Schlagwort: Sachbuch (Seite 6 von 7)

Melanie Amann: Angst für Deutschland – Die Wahrheit über die AfD: wo sie herkommt, wer sie führt, wohin sie steuert (2017)

Demokratie-blinde Analyse der (leider) rechtsradikal gewordenen AfD

Melanie Amann hat zwar Recht: Die AfD (von heute) ist eine rechtsradikale Partei. Aber man kann die AfD nicht korrekt analysieren, ohne gleichzeitig den bedenklichen Zustand der BRD-Demokratie zu analysieren.

Der Gründungsimpuls der AfD war keineswegs Sarrazin. Der Gründungsimpuls der AfD war der Bruch von Staatsverträgen, Verfassung und Gesetzen durch die Merkel-Regierung, in „alternativloser“ Komplizenschaft mit den anderen etablierten Parteien, um den Euro zu „retten“. Unsere Demokratie war durch die „alternativlose“ Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien in immer mehr Politikfeldern schon davor in einer Krise, aber durch den formalen Bruch der demokratischen Grundregeln hatte unsere Demokratie nun einen echten Hau abbekommen: Und genau das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, genau das war der Gründungsimpuls, der Bernd Lucke und andere völlig seriöse Menschen zusammenbrachte, um die AfD zu gründen. Als liberal-konservative Partei.

Erst im Laufe der Zeit ist die AfD immer rechter geworden, bis sie schließlich die Grenzen zum Rechtsradikalismus überschritten hat (meiner Meinung nach war das im Sommer 2016, und nicht schon mit dem Abgang von Lucke). Heute schafft es die AfD nicht mehr, sich glaubwürdig von Antisemitismus abzugrenzen. Björn Höcke hält Reden im unverhohlenen Hitler-Duktus.

Und was den Islam anbetrifft, so ist die AfD schon längst von den Weisheiten Sarrazins abgewichen, der in seinem berühmten Buch auf S. 268 den folgenden klugen Satz schrieb: „Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert“. — Anders als Sarrazin lehnt die AfD von heute den Islam pauschal und radikal ab, und hat die die Solidarität mit Islamreformern aus ihrem Programm herausgestrichen. [PS 30.07.2023: Zum Islam hat Björn Höckes AfD-Fraktion im Thüringer Landtag Mitte 2016 eine Schrift veröffentlicht, die eine antihumanistische Haltung zum Thema Islam formuliert. Der Islam sei inhärent traditionalistisch, denn die „säkularen“ Ideen von Vernunft und Aufklärung könnten auf den Islam angeblich nicht angewandt werden. In islamischen Ländern habe der Islam seinen guten Platz, nur nach Europa gehöre er nicht. Auf dieser ideologischen Grundlage kann die AfD mit islamischen Traditionalisten und Islamisten weltweit kooperieren, während sie Islamreformer grundsätzlich ablehnt und auch keinen liberalen Islam in Deutschland möchte.]

Die AfD ist heute also rechtsradikal und damit abgehakt.

Die fundamentalen Probleme der BRD-Demokratie sind damit aber noch lange nicht abgehakt. Unsere etablierten Parteien brechen immer noch Staatsverträge, Verfassung und Gesetze. Unsere etablierten Parteien vertreten in vielen Politikfeldern immer noch eine derart einheitliche Meinung, dass andersdenkende Bürger praktisch keine Wahl bei der Wahl haben. Wer darin keine ernsthaften, fundamentalen und über kurz oder lang auch gefährlichen Probleme sieht, darf sich nicht Demokrat nennen.

Melanie Amann hat das falsche Buch geschrieben. Hier geht es schon lange nicht mehr um die AfD. Hier geht es schlicht um das Überleben der Demokratie in unserem Land. Aber dazu hat Melanie Amann nichts zu bieten. Und ja: Ich habe Angst davor in einem Land zu leben, das keine Demokratie mehr ist. Echte, berechtigte Angst.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15.04.2017)

Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam (1934)

Äußerst erhellender Blickwinkel auf die Reformation

Wie immer schafft es Stefan Zweig, die von ihm skizzierte Person nicht nur in literarisch schöner und emphatischer Sprache zu zeichnen, sondern auch den moralischen Kern und ihr Dilemma mit ihrer Zeit aufzuzeigen. Wer sich mit der Reformation beschäftigt, lässt Erasmus gerne links liegen und steuert direkt auf Luther zu – ein großer Fehler. Fast möchte man meinen, dass man das Reformationsgeschehen erst durch die Person des Erasmus von Rotterdam richtig zu verstehen lernt.

Erasmus war der wichtigste Repräsentant einer geistigen Bewegung, der Humanisten, die neues Denken in die Zeit brachten, und die auch die Notwendigkeit einer Reform der Kirche klar erkannten und ansprachen. Doch die Reform blieb aus. Erasmus von Rotterdam hatte es zwar geschafft, mit seinem „Lob der Torheit“ die politischen Tabus seiner Zeit auf die Schippe zu nehmen und hatte damit einen vielbeachteten Erfolg, aber eine Reform wurde nicht bewirkt. Deshalb kam die Reform durch einen gröberen Keil zustande: Durch Luther. Der war nun leider kein guter Humanist. Das Versagen der Zeit, sich aus den Fängen ihrer politischen Tabus zu lösen einerseits, und das schlussendliche Aufbrechen der Probleme durch eine grobe Kraft andererseits, das ist die Tragik dieser Zeit, die sich in der Person des Erasmus am besten darstellen lässt.

Dieses Büchlein von Stefan Zweig fängt etwas langweilig an, entwickelt sich aber durch die Dramatik des Geschehens zu einem einzigartigen literarischen und intellektuellen Genuss.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Januar 2014)

Daniel-Pascal Zorn: Die Krise des Absoluten – Was die Postmoderne hätte sein können (2022)

Zauberlehrling Zorn versucht die Postmoderne zu retten und enttäuscht – Eine kritische Rezension

In den Jahren 1983/1984 hielt Jürgen Habermas zwölf Vorlesungen, die unter dem Titel „Der philosophische Diskurs der Moderne“ bekannt wurden. Das zentrale Thema war gewissermaßen die „Erledigung“ der Philosophie der Postmoderne, die vor allem durch vier französische Denker markiert wurde: Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard. Seit damals ist das Bild der Postmoderne äußerst negativ besetzt mit Schlagworten wie Relativismus, Irrationalismus, Antihumanismus und Nihilismus.

Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn möchte mit diesem Buch das schier Unmögliche versuchen, nämlich zeigen, dass es sich um ein Fehlurteil handelt. Der Versuch, eine seit langem etablierte Meinung zu revidieren, noch dazu gegen eine Autorität wie Habermas, nötigt Respekt ab. Der Rezensent kennt eine solche Situation aus eigener Erfahrung durch sein Bemühen, die sogenannten Platonischen Mythen aus der über 150 Jahre alten Verständnisfalle herauszuholen, dass es sich um frei erfundene Kunstmythen handele (statt um platonische Erkenntnisgewebe von Elementen verschiedener Perspektive und verschiedener Grade von Wahrscheinlichkeit). Zudem ist Zorn ein schier unglaublich belesener Autor: Auch das nötigt Respekt ab. Es ist nicht möglich, Zorn zu lesen, ohne dabei manche interessante Anregung mitzunehmen.

Leider konfrontiert Zorn die Leser seines Buches mit einer langen Reihe von Enttäuschungen. Einige davon wurden gewiss mit voller Absicht begangen, ganz im Sinne einer postmodernen, inkommensurablen Intervention (vgl. im Buch S. 558). Zugleich macht dieses Buch den Kritikern ihre Enttäuschung zum Vorwurf (S. 543): Das ist frech. Aber so ist die Postmoderne nun einmal. Zorn scheitert, aber am Ende kann der Leser dennoch einigen Gewinn aus dem Buch ziehen.

Enttäuschung Nr. 1

Das Buch beginnt einladend mit der Jugendzeit der bekannten französischen postmodernen Denker. Doch bald kommt das Buch von ihnen ab und es folgt die Besprechung einer schier endlos langen Reihe von Denkern, die nicht zur „französischen“ Postmoderne gehören: Cusanus, Hume, Kant, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, immer wieder Nietzsche, die US-Pragmatiker, die Logischen Empiristen, Wittgenstein, Max Scheler, Husserl, Cassirer, Heidegger, immer wieder Heidegger, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck, Tillich, Adorno, Joachim Ritter, Heinz von Foerster, Margaret Mead, Humberto Maturana, Gregory Bateson u.a. Wer etwas zu den französischen Denkern erfahren wollte, sieht über viele hundert Seiten kein Licht am Ende des Tunnels. Schließlich werden diese Denker erstaunlich knapp abgehandelt, auf insgesamt vielleicht 15% des Seitenumfangs. Der Autor möchte natürlich – ganz postmodern – „Genealogie“ und „Struktur“ der Postmoderne offenlegen, doch das enttäuscht nun einmal die Erwartungshaltung, die das Buch erweckt hat. Wer flexibel ist, wird darüber hinwegkommen und sich auf das Konzept des Autors einlassen.

Enttäuschung Nr. 2

Das Buch „Die Krise des Absoluten“ erscheint als populärwissenschaftliches Buch. Das ist leicht erkennbar an der äußeren Aufmachung, an den launigen Kapitelüberschriften, am erzählerischen Stil, der fortlaufend biographische Anekdoten einflicht und auch manches für philosophische Laien zu erklären versucht, an der Verbannung der Fußnoten ans Ende des Buches, an den fehlenden Literatur- und Autorenverzeichnissen, und nicht zuletzt am Marketing. Der Autor selbst hat Interviews zu seinem Buch auf Plattformen gegeben, die ein breiteres Publikum ansprechen (z.B. taz talk, Thilo Jung, ZDF blaues sofa). – Doch dieses Buch ist kein populärwissenschaftliches Buch. Es arbeitet ein sehr dichtes Programm an Inhalten ab, führt an die Abgründe möglichen Denkens, und nicht selten verfällt der Autor in Fachjargon. Vorkenntnisse sind für das Verständnis äußerst hilfreich. Der Fußnotenapparat am Ende umfasst 60 Seiten. Der durchschnittlich interessierte Leser dürfte dieses Buch schon nach den ersten 150 Seiten aufgeben. Der Rezensent ist drangeblieben.

Enttäuschung Nr. 3

Das Buch ist leider vielfach unverständlich. Zu viel wird vorausgesetzt. Zu viel wird knapp oder im Fachjargon abgehandelt. Zu viel bleibt ungesagt. Die launig gewählten Überschriften (z.B. „Traumzeit“, „Kambrische Explosion“ oder „Super-GAU“) geben leider überhaupt keine Hilfestellung. Zudem leidet das Buch an zu vielen erzählerischen Vor- und Rückblenden. Manchmal ist der Stoff ungünstig in Kapitel geschnitten. Mancher Cliffhanger am Ende eines Kapitels überfordert: Der Leser fragt sich, warum er es nicht versteht; manchmal kommt die Auflösung in einem späteren Kapitel. Manchmal auch gar nicht.

Immer wieder führt der Autor den Leser gezielt aufs Glatteis: Er lässt ihn das eine denken, nur um nach einigen Seiten aufzulösen: Nein, gemeint war ein anderes. So z.B. im Kapitel „Der Herr der Gegensätze“ zu den Davoser Disputen (S. 152). Der Leser denkt erst, es geht um Cassirer und Heidegger, doch nein: Es geht um Tillich und Przywara. Die Fußnoten beginnen ihre Nummerierung mit jedem Kapitel neu: Nachschlagen wird zur Qual. Hinzu kommt, dass man an vielen Stellen des Buches nicht so recht weiß, ob Zorn nun als Autor spricht, oder ob er lediglich einen Autor der Postmoderne referiert. Die Übergänge sind offenbar bewusst fließend gestaltet worden.

Wirft man hingegen einen Blick in Zorns wissenschaftliches Buch „Vom Gebäude zum Gerüst“, wird man positiv überrascht: Dort wird alles ausführlich erklärt, dort sind die Überschriften hilfreich, dort sind die Fußnoten tatsächlich am Fuß derselben Seite, und dort gibt es auch ein Literatur- und Autorenverzeichnis. Die Unverständlichkeit der „Krise des Absoluten“ ist kein Zufall, kein bloßes Versagen z.B. des Verlages (aber das auch).

Enttäuschung Nr. 4

Auch „das Absolute“, das dem Buch den Titel gegeben hat, ist eine Enttäuschung. Zunächst beginnt es noch harmlos und vielversprechend: Mit dem „Absoluten“ ist zu Beginn die Voraussetzung des Denkens gemeint, die dem Denken einerseits vorausgeht, andererseits vom Denken gedacht werden muss, um sie zu erfassen. Ein reflexives Erkenntnisproblem, ein Kernproblem der Philosophie. Doch das Absolute bleibt schillernd. Eine Definition, auf die sich dieses Buch stützen würde, wird nicht wirklich gegeben. Vielmehr kommen auf den nächsten zweihundert Seiten viele weitere Auffassungen des Absoluten hinzu, die sich keineswegs ineinander überführen lassen, doch alle werden kurzerhand als „das Absolute“ angesprochen. So z.B. Gott als das Absolute, oder auch absolute politische Geltungsansprüche. Diese Dinge sind nicht wirklich dasselbe. Man kann zwar argumentieren, dass diese Dinge miteinander zusammenhängen, aber sie sind dennoch verschiedene Dinge, und aus dem einen folgt zumindest nicht zwingend das andere. Schwerwiegende Denkfallen lauern überall hinter diesen Gleichsetzungen. Ist das Schwärmerei? Der Leser wundert sich und ist verwirrt.

Erst auf S. 235 kommt eine teilweise Auflösung: Erst jetzt macht das Buch explizit, was der Leser über 200 Seiten hinweg in schweigender Duldsamkeit erfahren hat: Es gibt drei verschiedene „Momente“ des Absoluten, liest man da. Aber sogleich wird ein Schema von vier verschiedenen Absolutheiten nachgeschoben (S. 246). Wenn man genau mitgezählt hätte, wären es sicher noch mehr. Und auch im folgenden kommen viele weitere hinzu. Und alles wird „das Absolute“ genannt. Warum, wird nicht erklärt. Da schwurbelt das Buch: Es wird in oberflächlichen Analogien geschwärmt. Ob der Autor das wirklich alles erklären könnte? Wir vermuten zudem, dass das Buch sich im Wesentlichen auf den Begriff des Absoluten bei Hegel stützt. Doch wir wissen es nicht. Es bleibt ungesagt.

Im weiteren Verlauf des Buches verflacht der Begriff des „Absoluten“ zu einem eher politischen und gesellschaftlichen Begriff. Anders, als der Leser erwartet hatte, geht es jetzt nicht mehr um einen Kernbereich der Philosophie, sondern eher um politische Philosophie. Vermutlich würde der Autor es anders sehen wollen. Doch so stellt es sich dem Leser dar. Jetzt bekommen wir eine Darstellung der gesamten Geschichte seit Platon präsentiert, in der es immer wieder um die Krise des Absoluten ging. Wir lesen davon, dass auch der Absolutismus in Frankreich das Absolute war, und dass auch die Vordenker der französischen Revolution über das Absolute nachdachten. Und jetzt ist z.B. auch der Vorgang der Industrialisierung eine Krise des Absoluten. Zuletzt wird auch die physikalische Energie von Dampfmaschine und Elektromotor als „das Absolute“ angesprochen (S. 300), zuguterletzt auch der Goldstandard des Dollars (S. 514). Im Grunde gerät nun die ganze Geschichte der Menschheit zu einer einzigen Dauerkrise des Absoluten. Und damit hat sich das Versprechen des Buchtitels von der Krise des Absoluten in philosophisches Kleingeld verwandelt. Das Absolute und seine Krise, das sind keine seltenen und unbekannten Dinge, die es durch dieses Buch neu zu erfahren gilt, sondern das ist gewissermaßen die altbekannte, stets krisenhafte conditio humana zu allen Zeiten. An dieser Stelle fragt sich der Leser: Und dafür dieses Buch?

In diesen Zusammenhang gehört auch die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass das Absolute und die Vielfalt korrespondieren. Auch diese Beziehung wird eher schwärmerisch in assoziativen Analogien beschworen als erklärt (z.B. die vielen Währungen und der eine Goldstandard, S. 514 f.), und der Leser hat den Eindruck, dass hier Äpfel mit Birnen verwechselt werden: Mal zeigt sich das Absolute in der Vielfalt, man kann es nur in der Vielfalt erfassen (reflexive Denkvoraussetzung) – mal stehen sich Vielfalt und das Absolute antagonistisch gegenüber (Absolutheit des Geltungsanspruchs gegen die Vielfalt). Jedenfalls spricht der Autor in einer Weise von der Gefahr des Absoluten und von der Vielfalt in der Gesellschaft, dass ein Bezug zu philosophisch „flachen“ Themen wie Multikulti und Diversity nicht übersehen werden kann. Der Leser ist skeptisch, ob der Bogen von einem Kernproblem der Philosophie wirklich zu diesen Dingen geschlagen werden kann, und ob das überhaupt noch Philosophie ist oder nicht vielmehr politische Weltanschauung und Agitation. Doch weiter.

Enttäuschung Nr. 5

Chronologisch wird der Leser von dieser Enttäuschung schon früher ereilt, doch die ganze Tragweite erschließt sich erst mit der Zeit: Der Autor übernimmt keine Verantwortung für sein Buch, sondern lässt alles in der Schwebe, wie es sich für die Postmoderne gehört.

Zu Anfang wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die vorgelegte Darstellung der Postmoderne lediglich aufzeigt, „was die Postmoderne hätte sein können“ (S. 47 f.), aber – so folgt zwingend, auch wenn es in dieser Form ungesagt bleibt – vielleicht war die Postmoderne auch etwas ganz anderes. Das ist starker Tobak. Es ist in Ordnung, wenn ein Autor seinen Text einen „Essay“ nennt, also einen „Versuch“, sich einem Thema zu nähern. Wir alle wissen, dass man sich der Wahrheit nur annähern kann, und wir alle versuchen dies, so gut wir eben können, und scheitern doch immer irgendwo. Aber was hier als Anspruch formuliert wurde, ist das Gegenteil eines Anspruchs: Wenn es doch nicht so war, dann war es halt eben anders: Pech gehabt! Diese unphilosophische Frechheit ist natürlich ein Markenzeichen der Postmoderne (Vgl. z.B. S. 350, 562 ff.).

Zugleich wird damit auch die Erwartungshaltung enttäuscht, die der Untertitel „Was die Postmoderne hätte sein können“ beim Leser aufgebaut hatte: Der Leser dachte natürlich, dass die Postmoderne etwas Wichtiges und Richtiges „hätte sein können“, aber dann vom Weg abkam, und dass dieses Buch dieses Wichtige und Richtige, das „hätte sein können“, aufzeigt und damit Ansätze und Anteile der historischen Postmoderne für die Gegenwart rettet. Aber nein, die Postmoderne wird nicht differenziert und gereinigt sondern pauschal betrachtet, und es geht nur darum, dass die Postmoderne so „hätte sein können“, wie beschrieben, was immer einschließt, dass sie vielleicht auch anders war.

Enttäuschung Nr. 6

In diesem Buch ist die Postmoderne eine durch und durch richtige und gute Sache. Sie erscheint (!) völlig rational und geradezu septisch rein von allen bösen Dingen, die wir gemeinhin mit der Postmoderne assoziieren. So ist z.B. von einer Philosophie die Rede, „die nichts mit ‚postmoderner‘ Beliebigkeit, mit bloßer Ästhetik oder wahrheitsfeindlichem Relativismus zu tun hat.“ (S. 431) In der Rezeptionsgeschichte der Postmoderne sind dann alle Kritiker der Postmoderne durch die Bank unfair und polemisch (S. 528-549). Diese allzu reine Reinheit der überguten Postmoderne und diese allzu böse Bosheit ihrer Kritiker ist vollkommen unglaubwürdig und man fragt sich, ob der Autor nicht bemerkt hat, dass er sich damit ins eigene Knie schießt?

Hier wird sogar Nietzsches Übermensch zu einem weichgespülten Multikulti-Übermenschen, der gelassen und sogar zustimmend dabei zusieht, wie seine eigenen Interessen in dem großen Gezerre der Interessen von den vielfältigen Anderen ignoriert und zertrampelt werden (S. 331). Hat man sich aber den Übermenschen nicht eher so vorzustellen, dass vor allem er es ist, der in dem Gezerre der Interessen die vielen anderen über den Tisch zieht, und ihnen seinen Willen aufnötigt? Und wo ist denn Nietzsches Idee von der Züchtung einer Herrenkaste und der Eliminierung der Entarteten? Wie auch immer: Der Autor hat in diesem Buch völlig vergessen zu erwähnen, dass Nietzsches Werk dermaßen „literarisch“ ist, dass es eben keine einigermaßen einheitliche Deutung von Nietzsche gibt. Wir sehen hier Zorns Nietzsche. Aber nicht Nietzsche. Nietzsche ist schon lange tot.

An einer Stelle heißt es beiläufig: „Nur wenn man davon ausgeht, dass es nur die eine Wahrheit geben kann, wird die Pluralität der Philosophie zu einem unlösbaren Problem.“ (S. 397) Dass damit die Einheit der Wahrheit aufgegeben wird, der wir alle gemeinsam nachstreben und um die wir alle gemeinsam ringen, bleibt ungesagt. Die Konsequenzen dieser beiläufig referierten postmodernen These, dass es die eine gemeinsame Wahrheit nicht geben würde, sind absolut dramatisch und dramatisch absolut – und bleiben hier völlig unbesprochen! Honi soit qui mal y pense?

