die deutsche Literatur zu machen, wie er selbst sagt. Das eigentliche Problem war eher, dass es keinen liberalkonservativen Gegenspieler zu MRR gab, sondern nur MRR allein auf weiter Flur. Dann hätte die Balance gestimmt, und MRR wäre erst dann richtig zu Höchstleistungen herausgefordert gewesen. Für dieses Fehlen eines Gegenspielers kann man aber nicht MRR verantwortlich machen. MRR hat seinen Part gut gespielt, und er hat viel Gutes bewirkt.

Was schließlich die zahllosen Lektüre-Anregungen in diesem Buch anbetrifft: Hier findet wirklich jeder was. Nur zu! Übrigens gibt es bei Wikipedia eine Liste aller Sendungen des literarischen Quartetts, mit allen Teilnehmern und den dort besprochenen Büchern, und alle diese Sendungen findet man bei youtube: Auf geht’s!

Fazit: Ein Top-Buch. Kaufen. Lesen. In Kultur und Intellektualität eintauchen. Aber nicht nur mit MRR, bitte *schmunzel*

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2018)

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