Um die Akzeptabilität der Postmoderne zu untermauern, werden zahlreiche Autoren an die Postmoderne „rangepflanscht“, die wir keinesfalls zur Postmoderne zählen wollen. Darunter Joachim Ritter und seine Schule oder Theodor W. Adorno.

Andere Autoren mit starkem Bezug zum Thema fehlen, und es ist völlig unverständlich. So z.B. Hannah Arendt, die immerhin als wichtige Denkerin zum Totalitarismus gilt und damit eine Hauptautorin zum „Absoluten“ ist! Noch dazu hatte sie bei Heidegger studiert. Auch Zorn selbst verwendet das Wort „totalitär“ immer wieder zur Beschreibung des Absoluten (z.B. S. 120, 125, 216, 332), doch Hannah Arendt kommt nicht vor. Ob die Idee des Antitotalitarismus nicht in das Konzept des Autors passte? Karl Jaspers, ein berühmter Existenzphilosoph im Umfeld von Heidegger und Hannah Arendt, wird nur einmal erwähnt, aber nicht als Philosoph, sondern als „Psychiater“ (S. 88). Auch die Phänomenologin Edith Stein fehlt, immerhin Assistentin Husserls und in dieser Rolle direkte Vorgängerin Heideggers, die sich Gott zuwandte und in Auschwitz ermordet wurde: Mehr Krise des Absoluten geht gar nicht. Aber sie fehlt. Blankes Schweigen herrscht über den „Prager Frühling“ 1968. Wer von Paris 1968 spricht, darf von Prag 1968 nicht schweigen. Zudem hätte sich eine Erwähnung besonders angeboten, denn mit Jan Patocka spielte ein Phänomenologe eine wichtige Rolle. Patocka war auch der geistige Ziehvater von Vaclav Havel, der 1989 eine erfolgreiche bürgerliche Revolution anführte. Aber Schweigen.

Enttäuschung Nr. 7

Wenn der Leser gegen Ende des Buches auf Zorns vernichtende Kritik an Habermas und anderen Kritikern der Postmoderne stößt, ist er geradezu daraufhin konditioniert, um nicht zu sagen: manipuliert worden, diese Kritiker nicht verstehen zu können. Der unkritische Leser wird deren Kritik für genauso unfair und polemisch halten, wie das Buch sie darstellt.

Dieses Gefühl, manipuliert worden zu sein, gefällt überhaupt nicht. Überdies fühlt sich der Leser hilflos. Denn obwohl man sich gerade durch ein sehr dickes und schwieriges Buch zur Postmoderne hindurchgequält hat, fühlt man sich nicht hinreichend und auch nicht verlässlich informiert, um eine eigene Abschätzung abgeben zu können, ob und inwieweit die Kritiker irren. Man traut der Sache nicht, kann ihr gar nicht trauen. – Und über allem schwebt das Diktum, dass dieses Buch ja nur sagen will, was die Postmoderne vielleicht hätte sein können, vielleicht aber dann doch nicht war.

Enttäuschung Nr. 8

Was dieses Buch hätte leisten müssen, wäre ein großes Aussortieren, Reinigen und – wo möglich – teilweises Erneuern der Postmoderne gewesen: Aus den rauchenden Trümmern der Postmoderne mit all ihren Fehlern und Maßlosigkeiten hätte herausgearbeitet werden müssen, was aus dem Schutt gerettet werden kann und Bestand hat. Doch von dieser notwendigen Kritik fehlt in diesem Buch jede Spur. Der Leser ist ja durchaus bereit, sich auf vieles einzulassen. Es ist offensichtlich, dass nicht alles schlecht war an der Postmoderne. Aber ohne dieses Sortieren geht es nicht. Denn so sicher, wie die Postmoderne manchen wertvollen Gedanken formulierte, so sicher schoss sie auch über das Ziel hinaus.

Wir würden z.B. gerne davon hören, warum Foucault Freiheit im Traum zu finden glaubte (S. 93 f.). Der Leser findet bei eigener Introspektion nämlich, dass Träume zwar sehr phantasievoll sein können, frei jedoch fühlt man sich in ihnen keinesfalls. Es wäre auch interessant herauszufinden, ob das Ereignis, das dieses Buch mit den Worten „Foucaults Hass kennt keine Grenzen“ beschreibt (S. 344), völlig unverbunden zu Foucaults Denken sein konnte? Wir verstehen die Motivation Foucaults sehr gut, aber Hass? „Grenzenloser“ Hass?! Nein. Wir würden auch gerne wissen, warum Foucault die mörderische Tyrannei von Khomeini im Iran verharmloste, und ob das nicht doch sehr viel mit seinem Denken zu tun hatte. Von seinem teils fragwürdigen Sexualverhalten, das Foucault teilweise selbst mit seinem Denken in Verbindung brachte, mal ganz abgesehen. Doch davon kein Wort in diesem Buch.

Es ist zu fragen, warum die Zielrichtung der Kritik der Postmoderne immer fundamental gegen die bestehende Ordnung gerichtet war, gegen „das System“, wie dieses Buch sehr gut herausarbeitet. Ist das nicht ein wenig kindisch? Irgendeine Ordnung muss es ja geben. Vielleicht hat die bestehende Ordnung auch ihr gutes? Und vielleicht kommt nach der erfolgreichen „Überwindung“ der bestehenden Ordnung nichts besseres nach? Hier fehlt doch einfach der Blick auf das Ganze. – Und wenn es der Postmoderne wirklich darum ginge, die herrschende Ordnung zu hinterfragen, und „das System“ mit inkommensurablen Interventionen zu irritieren, warum wird dann die irritierende Frage nach Gott nicht gestellt, sondern abgeräumt? (S. 235, 330) Ist das die Inkohärenz der Inkohärenz der Postmoderne?

Ebenso auffällig ist die völlige Verhaftetheit dieser Denker in ihrer Zeit und ihrem Zeitgeist. Es ist eine seltsame Verschränkung von Philosophie und Zeitgeist, also eine Philosophie, die gar nicht nach der Wahrheit an sich fragt, sondern nach der geistigen Stimmung zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Da ist z.B. Nietzsches Gejammer über den Tod Gottes, den „wir“ angeblich getötet haben. Damit reflektiert Nietzsche den Geist seiner Zeit. Aber sollen denn auch wir, die wir sowohl die vielfältigen Verläufe der Geschichte überblicken, als auch besser über die Gottesfrage Bescheid wissen als jene Menschen, die dem Zeitgeist ausgeliefert sind, uns diesem Diktum anschließen? Nein. Das Gejammere Nietzsches über den Tod Gottes ist unter philosophischen Gesichtspunkten dumm und kindisch. Ein Gegenbeispiel ist Platon, der die Zyklen der Zeit zu überblicken versuchte.

Wir würden auch gerne wissen, ob es nicht eine maßlose Übertreibung ist, hinter dem reflexiven Wechselgeflecht des Strukturalismus eine völlige Ablösung von den zugrunde liegenden Realitäten zu sehen. Das Buch zieht eine Analogie zu den Finanzmärkten, an denen Derivate gehandelt werden, also Preise und Preiserwartungen, aber keine echten Waren mehr: „Es ist nicht so, als ob es die Welt, auf die diese Werte sich beziehen, nicht gäbe. Sie existiert. Doch sie spielt für die Bewertung keine Rolle mehr.“ (S. 523 f.). – Doch das ist falsch. Die den Derivaten zugrunde liegenden Realitäten spielen für die Bewertung sehr wohl eine Rolle. Es ist vielmehr eine fahrlässige Risikokontrolle, die dazu führt, dass sich Finanzmärkte allzu weit von der Realität entfernen und in luftige Höhen abheben – und dann irgendwann zwangsläufig eine sehr harte Landung erleben. Mit den Finanzmärkten ist es wie mit der Fliegerei: Runter kommen sie immer. Damit verkehrt sich das gegebene Beispiel zu einem Argument gegen (!) die Postmoderne: Wurde nicht auch hier allzu leichtfertig die zugrunde liegende Realität vergessen und zu Höhenflügen angesetzt, die mit einer harten Landung enden müssen? Derselbe Irrtum unterläuft dem Autor noch ein zweites Mal beim Thema der Ablösung der Währungen vom Goldstandard (S. 515, 522): Es ist falsch, dass Währungen sich losgelöst von jeder Realität nur noch gegenseitig bewerten. Denn jeder Ausgabe von Geld steht die Einlage eines Wertpapiers bei einer Zentralbank gegenüber: Das ist harte Realität. Zentralbanken können natürlich dazu übergehen, wertlose Wertpapiere als Einlagen zu akzeptieren. Aber das führt dann in die Inflation. Runter kommen sie immer. Nichts schwebt frei.

Stellvertretend für alles, was der Autor über die Postmoderne ungesagt lässt, möchte der Rezensent das Büchlein „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne 1983 anführen, das er selbst gelesen und rezensiert hat. Paul Veyne war mit Foucault eng befreundet und übertrug das postmoderne Denken 1971 in seiner Schrift „Comment on écrit l’histoire“ auf die Geschichtsschreibung. Paul Veyne ist ein Urgestein der Postmoderne. Das Büchlein wird u.a. auch von Slavoj Zizek empfohlen, der wiederum von Zorn geschätzt wird. Es ist ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Alle Vorurteile gegen die Postmoderne werden hier bestätigt. Doch dieser Realität stellt sich das Buch von Zorn nicht. Das wäre aber verlangt gewesen.

Enttäuschung Nr. 9

Dieses Buch realisiert nicht, dass die Postmoderne keinesfalls ein Antidot gegen das Absolute ist, sondern dass die Postmoderne selbst zu einem Absoluten geworden ist, das unerwünschte Extreme hervorbringt. Das ist fast schon tragisch. Zorn beschönigt die Postmoderne absolut.

Da ist zunächst die maßlose Überziehung und Übertreibung von an sich richtigen Grundgedanken durch die Postmoderne. Doch der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Komplexität muss reduziert werden. Es ist nicht möglich, Rücksicht auf alles zu nehmen, selbst wenn man das wollte. Noch zu Anfang des Buches wird auf Nietzsches Erkenntnis verwiesen: „Das Absolute ist nur das Missverständnis einer Vielfalt, die so radikal ist, dass sich das alltägliche Denken bei ihr nicht lange aufhalten kann.“ (S. 48) Am Ende des Buches fehlt diese Einsicht. Gutes Denken denkt die Praktikabilität immer mit. Wer hingegen versucht, auf Teufel komm raus Probleme mithilfe filigraner Theorien zu lösen, die an der groben Praxis scheitern müssen, endet zwangsläufig in Extremen. Man muss die Kirche im Dorf lassen können.

Die Postmoderne ist keine Philosophie nach menschlichem Maß. Und der Mensch wird immer das Maß für den Menschen bleiben, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Die Vorstellung, dass der Mensch den Menschen erst vor wenigen Jahrhunderten als Maßstab entdeckt hat, und dass es jetzt gilt, den Menschen wieder zu verabschieden, ist unsinnig, falsch und extrem. Das Ringen um das Wesen des Menschen wird kein Ende nehmen, solange es Menschen gibt. Die Idee des Menschen ist vielleicht die einzige Idee, die man getrost zum Absoluten machen kann, eben weil der Mensch ein Mensch ist. Vielleicht auch noch ein dazu korrespondierender Gott, vielleicht. Auf diese Weise wird das Absolute als Trennendes unter den Menschen neutralisiert. Die Absolutheit der Menschenrechte rührt daher. Aber ein solcher Gedanke fehlt in diesem Buch.

Statt dessen wird der Leser mit Deleuze und Guattari konfrontiert, die in einer kommunistischen Klinik die „originelle“ Idee aushecken, dass der Kapitalismus die Krankheit der Schizophrenie hervorbringe (S. 455 ff.). Später liest man dann, dass die beiden eigentlich gar nicht die Krankheit Schizophrenie meinten, sondern mit diesem Wort etwas anderes meinten (S. 466). Typisch Postmoderne. Oder da ist Lyotard, der das Bündnis mit den Arbeitern gegen die herrschende Klasse sucht (S. 476): So flach kann Postmoderne sein.

Überhaupt das fundamentalistische Aufbegehren gegen die herrschende Ordnung, gegen „das System“. Es geht immer ums Kaputtmachen. Nie ums Aufbauen. So einfach kann man es sich aber nicht machen. Wir erinnern daran, dass z.B. auch die Menschenrechte „zum System“ gehören. Lyotard meint, dass es völlig sinnlos sei, über eine Reform der Universität und ihrer Lehrinhalte nachzudenken, denn der Dozent würde immer nur konsumierte Lehrinhalte reproduzieren und auf diese Weise Studenten zu Arbeitskräften für den Kapitalismus ausbilden (S. 480). Abgesehen davon, dass Lyotard hier eine sehr zynische Auffassung seines eigenen Lehrberufes zu erkennen gibt: Ist es nicht maßlos übertrieben, dass Lyotard trotzig auf einer utopischen Fundamentalkritik beharrt und darüber womöglich nützliche Reformen pauschal verwirft? Gewisse Defizite von Foucault sprachen wir oben schon an. – Es gibt gute Gründe, solchen Menschen nicht zu vertrauen.

Es wird auch die Wende zur völligen Dominanz des Marktes unter Reagan und Thatcher beklagt (S. 519 ff.). Doch es wird kein Grund dafür angegeben, wieso es eigentlich dazu kommen konnte. Wäre es nicht möglich, dass gerade linke und postmoderne Denker den Boden dafür bereitet haben? Denn sie waren es, die die klassische bürgerliche Bildung diskreditiert haben, die ein Gegengift gegen die Verabsolutierung der Märkte gewesen wäre. Sie waren es, die den Fokus völlig auf das Ökonomische und den Hedonismus gelenkt haben. Sie haben Sinnangebote jeglicher Art zerstört, bei Gott angefangen (S. 330), und sich als erste dem Konsum hingegeben. Sie sind schuld daran, dass die Menschen über keine eigenen geistigen Ressourcen mehr verfügen, mit denen sie den Vereinnahmungen des Marktes und des Konsums entgegentreten könnten. „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los!“, ruft Goethes Zauberlehrling.

Der Rezensent verweist noch einmal auf das Beispiel des Büchleins „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“ von Paul Veyne, dessen Lektüre eine traumatische Erfahrung war. Es ist wirklich ein Machwerk voller maßloser und falscher Ideen, eine Orgie der Anti-Rationalität und des Relativismus, des Zynismus und der Menschenfeindlichkeit. Kurz: Die Postmoderne ist selbst extrem und „absolut“, daran kann kein Zweifel sein. Doch Zorn scheint das nicht zu sehen. Oder nicht sehen zu wollen.

Enttäuschung Nr. 10

Ein wirkliches Antidot gegen die Gefährlichkeit des Absoluten wäre eine klassische, bürgerliche, humanistische Bildung. Auch und gerade in einer „Massengesellschaft“, die ihre „Vermassung“ ja gerade nicht ihrer großen Zahl verdankt, sondern eben dem Verlust der höheren Bildung als Ideal und der Orientierung auf Konsum. Doch diese Idee wird in diesem Buch in Form des Ansatzes von Joachim Ritter (S. 269, 510 f.) nur sehr zurückhaltend behandelt. Im Epilog, auf der vorletzen Seite und als letzte inhaltliche Botschaft des gesamten Buches, reibt Zorns Adorno Joachim Ritter noch einmal kräftig unter die Nase, warum er davon nicht viel hält (S. 580). Der Zauberlehrling mag die Weisheit des alten Meisters nicht. Er wird immerhin noch geduldet.

Der Rezensent möchte an der Idee des gebildeten Menschen als einem selbständigen Leser und Denker festhalten. Platon und Kant, Goethe und Schiller, Thomas Mann und Hermann Hesse, Cicero und die Federalist Papers, um es einmal ganz platt zu sagen. Eine solche Bildung schützt allein durch ihre Vielheit vor Absolutheiten, indem sie viele Facetten des Denkens und Lebens kennengelernt hat. Indem sie viele Beispiele aus der Geschichte kennt, wie sich anfänglich gute Gedanken verabsolutierten. Und indem sie durch ihr vieles Weltwissen Probleme richtig einzuordnen weiß. Der gebildete Mensch wird niemals den Markt oder die Ökologie oder die Wissenschaft verabsolutieren, wie es heute geschieht, sondern er wird immer sagen: Marktwirtschaft ist sehr nützlich, aber nicht hier. Oder: Naturschutz ist wichtig, aber nicht so. Oder: Wissenschaft ist unverzichtbar, aber der real existierende Wissenschaftsbetrieb ist kein unfehlbares Konzil, das gläubige Unterwerfung verlangen könnte.

Eine solche Bildung ermöglicht erst eigenes weltanschaulich-philosophisches und politisches Denken. Schon mit Platon lernen wir, dass wir im Grunde nichts wirklich wissen, und wie wir der Wahrheit schrittweise durch Argumente nachstreben. Erkenntnis ist ein Riesennetzwerk von sich gegenseitig stützenden Einzelerkenntnissen verschiedener Wahrscheinlichkeit, und jede neu hinzukommende Erkenntnis verändert die Gewichte in diesem Netzwerk aufs neue. Die Wahrheit selbst ist nur schwierig oder gar nicht zu erlangen. Statt dessen muss man sich wie Münchhausen an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf der Erkenntnis ziehen, indem man Vieles mit Vielem abgleicht. Intellektuelle Demut ist angesagt. Wir können nicht alles verstehen, und es gibt Probleme, die wir nicht lösen können. Wer sie dennoch zu lösen versucht, muss in Extremen enden. Die Welt ist komplexer als wir erfassen können. Das ist triviale Allgemeinbildung. Aber darauf kann man aufbauen.

Gesellschaften brauchen ein gewisses Maß an Freiheit, sonst sind sie zu eng, aber auch ein gewisses Maß an Zusammenhalt, sonst fallen sie auseinander. Dass aus der allzu großen Freiheit der Tyrann wie ein frischer Trieb aus einem totgeglaubten Wurzelstock hervorschießt, lesen wir schon bei Platon und Cicero. Konsequentes Multikulti kann es paradoxerweise nur in einem autoritären Staat geben, wie Helmut Schmidt schon feststellte. Zorn selbst beschreibt mit Koselleck, wie sich der politische Absolutismus zur Befriedung der vielfältigen konfessionellen Gegensätze herausbildete (S. 493). Ungebildete Menschen plärren für Multikulti oder für Monokulti. Der gebildete Mensch sucht nach integrativen Lösungen praktischer Natur, z.B. Transkulturalismus statt Multikulturalismus, damit das absolut notwendige Gemeinsame über dem Vielen nicht verloren geht, und umgekehrt. Ideale Lösungen allzu filigraner Natur gibt es aber nicht. Gesellschaft und Demokratie werden immer holprig und grob geschnitzt bleiben, denn der Mensch ist selbst aus krummem Holz geschnitzt. – Solche Probleme werden bei Zorn aber nur ganz kurz und kryptisch angedeutet (S. 559 unten), und es ist wieder einmal nicht sehr klar, was er da eigentlich meint. Es bleibt auch unverständlich, wie denn das Gemeinsame kein Absolutes sein soll.

Richard Rortys Metaphilosophie meint man schon in Albert Schweitzers Kulturphilosophie begegnet zu sein, sowie in dem trivialen Gedanken, dass auch ein pluralistisches Gemeinwesen nicht alles akzeptieren kann, sondern nur das, was den Zusammenhalt des Gemeinwesens nicht sprengt. Und dazu gehört weit mehr als nur Verfassung und Vernunft, denn es geht um Menschen, nicht um Roboter.

Dass Systeme die Tendenz haben, einzurosten und sich von ihrer ursprünglichen Zielsetzung zu entfernen, gehört zum kleinen Einmaleins der Gesellschaftskunde. Systeme brauchen von Zeit zu Zeit eine Reform, sonst erstarren sie. Dasselbe gilt für Denksysteme. Wichtig ist der offene Diskurs, dass alles auf den Tisch kommt. Konsequenz ist gut, aber Fanatismus ohne Selbstkorrekturfähigkeit ist schlecht. Man hätte in diesem dicken Buch über das Absolute gerne auch die Weisheit gefunden, dass sich die Extreme gegenseitig wie kommunizierende Röhren aufschaukeln. Doch sie fehlt. Linke, die sich z.B. über die rechtsradikal gewordene AfD von Gauland und Höcke beklagen, sollten sich zuerst einmal an die eigene Nase fassen: Der ungebremste Durchmarsch linker Politik übersah, dass politisch Andersdenkende nicht verschwinden, wenn man ihnen die politische Vertretung wegnimmt. Die Idee einer Demokratie, in der es nur noch Linke gibt, ist eine granatenmäßige Schnapsidee. Ganz zu schweigen davon, dass die ungebremst durchgezogene linke Politik zwangsläufig mit der Realität kollidiert. All das schafft Radikalismus von der anderen Seite her, den es sonst nicht gegeben hätte. Umgekehrt wäre es übrigens genauso. – Damit genug der einfachen Wahrheiten, die wir in diesem Buch über Vielfalt und das Absolute so leider nicht finden konnten.

Enttäuschung Nr. 11

Der Autor des Buches ist selbst „absolut“. Das enttäuscht natürlich sehr, denn ist dies nicht ein Buch gegen das Absolute? Sowohl dieses Buch als auch andere öffentlich zugängliche Quellen machen deutlich, dass der Autor die Thesen der Postmoderne in ihrer Absolutheit, siehe oben, gar nicht reformiert. Zwar zählt der Autor ganz zu Anfang in knapper Form einige heutige Übertreibungen der Postmoderne auf (S. 9 f.), doch bei genauem Lesen erkennt man, dass er hier lediglich Meinungen über die Postmoderne referiert, aber seine eigene Meinung offenlässt. Zorn lässt den Leser denken, dass auch er diese Übertreibungen als Übertreibungen sieht, doch tatsächlich hat er nichts dergleichen gesagt. Nirgends in diesem Buch leistet Zorn die nötige Aussortierung von Übertreibungen und Brauchbarem. Im Grunde werden die anfangs referierten „Vorurteile“ gegen die Postmoderne im Verlauf des Buches nicht widerlegt sondern bestätigt. – In einer Talkshow sagte Zorn: „Ich bin … ich weiß nicht … ich bin selber kein postmoderner Philosoph … Ich habe nicht das Denkproblem, das die haben. Ich begnüge mich damit, die Geschichte zu erzählen.“ Wir können das nur so deuten, dass er über die Postmoderne hinaus will, aber sehr wohl mit und auf der Grundlage der Postmoderne. Insofern ist er natürlich sehr wohl postmodern. Wer nur das Buch gelesen aber nicht diese Talkshow gesehen hat, wird Zorn ohne weiteres für einen postmodernen Denker halten bzw. für einen post-postmodernen, „bildenden“ Philosophen im Sinne Rortys (S. 562). Es wäre ja seltsam, wenn Zorn auf der einen Seite die Postmoderne rehabilitiert, auf der anderen Seite aber sagen würde: Ich selbst halte nichts davon.

Politisch steht Zorn offenbar sehr weit links. Zu Marx scheint er ein tiefenentspanntes Verhältnis zu haben. Sein Geschichtsbild legt Zorn selbst in diesem Buch dar (vor allem S. 484-486). Wir haben es jedenfalls als Zorns Geschichtsbild gelesen. Liberale und Konservative kommen darin nicht gut weg. Habermas ist ihm zu konservativ, wie der frontale Angriff auf Habermas in diesem Buch und Aussagen in Talkshows deutlich machen. Das Milieu, in dem Zorn sich bewegt, spricht Bände. Auf Twitter pflegt Zorn mit Andersdenkenden einen teils inquisitorischen (vgl. Derridas zwängende Lektüre S. 360 f.), teils auf hanebüchene Irritation setzenden Gesprächsstil. Die Postmoderne lässt grüßen. Es ist auch befremdlich, wie „Rechte“ automatisch als Problemfälle der Demokratie, also als „Rechtsradikale“ eingeordnet werden, während für „Linke“ ganz andere Maßstäbe angelegt werden. Jeder kann sich in Zorns Büchern, in Medien und auf Twitter selbst davon überzeugen. Der Punkt ist: Wir sehen eine Absolutheit, die uns erschreckt.

So stellt es sich uns dar: Mit Daniel-Pascal Zorn ist wieder einmal ein Intellektueller der Versuchung erlegen, die innere Schlüssigkeit seines großartigen Gedankengebäudes für wahr zu halten, ohne dabei hinreichend auf die Rückbindung an die Realität geachtet zu haben. Und in diesem Gedankengebäude ist er nun gefangen wie die Kindliche Kaiserin in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ in ihrem Elfenbeinturm. Das ist es im Kern. Das ist die Entzauberung Zorns.

Die Abgehobenheit Zorns von der Realität zeigt sich auch in folgenden Aussagen: Seiner Meinung nach ist die menschliche Gesellschaft durch die Dominanz des Marktes in einen Zustand der „Künstlichen Intelligenz“ eingetreten, die unaufhaltsam ein Programm hin zu mehr Freiheit, Emanzipation, Vielfalt und Identität abarbeitet (S. 559). Mit anderen Worten: Die Entwicklungen rund um den Wokismus, mit ihren maßlosen Übertreibungen, deutet Zorn zwar noch nicht als die Erfüllung seiner wahren Utopie, aber doch immerhin als eine Zunahme an Freiheit. (Ein Blick auf seine Twitter-Tweets und seine Aussagen in Talkshows bestätigen das.) – Da kann man nur staunen: So „zwängend“ hatten wir uns Freiheit nicht vorgestellt. Was für Untiefen lauern da in Zorns Denken?

Oder ein anderes Beispiel: Zorn übersieht völlig die Entwicklungen, die durch eine Zuwanderung ohne hinreichende Integration vonstatten gehen, wie wir sie den Vielfalt-Schwärmern zu verdanken haben: Immer mehr Menschen in unserem Land haben kein hinreichend aufgeklärtes mind-set mehr. Immer mehr Frauen und junge Männer in unserem Land stehen unter der Knute eines Patriarchen. Während diese Rezension entsteht, wird Salman Rushdie bei einem Messerangriff schwer verletzt. Und in Dortmund nehmen Politiker an einer großen, öffentlichen Trauerfeier teil, auf der ein Gewalttäter (er hatte Polizisten mit einem Messer angegriffen) wie ein Märtyrer gefeiert wird – nur um die „Community“ zu beschwichtigen. Immer mehr Stadtteile verschwinden in dem nebelhaften Nichts vormoderner Zustände: Phantásien in Not! Doch Zorn ist ein Meister im Wegsehen und formuliert, wie wenn es die Realität nicht gäbe: „Gott, das religiöse Absolute, hat seine Macht über die Menschen verloren, zugunsten von Säkularisierung, Aufklärung und Fortschritt.“ (S. 235) und: „Die progressive, an Freiheit und Emanzipation orientierte Weiterentwicklung der Gesellschaft ist längst ein Operationsmodus dieser Künstlichen Intelligenz geworden“ (S. 559).

Sein Programm für die Gegenwart und die Utopie für die Zukunft hat Zorn (mit Lyotard und Rorty) auf den Seiten 558-564 beschrieben. Oder ist es doch nicht sein Programm? Wir haben es so gelesen, denn Zorn spricht auf S. 560 von „man“: „Man bräuchte die Postmoderne …“, und: „Bis es so weit ist, kann man sich an die zweite Bestimmung der Postmoderne halten.“

Wer auf Twitter genau aufpasst, erfährt, dass der Romantiker Novalis für Zorn der wichtigste Denker überhaupt zu sein scheint, der am weitesten gedacht habe (in Sachen Reflexivität, das große, alles überspannende Thema Zorns). Zorn will Novalis nicht als Romantiker verstanden wissen. Doch romantischer als Novalis geht es kaum. In seinen „Lehrlingen zu Sais“ hat der Romantiker Novalis einen Gegenentwurf zum „Verschleierten Bild zu Sais“ des Klassikers Schiller gewagt. Das verschleierte Standbild zu Sais verkörpert symbolisch die Erkenntnis letzter Wahrheit, also das Absolute. Doch die Gottheit hat verboten, den Schleier zu lüften. Diesen Schleier lüften: Genau das tut Novalis. Und Zorn gefällt’s. Aber ist Zorn damit nicht offensichtlich auf dem Weg zum … Absoluten?!

Bei Schiller geht die Sache (natürlich) nicht gut aus, und Schiller gibt uns die bedenkenswerten Worte mit auf den Weg:

Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe
.

Enttäuschung Nr. 12

Enttäuschend ist auch, in wie viele Selbstwidersprüche sich der Autor verwickelt. Da wird z.B. Vielfalt und Emanzipation befürwortet (für wen eigentlich? Das Wort Feminismus wird konsequent vermieden). Zu diesem Zweck vollführt der Autor einige moderate sprachliche Verrenkungen, bleibt dabei aber inkonsequent: So schreibt er meistens das gestelzte „Studierende“ (S. 155), manchmal aber einfach „Studenten“ (S. 154). Meistens ist von „Philosophen“ die Rede (S. 422), manchmal von „Philosophinnen und Philosophen“ (S. 424). Ganz selten findet sich ein kontraintuitives generisches Femininum statt eines generischen Maskulinums (S. 13). Doppelpunkte, Sterne, Unterstriche oder Binnen-I gibt es zum Glück keine (nur in einem Zitat). In Talkshows bemüht sich Zorn jedoch um die Doppelpunkt-Sprechpause. Allerdings muss er sich dabei immer wieder hastig selbst korrigieren. Zorn denkt sichtlich in normaler Sprache. – Aber derselbe Autor, der sich sprachlich so sehr bemüht, hat die Frauen unter den Philosophen völlig vergessen! Hannah Arendt und Edith Stein fehlen auffällig, wie schon gesagt. Auch im symbolischen Schlussbild des Buches kommen nur Männer vor. Acht alte, weiße Männer. (Ja, Derrida ist auch einer.)

Man hätte auch nicht erwartet, dass Zorn eurozentrisch denkt. Aber er tut es. Sogar eurozentrisch in den Kategorien von vor 1989. Denn auch der „Prager Frühling“ und Jan Patocka sowie die osteuropäischen bürgerlichen Revolutionen von 1989 fehlen bei ihm. In seiner Darstellung der Geistesgeschichte seit der Antike kommt nur der lateinische Westen vor (S. 239 ff.). Byzanz und die islamische Welt mit ihren eigenständigen Debatten und die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Welten fehlen völlig bzw. werden mit einem kurzen Satz abgehandelt (S. 239 f.). Auch die völlig Absage an Gott ist sehr eng gedacht. Man hätte z.B. Mohamed Arkoun erwähnen können, der die Philosophie von Foucault und Derrida auf die religiösen Texte des Islam anwandte. Es ist auch fragwürdig, den Eindruck zu erwecken, als gehörte die Antike vor allem zu „Europa“ (um S. 242). Ist die Antike nicht eine versunkene Welt, die niemandem „gehört“, und die (zunächst) nicht nur vom lateinischen Westen, sondern auch von Byzanz und der islamischen Welt beerbt wurde, und die (heute) für die ganze Welt als gemeinsames Erbe der Menschheit offensteht? Doch der Autor bleibt völlig dem lateinischen Westen verhaftet. Nur in der Person von Pico della Mirandola werden dann auch Texte von Arabern und Ägyptern erwähnt (S. 568 f.). Averroes findet bei Zorn nicht statt. (Er kann auch gar nicht stattfinden, denn Averroes hat die Majestät der Vernunft aufgerichtet, was sich mit der Postmoderne wenig verträgt. Thomas von Aquin fehlt deshalb natürlich auch. Spätestens das ist sehr auffällig. Aber Augustinus, der Gottes Willen unvernünftig sein lässt, der kommt vor.) – Insgesamt verfehlt der Autor den Anspruch von Vielfalt jenseits des Eurozentrismus völlig.

Es ist auch fragwürdig, dass Zorn die Postmoderne (mit Rorty) permanent am Rand stehen sieht (S. 561). Denn Foucault war und ist ein Pop-Star! Postmoderne war und ist groß in Mode, man denke nur an völlig überzogene Maßlosigkeiten wie Gender, Diversity, Multikulti-Vielfalt, Critical Race Theory, Decolonialisation, oder „No borders no nations“ und „Refugees welcome bring your families“. Vieles, was manche etwas hilflos als „Kulturmarxismus“ bezeichnen, ist ganz oder in Teilen postmodern motiviert. Zorn selbst zählt es zu Anfang des Buches auf (S. 9 f.). – Aber Zorn sieht die Postmoderne am Rand stehen. Vielleicht ist das dank Habermas tatsächlich noch im engeren deutschen philosophischen Wissenschaftsbetrieb so.

Ein weiterer Widerspruch ergibt sich daraus, dass die Postmoderne als Kritik an der herrschenden Ordnung verstanden wird. Aber wenn die Menschen hilflos staunend mitansehen müssen (hilflos wie Lyotard nach 1968 S. 484), wie die herrschende Ordnung Gender und Diversity in völlig überzogener Weise auf den Thron hebt, ist die Postmoderne dann nicht zur Philosophie „des Systems“ geworden, und Zorn zu einer intellektuellen Stütze der Macht?

Den Kritikern der Postmoderne wirft der Autor vor, sie wollten sich selbst beweihräuchern, indem sie lieber sich selbst als die aktuelle Speerspitze der Philosophiegeschichte darstellen (S. 549). Aber ist der Autor hier nicht selbst polemisch? Die Schwarz-Weiß-Zeichnung von guter Postmoderne einerseits und bösen Kritikern andererseits ist ihrerseits überhaupt nicht postmodern, insofern völlig undifferenziert – andererseits auch wieder höchst postmodern, insofern Frechheit ein Markenzeichen der Postmoderne ist. Auf diesen Seiten wimmelt es jedenfalls nur so vor frechen Selbstwidersprüchen: Zorn stylt die postmodernen Philosophen (mit Rorty) als rebellische Außenseiter (S. 561-564), aber in Wahrheit ist es nur Style, denn die selbsternannten Außenseiter sind heute vielfach selbst in Machtpositionen, und zudem leistet die „normale“ Philosophie die nötige Kritik am „System“ auch selbst, ohne dazu der Postmoderne zu bedürfen.

Zorn kritisiert auch ausgiebig die gutaussehenden, sprachbegabten Populärphilosophen, die ein Bedürfnis des Marktes befriedigen (S. 549). Aber ist Zorn nicht selbst auch ein solcher? Er hat jetzt schon mehrere Bücher geschrieben, mit denen er in Talkshows kam, und auch für das neueste Buch sitzt er wieder in Talkshows bis hinauf zum Blauen Sofa des ZDF. Zorn platziert sich mit seinen Büchern definitiv am Markt.

Zu Anfang des Buches heißt es, dass mit der Postmoderne „ein letztes Mal“ alles auf den Tisch gekommen sei (S. 14). Wie wenn mit dem Ende der Postmoderne das Ende der Geschichte gekommen wäre. Doch viel weiter hinten hören wir: „Das Absolute ist nicht so leicht totzukriegen.“ (S. 414, 418) Die Geschichte ist also doch noch nicht zu Ende.

Was gelungen ist

  • Am wertvollsten ist sicher die mikroskopische Nachzeichnung dieses Ausschnitts der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, die die Motivation der einzelnen Denker teilweise gut herausarbeitet und in den größeren Zusammenhang der anderen Denker stellt. Wer dieses Buch gelesen hat, wird andere Darstellungen immer daran messen.
  • Es konnte gezeigt werden, dass die Postmoderne durchaus einige bedenkenswerte Ansätze vorzuweisen hat. Es fehlt zwar ein Aussortieren und Reinigen dieser Ansätze, aber diese Botschaft ist trotz allem angekommen.
  • Immer wieder wird auf die Strukturähnlichkeit von Problemen und Sachverhalten hingewiesen. Dies zwar oft nur knapp, aber das Gespür dafür wurde dennoch geschult.
  • Sehr interessant ist die Berücksichtigung der Kybernetik. Der Rezensent ist Informatiker und bedankt sich.
  • Natürlich ist auch die Warnung vor der Versuchung des Absoluten richtig. Allerdings wird sie durch die Absolutheit des Verfassers und seiner unbereinigten Postmoderne konterkariert. Unkritische Leser werden durch dieses Buch leider nicht gegen die Gefahren des Absoluten immunisiert werden, im Gegenteil.

Schluss

Der Zauberlehrling Zorn hat eine allzu pauschale Rettung der Postmoderne versucht, hat dabei auch manches unter den Tisch fallen lassen, und ist damit notwendig gescheitert. Leider zeigt er sich schwärmerisch in seinem Denkgebäude gefangen, so genial es in Teilen auch ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass sich Philosophie und politische Einstellung bei Zorn gegenseitig im Wege stehen.

In der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende heißt es: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. … Und die machen beide Welten gesund.“ – Es ist Zeit, Phantásien den Rücken zu kehren: Es fehlt ein echtes Aussortieren und Reinigen des postmodernen Denkens. Es fehlt eine Klärung des Verhältnisses zur Vielfalt und zum Absoluten (z.B. gesellschaftspolitische Vielfalt-Schwärmerei? Streben nach dem Absoluten mit Novalis?). Es fehlt an simpler Menschenfreundlichkeit auch und gerade im Umgang mit Andersdenkenden.

Mit Goethe sagen wir: „Es muss auch solche Käuze geben.“ Zorns Belesenheit ist in jedem Fall ein Gewinn, und auch sein philosophisches Denken verschafft manche Anregung. Aber am Ende ist es mehr Wasser als Wein. „Welch‘ entsetzliches Gewässer!“ klagt der Zauberlehrling, bevor er den Meister zu Hilfe ruft.

Wer ein Antidot nötig hat, könnte z.B. diese Werke lesen (die Vielfalt macht’s):

  • Empedokles, Fragmente.
  • Platon, Apologie des Sokrates.
  • Xenophon, Symposion.
  • Goethe, Faust I + II.
  • Albert Schweitzer, Kulturphilosophie.
  • Hermann Hesse, Siddhartha.
  • Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.
  • Walter Nutz, Vom Mythos der Freiheit.
  • Neil Postman, Building a Bridge to the 18th Century: How the Past Can Improve Our Future.
  • Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis.

Epilog

Menschen sind im Garten des Akademos zusammengekommen, um ihre Gedanken auszutauschen. Kein Gebäude umgibt sie, man befindet sich in freier Natur. Es ist auch nicht kalt, sondern angenehm warm. Die Sonne steht im Meridian, nicht im Zenith, den die Sonne in diesen menschenfreundlichen Breiten niemals erreichen kann. Statt der eintönigen Weißheit der Eiswüste erfreut sich das Auge an der Buntheit einer vom Menschen wohlgeordneten Natur. Wind streicht durch die Bäume und lässt ihre Blätter leise rascheln: Die Welt ist offen. Doch niemand muss irgendwohin gehen. Man begegnet sich freundlich und bleibt beisammen. Auch Frauen und Fremdländische sind darunter. Die Gedanken schweifen frei, verzweigen und überkreuzen sich phantasievoll, und werden immer wieder von der Vernunft neu eingefangen und auf die eine, gemeinsame Wahrheit hingeordnet, um dann aufs neue auszuschweifen. Die Zyklen der Zeit und das Wesen des Menschen sind in Grundzügen längst durchschaut. Und dennoch ist alles ein großes Mysterium. Und wird es ewig bleiben, auch wenn die Erkenntnis nie aufhört. Der Turmbau zu Babel: Dieses absolute Projekt vielfältiger Hybris verfolgen nur die Narren. Wo die beste Polis als irrige Utopie erkannt wurde, so folgerichtig sie auch gedacht war, wird die zweitbeste Polis zum realistischen Ideal wahrer Menschenfreunde.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Thorwalds Internetseiten August 2022; zudem eine stark gekürzte Fassung auf Amazon am 25. August 2022)

Anhang

Einige zumindest zunächst sehr unverständliche Sätze

S. 170: Kants „Tertium ist die transzendentale Einbildungskraft. Sie ist die ‚ursprüngliche Zeit‘ und ‚bildet‘ so ‚die Wesensstruktur der Subjektivität‘.“

S. 318: Zu Nietzsche: „Um der reaktionären Einebnung der Differenz zu entgehen, entwirft Nietzsche ein Modell von Sinn und Wert, das nicht von Substanz und Sein ausgeht, sondern von Relation und Werden. Was sich in Sinn und Wert zum Ausdruck bringt, das sind aufeinander bezogene Relationen, die in Bewegungen des Werdens eingebunden sind, die maximale und minimale Spannungen ausbilden.“

S. 334: „Doch gerade die Philosophie ‚hat sich in ihr‘, der anthropologischen Illusion, ‚eingeschlossen, indem sie die Subjektivität verdichtete, hypostasierte und in der uneinholbaren Struktur des ‚menschlichen Wesens‘ einschloss.'“

S. 424: Unvermittelt: „Was ist die Bedingung?“ Tja, von was?

Diverse Mängel

S. 38: „Frankfurt“. Wünschenswert wäre: „Frankfurt am Main“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 128: Lenins „berühmte Studie“. – Die weltanschauliche Studie eines Massenmörders aus Weltanschauung „berühmt“ zu nennen, ist unstatthaft. „Bekannt“ wäre besser.

S. 139, 239: „Kaiserzeit“: Gemeint ist die „römische Kaiserzeit“. Mehrere Stellen im Buch.

S. 146: „‚Jede Epoche ist unmittelbar zum Dasein‘ – so könnte man diese Position mit dem Historiker Leopold von Ranke zusammenfassen.“ – Doch bei Ranke ist es „unmittelbar zu Gott“, deshalb sollte es z.B. heißen: „Leicht abgewandelt könnnte man mit Ranke sagen …“

S. 194: „jüdische Kollegen denken über Migration nach“. – Wieso Migration? Emigration!

S. 199: Der Begriff „Metaphysik“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 201: Der Begriff „Weltanschauung“ hätte erklärt werden sollen. Nicht jeder benutzt ihn so.

S. 217: An der geheimen Konferenz in Princeton 1945 haben gewiss keine „Informatiker“ teilgenommen, der Begriff entstand erst später.

S. 219: Dass Mark I „der erste einsatzfähige digitale Großrechner“ war, darf bezweifelt werden. Zuses Z3 war auch digital und einsatzfähig. Der Umstand, dass der Rechner „groß“ war, erscheint hingegen wenig bedeutend.

S. 239: „Übersetzungen der über Bagdad und Kairo überlieferten Texte“ – Die weitaus meisten philosophischen Texte der Antike wurden über Byzanz wiedergewonnen, nicht durch arabische Rückübersetzungen. Das aber auch.

S. 282 f., 286: Mehrfach konsequent falsch: „Victor Emerita“, richtig: „Victor Eremita“.

S. 378: Es geht um die Logischen Empiristen, aber das Stichwort „Logischer Empirismus“ fällt erst auf S. 395.

S. 477: In Sätzen Lyotards werden „flics“ mit „Cops“ ins Deutsche übersetzt. Das geht nicht. Flics sind Flics.

S. 479: Trotsky mit s und y geschrieben: Mehrere Stellen. S. 483 Trotzki mit z und i.

S. 487: „Germanistisches Nationalmuseum“. Eine postmoderne Irritation?

S. 489: Beispiele für Geschichtsphilosophien, die Freiheit versprechen, aber faktisch Unfreiheit schaffen: „Drittes Reich“, „Ideologien von Stalin und Mao“. – Das sind aber gar nicht die Geschichtsphilosophien. Es hätte heißen müssen: Nationalsozialismus, Marxismus-Leninismus, Maoismus. Und wer von Stalin spricht, darf von Lenin nicht schweigen.

Dirk Liesemer: Lexikon der Phantominseln (2016)

Gute Idee, interessantes Thema, schön gemacht – zu Atlantis aber etwas einseitig

„Insel-Bücher“ gibt es ja inzwischen eine ganze Reihe: Abgelegene Inseln, vergessene Inseln, literarische Inseln – und jetzt Phantom-Inseln: Inseln, die tatsächlich einmal auf Seekarten (und sogar bei Google Earth!) verzeichnet waren, obwohl es sie nie gab.

Dahinter steckt immer eine interessante Geschichte, die etwas über die Menschen, die Zeiten und das Schicksal lehren kann. Aber auch die menschliche Erkenntnis wird herausgefordert: Wie sicher können wir uns unserer Weltkenntnis eigentlich sein? Um wem verdanken wir sie eigentlich? Wir wähnen uns im modernen Zeitalter des Satelliten, und doch beruht noch vieles auf Wissen von alters her.

Zu Platons Atlantis gibt es allerdings noch ganz andere Meinungen, die hier etwas zu kurz kommen. Es ist keineswegs so, dass Atlantis in der Antike gemeinhin als Erfindung galt, und so war es von Platon wohl auch nicht gemeint. Während wir ganz genau wissen, dass Atlantis im wörtlichen Sinn niemals existiert haben kann, könnte es sich immer noch um eine verzerrte historische Überlieferung handeln, hinter der ein realer Ort steht. Richtig ist allerdings, dass im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe von Inseln für Atlantis gehalten und mit dem Namen „Atlantis“ auf den Karten verzeichnet wurden. Mehr zu Atlantis in dem Buch: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis: Von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2016)

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können (2007)

Hört auf diese Frau! – Goldene Worte in Marmor gemeißelt

Die Probleme der Integration lösen sich leider nicht von selbst, wie viele noch vor Jahren gehofft haben. Die Probleme müssen also analysiert und angepackt werden. Aber der gelernte BRD-Bürger weiß: Das Thema Integration ist ein ideologisch hochgradig vermintes Gelände. Und im Stillen ahnt er, dass eine echte Problemlösung bereits an der äußerst mangelhaften öffentlichen Problemanalyse scheitert.

Und genau hier überrascht das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates: Sie kennt keine ideologischen Scheuklappen und wagt es, sich ihrer Vernunft ohne die Anleitung eines anderen zu bedienen, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie nun einmal sind; darauf aufbauend kann sie intelligente Lösungsansätze entwerfen. Diese Natürlichkeit des Denkens und ihre herzerfrischende Menschlichkeit lassen Seyran Ates alle Sympathien des Lesers zufliegen. Ihre Glaubwürdigkeit baut auf ihrer Lebenserfahrung auf: Selbst eine transkulturelle „Deutschländerin“ – ein Begriff, den Ates positiv besetzt – arbeitet sie in Berlin als Rechtsanwältin für Migrantinnen, wofür sie mitunter mit dem Tod bedroht wird; einen Mordanschlag hat sie bereits mit Müh und Not überlebt. Als Teilnehmerin an der Islamkonferenz des Bundesinnenministers wird sie von den dort vertretenen Islam-Funktionären angefeindet, an deren Verfassungstreue – nach eigenen Angaben – nicht einmal der einladende Innenminister glauben will.

Das Buch ist umfassend und lässt keinen Aspekt aus: Die unumgängliche Notwendigkeit einer Reform und Aufklärung des Islam wird genauso angesprochen wie die „schwere Schuld“ (sic!) der „urdeutschen Multikulti-Fanatiker“ und ihre vollkommen gescheiterte Gesellschaftspolitik. Ohne mit der Wimper zu zucken entlarvt Seyran Ates die politisch korrekten „Lösungen“ als fatale Irrwege: Nicht ein islamischer Religionsunterricht unter der Kontrolle der oben angesprochenen Islam-Funktionäre führt zu Integration und freiheitlicher Gesinnung, sondern z.B. ein gemeinsamer, weltanschaulich orientierender und aufklärender Unterricht für alle Kinder unter demokratischer Kontrolle. Nicht die servile Anbiederung an Migranten in deren Herkunftssprache führt zu einem guten Miteinander und gegenseitigem Respekt, sondern die konsequente Etablierung der deutschen Sprache als der in Deutschland geltenden lingua franca. Nicht die als Toleranz getarnte Akzeptanz einer wie auch immer motivierten Diskriminierung von Frauen und Mädchen bricht die Abschottung von Parallelgesellschaften auf, sondern die kompromisslose Durchsetzung der Gleichberechtigung.

Sehr wertvoll und für den Leser von unschätzbarem Wert sind die Einblicke in das Denken und Fühlen der türkischen Migranten, die uns Seyran Ates als Insiderin vermittelt: Wie verstehen die Zuwanderer den Islam konkret und praktisch, jenseits aller Theorie? Wie definieren sie Ehre, Respekt und Sexualität? Und was denken türkische Migranten über deutsche Behutsamkeiten, wenn gleichzeitig im türkischen Fernsehen eine tabulose Kampagne gegen häusliche Gewalt läuft und hunderttausende Türken in ohnmächtiger Wut gegen die Islamisierung ihres Landes auf die Straße gehen?

Wer das und noch viel mehr erfahren will, der sollte ARD und ZDF abschalten, Frankfurter Rundschau und FAZ in die Tonne treten und statt dessen zum Buch greifen: Zum „Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates, einem Buch, dessen analytische Schärfe und programmatische Kraft von manchen inzwischen mit den Standardwerken der 68er-Bewegung verglichen wird. Es bewegt sich wieder etwas in Deutschland. Es wurde auch Zeit.

PS 11.03.2016

Ein Grundkonzept von Seyran Ates ist die Transkulturalität:

Die geniale Grundidee von Transkulti ist die Erkenntnis, dass ein Mensch sich nicht zwischen Kulturen aufteilen muss. Ein Mensch ist nicht 50:50 deutsch-türkisch, oder 30:70, oder 100:0 (was eine hundertprozentige Assimilation bedeuten würde). In Wahrheit ist es ganz anders: Es ist gar kein Nullsummenspiel, sondern ein Mensch kann zwei Kulturen gleichzeitig beherrschen, also 100:100! Man verlernt ja nicht mit jedem Wort der deutschen Sprache ein Wort der Herkunftssprache, sondern beherrscht am Ende beide Sprachen. So ist es auch mit der Kultur.

Dieses Konzept nimmt alle Spannungen und alle Ängste aus der Integrationsdebatte: Die Zuwanderer müssen nicht befürchten, dass sie ihre Herkunftskultur aufgeben und sich bedingungslos assimilieren müssen. Und die Aufnahmegesellschaft muss nicht befürchten, dass sich die Zuwanderer die Kultur der Aufnahmegesellschaft nicht zu eigen machen und sich nicht integrieren: Man darf das Erlernen und Akzeptieren von Sprache und Kultur der Aufnahmegesellschaft durchaus abverlangen, ohne dem Zuwanderer dadurch etwas wegzunehmen – denn er gewinnt es ja nur hinzu, ohne etwas zu verlieren!

Überdies hatte Seyran Ates klipp und klar gemacht, dass bei Konflikten zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur die Aufnahmekultur Priorität haben muss. Dort, wo die Herkunftskultur nicht parallel zur Aufnahmekultur gepflegt werden kann, weil sie mit ihr im Widerspruch steht, dort darf und soll die Aufnahmegesellschaft ein Stück Assimilation abverlangen. Das ist ihr gutes Recht.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 4. August 2012)

Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion (2012)

Echter Reformer – aber teilweise noch zu kurz gesprungen

Ja, anders als manche andere Muslime, die nur deshalb von Reform reden, weil sie damit ihren traditionalistischen Islam verschleiern wollen, ist Mouhanad Khorchide in der Tat ein echter Reformer. Und was ebenso wichtig ist: Seine Reformideen sind kein Wunschdenken sondern funktionieren theologisch tatsächlich. Im Prinzip macht Khorchide mit dem Islam das, was christliche Theologen mit dem Christentum in den letzten Jahrhunderten getan haben: Er bringt die Vernunft in den Glauben und dessen Interpretation zurück, und drängt traditionalistische Elemente zurück.

Es ist in der Tat möglich, im Koran zwischen ewig gültigen und kontextbedingten Aussagen zu unterscheiden, und man kommt damit in der Tat zu einem Islamverständnis, das Allbarmherzigkeit (bzw. Liebe) und Gnadenbarmherzigkeit ins Zentrum rückt. Ja, die problematischen Koranverse werden durch ihre historische Kontextualisierung entschärft. Ja, man kann bei Mohammed unterscheiden zwischen verschiedenen Rollen als Gesandter bzw. Staatsoberhaupt. „Islam“ im Kontext des Koran bedeutet auch noch nicht „den“ Islam als eigene Religion, sondern Religion im Allgemeinen. Diese Unterscheidungen lassen sich sogar sprachlich im Koran festmachen. Es funktioniert wirklich. Khorchide „verbiegt“ den Islam also nicht, sondern man kann mit Fug und Recht sagen, dass Khorchide den Islam wieder auf seinen eigentlichen Sinn zurückführt.

Und dieser Sinn ist mit westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten hinreichend kompatibel. Die Auffassungen von Khorchide sind zudem nicht brandneu, sondern haben in der islamischen Theologie schon immer eine gewisse Tradition gehabt. Soweit so gut.

Kritikpunkte

Die historische Kontextualisierung bei Khorchide beschränkt sich auf eine Kontextualisierung im Rahmen der überlieferten Mohammed-Legenden (Propheten-Biographie und Hadithe). Das ist theologisch nicht illegitim, aber dann hätte Khorchide mehr dazu sagen müssen, wie er denn unterscheidet, welche Überlieferungen glaubwürdig sind und welche nicht. (Die Frage nach menschlichen Einflüssen im Korantext lässt Khorchide gleich ganz aus, sie ist aber durch die Idee eines Gottes, der in einen historischen Kontext hinein spricht, praktisch mit abgedeckt.)

Khorchide wird, wenn er konsequent bleibt, nicht darum herum kommen, so manche liebgewordene Mohammed-Überlieferung als Legende zu entlarven. Insbesondere zu zwei dieser Legenden hat Khorchide nichts gesagt, obwohl er beide Ereignisse in seinem Buch berührt: (1) Das Massaker an den Juden von Banu Quraiza. Dieses Massaker ist nach historisch-kritischer Auffassung zum Glück nur eine böse Legende. Wer den Islam reformieren will, muss die Überlieferung dieses Massakers entschärfen. (2) Die Zerstörung der Götterbilder in der Kaaba durch Mohammed. Wenn Mohammed es ernst gemeint hätte, Toleranz im Glauben zu üben, dann hätte er diese Götterbilder von Andersgläubigen wohl kaum zerstört, sondern er hätte sie z.B. an einem anderen Ort wieder aufstellen lassen, damit sie dort weiter angebetet werden können. Auch diese Überlieferung muss entschärft werden.

Khorchide spricht über den zur Unbarmherzigkeit verfälschten Islam an vielen Stellen des Buches so, wie wenn dies nur eine Minderheit von „Fundamentalisten“ wäre. Erst am Ende des Buches kommt er darauf zu sprechen, dass nicht nur einige „Fundamentalisten“ das Problem sind, sondern der ganz normale traditionalistische Mainstream des Islam. Leider hat der verfälschte, unbarmherzige Islam die Mehrheit und die Haupttradition des Islam seit über 1000 Jahren auf seiner Seite. Die humanistische Interpretation des Islam hat hingegen fast immer nur als Nebenlinie der Haupttradition existiert. Das ist ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt, den Khorchide hätte mehr berücksichtigen und besprechen müssen.

Wenn wir das Spektrum der Glaubensrichtungen grob in die vier Kategorien traditionalistisch – konservativ – liberal – modernistisch unterteilen, gehört Khorchide zu den Liberalen. Er verbiegt und bricht den Glauben durch seine Reformen also nicht, wie es anpasserische Modernisten tun würden, und sein Fundament ist für einen vernünftigen Glauben von Konservativen und Liberalen gleichermaßen geeignet, gegen die Irrationalitäten von Traditionalisten und Modernisten.

Allerdings ist die Liberalität von Khorchide auch ein pädagogischer Schwachpunkt. Für traditionalistische Muslime ist der Schritt vom Traditionalismus zu einem aufgeklärten Konservatismus vielleicht gangbar. Aber der Schritt zu einem liberalen Verständnis von Religion könnte für viele zu weit sein, weshalb das Buch von Khorchide hier kontraproduktiv wirken könnte.

Das Ideal eines Glaubens, bei dem alles aus Gefühl und Neigung heraus geschieht, ist schön, aber oft ist es einfach nur rationale Pflichterfüllung. Bei Khorchide gibt es keinen aufgeklärten Begriff von Pflicht, Gehorsam und Autorität, er verwendet dieses Worte so gut wie nicht. Das Vollziehen von Ritualen, auch wenn es schwer fällt, kann zudem auch etwas Heilsames haben. Der Vorwurf von „Fundamentalisten“ (so nennt sie Khorchide), dass ein Muslim, der nicht betet, kein echter Muslim ist, ist im Prinzip durchaus berechtigt, was Khorchide verkennt. Schließlich ist Khorchides Auffassung zu hinterfragen, dass der Glaube allein zum Seelenheil nicht genügen würde. Dazu hat Luther bereits das Nötige gesagt. Khorchide hätte besser so formuliert, dass der Glaube zwar genügt, aber nur dann echt sein kann, wenn er auch zu Taten führt. Khorchide pflegt auch eine sehr modische Sprache: Es ist etwas zu viel von Liebe und Dialog, von Dynamik, Kritik und Dialektik die Rede, zu wenig von Pflicht, Vertrauen, Autorität und Glaubensgehorsam in einem aufgeklärten Sinn.

Schließlich taucht die Toleranz gegenüber Agnostikern und Atheisten bei Khorchide mit keinem Wort auf. Er spricht immer nur von Religionen, die alle der Weg zu Gott seien, und dass alle diese Religionen auf ihre Weise im Prinzip „Islam“ = „Hingabe an Gott“ seien. Nichtmonotheistische Weltanschauungen wie z.B. polytheistische Neuheiden, Agnostiker oder Atheisten hat Khorchide leider nicht in sein System der Toleranz eingebaut. Auch das ist ein deutlicher Schwachpunkt. – Zu Khorchides Verwendung von Koranvers 2:256 („Kein Zwang im Glauben“): Khorchide bezieht diesen Vers auch auf andere Religionen. Das ist problematisch, denn der Satz bezieht sich nach allgemeiner Auffassung nur auf den islamischen Glauben und die Art seiner Praktizierung, nicht aber auf Religionen im Allgemeinen. Das zerstört aber seine Argumentation nicht grundsätzlich.

Grundsätzlich gilt, dass Khorchide ein echter Reformer ist, dessen Weg vernünftig und tragfähig ist und in die richtige Richtung geht. Er ist deshalb zu unterstützen, er muss aber noch in einigen Punkten nachliefern.

Als gut lesbare Einführung in die historische Kritik der Ursprünge des Islam für jedermann sei folgendes Buch empfohlen, dessen martialischer Titel völlig in die Irre führt: Tom Holland, Im Schatten des Schwertes.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. April 2014)

Alexander Gauland: Anleitung zum Konservativsein – Zur Geschichte eines Wortes (2002 / 2017)

Pseudo-konservatives Pamphlet eines bräunlichen Preußenfeindes

Alexander Gauland sieht sich selbst als honorigen Konservativen in der Tradition des großen englischen Konservativen Edmund Burke. Doch was er hier im Jahr 2002 – mit Nachwort von 2017 – abgeliefert hat, ist ein erstaunliches Sammelsurium von Obsessionen und Selbstwidersprüchen, das eine ganz andere Gesinnung durchscheinen lässt.

Gleich das erste Kapitel – nach dem einleitenden Kapitel – ist bemerkenswerterweise niemand anderem als Adolf Hitler gewidmet. Und ebenso ist auch der letzte Satz auf der letzten Seite dieses Büchleins, im Nachwort von 2017, Adolf Hitler gewidmet: Dass man sich nur ja nicht auf Hitler fixieren dürfe! Doch genau das scheint hier durch: Eine Fixierung auf Hitler. Man kann doch am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Buch über die Aktualität des Konservativismus nicht mit Adolf Hitler beginnen! Es ist viel Hitler in Gauland, so scheint es: Gauland denkt von Hitler her, ganz so wie Joschka Fischer von Auschwitz – also von Hitler – her dachte.

Die nächste dicke Überraschung: Gauland verwendet ein ganzes Kapitel darauf, um Friedrich den Großen als gefühlskalten Zyniker, rücksichtslosen Kriegstreiber, verantwortungslosen Hasardeur und Verächter des Rechts darzustellen. Hier werden alle Register der preußenfeindlichen Propaganda gezogen. Und überhaupt hätte Preußen angeblich keine Staatsidee gehabt. – Anderswo kann man nachlesen, dass Friedrich der Große ein Meilenstein der Aufklärung in Deutschland war. Nicht zufällig wirkte zur selben Zeit Immanuel Kant im preußischen Königsberg. Die Werke Friedrichs sind voller moralischer Überlegungen, und seine Genialität war von Erfolg gekrönt. Dass er manchmal alles auf eine Karte setzte, war den Umständen geschuldet. Die preußische Staatsidee umfasste Rationalität und Ordnung. Preußen schnitt so manchen alten Zopf ab, während das morsche Österreich dahinsiechte. Aus dem Moder der Verwesung Österreichs ging Adolf Hitler hervor – doch Gauland sieht das Böse aus Preußen kommen.

Die Rationalität Preußens gefällt Gauland nicht: Denn für ihn gehorchte sein Vorbild Edmund Burke angeblich „zuallererst“ einem „romantischen Impuls“ (S. 13). Romantik ist natürlich das krasse Gegenteil von Rationalität. Später versucht Gauland abzuschwächen: Burke hätte sich nicht gegen die Rationalität gewandt, sondern gegen die Unvollkommenheit der Rationalität (S. 16). Das überzeugt nicht, denn nicht die Rationalität kann unvollkommen sein, sondern nur deren Gebrauch. Um die Grenzen der Rationalität zu erkennen, muss man weiterhin rational sein. – Im Nachwort schreibt Gauland, dass gewachsene Strukturen des Lebens und des Glaubens „eine Quelle andersartiger Vernunft“ seien. Hier wird etwas als Vernunft bezeichnet, was keine Vernunft ist, sondern z.B. Erfahrung. Es wird so getan, als stünde „die Vernunft“ im Widerspruch mit dieser „anderen“ Vernunft. Doch das ist falsch. Vernunft, wenn sie richtig gebraucht wird, integriert Erfahrung. – Schließlich schreibt Gauland, dass der moderne Mensch in einem „versteinerten Gehäuse der Rationalität“ leben würde, und dagegen ein „konservatives Widerlager“ nötig sei (S. 85). Damit verdeutlicht Gauland einmal mehr seine Opposition gegen die Vernunft.

Außerdem ist bereits die Analyse falsch. Der moderne Mensch lebt leider nicht in einer Welt der Rationalität, sondern im Gegenteil oft genug in den Illusionswelten eines höchst irrationalen Zeitgeistes: Der Konservativismus ist es, der auf Vernunft und Realismus bestehen muss. Moderner Konservativismus kann nur vernünftig gedacht werden. Aber Alexander Gauland redet einem romantischen Traditionalismus das Wort, dessen Irrationalität beliebig irre Auswüchse haben kann. Preußen stört da nur.

Gauland vollbringt sogar das Kunststück, ausgerechnet Friedrich dem Großen die Schuld dafür zuzuschreiben, dass die Ideen der Aufklärung in Deutschland nicht Fuß fassten und die Romantik an Boden gewann (S. 29). (Zumal der Romantiker Gauland diese Entwicklung doch begrüßen müsste?) Preußen hätte sich außerdem nach Osten gewandt, weg vom aufgeklärten Westen (S. 38). In Wahrheit wuchs Preußen immer weiter nach Westen in Deutschland hinein, während Österreich immer weiter aus Deutschland Richtung Osten herauswuchs. Gauland selbst zitiert die Bezeichnung „Rationalstaat“ Preußen (S. 20) und führt wiederholt an, dass die Attentäter vom 20. Juli 1944 aus dem preußischen Adel kamen (S. 34, 39). Gauland erwähnt den preußischen Klassizismus, Humboldt u.v.a.m. (schweigt aber über Kant) – doch all das lässt er nicht als kulturelle Errungenschaften gelten gegenüber den übernationalen Ideen von Frankreich, England und Spanien (S. 28). Man fragt sich, was für großartige übernationale Ideen denn Frankreich, England oder Spanien nach Meinung Gaulands gehabt haben sollen, dass davor der nicht unbeachtliche Beitrag Preußens, später Deutschlands, zur europäischen Kultur keine Geltung mehr haben soll?

Im ganzen Büchlein bleibt Österreich unerwähnt. Aber indirekt beklagt Gauland, dass Österreich nicht mehr zu Deutschland gehört. Denn darauf läuft seine Klage über Preußen hinaus. Hätte Friedrich sich nicht gegen das rückständige Österreich durchgesetzt, wäre Deutschland mitsamt Österreich in einem einzigen großen braunen Sumpf geendet. Gauland hat nicht verstanden, dass sich die Wege unwiderruflich getrennt haben, weil man völlig unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen hatte, so wie z.B. auch die Deutschschweiz aus guten Gründen nicht mehr zu Deutschland gehört. Dümmlich fragt Gauland zudem, ob man denn Schlesien anders verloren habe, als man es gewonnen habe (S. 25): Dieser zynische Vergleich zweier völlig verschiedener Vorgänge – einmal die Annexion eines deutschen Gebiets durch einen anderen deutschen Staat ohne große Behelligung der Bevölkerung, das andere Mal die völlige Vertreibung der Bevölkerung und die völlige Vernichtung der deutschen Kultur auf diesem Gebiet – ist vollkommen unpassend. Auch Gaulands Klage über Friedrichs Umgang mit Sachsen spricht Bände. Alexander Gauland, der bekanntlich AfD-Vorsitzender im preußischen Kernland Brandenburg war, ist nämlich … ein Sachse. Auch sein Vize Andreas Kalbitz, ehemaliges Mitglied in neonazistischen Vereinigungen, ist Sachse. Nicht zuletzt war auch der große Inspirator des Nationalsozialismus, Richard Wagner, ein Sachse. Manchmal werden Klischees wahr.

Die nächste Überraschung: Das deutsche Kaiserreich sei angeblich ein auf das Materielle fixierter Machtstaat gewesen, der sich keinem Dienst an einer übernationalen Sache verschrieben hatte. Da es an einer Staatsidee gefehlt habe, hätte man den Mythos Preußen als Ersatz herangezogen. (S. 20-22) Im Grunde ist das einfach die Fortsetzung von Gaulands Preußenfeindlichkeit, übertragen auf das von Preußen begründete Deutschland. Wenn Gauland schon nicht verstanden hat, was die Staatsidee Preußens war, kann er natürlich auch nicht verstanden haben, dass der Rückgriff auf den Mythos Preußen sehr wohl übernationale Ideen in sich barg.

„Am deutschen Wesen soll einmal die Welt genesen“ hieß es damals bekanntlich. Mehr übernationales Selbstbewusstsein geht nicht. Das ist eher zuviel davon als zuwenig. Durch seine AfD-Reden wissen wir heute, dass Gauland ein großer Fan von Bismarck ist. In diesem Büchlein werden Bismarcks Preußen und das von Bismarck begründete deutsche Kaiserreich jedoch nach Strich und Faden abgekanzelt. Von Bismarck selbst ist hingegen so gut wie nicht die Rede. Das ist schon sehr seltsam. Aber Gauland widerspricht sich auch explizit selbst, denn er schreibt in diesem Büchlein auch Sätze wie diesen: „Wie Goethe, so verfocht auch Humboldt die Übernationalität des Deutschtums“ (S. 11). Und weiter hinten lesen wir, dass Deutschland angeblich das einzige Land neben Frankreich sei, das Ideen von universaler Geltung erzeugt habe (S. 109). Da fragt sich der Leser: Was denn nun? Seelenloser Materialismus oder übernationale Ideen?

Gauland möchte auch, dass Preußen tot bleibt. Mit Bayern hat Gauland keine Probleme, obwohl München die „Hauptstadt der Bewegung“ war, obwohl in Nürnberg die Reichsparteitage der NSDAP stattfanden, und obwohl in Bayreuth der große Inspirator des Nationalsozialismus Richard Wagner auf dem grünen Hügel residierte. Aber mit Preußen, dem Land von Vernunft und Ordnung, hat Gauland ein Riesenproblem. Wiederholt betont Gauland, dass man auf keinen Fall und niemals nicht an Preußen anknüpfen könne, weil Preußen angeblich gesellschaftlich und territorial verloren sei (S. 34, 96). Doch im Widerspruch dazu registriert Gauland erfreut, wie die osteuropäischen Staaten nach 1990 dort wieder anknüpften, wo ihre Vergangenheit einst durch Nationalsozialismus und Kommunismus unterbrochen worden war (S. 101). Da fragt sich der Leser, warum das ausgerechnet in Deutschland nicht möglich sein soll? Länder wie z.B. Polen haben keine geringeren Verwerfungen und Gebietsverschiebungen erlebt.

Nachdem sich Gauland ausgiebig gegen Preußen ausgetobt hat, kommt er auf die Gegenwart zu sprechen. Auch hier ist vieles seltsam: Die CDU wird von ihm als völlig unkonservative Partei beschrieben, die sich allein der Konsum- und Industriegesellschaft verschrieben hätte. Adenauer und Ludwig Erhard finden bei Gauland nicht statt. Auch der Umbruch von 1968 existiert bei ihm nicht. Gauland geht nahtlos von Adenauer zu Merkel über (S. 34 ff.). Man fasst es nicht.

Immer wieder lässt Gauland seinen Antiamerikanismus durchblicken. Der „amerikanische Kapitalismus“ ist für Gauland „eine im Ansatz nicht weniger menschenfeindliche Ideologie“ als die „autoritären Systeme von rechts und links“ (S. 42), also als Nationalsozialismus und Kommunismus. Die USA stehen für Gauland für Kulturverfall (S. 130). Der kulturelle Anspruch der USA sei auch imperialistisch (S. 124). Gauland scheint den Unterschied zwischen Hegemonie und Imperium nicht verstanden zu haben. Zudem würden die USA rücksichtslos handeln, und auf dem Balkan Multikulti-Träume ausleben (S. 113, 122 f.). In Wahrheit waren es wohl eher die Europäer, die auf dem Balkan rücksichtslos auf Multikulti gesetzt hatten, bis ein Blutbad angerichtet war und die USA dem ein Ende setzten. Jedenfalls will Gauland die EU als Gegengewicht gegen die USA aufbauen (S. 116). Damit vertritt Gauland – gemeinsam mit vielen „Europäern“ – eine Form von EU-Nationalismus, die in dieselbe Sackgasse führt wie der nationale Nationalismus. Zwar will Gauland das Bündnis mit den USA erhalten und warnt vor einem Sonderweg abseits des Westens (S. 97, 116), aber angesichts seines krassen Antiamerikanismus erscheinen solche Phrasen wie bloße Lippenbekenntnisse.

Was den Konservativismus angelangt, der ja das eigentliche Thema dieses Büchleins sein soll, versagt Gauland völlig. Wir sahen oben bereits, dass Gauland keinen modernen Konservativismus will, der Rationalität und Realismus einfordert, sondern sich einer irrationalen Romantik verschrieben hat. Hinzu kommt, dass sich Gauland das ganze Büchlein hindurch als Vertreter eines plumpen Verzögerungs-Konservativismus zeigt (z.B. S. 87 ff.).

Gauland argumentiert explizit nicht mit ewigen Werten oder mit bleibenden Errungenschaften, sondern ständig immer nur damit, dass Veränderungen nicht zu schnell vonstatten gehen dürfen. Immer wieder bringt Gauland die völlig unkonservative Argumentation vor, dass zwar die moderne Eliten mit den schnellen Veränderungen ganz gut zurecht kommen, aber die Masse der kleinen Leute nicht (z.B. S. 58, 68 ff.). Dass konservative Werte einen Wert an sich haben und auch dann noch erhaltenswert sind, wenn sich niemand durch schnelle Veränderungen überfordert sehen würde, kommt Gauland nicht in den Sinn. Ebenfalls fehlt der Gedanke, dass die modernen Eliten ebenfalls der konservativen Werte bedürfen und sich lediglich in dem Irrtum befinden, dass es auch ohne ginge.

Aber es geht noch schlimmer: Gauland argumentiert wiederholt damit, dass die kleinen Leute angeblich nur rassistisch reagieren können, wenn die Veränderungen zu schnell gehen (S. 47). Schlechter lässt sich für konservative Werte nicht mehr argumentieren. Zumal es fraglich ist, ob die kleinen Leute auf Überforderungen tatsächlich rassistisch reagieren. Je nach Propaganda könnten sie z.B. auch linksradikal reagieren.

Und so hechelt Gauland über viele Kapitel hinweg diverse konservative Werte durch: Familie, Geschichtsbewusstsein, Symbole, Mythen, klassische Bildung, Heimat, Leitkultur, Religion, Tradition, Tugend, Kunst. Doch das alles sind für Gauland keine Werte an sich! Sie sind lediglich zu beachten, um die Geschwindigkeit der Veränderungen zu verzögern. Teilweise fügt Gauland auch eine weitere, schräge Begründung für den jeweiligen Wert hinzu: Beim Geschichtsbewusstsein argumentiert Gauland, dass unsere europäischen Nachbarn darüber verfügen würden, deshalb bräuchten wir das auch (S. 48). Dass wir es aber auch an und für sich bräuchten, dieser Gedanke existiert bei Gauland nicht. Und die klassische Bildung kennt Gauland nur als Statussymbol der Elite (S. 59 ff.). Dass klassische Bildung eine unersetzliche menschliche Bildung bedeutet, und eine klassische gebildete Elite eine kulturelle Errungenschaft für ein Land darstellt, kommt Gauland nicht in den Sinn.

Erst auf der buchstäblich allerletzten Seite – vor dem Nachwort von 2017 – kommt der Satz, dass das Konservative nicht ein Hängen an dem ist, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt (S. 133). Mit dem, was Gauland auf den 132 Seiten davor geschrieben hatte, hat dieser Satz nichts zu tun. Ohne weitere Erklärung wird dieser Satz dem Leser lapidar vor den Latz geknallt.

Gauland versäumt es in seiner Analyse der Gegenwart auch völlig, konservative Gegenkräfte zu benennen. Statt dessen schlägt Gauland alle möglichen politischen Maßnahmen zur Stärkung der Familie, der Bildung usw. vor (z.B. S. 75 ff.). Doch diese politischen Maßnahmen können von der Politik natürlich erst durchgeführt werden, nachdem (!) konservative Kräfte zur politischen Macht gelangt sind. Wie es aber dazu kommen könnte, dass der linke Zeitgeist sich wieder konservativem Denken zuwendet, dazu sagt Gauland nichts. Religion wird von Gauland zwar als eine der möglichen konservativen Gegenkräfte kurz angesprochen (S. 76), aber dann nirgendwo besprochen. Auch das ist seltsam.

Gaulands Büchlein ist voll von kleinen und großen Irrtümern. So spricht Gauland z.B. davon, dass der Westen den Islam gedemütigt habe, und dass man die Eigenständigkeit des Islam respektieren müsse (S. 124 ff.). Damit werden antiamerikanische Narrative bedient und völlig verkannt, dass der Nahe Osten nichts dringender braucht als eine rationale Modernisierung, einschließlich des Islam. – Ähnlich falsch ist Gaulands Analyse der politischen Kultur der osteuropäischen Länder. Diesen spricht er die Fähigkeit zu einer westlichen Gesinnung grundsätzlich ab (S. 100-104). Er übersieht dabei völlig die Möglichkeit und die Realität von Entwicklungen. – Entsprechend meint Gauland, dass die Ukraine keine eigene Identität hätte, und dass der Westen keine künstliche Staatenbildung betreiben solle (S. 105 f.). – Falsch ist auch die Analyse, dass Deutschland deshalb ein so schwaches nationales Selbstbewusstsein habe, weil es im 19. Jahrhundert als verspätete Nation gegründet wurde (S. 81). In Wahrheit ist die Schwäche des heutigen deutschen Nationalbewusstseins natürlich vor allem eine Überreaktion auf den Nationalsozialismus. – Gauland meint auch, es gäbe keine konservative Außenpolitik, sondern nur eine richtige oder eine falsche Außenpolitik (S. 98 ff.). Im Widerspruch zu sich selbst schreibt Gauland wenige Seiten später, dass Geschichte der Schlüssel zu einer konservativen Außenpolitik sei (S. 107). Natürlich! Denn für die Außenpolitik gilt dasselbe wie für die Innenpolitik: Sie ist zwischen den politischen Lagern umstritten. – Ganz analog falsch ist Gaulands Behauptung, dass sich die Einteilung der politischen Lager in Links und Rechts erledigt hätte, denn jetzt ginge es um Konservativ vs. Liberal (S. 97 f.). Aber auch das ist nur eine Variante von Links vs. Rechts, abgesehen davon, dass heutige „Liberale“ oft sehr links sind. – Falsch ist auch die Analyse, dass die Wirtschaft nach 1989 ins linke Lager gewechselt wäre (S. 51 ff.). Einerseits ist die Wirtschaft an der Förderung einer linksliberalen Gesinnung interessiert, denn enthemmte Linksliberale sind die besten Konsumenten. Aber das war schon vor 1989 so. Andererseits hat sich die Wirtschaft irgendwann lange nach 1989 tatsächlich dem linken Spektrum zugewandt, aber nur deshalb, weil das der Zeitgeist ist. Die Wirtschaft folgt immer dem, was „angesagt“ ist, das hat nichts mit Links oder Rechts zu tun.

Nur in ganz wenigen Punkten hat Gauland Recht. So war die alte BRD tatsächlich eine Art Auszeit von der Geschichte, so dass sich in der (west-)deutschen Gesellschaft Blütenträume entwickeln und festsetzen konnten (S. 66 ff.). Richtig ist auch, dass Angela Merkel den deutschen Rechtsstaat schwer beschädigt hat (S. 135 f.). Und Frankreich nutzt die EU tatsächlich zur Durchsetzung seiner nationalen Interessen (S. 111 f.), alles andere wäre ja auch unklug. Und die geschichtlichen Gewordenheiten der europäischen Staaten tragen auch heute noch, es gibt kein europäisches Staatsvolk (S. 115).

Unter formalen Gesichtspunkten lässt sich sagen, dass Gauland häufig nur in Andeutungen spricht. Ständig lässt er irgendwelche Namen fallen, ohne deren Bedeutung zu erklären. Das macht es manchmal schwierig, seine Gedankengänge nachzuvollziehen.

Fazit: Ein anti-konservatives, unangenehm bräunliches Buch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. März 2022)

Heike Buchter: BlackRock – Eine heimliche Weltmacht greift nach unserem Geld (2015)

Verstehen, warum BlackRock politische Macht über uns hat

Heike Buchters Buch über BlackRock liefert alles, was man sich von einem solchen Buch erwarten kann: In lockerem Erzählton und angereichert mit vielen Anekdoten erfährt der Leser alles über die Probleme rund um BlackRock: Welche Risiken für das Funktionieren der Finanzmärkte BlackRock womöglich darstellt, und welche politische Macht BlackRock über uns alle hat.

Allerdings wird nicht recht deutlich, welche dieser Probleme wirklich schwerwiegend sind. Alle Probleme werden mehr oder weniger gleich abgehandelt und verschwinden in einer endlos langen Aneinanderreihung von Anekdoten. Die größten Problem sind die folgenden.

Dunkle Machtausübung

BlackRock verwaltet in seinen ETF Fonds (z.B. in der Tochterfirma iShares) ein gigantisches Aktienvermögen von Groß- und Kleinanlegern. Diese Anleger dürfen jedoch nicht auf die Hauptversammlungen der Firmen gehen, deren Aktien in ihrem Fonds sind. Das übernimmt BlackRock und stimmt dort so ab, als ob die Aktien BlackRock gehören würden. Auf diese Weise hat BlackRock eine große Macht über die Vorstandsvorsitzenden der Aktiengesellschaften dieser Welt erlangt. Auch in Deutschland. Auf diese Weise kann BlackRock auch politische Entscheidungen vorantreiben, die normalerweise der Politik und dem Wählerwillen vorbehalten sein sollten. So kann BlackRock z.B. durchsetzen, dass in all diesen Unternehmen plötzlich Gendersprache gilt, um nur ein Beispiel zu nennen.

Mit seiner Macht wirkt BlackRock auch darauf hin, dass sich in der Finanzindustrie immer mehr die sogenannten ESG-Kriterien durchsetzen und am Ende auch vom Staat für bestimmte Anlageprodukte gesetzlich vorgeschrieben werden (z.B. die berühmt-berüchtigte EU-Taxonomie, derzufolge Atomkraftwerke und Erdgas „grün“ sind, egal was der einzelne Bürger darüber denkt). ESG bedeutet: „Environmental, Social, Governance“, also auf deutsch: Umweltverträglichkeit, Sozialverträglichkeit und gute Unternehmensführung. Wenn sich ein Unternehmen nicht nach ESG-Kriterien verhält, bekommt es womöglich kein Kapital und keinen Kredit mehr von den Banken, oder muss zumindest höhere Zinsen zahlen, was seine Überlebensfähigkeit gegenüber der Konkurrenz schwächt. Was sich zunächst gut anhört (wer wäre nicht für Umweltschutz usw.?), hat jedoch mehrere Haken, wovon wir nur einige wenige nennen wollen:

Derjenige, der festlegt, was als ESG-konform gilt, hat eine enorme Macht. Sind z.B. Atomkraftwerke ESG-konform, oder nicht? Muss ein Unternehmen Gendersprache sprechen, um ESG-konform zu sein, oder nicht? Darf ein Unternehmen noch seine Verbundenheit zu Land und Leuten zeigen, oder muss es sich einem einseitigen Verständnis von „Diversity“ unterwerfen, um noch als ESG-konform zu gelten? Ist der Verbrenner noch ESG-konform, oder muss auf Biegen und Brechen auf den Elektromotor umgestellt werden? Das alles sind keine objektiv entscheidbaren Fragen sondern natürlich politische (!) Entscheidungen, die von Wählern und gewählten Politikern (bzw. von einzelnen Unternehmern) frei und individuell entschieden werden sollten, aber nicht zentral durch Bürokraten in der Finanzindustrie. Hier geschieht nichts anderes als die Aushebelung von Demokratie und individueller Freiheit auf eine höchst perfide Weise. Die DDR lässt grüßen: Auch dort gab es verschiedene politische Parteien und Wahlen, aber der Staat hatte bereits zuvor festgelegt, in welchem Verhältnis die Parteien im Parlament vertreten sein werden, und der Bürger hatte keine Freiheit einer individuellen Entscheidung sondern konnte dem Wahlvorschlag nur noch zustimmen (und wenn er den Wahlvorschlag durchstrich, kam er auf eine schwarze Liste).

Zudem laufen bürokratisch und einseitig festgelegte ESG-Kriterien auf eine Planwirtschaft wie im Sozialismus hinaus. Nicht mehr Bürger und Unternehmer entscheiden individuell und frei, sondern Bürokraten legen fest. Die Sache kann nur schiefgehen, so gut sie auch gemeint sein mag. ESG wäre in Ordnung, wenn jeder einzelne Anleger individuell entscheiden könnte, ob er z.B. in Atomkraftwerke investieren will oder nicht, oder in Unternehmen mit oder ohne Gendersprache. Durch die Vielzahl der verschiedenen Investitionsentscheidungen der Anleger würde daraus eine demokratische Vielfalt entstehen und ebenso eine unternehmerische Vielfalt. Aber genau diese Vielfalt wird durch einheitliche ESG-Kriterien auf breiter Front unterdrückt. Eine solche Ökonomie kann nur scheitern.

Weitere Probleme

BlackRock entwickelt immer wieder komplexe Finanzprodukte, die kaum einer durchschauen kann. Deshalb bergen sie ein enormes Risiko. Larry Fink, der Gründer von BlackRock, war einst auch an der Erfindung der gebündelt verbrieften Immobilienkredite beteiligt, die zur großen Finanzkrise 2008 führten. Die Finanzkrise war keine Absicht, aber aufgrund der Komplexität des Finanzproduktes praktisch vorprogrammiert. Man könnte sagen, dass nicht einmal BlackRock selber verstanden hatte, zu was es führen würde.

Problematisch sind vor allem ETF auf Bonds, also Staatsanleihen, weil solche ETF wie Kreditgeber, wie Banken, agieren, und weil anders als bei Aktien Liquiditätsprobleme auftreten können. Bei physikalisch replizierenden ETF von Aktien sind diese Risiken nicht in demselben Maße gegeben, das wird in diesem Buch nicht gesagt. Sehr wohl ein Problem ist wiederum die Aktienausleihe aus ETF Fonds, wegen des Ausfallrisikos. Diese Ausleihe von Aktien aus ETF Fonds wurde von BlackRock auf 50% beschränkt. Immerhin.

BlackRock hat viele wichtige Aufträge aus der Politik erhalten. Insbesondere im Rahmen der Finanzkrise 2008, als es darum ging, die Risiken aus den Immobilienkrediten richtig zu bewerten, was außer BlackRock nur wenige andere konnten. Auf diese Weise ist eine große Nähe zur Politik entstanden, auch in Europa (Irland, Griechenland, Zypern, Europäische Zentralbank). BlackRock erlangte so nicht nur Einfluss, sondern auch Zugriff auf Informationen über Staaten und Firmen, die BlackRock zu seinen gunsten einsetzen kann. BlackRock setzt dabei auch immer wieder auf den „Drehtür“-Effekt: Wichtige Politiker wechseln nach ihrer Amtszeit zu BlackRock, und BlackRock-Manager wechseln in die Politik. Dazu gehört in Deutschland u.a. Friedrich Merz von der CDU, der für BlackRock die deutsche Altersvorsorge auf ETF Fonds umstellen soll (so kann man begründet vermuten).

Ein weiteres Problem ist, dass konkurrierende Unternehmen, deren Aktien im selben ETF Fonds gehalten werden, plötzlich beide von BlackRock bestimmt werden, obwohl sie Konkurrenten sind und obwohl BlackRock formal weder das eine noch das andere Unternehmen besitzt.

BlackRock verfügt auch über ein gut ausgebautes Rechenzentrum („Aladdin“), das große Informationsmengen bündelt und auswertet und BlackRock so einen Vorsprung vor der Konkurrenz verschafft. Das Rechenzentrum wird auch an Mitbewerber zur Risikokontrolle vermietet. Dadurch entstehen nicht nur neue Abhängigkeiten, sondern es entsteht auch die Gefahr, dass alle großen Marktteilnehmer dieselben Algorithmen von BlackRock benutzen, und sich auf diese Weise systematische Fehler in der Risikokontrolle zu einem gigantischen Fehler aufsummieren können, der das ganze Finanzsystem in den Abgrund reißt. Ein ähnliches Problem ergibt sich bei einheitlichen ESG-Kriterien zur Governance: Alle Firmen handeln nach den gleichen Kriterien, was zu Herdentrieb-Effekten führt, die alle im Gleichschritt wie die Lemminge in den Abgrund marschieren lässt.

Lösungen

Das Buch ist ganz gut darin, die Probleme aufzulisten, es ist aber wiederum schlecht darin, Lösungen für diese Probleme vorzuschlagen. Das wollen wir hier kurz tun. Ziel kann es nicht sein, den Kapitalismus abzuschaffen, sondern im Gegenteil, den Kapitalismus in seiner ursprünglichen und funktionsfähigen Form wiederherzustellen.

  • Fonds-Anbieter dürfen nicht für die Investoren in ihren Fonds auf Hauptversammlungen abstimmen. Dieses Stimmrecht muss an die Investoren zurückgegeben werden. Denkbar wäre z.B. die Übertragung der Rechte an Treuhänder, die bestimmte politische und unternehmenspolitische Richtungen vertreten, ähnlich einer politischen Wahl von politischen Repräsentanten.
  • Jedem einzelnen Anleger ist es zu ermöglichen, seine ganz persönlichen ESG-Kriterien aufzustellen, nach denen er sein ganz individuelles Portfolio zusammenstellt. Es darf keine allgemein gültigen ESG-Kriterien geben, die man allen überstülpt.
  • Allzu große Firmen müssen in mehrere Firmen aufgespalten werden. Es darf nicht sein, dass Firmen eine größere Finanzkraft haben als Staaten wie z.B. Deutschland.
  • Die Politik darf nicht immer dieselben Firmen mit Aufträgen versehen.
  • Der Drehtür-Effekt muss verboten werden. Der Wechsel zwischen Wirtschaft und Politik darf immer erst nach einigen Jahren Pause erfolgen.
  • Die Staatsanwaltschaften dürfen nicht von der Politik weisungsgebunden sein, wie dies z.Z. in Deutschland noch der Fall ist.
  • Eine eigene Finanzpolizei ist einzurichten (Vorbild Italien und die dortige Mafia-Bekämpfung).
  • Allzu komplexe Finanzprodukte müssen verboten werden.
  • Die Aktienausleihe aus ETF Fonds ist vollständig zu verbieten. Die Aktien in Fonds gehören den Fondsanlegern, und nur sie allein dürfen frei und individuell darüber bestimmen, wieviel Ausleihe erlaubt ist.
  • Der Umgang mit Schulden und Bankrott ist wieder in alter Form herzustellen. Ein Bankrott muss akzeptiert werden: Es darf weder eine „Rettung“ noch ein Nachfordern von Schulden geben. Der Anleger verliert sein Geld und muss das als sein Risiko akzeptieren. Unternehmen müssen Schuldenobergrenzen einhalten. Die Verflechtung von Unternehmen ist zu begrenzen.
  • Die Bündelung von algorithmischen Aufgaben wie z.B. Risikokontrolle muss verboten werden. Große Firmen müssen ihre eigenen Algorithmen entwickeln.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 18. September 2022)

Paul Veyne: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft (1983)

Glaubt Paul Veyne eigentlich an seine eigenen Mythen?! Postmoderne Hardcore-Ideologie statt lehrreicher Mythenforschung

Wer sich mit Deutung und Funktion von Mythen befasst, wird immer wieder über eine ganz bestimmte Literaturangabe stolpern: Paul Veyne, „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“. Der geneigte Leser erwartet bei einem solchen provokant-launigen Titel einerseits kundige Anleitung und Aufklärung über das schillernde Phänomen der Mythen und deren variationsreiche Wahrnehmung schon zu Zeit der alten Griechen, andererseits aber auch einen vergnüglichen und geistreichen Essay zum Thema, dessen Lektüre die reine Freude ist. Manche Literatur empfiehlt diese Schrift ganz in diesem Sinne, womit offenbar zugleich die Bildung und Gelehrsamkeit des Empfehlenden demonstriert werden soll.

Doch je weiter man in dieses Büchlein hineinliest, desto krasser die Enttäuschung des Lesers. Es handelt sich nicht um das erwartete lehrreiche Lesevergnügen, sondern – o Schreck! – um die Deklaration einer postmodernen, anti-rationalistischen und sogar anti-humanistischen Hardcore-Ideologie. Das eigentliche Thema des Buches, die Mythen der alten Griechen, dient offenbar lediglich als Kulisse zur Manifestation dieser Ideologie, und wird dieser brutal untergeordnet. Soviel Unsinn zur Antike wie hier hat man selten gelesen. Und dem philosophisch Gebildeten rollen sich sämtliche Fußnägel auf.

Daran, dass dieses Büchlein in den Literaturangaben zum Thema Mythologie immer wieder „mitgeschleift“ wird, obwohl praktisch kein Autor auf die eigentlichen Aussagen Veynes eingeht, kann man erkennen, dass die wenigsten es gelesen haben, und dass das Büchlein nur wegen seines schönen und interessanten Titels angeführt wird, und vielleicht deshalb, weil man dem Autor einen gewissen Ruf zubilligt, ohne Näheres über ihn zu wissen. Es scheint bislang nur recht kurz angebundene Rezensionen zu geben, die dieses Büchlein kritisch in den Blick nehmen. So z.B. die deutlich ablehnende Rezension von Simon Goldhill vom King’s College, Cambridge, in „The Classical Review“ von 1990. Es ist also Zeit für eine gründliche Besprechung.

Worin besteht die Ideologie von Paul Veyne?

Paul Veyne glaubt, dass die Menschen – schon immer, jetzt, und für alle Zukunft – in völlig willkürlichen Illusionen leben, die sich allein und ausschließlich der Einbildungskraft verdanken. Ob etwas Realität oder Fiktion sei, liege allein im Auge des Betrachters (S. 33 f.). Die „Wahrheit“ umschließe sowohl Mythos als auch Fiktion (S. 27). Der Glaube an „Alice im Wunderland“ beim Lesen dieses Buches wird gleichgesetzt mit dem Glauben an die Erkenntnisse der Physik (S. 34). Statt von Wahrheit spricht Veyne lieber von Wahrheitsprogrammen oder Wahrheitspalästen, die viel größer sind als die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Mythos, Imagination und Wirklichkeit; obwohl sich die Wahrheiten der verschiedenen Wahrheitspaläste vielfach widersprechen, widersprechen sie sich doch nicht, denn in sich sei jeder von ihnen vernünftig und wahr (S. 105, 146 f.). So Paul Veyne.

Die Realität zählt bei der Feststellung von Wahrheit nicht. Mit Nietzsche sagt Paul Veyne: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.), denn Tatsachen existieren nicht für sich allein, sondern müssen immer interpretiert werden. Die Wahrheit stamme nicht aus der Realität (S. 105). Paul Veyne meint, dass Husserl irre, wenn er Imaginäres und Erfahrung zu trennen versuche, denn das Imaginäre sei letztlich genauso wahr (S. 108). Zwar gäbe es tatsächlich eine materielle Wirklichkeit, so Veyne, doch diese werde immer interpretiert oder ignoriert (S. 129). Für ihn steht alles auf einer Stufe: Religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins; Empirismus sei eine Größe, die man vernachlässigen könne, meint Veyne (S. 140).

Auch die Vernunft sei ganz nutzlos und eine Illusion. Statt der Vernunft würden die Menschen von ihren Interessen geleitet. Alle Wahrheiten kämen von der Einbildungskraft her, nicht von der Vernunft (S. 35). Deshalb entschuldigt Veyne auch das interessegeleitete Lügen, und es sei ganz falsch, einen Gegensatz von Philosophie und Rhetorik zu sehen, denn auch die Philosophie folge weder der Vernunft noch der Wahrheit, sondern allein dem Interesse (S. 72). Das sei auch dann so, wenn wir uns über uns selbst täuschen und unsere eigenen interessegeleiteten Motive nicht erkennen würden (S. 72). Es würden auch niemals Argumente miteinander ringen, sondern immer nur verschiedene Wahrheitsprogramme. Es gäbe gar keine Vernunft, sondern nur Interessen (S. 102-104). Auch hinter den Mythen oder den Menschenrechten stünden nur Interessen bzw. „Kräfte“; das alles habe keine Wahrheit sondern sei rein geschichtlich, das Denken des Menschen gehorche dem Willen zur Macht, womit Veyne wieder bei Nietzsche ist (S. 110). Wahrheit sei zu nichts zu gebrauchen, sie entspräche nur unseren Vorlieben, sie sei nur ein Deckmantel für den Willen zur Macht (S. 153).

An manchen Stellen nennt Paul Veyne statt Interessen und Vorlieben plötzlich den Zufall als die Ursache unserer Wahrheitspaläste, ohne diesen Widerspruch aufzulösen. Der Prozess der Geschichte sei eine Abfolge von Zufällen und basiere nicht auf Vernunftgründen oder den Produktionsverhältnissen (S. 142 f.). Alle geschichtlichen Prozesse jenseits von Ökonomie und Ideologie, also Mythos, Kunst und Wissenschaft, könne man nur beschreiben, wenn man Rationalität und Wahrheit fallen lasse; und auch die Sozial- und Ökonomiegeschichte sei ohne Wahrheit und Vernunft (S. 143 f.). Alles sei irrational, es gäbe keinerlei Determinismus, die Geschichte ist eine zufällige Abfolge von Wahrheitspalästen, ohne Vernunft (S. 145 f.; 153 f.).

Diese Verhältnisse bezieht Paul Veyne immer auf „uns“, also auf alle Menschen. Alle Menschen würden diesen Gesetzen quasi willenlos unterliegen, ohne Ausnahme. Wir alle würden nur Interessen verfolgen, auch wenn wir uns selbst über unsere Motive täuschen würden (S. 72). Unser Geist tue es ohne Unterlass, das sei unser Alltagsleben (S. 105 f.). Unsere Wahrheitsprogramme veränderten sich ohne unser Wissen, der Mensch sei kein denkendes Schilfrohr im Wind (S. 141). Damit ist gemeint: Das Schilfrohr kann sich nur passiv im Wind neigen, und der Mensch wisse noch nicht einmal, dass er nur wie ein Schilfrohr sei. Veyne meint auch, dass es gar nicht unaufrichtig sei, verschiedene Wahrheitsprogramme im Kopf zu haben, die sich widersprechen, denn auch das würden wir alle so tun; unser Geist täte dies ohne Unterlass (S. 105 f.).

Warum das falsch ist, und wie es eigentlich ist

Diese Grundideologie von Paul Veyne ist natürlich extrem zynisch und sinnleer. Man muss sich das nur einmal vorstellen! Aber natürlich ist diese Grundideologie vor allem auch einfach nur falsch. Es beginnt damit, dass Paul Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält. Das ist natürlich Unsinn. Die Erfahrung lehrt uns alle, dass diese Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn wir uns nicht gemäß der Realität verhalten, dann werden wir hart mit der Realität zusammenstoßen. Die Empirie erkennt diese Realität, und die Vernunft ordnet die einzelnen Erkenntnisse, so dass wir uns orientieren können, um es einmal ganz einfach auszudrücken. Und nicht nur die Umwelt, sondern auch das Wesen des Menschen selbst ist teilweise vorgegeben. Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Das „Ding an sich“ von Immanuel Kant ist zwar letztlich nicht erkennbar, aber es ist vernünftig anzunehmen, dass es doch existiert. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“, dichtete schon Friedrich Schiller im Wallenstein.

Natürlich ist es vernünftig anzunehmen, dass es eine Realität gibt, und damit auch eine echte Wahrheit. Und zwar genau eine in sich konsistente Wahrheit, und nicht zwei Wahrheiten, die sich widersprechen. Natürlich kennen wir alle die eine, echte Wahrheit nicht, und wir alle sind immerzu auf dem Weg, uns der Wahrheit anzunähern, und natürlich begehen wir dabei auch Irrtümer, die uns wieder von der Wahrheit entfernen, aber deshalb ist es noch lange nicht vernünftig, Vernunft und Wahrheit kurzerhand ganz fallenzulassen. Das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Ja, die Tatsachen existieren nicht „einfach“, sondern bedürfen der Interpretation, das ist schon richtig. Aber das ist kein Grund, die Existenz der Tatsachen selbst anzuzweifeln. Zudem: Würde es weder Vernunft noch die Annahme einer gemeinsamen, anstrebbaren Wahrheit geben, dann würde der Diskurs unter den Menschen unmöglich werden, der eine wesentliche Eigenschaft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft ist. Veyne stellt hier die Menschlichkeit des Menschen infrage.

Natürlich wird menschliches Denken und Handeln vielfach durch Interessen und durch Zufall bestimmt, und natürlich ist das dem denkenden Menschen oft nicht bewusst – aber zu behaupten, dies sei immer und grundsätzlich so, ist entschieden zuviel behauptet. Es ist doch gerade die Bildung, die den Menschen über sein bloßes materielles Dasein hinaus erheben möchte. Es ist doch ein Kennzeichen von Bildung, sekundäre Motivationen wie Interessen und Vorlieben zu erkennen, und die Vernunft besser und richtiger zu benutzen. Bildung ist es, an sich selbst zu arbeiten und innere Widersprüche im eigenen Denken aufzudecken und auszuräumen. Doch Paul Veyne tut so, als seien alle Menschen nur ungebildete, bornierte Kleinbürger. Aber selbst diese sind noch reflektierter als Veyne es zugeben möchte, deshalb noch niedriger: Als seien alle Menschen – alle! – Menschen nicht viel besser als Tiere, die nur ihren Reflexen gehorchen. Wer nach Vernunft und Moral strebe, der täusche sich nur über seine wahren Motive, meint Veyne. Für Veyne ist der gute, nach Vernunft, Moral und Wahrheit strebende Mensch praktisch nur ein unaufgeklärter Idiot, über den er müde lächelt. Veyne untergräbt hier die Grundlagen von Bildung und Kultur, und rührt mit diesem Weltbild auch an die Grundfesten des Humanismus. Es ist einfach nur verantwortungslos und falsch.

Das zynische Geschichtsbild von Paul Veyne

Auf der Grundlage der dargestellten Ideologie ist dann auch das Geschichtsbild von Paul Veyne einfach nur zynisch und sinnlos zu nennen. Es gäbe keine Kausalität im Ablauf der Geschichte, sie sei unvorhersagbar, meint Veyne. Alle Versuche, den Lauf der Geschichte im Nachhinein zu erklären, seien unglaubwürdig, weil selektiv. Es sei geradezu verwunderlich, dass es so etwas wie geschichtliche Kontinuitäten gäbe. Man müsse jedes geschichtliche Ereignis als Einzelereignis für sich allein betrachten, und dann könne man auch keine Erklärung mehr dafür geben.(S. 49-54)

Geschichtsschreibung sei ein Mittel der Glaubensbildung, wie – so Veyne – der Journalismus auch (S. 15). Reporter würden nicht glaubwürdiger, wenn sie die Quellen ihrer Recherchen nennen würden, meint Veyne (S. 21). Was sei die geschriebene Geschichte? Es sei einfach die Politik von früher (S. 82). Wo die Moderne in der Geschichte ein Ringen um Aufklärung sieht, sieht Paul Veyne nur ein rationales Mäntelchen zur Fortsetzung des Wunderbaren (S. 62).

Das Ideal der Geschichtsschreibung des Historikers Paul Veyne besteht darin, den zufälligen Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ginge darum zu beschreiben, was die Menschen sich jeweils als Wahrheitspalast errichtet hätten, und wie sie die materielle Realität selektiv wahrgenommen hätten (S. 150). Die Menschen könnten aus der Geschichte aber nichts lernen; eine reflexive Analyse führe nicht zu einer Annäherung an die Wahrheit, sondern nur zu einem anderen Wahrheitsprogramm (S. 150). Die Reflexion des Historikers ist somit nicht als ein Licht auf dem Weg zu verstehen, ein Blick zurück in die Geschichte würde in keiner Weise dabei helfen, den richtigen Weg zu finden (S. 153 f.). Die Wahrheit sei, dass die Wahrheit veränderlich sei, und das könne man ohne Selbstwiderspruch sagen, meint Paul Veyne (S. 141, 152). Die Aufgabe des Historikers sei es, Wahres über Wahrheitspaläste zu sagen (S. 152).

Man fragt sich natürlich, was eine solche Geschichtsschreibung noch für einen Sinn macht. Lernen soll man also nichts können aus der Geschichte. Soll der Geschichtsschreiber dann also mit einer Tinte schreiben, die sich sofort wieder selbst auslöscht, und nur leere Seiten bleiben, wie beim „Alten vom wandernden Berge“ in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende? Oder soll man sich den Geschichtsschreiber wie Sisyphos vorstellen, als einen glücklichen Menschen mit sinnloser Aufgabe? Und der Gipfel ist ja, dass Paul Veyne für sich als „Geschichtsschreiber neuen Typs“ in Anspruch nimmt, er könne echte Wahrheiten über die Pseudo-Wahrheiten aller anderen aussagen, und dass das kein Widerspruch sei. Sein hilfloser Versuch, dies mit dem Dilemma „Alle Kreter lügen, sagte ein Kreter“ zu begründen, verfängt nicht beim gebildeten Leser, der den Unsinn von Paul Veyne an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit gnädigen Augen liest. Er, Paul Veyne, stehe also irgendwie über den Dingen, und wenn er in diesem Buch ständig von „wir“ und „uns“ spricht, die wir alle ungebildet und dumm unseren tierischen Reflexen folgen, dann hat er sich selbst immer ausgenommen? Aha. Ist das jetzt das „Interesse“ und der „Wille zur Macht“ von Paul Veyne?

Falsche und zynische Darstellung der antiken Geschichtsschreibung

Nach einer langen, langen Einleitung kommen wir in dieser Rezension jetzt zum ersten Mal auf die Antike zu sprechen, um die es ja eigentlich gehen sollte, aber offensichtlich nicht geht. Noch vor den Mythen widmet sich Paul Veyne der antiken Geschichtsschreibung. Dreiviertel der Texte antiker Geschichtsschreiber gingen allein auf deren Einbildungskraft zurück, meint Veyne allen Ernstes (S. 124). Bei der antiken Geschichtsschreibung habe es sich um ein Mittel der Glaubensbildung gehandelt (S. 15). Das Wort „historia“ wird von Veyne als „Ermittlung“ im Sinne einer schlechten journalistischen Recherche gedeutet (S. 20).

Das kritische Denken, das wir bei Autoren wie Herodot sehr wohl finden, wird von Paul Veyne niedergemacht und schlechtgeredet, ohne Herodot beim Namen zu nennen (S. 18 f.). Die Aussage von Herodot, dass er sich verpflichtet fühle, die Dinge so wiederzugeben, wie er sie hörte, auch wenn er selbst nicht daran glaube, wird von Veyne nicht als ein Fortschritt von Vernunft und Kritik gefeiert, sondern als angebliches Eingeständnis, dass alles, was Herodot bis zu diesem Punkt berichtet habe, eine unkritische Wiedergabe der Quellen gewesen sei (S. 23). Paul Veyne hegt eine ganz grundsätzliche Skepsis gegen die guten Absichten von antiken Geschichtsschreibern (S. 101 f.).

Die Bitte Ciceros, dass man seine Taten propagandistisch aufwerten möge, ohne dabei allzusehr auf die Regeln der historischen Gattung zu achten, wertet Veyne als Hinweis auf die Verlogenheit der Zeit, übersieht aber völlig, dass in dieser Bitte die Aussage enthalten ist, dass die historische Gattung Regeln kennt (S. 24). Und die Kritik, die Cicero und Livius an den Überlieferungen der Frühzeit üben, sei in keiner Weise eine historische Kritik, meint Veyne (S. 67). Der Geschichtsschreiber, der die Genealogie der Könige von Arkadien niederschrieb, habe wie ein Romanautor gehandelt, glaubt Veyne zu wissen (S. 125).

Wir können uns dieser zynischen, schiefen und falschen Sichtweise auf die antike Geschichtsschreibung natürlich nicht anschließen. Es tut weh, diesen üblen und unfairen Rabulismus auf Autoren wie Herodot angewandt zu sehen.

Schief und falsch verwendete Begriffe senden unterschwellige Botschaften

Während der Lektüre fällt immer wieder auf, dass Paul Veyne bestimmte Worte nicht gemäß ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet. Seine teils schiefe, teils falsche Verwendung von Begriffen ist nicht etwa bloße Ungeschicklichkeit, und auch kein abkürzendes, „faules“ Sprechen, wie es dem Leser beim Beginn seiner Lektüre noch erscheinen will, sondern offenbar ganz bewusst so gewählt, um den Leser dadurch zu manipulieren. Zum einen verschwimmen die verschiedenen Begriffe in ihrer Bedeutung, so dass die Klarheit der Bedeutung der Begriffe unterminiert wird. Auf diese Weise wird dem Leser Glauben gemacht, die Begriffe hätten keine hinreichend klare Bedeutung, so dass die Glaubwürdigkeit von Veynes vernunftwidrigen Thesen bei weniger gebildeten Lesern erhöht wird. Zum anderen werden durch die falsche Verwendung der Begriffe unterschwellige Botschaften transportiert. Wahres und Gutes erscheint als verlogen und schlecht, Schlechtes und Verlogenes als gut und wahr, ganz wie es die Ideologie von Paul Veyne fordert. Und nein: Diese Phänomene verdanken sich nicht einer schlechten Übersetzung; sie sind auch im französischen Originaltext vorhanden.

So spricht Veyne z.B. gerne kurzerhand in absoluter Weise von „Wahrheit“, wo er besser von „damals geglaubter Wahrheit“ gesprochen hätte (S. 9 f., 105). Ob mit dem Wahrheitsbegriff die Realität oder eine Bedeutung im übertragenen Sinn gemeint ist, wird von Veyne ebenfalls nicht unterschieden (S. 32 f.). Mit Nietzsche sagt er kurzerhand: „Die Tatsachen existieren nicht“ (S. 52 f.). Aber um genau zu sein, hätte er besser davon gesprochen, dass sie nicht „einfach“ existieren, sondern – obwohl sie nämlich sehr wohl existieren – nicht ohne Interpretation zu haben sind. Vom Mythos meint Paul Veyne, dass er weder wahr noch falsch sei (S. 41). Aber das kann man so nicht sagen. Denn natürlich gibt es Mythen, die einfach nicht wahr sind, und dann gibt es wiederum Mythen, die einen beachtlichen wahren Kern haben. Aber Veyne interessiert das offenbar nicht. Dann meint Veyne, dass eine Lüge im Mythos solange nicht als Lüge gelte, solange der Erfinder der Lüge daraus keinen Vorteil ziehe (S. 41). Das ist eine sehr ungewöhnliche Definition von Lüge, die dem allgemeinen Verständnis von Lüge zuwiderläuft. Für gewöhnlich knüpft man das Wesen der Lüge an das Bewusstsein des Autors, ob er denn weiß, dass er lügt.

Völlig gegen das allgemeine Verständnis wird auch das Phänomen des Fälschers aufgefasst. Paul Veyne nennt auch das eine Fälschung, was ihr Autor völlig ernst meinte, und erst später als falsch erkannt wird (S. 126). Der Vorgang des Fälschens wird konsequent relativiert: Eigentlich sei doch jeder der Fälscher eines anderen Wahrheitsprogrammes, meint Veyne (S. 128). Der Fälscher sei gewissermaßen ein Fisch im falschen Gefäß (S. 130), und überhaupt seien die Grenzen zwischen Information und Unterhaltung reine Konvention (S. 125). Man könne einfach nicht zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen unterscheiden, das ginge gar nicht, meint Veyne (S. 124). Paul Veyne vermeidet konsequent, den zentralen Gedanken des Fälschens auszusprechen: Dass sich ein Fälscher nämlich bewusst sein muss, dass er eine Unwahrheit produziert. Dass es so etwas überhaupt geben könnte, dass jemand bewusst fälscht und deshalb mit Recht ein Fälscher genannt wird, und dass jemand, der nicht bewusst fälscht, auch nicht Fälscher genannt zu werden verdient, egal wie falsch seine Worte auch immer sein mögen, diese Idee wird bei Paul Veyne konsequent ausgeblendet, sie existiert gar nicht. Für Paul Veyne sind Fälscher und Lügner Menschen, die die Wahrheit sprechen, nur in einem anderen Bezugssystem. Was für ein Unsinn.

Für einen Historiker wie Paul Veyne besonders bezeichnend ist die ständig wiederholte Verwendung des Wortes „Geschichte“, wo man besser von „Geschichtsschreibung“ gesprochen hätte (z.B. S. 15, 125 f.). Dahinter steckt natürlich seine Idee, dass es keine echte Wirklichkeit gibt, sondern nur Wahrheitspaläste, die mit einer empirischen Realität nicht das Geringste zu tun haben. Das allgemeine Verständnis des Wortes „Geschichte“ als dem, was wirklich passiert ist, wird deshalb von Veyne mit der Bedeutung des Wortes „Geschichtsschreibung“ überschrieben, also dem, was die Leute glauben, dass angeblich passiert sei. – Auch die Vernunft erleidet bei Paul Veyne dieses Schicksal: Überall dort, wo er eigentlich von einer „Rationalisierung“ sprechen müsste, nämlich einer rationalisierenden Deutung von Mythen, spricht Veyne konsequent von „Rationalismus“ (z.B. S. 84, 134). Nun ist aber nicht jede rationalisierende Deutung von Mythen auch rational(istisch). Im Gegenteil, oft ist eine rationalisierende Deutung von Mythen falsch und irrational. Aber für Paul Veyne gibt es ja keinen echten Rationalismus, und so spricht er kurzerhand von „Rationalismus“, wo er Rationalisierung meint. Dadurch wird die Rationalität, die Vernunft selbst, der Lächerlichkeit preisgegeben, und von ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdet.

Ähnliches geschieht auch, wo Paul Veyne von den „verantwortungsbewussten“ Leuten spricht, die im Glauben an die vermeintlich gute Sache mit der Wahrheit nicht pingelig sind (S. 98). Natürlich sind Menschen, die es mit der Wahrheit nicht genau nehmen, alles andere als „verantwortungsbewusst“. Solche Leute halten sich vielleicht selbst für verantwortungsbewusst und sie stellen sich vielleicht selbst als verantwortungsbewusst heraus (man vergleiche den Unbegriff des „Gutmenschen“), aber sie sind natürlich nicht wirklich verantwortungsbewusst. Paul Veyne hätte das Wort „verantwortungsbewusst“ an dieser Stelle in Anführungszeichen setzen müssen, um Ironie deutlich zu machen. Aber er hat es nicht getan. Denn für ihn ist es keine Ironie. Für ihn ist es ernst. – Und schließlich wird so auch der Begriff des „Patriotismus“ unterminiert. Paul Veyne verwendet das Wort „Patriotismus“ konsequent im Sinne von „Nationalismus“ (S. 100, 151). Auf diese Weise wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen einem Menschen, der sein Land liebt, und einem hässlichen Nationalisten. Für Paul Veyne ist das offenbar dasselbe. Wie primitiv.

Die Gefährlichkeit der Ideologie von Paul Veyne

Der gebildete Leser hat natürlich längst erkannt, wie gefährlich die Ideologie von Paul Veyne ist. In ihr ist das Potential zu jedem beliebigen Unsinn und damit zu jedem beliebigen Verbrechen angelegt. Wir sind jedoch nicht darauf angewiesen, solche Auswüchse lediglich theoretisch zu schlussfolgern, nein, Paul Veyne präsentiert uns noch in demselben Büchlein mehrere bedauerliche Anwendungsfälle seiner Ideologie, wo es richtig gefährlich wird.

Zunächst steht die Ideologie von Paul Veyne jeder Form von Wissenschaft diametral entgegen. Wenn es keine Annäherung an die Wahrheit geben kann, keinen Rückbezug zur Empirie, und alles nur frei schwebende Illusion ist, dann kann es auch keine Wissenschaft geben. So meint Paul Veyne denn auch konsequenterweise, dass religiöser Glaube, ein Roman, oder die physikalischen Theorien Albert Einsteins auf einer Stufe stünden (S. 140). Die Erfindung des Mikroskops durch Leeuwenhoek und die dadurch möglich gewordene Entdeckung der Mikroben seien nach Meinung von Paul Veyne außer zur Konversation zu nichts gut gewesen (Fußnote 215). So spannt er auch das naturwissenschaftliche Prinzip der Auffindung immer besserer Erkenntnisse in das Prokrustes-Bett seiner Ideologie und spricht auch hier von der „wissenschaftlichen Wahrheit, die dauernd provisorisch ist“, obwohl das Wort „Wahrheit“ hier natürlich nicht hingehört, das ist der springende Punkt, und er spricht vom „Mythos der Wissenschaft“ (S. 138). An einer Stelle verteidigt Veyne auch eine rhetorisch interessegeleitete Lüge von Galen (S. 72), und wie gesehen gibt es für Paul Veyne eigentlich keine Fälscher. Letztlich stellt Paul Veyne damit auch seine eigene Profession infrage, denn wie will er unter diesen Voraussetzungen Geschichtsschreibung als Wissenschaft betreiben?

Zum Nationalsozialismus finden wir bei Paul Veyne besonders unappetitliche Aussagen. Auch der Nationalsozialismus war nach Meinung von Paul Veyne eine „Erfindung“ aus heiterem Himmel, und lasse sich nicht auf auf wesentliche Gründe und Ursachen zurückführen, sondern sei in keiner Weise vorhersagbar gewesen (S. 52), woran kleine Kausalitäten nichts ändern, die Paul Veyne immerhin doch sieht. Ganz so aus heiterem Himmel wurde der Nationalsozialismus dann aber wohl doch nicht „erfunden“, wie Veyne meint, auch wenn eine starke Kausalität ebenfalls eine Übertreibung wäre. Da Veyne die Empirie für vernachlässigbar hält, kommt er konsequent zu der Ansicht, dass allein das Interesse, nicht an Auschwitz glauben zu wollen, genüge, um alle Zeugnisse über Auschwitz unglaubwürdig werden zu lassen (Fußnote 8). Folgerichtig wird dann der Holocaustleugner Faurisson nicht als Fälscher gedeutet – wir sahen oben schon, dass es für Veyne gar keine Fälscher im eigentlichen Sinne gibt – sondern als Mythenmacher (!), dessen Fehler allein darin bestand, zu argumentieren, und eben nicht, wie es ein guter Mythenmacher im Sinne von Paul Veyne hätte tun sollen, einfach apodiktische Behauptungen zu verbreiten (S. 127 f.). Paul Veyne findet es zudem angebracht, einen dummen Witz über den Holocaustleugner Faurisson zu reißen: Auch der Fälscher selbst sei eine Fälschung gewesen, denn es gäbe gar keine Holocaustleugner, wenn man nur aufhören würde, an die Existenz solcher mythischen Wesen zu glauben (S. 126 f.). Aber da müssen wir mit Bertrand Russell kontern: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben. Schließlich witzelt Veyne auch noch dumm über das Thema Verantwortung herum: Verantwortungslosigkeit sei ja sooo schlimm, und deshalb „sicherlich“ auch falsch; Diodor könne das bestätigen, meint er nur sarkastisch-ironisch (S. 142). Mit anderen Worten: Das ganze Geschwätz von der Verantwortung ist genauso Unfug wie das Geschwätz über geschichtliche Wahrheit, denn beides gibt es für Veyne nicht. Gott sei Dank geht es darum ja gar nicht, meint Paul Veyne. Das ist nur logisch: Wo es keine Wahrheit gibt, kann es keine Verantwortung und auch keine Schuld geben. Wir müssen uns Paul Veyne als glücklichen Kollaborateur des Vichy-Regimes vorstellen – oder was sollte man von jemandem erwarten, der Wahrheit und Vernunft beiseite wischt und statt dessen vom „Willen zur Macht“ spricht?

Wir sahen oben schon, dass die Ideologie von Paul Veyne – horribile est dictu – ein Angriff auf den Humanismus ist. Wenn es keine Wahrheit gibt und die Empirie vernachlässigbar ist, dann kann der Mensch auch nichts lernen, und es sind auch keine vernünftigen Diskurse unter den Menschen möglich. Auch Wissenschaft ist ohne Humanismus nicht möglich. Der Gedanke, dass es gerade die Bildung ist, die den Menschen über seine Abhängigkeiten, über seine Interessen und Vorlieben erhebt und zu einem selbstbestimmten, vernunftgeleiteten Menschen macht, fehlt bei Paul Veyne völlig. Für Veyne muss man gleich ein „Genie“ sein, um aus einem Wahrheitsprogramm, in dem man sich befindet, wieder herauszukommen (S. 141). Bloße Bildung reicht offenbar nicht bzw. existiert in Veynes Welt nicht. Es gibt natürlich auch keine Moral. Allein die moralische Grundfrage, was denn zu tun ist, sei schon verfehlt; nur der Anthropozentrismus glaube an eine Antwort auf diese Frage, so Veyne (S. 151). Die meisten Jahrhunderte hätten sich diese Frage zudem gar nicht gestellt, meint Veyne (S. 151). Wirklich? Da haben wir die Geschichte aber ganz anders verstanden. Veyne meint auch, dass es keine der Natur der Dinge einbeschriebene Struktur gäbe, die eine Moral begründen könnte: Auch Kritiken wie Entmystifizierung, Sprachkritik und Ideologiekritik seien nur Romane (S. 151). Vorstellungen von Sinn und Moral seien immer Fälschungen und als solche leicht erkennbar: Sie verströmen menschliche Wärme, und das sei per se schon falsch (S. 151). Wahrheit sei einfach zu nichts zu gebrauchen (S. 153). Im vorletzten Absatz des Buches schreibt Veyne: „der Mensch ist eben kein denkendes Schilfrohr. Habe ich deshalb dieses Buch auf dem Lande geschrieben? Ich beneidete die Tiere um ihre Gelassenheit.“ (S. 154) Das ist eine unmissverständliche Absage an den Humanismus, in Form der Bevorzugung des Nichtdenkens der Tiere.

Der ideologische Hintergrund

Paul Veyne kommt oft auf Nietzsche zu sprechen, erwähnt hin und wieder Max Weber, lobt den Rationalismus-Gegner Paul Feyerabend (Fußnote 166), und nennt einmal die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus, konkretisiert in der Auseinandersetzung von Habermas und Foucault (S. 143). Hier sind wir genau beim Punkt. Das postmoderne Denken von Michel Foucault ist die Quelle von Paul Veynes Ideologie. Es war Foucault, der statt Vernunft und Wahrheit Interessen und Machtverhältnisse ins Zentrum rückte. Es war Foucault, der Begriffe und Werte beliebig umdefinierte: Wahrheit gab es nicht mehr, Kranke galten nicht mehr als krank, Wahnsinnige nicht mehr als wahnsinnig, Kriminelle nicht mehr als kriminell. Und Foucault stützte sich auf den Nihilismus Nietzsches und dessen radikale Vernunftkritik.

Michel Foucault fand viele Anhänger, stieß aber auch auf heftige Kritik: Schon Sartre warf ihm vor, den Humanismus zu verwerfen und die Grundlagen des aufklärerischen Denkens infrage zu stellen. Foucault wurde vorgeworfen, unklare und konfuse Begriffe zu verwenden und selbstwidersprüchlich zu sein. Außerdem habe er historische Fakten unzuverlässig verwendet. Für den Historiker Hans-Ulrich Wehler war Michel Foucault „ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne“.

Auch das Denken von Michel Foucault hatte gefährliche Konsequenzen: So unterstützte bzw. verharmloste Michel Foucault sowohl die Errichtung eines totalitären Gottesstaates im Iran als auch die massenmörderische Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha.

Warum Paul Veyne seine eigene Ideologie nicht glaubt

Es gibt einige Stellen und Aspekte, wo deutlich wird, dass Paul Veyne offenbar nicht wirklich von seiner eigenen Ideologie überzeugt ist. Da ist zunächst der Umstand zu nennen, dass Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben hat. Wozu, wenn es keine Wahrheit gibt, an die man sich annähern kann? Wozu, wenn argumentieren nicht hilft? Wozu, wenn man aus der Geschichte nichts lernen kann? Und wozu, wenn Veyne in seinem ganzen Wissenschaftsverständnis nicht ernst genommen werden kann? Im Grunde hat er ja gar kein Wissenschaftsverständnis, sondern das Gegenteil davon: Ein Verständnis, dass Wissenschaft unmöglich und sinnlos ist. – Und dennoch hat Paul Veyne dieses Büchlein geschrieben, das er als wissenschaftlicher Historiker geschrieben hat, und in dem er keine apodiktischen Mythen verbreitet sondern teilweise argumentiert. Wie sollen wir ihm da glauben, dass er an seine eigene Ideologie glaubt?!

Wir sahen schon eine Reihe von Beispielen, wo Paul Veyne selbstwidersprüchlich argumentiert. Aber vielleicht glaubt er ja wirklich an die Möglichkeit seiner Selbstwidersprüche. Interessant ist jedoch, dass er bei der Frage nach der Entstehung des Nationalsozialismus entgegen seiner vollmundigen Thesen, dass Geschichte sich rein zufällig ereigne, und dass der Nationalsozialismus gewissermaßen eine zufällige Erfindung der Geschichte sei, dennoch „kleine kausale Serien“ sehen will (S. 52). Wie das? Woher kommt jetzt diese kleine Kausalität?! So klein sie auch sein mag, ist es doch eine Kausalität. Hier ist Veyne nicht konsequent. – Nachdem Veyne zunächst erklärt hatte, dass die verschiedenen Wahrheitsprogramme sich gar nicht widersprechen könnten, weil es eben nicht um Wahrheit ginge, und ein Mensch auch völlig widerspruchsfrei mehrere sich gegenseitig (dann also wohl nur scheinbar?) widersprechende Wahrheitsprogramme zugleich im selben Kopf haben könne, erklärt Veyne, dass ein vernünftiges Ringen von Argumenten in Wahrheit ein Kampf verschiedener Wahrheitsprogramme miteinander sei (S. 92). Doch wie das, wenn sie sich gar nicht widersprechen? Können sich verschiedene Wahrheitsprogramme nun widersprechen oder nicht? Paul Veyne klärt dieses Rätsel an keiner Stelle auf.

Immer wieder stellt Paul Veyne in diesem Büchlein klare Behauptungen mit Wahrheitsanspruch auf, obwohl es doch seiner Auffassung nach gar keine Wahrheit geben kann. Besonders deutlich in seiner apodiktischen Aussage „Die Wahrheit ist einfacher: ….“ (S. 104, „La verité est plus simple“), die ausgerechnet inmitten einer Orgie von Aussagen getätigt wird, dass es keine Wahrheit gäbe. Auf den Doppelpunkt folgt zudem ein Argument – wie aber kann Veyne argumentieren, wo das doch seiner Auffassung nach nichts bringt? Vom „Patriotismus“ behauptet Veyne, dass er Millionen Tote gefordert habe (er meint natürlich den Nationalismus, aber lassen wird das jetzt), und gibt sich sehr überzeugt davon (S. 151). Der Wahrheitsanspruch ist auch hier nicht übersehbar. Auch der Satz „Die zweite Interpretation ist die einzig richtige“ formuliert eine überraschend klare Wahrheitsbehauptung (S. 131). Und wenn es um Heidegger geht, den er offenbar nicht mag, ist plötzlich wieder Kritik gefragt, obwohl die doch laut Veyne gar nicht möglich ist: „Man hat den Verdacht, dass ein wenig historische und soziologische Kritik besser wäre als noch so viel Ontologie.“ (S. 130).

Wir erinnern uns auch, dass Paul Veyne sich sehr viel Mühe damit gegeben hatte, den Menschen als von Motiven geleitet darzustellen, über die er sich selbst gar nicht bewusst ist: Nicht Vernunft, Wahrheit und Moral würden den Menschen leiten, sondern Interesse, Vorlieben und Zufälle. Doch in Fußnote 33 erfahren wir plötzlich, dass Kinder, Primitive und Gläubige nicht naiv seien: Sie würden Imaginäres und Wirkliches gar nicht verwechseln, obwohl Veyne uns doch glauben machen wollte, dass man das gar nicht unterscheiden könne. Wir erfahren auch von einem Stamm, der Menschen, die sich aus religiös-rituellen Gründen für Wildschweine halten, klar von echten Wildschweinen zu unterschieden weiß. Sieh an, wer hätte das gedacht! Ist die Empirie also doch nicht vernachlässigbar?!

Und im Schlusssatz dieses Büchleins meint Paul Veyne dann: „Schon beim Lesen des Titels wird jeder, der auch nur die geringste historische Bildung besitzt, vorweg geantwortet haben: ‚Aber natürlich haben sie an ihre Mythen geglaubt!‘ “ Hier nun endlich, im letzten Satz, taucht sie doch noch versteckt auf, die Bildung! Die Bildung, die es angeblich gar nicht geben soll. Die Bildung, die es uns ermöglicht, aus unserem modernen Bezugssystem auszubrechen, in dem die antiken Mythen keine Wahrheit mehr haben, und uns in das Bezugssystem antiker Menschen zu versetzen, die natürlich in verschiedentlichster Weise an ihre Mythen glaubten. Es ist diese Bildung, die diese Transferleistung im Denken ermöglicht, mithilfe der Vernunft und der Wahrheit als Ziel, und man muss dazu noch nicht einmal ein Genie sein, wie Paul Veyne behauptete.

Wir glauben nicht, dass Paul Veyne wirklich ungebrochen an seine eigene Ideologie glaubt. Es ist ein Mythos, dass Veyne im „ungebrochenen Mythos“ seiner Ideologie lebt. Wir glauben dies nicht, erstens, weil dies gar nicht geht. Theoretisch nicht. Und praktisch erst recht nicht. Wir glauben es aber auch zweitens nicht, weil Paul Veyne – wie gezeigt – mehrfach deutlich erkennen ließ, dass er nicht daran glaubt. Die Frage ist, inwieweit sich Paul Veyne darüber im Klaren ist? Wir fühlen uns unwillkürlich an Erich von Däniken erinnert, dessen saftige Selbstironie ja auch nicht zu übersehen ist: Auch er glaubt und glaubt doch nicht wirklich an seine eigenen Mythen. Beide, Paul Veyne und Erich von Däniken, sind in einer bedauernswerten Gemengelage von Irrtum und Durchschauen des Irrtums gefangen. Das Durchschauen des Irrtums hat aber den Durchbruch zur Dominanz im Denken beider nicht geschafft.

Endlich: Das Thema Mythen!

Jetzt endlich kommen wir in dieser Rezension zu dem eigentlichen Thema von Veynes Büchlein, das im Titel angekündigt wurde, und wegen dessen die meisten Leser dieses Büchlein zu lesen begonnen haben werden – zu Ende gelesen werden es aber nur die wenigsten haben, denn es geht, wie gesehen, zuerst um ganz andere Themen, und dann erst um Mythen.

Leider ist Paul Veyne nicht in der Lage, die bei den Griechen entstehende Mythenkritik angemessen zu würdigen. Denn für Paul Veyne gibt es ja keine Annäherung an eine Wahrheit, und man könne auch nichts lernen, und es würde immer nur ein Wahrheitspalast durch einen anderen ersetzt, ohne Beteiligung der Vernunft. Deshalb wohl macht sich Paul Veyne lustig darüber, dass die Griechen die Frage nach der Wahrheit stellten, und redet von „Denkpolizist“ (S. 76). Die geistige Leistung der Griechen und der kulturelle Fortschritt sind für Veyne nur ein Witz. Er meint in unverständlichen Worten, dass die Kritik am Mythos durch die Transformation der Zeitlichkeit entstand, aber wie das zuging, wolle er eigentlich gar nicht wissen (S. 47). Der Leser ist schockiert: Das ist doch genau sein Thema, und er will es nicht wissen?! An anderer Stelle wendet er sich ebenfalls gegen Versuche, die Mythenkritik zu erklären, weil sie ein Ergebnis vieler Zufälle sei (S. 48 f.). In Fußnote 210 erfahren wir dann, dass sich Paul Veyne Hampl anschließe, demzufolge – angeblich – Mythos, Sage und Märchen nicht unterscheidbar seien. Das ist eine weitreichende Aussage, warum nur in einer späten Fußnote? Und nirgendwo finden wir eine saubere Unterscheidung verschiedener literarischer Gattungen: Sage, Legende, Mythos, Märchen, usw. – Wir sehen, dass sich die Ideologie von Paul Veyne äußerst negativ auf seine Behandlung des Themas auswirkt.

Tatsächlich werden alle Fragestellungen, die man zu Mythen haben kann, bei Veyne in der ein oder anderen Weise aufgeworfen und angesprochen. Doch die Perspektive ist häufig schräg, und es wird selten hinreichend differenziert. Oft wird rabulistisch über die verschiedenen Zeiten hinweggegangen, und viel zu weitreichende Pauschalurteile gefällt („die Griechen glaubten …“). Man könnte immerhin sagen, dass Paul Veyne eine Fundgrube für interessante Gedanken zum Thema Mythen ist. Das ja. Man kann dieses Büchlein zur Anregung lesen, um auf Gedanken zu kommen, auf die man sonst nicht gekommen wäre. Wir zählen nur kurz einige Themen auf, die angesprochen werden:

  • Das mythische vs. das historische Zeitalter.
  • Mythos und Logos seien nicht einfach ein Gegensatz.
  • Glaube variiert in Graden und Formen.
  • Glaube variiert nach sozialer Schicht, Bildung.
  • Glaube variiert je nach Jahrhundert, von Homer bis Pausanias.
  • Text ohne Autor; Tradition schafft Autorität.
  • Mythen haben soziale Funktionen.
  • Kriterium Entmythologisierung: Vergangenheit nicht wunderbarer als Gegenwart.
  • Kriterium Entmythologisierung: Wahren Kern herausschälen.
  • Dass Mythen völlig unwahr sind, also Lüge, hätten „die Griechen“ nicht erkannt.
  • Pausanias mache dann den Schritt zur allegorischen Deutung.
  • Der Entmythologisierer begründet selbst einen neuen Mythos.
  • Mythensammler schufen Kanon, Varianten, verursachten einen Kahlschlag der Varianten.
  • Mythen können Chiffren in diplomatischer Sprache sein.
  • Problem der Entmythologisierung wurde nie gelöst, sondern wurde durch Christentum obsolet.

Paul Veyne kommt immer wieder darauf zurück, dass die Griechen nie erkannt hätten, dass die Mythen einfach Lügen seien (z.B. S. 136). Der Leser fragt sich: Kann man das denn so pauschal sagen? – Immer wieder kommt Veyne darauf zurück, dass die heute gültige, moderne Deutung von Mythen die Deutung als Archetypen sei, also eine psychologisierende Deutung im Sinne von C.G. Jung (z.B. S. 26 f., 39, 75, 94). Doch das ist nur eine mögliche moderne Deutung von vielen! Wie kommt Paul Veyne darauf, dass es nur diese eine gäbe?! – Wiederholt meint Veyne, dass die griechische Skepsis, Rationalität und Geschichtsschreibung nicht so sei wie die unsere (S. 13, 115). Doch in welcher Weise? Das ist doch im Kern sehr zu bezweifeln, dass ihre Rationalität eine völlig andere war als unsere. – Einmal sagt Veyne, dass die Griechen bis zur Entmythologisierung unkritisch gläubig und unkritisch skeptisch gegenüber ihren Mythen gewesen wären (S. 26). Ein andermal sagt er, dass man mit Mythen bis zu Nietzsche und Max Weber unkritisch umgegangen sei. Weder das eine noch das andere kann den Leser überzeugen. Hier wird viel zu wenig differenziert. – Veyne behauptet, dass Hesiod seine Werke frei erfunden und zugleich daran geglaubt habe (S. 42). Das kann er einem gebildeten Menschen nicht erzählen. – Cicero hätte nicht an die Götter geglaubt (S. 65). Das bezweifle ich doch sehr. Es kommt darauf an, was man unter „Glaube“ und unter „Göttern“ versteht. – Autoren, die die Wahrheit von Mythen hochhalten, seien wie Philologen, die die erhaltenen Textstellen eines antiken Textes hochhalten (S. 91). Der Vergleich hinkt schwer.

Platon und Mythen

Geradezu dramatisch ist der Umstand, dass Paul Veyne in einem Werk über antike Mythen allen Ernstes glaubt, Platon auslassen zu können: „Doch überschlagen wir dieses Kapitel, vor dem selbst die kühnsten Kommentatoren zurückschrecken würden“; denn Platon mache alles, er deute Mythen allegorisch, oder mit geschichtlich wahrem Kern, oder er mache sogar eigene Mythen (S. 81). Das ist natürlich gar zu schrecklich, sich mit so einem wetterwendischen Wicht wie Platon zu befassen, das lässt man dann lieber gleich bleiben als Wissenschaftler, nicht wahr? Dass Platon eine absolut zentrale Rolle im antiken Diskurs über Mythen spielt, fällt für Paul Veyne offenbar nicht ins Gewicht. Er spricht diesen Umstand noch nicht einmal aus. Auch wegen dieses kühnen Übergehens von Platon ist Paul Veyne einfach nicht ernst zu nehmen. Dabei ist Paul Veynes Furcht nur allzu verständlich, denn Platon steht für alles, was Veyne ablehnt: Für Vernunft und das Streben nach der Wahrheit.

Durch die Hintertür hat sich Paul Veyne natürlich trotzdem mit Platon befasst. Es finden sich ungefähr zehn Stellen in diesem Büchlein, an denen Veyne auf Platon eingeht. Nur gibt Paul Veyne nicht zu, dass Platon wichtig ist. Offenbar will Paul Veyne Platon „vernichten“, indem er ihn lächerlich macht, systematisch fehlinterpretiert und vor allem ausblendet. Das ist dann fast schon kindisch.

Veyne unterstellt, dass Platon geglaubt habe, dass alle Mythen von Dichtern erfunden worden seien (S. 77). Das ist natürlich Unsinn, aber ganz im Sinne von Veyne. – Platons Diktum, dass man die Unwahrheit der Wahrheit so gut wie möglich nachbilden müsse, deutet Veyne so, dass jede Unwahrheit eigentlich nur eine Ungenauigkeit sei (S. 87). Auch das ist falsch, denn es gibt für Platon auch die klare Unwahrheit, Lüge und Fälschung, die kein Annäherungsversuch an die Wahrheit ist. Aber Veyne, für den es keine echten Fälscher gibt, sieht das natürlich anders. – In Platons Aussage zur Kriegstauglichkeit von Frauen deutet Veyne die Aussage zu den Sauromaten so, als würde Platon die Sauromaten als Kern des Amazonen-Mythos deuten (S. 112 f.; Nomoi VII 806ab). Doch das ist falsch. Es wird nur verglichen, „wie die Sauromatinnen“, aber es findet keine Ausdeutung des Mythos im Sinne von Paul Veyne statt. – An einer Stelle meint Veyne, die Griechen hätten sich nie mit dem Problem der Überlieferung befasst (S. 85). An einer anderen Stelle schreibt Veyne, dass man die Prinzipien der Kritik der Überlieferung bei Platon finden könne (S. 68). – Meistens wird die Zeitlichkeit der Mythen mit der Zeit bis zum Trojanischen Krieg angegeben (S. 11, 55, 92 ff.). An einer Stelle wird die Zeitlichkeit der Mythen jedoch lapidar „platonisch“ genannt (S. 40). Die platonische Vorstellung von Zeit war aber eine ganz andere als die der traditionellen Mythologie, nämlich zyklisch, wie Paul Veyne wiederum an anderer Stelle richtig erkannt hat (S. 64). Auch hier also eine flapsige Ungenauigkeit. Für Paul Veyne ist das aber vermutlich egal, und Flapsigkeit völlig gerechtfertigt, da ja ohnehin alles nicht wahr ist, da ja ohnehin kein Wert auf Vernunft gelegt werden kann, usw. usf.

In Fußnote 5 nennt Paul Veyne das Werk „Greece before Homer: Ancient Chronology and Mythology“ von John Forsdyke 1957 als eine seiner Quellen. Wir haben die Vermutung, dass Paul Veyne sich bei der Abfassung seines Büchleins allzu sehr auf dieses Werk gestützt haben könnte. „Allzu sehr“ nicht im Sinne eines Plagiates, aber in dem Sinne, dass auch bei Forsdyke Platon mehr oder weniger ausgeblendet wird, und dass auch bei Forsdyke eine übertriebene Schwerpunktbildung auf Pausanias zu beobachten ist, ganz wie bei Veyne.

Platons Atlantis

In Fußnote 89 kommt Paul Veyne sehr versteckt auch auf Platons Atlantis zu sprechen. Dort heißt es: „Zu den mythischen Zeitaltern bei Platon (Politik [Politeia] 268-269b; Timaios 21a-d; Gesetze 677d-685e), der sie richtig stellt und nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias, vgl. Raymond Weil, Archéologie de Platon, Paris 1959, S. 14, 30, 44.“

Mit den „mythischen Zeitaltern bei Platon“ ist zunächst nur von Platons zyklischem Geschichtsbild die Rede, auch wenn dies eng mit Platons Atlantis zusammenhängt. Doch mit der Stellenangabe Timaios 21a-d, in der nicht von Zeitaltern sondern von Ur-Athen und Atlantis zu erzählen begonnen wird, und dem Verweis auf Raymond Weil, in dessen Werk es zentral um Platons Atlantis geht, ist der Bezug zu Platons Atlantis dann unmissverständlich hergestellt. Und Platons Auffassung über – unter anderem – Atlantis ist Paul Veyne zufolge also, dass Platon „nicht mehr oder weniger daran glaubt als Thukydides oder Pausanias“.

Wir könnten daraus jetzt ohne weiteres ableiten, dass Paul Veyne glaubt, dass Platon seine Atlantisgeschichte völlig ernst gemeint hat. Ohne weiteres könnten wir sagen, dass Paul Veyne damit gegen die Mehrheit der Historiker und Philologen steht, denenzufolge Atlantis eine Erfindung von Platon ist. – Doch halt! Paul Veyne verwischt ja gerade den Unterschied von Erfindung und Wahrheit. Für Paul Veyne gibt es auch keinen Fälscher, sondern nur verschiedene Wahrheitspaläste – die sich aber allesamt wiederum nur unserer Einbildungskraft verdanken. Die Empirie ist für Veyne vernachlässigbar. Wenn man dies bedenkt, dann ist Paul Veyne natürlich wieder ganz anders einzuordnen. Veyne glaubt vielleicht tatsächlich, dass Platon an Atlantis glaubte, aber Veyne glaubt zur gleichen Zeit auch daran, dass Platon Atlantis erfand. Ganz so, wie Veyne es auch für Hesiod sagt (S. 42). Das ist zwar Unsinn, aber Veynes Meinung. Mit anderen Worten: Paul Veyne hat eine Meinung, die wie ein Pudding ist, den man nicht an die Wand nageln kann. Auch der Verweis auf Raymond Weil ist vielsagend. Denn anders als Paul Veyne, demzufolge Platon daran glaubt, auch wenn er es erfunden hat, ist Raymond Weil ein ganz entschiedener Verfechter der These, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat.

Immerhin können wir trotz allem eines ganz klar festhalten: Paul Veyne glaubt gewiss und sicher daran, dass Platon an seine Atlantisgeschichte glaubte. Veyne glaubt zwar zugleich auch, dass Platon die Atlantisgeschichte erfand, doch ändert das nichts daran, dass Paul Veyne sich in ganz klarem Widerspruch zu den meisten Historikern, Philosophen und Philologen befindet, die meistens der Auffassung sind, dass Platon die Atlantisgeschichte sehr bewusst erfunden hat. Wenigstens diesen Widerspruch zur vorherrschenden Meinung können wir aus der Meinung von Paul Veyne herausdestillieren. Da gibt es nichts zu rütteln.

Merken wir noch an, dass Paul Veyne seine Meinung über Atlantis säuberlich in eine Fußnote versteckt hat, und auch innerhalb dieser Fußnote nur implizit durch einen Stellenverweis auf Platons Timaios und den Literaturverweis auf Raymond Weil deutlich werden lässt. Offenbar war es Paul Veyne unangenehm, seine eigene Ideologie auf das Thema Atlantis angewendet zu sehen. Er hätte ja auch ganz einfach explizit schreiben können: Platon glaubte an Atlantis und erfand es zugleich, so wie er es bei Hesiod ja auch macht. Aber vermutlich fürchtete er, es könne ihn jemand beim Wort nehmen: „Platon glaubte an Atlantis“, ohne den ganzen Wahnwitz seiner Ideologie zu erfassen: „und erfand es zugleich“. Es ist doch immer wieder interessant, was Wissenschaftler zum Thema Atlantis nur in Fußnoten zu schreiben wagen.

Formale Kritik

Da wir jetzt schon soviel Text in diese Rezension investiert haben, sollten wir auch vor einer Kritik formaler Aspekte nicht zurückschrecken. Wie viele Autoren hat Paul Veyne zahlreiche Informationen in Fußnoten gepackt, die man gerne im Haupttext gesehen hätte. Angenehm ist aber, dass die Fußnoten nicht für jedes Kapitel, sondern für das ganze Buch durchgängig nummeriert sind. Das erleichtert den Umgang mit ihnen erheblich. Andererseits sind die Fußnoten leider nicht als Fußnoten gesetzt, sondern am Ende des Buches als Endnoten gesammelt. Das erschwert die Arbeit mit ihnen wiederum deutlich.

Einige Kapitel sind mit Überschriften versehen, in denen thematisch etwas ganz anderes zur Sprache kommt, als die Überschrift erhoffen lässt. Es gibt bei Veyne zahlreiche Wiederholungen von Aussagen, was ein Hinweis darauf ist, dass er sein Buch nicht hinreichend durchstrukturiert hat.

Der deutsche Übersetzer hat einige Fehler begangen. So schreibt er z.B. Titus-Livius und Sextus-Empiricus mit Bindestrich. Euhemeros wird zu Ephemerios – wie ephemer? – und Euhemerismus zu Ephemerismus. Auf S. 138 wurde statt mit DNA mit ADN übersetzt.

Wertvolle Gedanken

Es gibt auch einige wenige wertvolle Gedanken in Paul Veynes Büchlein. Die Frage, woher der Brauch kam, seine Quellen anzugeben, wird mit der Kontroverse beantwortet (S. 22 f.). Die Konkurrenzsituation ist es, die den Autor zwingt, seine Belege anzugeben. Das ist auch ganz mein Gedanke zu Herodot: Herodot war deshalb nicht konsequent in der Anwendung seiner Methode (zu der allerdings mehr gehört als nur Quellen anzugeben), weil er noch außer Konkurrenz stand. Thukydides verzichtet allerdings noch weit mehr auf Quellenangaben.

Das Wissen darum, dass man etwas wissen kann, genügt bereits, um dorthin zu gelangen (S. 112). D.h. es gibt zumindest im Prinzip kein unerreichbares Wissen, das nur Privilegierten und Eingeweihten offensteht. – Der Zweck eines Studiums besteht nicht nur darin, die Inhalte eines Fachs zu lernen, sondern auch darin, den Autoritätsglauben bezüglich dieses Faches abzulegen (S. 114). Im Idealfall ja. – Schließlich der Gedanke, dass die Naturwissenschaften grundsätzlich auch nicht seriöser sind wie die Geisteswissenschaften, weil der Umgang mit „Fakten“ kein Erkenntnisprivileg bedeutet, denn auch Fakten müssen interpretiert werden (S. 139).

Schluss

Dies ist ein richtig schlechtes Buch, das das gewählte Thema nicht nur für die Darlegung einer abseitigen Ideologie missbraucht, sondern auch das Thema selbst schlecht darstellt. Statt etwas über Mythen zu erfahren, wird der Leser im Laufe der Lektüre immer tiefer in eine ideologische Wahnwelt verstrickt und hat das Gefühl, einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden. Im Grunde ist es geradezu frech, was Paul Veyne hier vorgelegt hat. Es ist gewissermaßen das Paradebeispiel für ein Produkt der Geisteswissenschaften, das diese wie „Geschwätzwissenschaften“ aussehen lässt. Paul Veyne ist bestallter Professor und wird vom Steuerzahler bezahlt – da hätte man sich etwas mehr Ernsthaftigkeit und Qualität schon erwarten können. Fehlt Paul Veyne der Bezug zu den arbeitenden Menschen, die seinen Posten finanzieren?

Fast kann Paul Veyne einem leid tun. Was für ein Selbstbild muss ein Mensch haben, der die Welt so zynisch sieht, dass Vernunft und Wahrheit und Moral absolut gar nichts zählen, sondern nur und ausschließlich Zufälle, Interessen und der Wille der Macht? Oder ist Paul Veyne ein Blender? Müssen wir dieses Machwerk als den „Willen zur Macht“ und als das „Interesse“ von Paul Veyne interpretieren? Oder ist es beides: Paul Veyne glaubt diese Dinge wirklich, aber er hat sie zugleich auch erfunden. Im Sinne der Ideologie dieses Büchleins wird es wohl beides sein, so wie Paul Veyne es auch von Hesiod glaubt (S. 42). Wir erinnern erneut an die oben gezogene Parallele zu Erich von Däniken.

Da ist es tröstlich, wenn wir in diesem Büchlein wenigstens Spuren finden, die uns erahnen lassen, dass Paul Veyne nicht ungebrochen an den Unfug glaubt, den er uns hier aufgetischt hat. Diese Spuren könnten Ansätze zur Heilung von Paul Veyne sein, damit die Einsicht in ihm wächst, dass er auf dem Holzweg ist, und dass sein Büchlein leider nur den Geist der Holzsprache atmet. Wir erwarten Paul Veyne zurück auf dem Pfad der Menschlichkeit, der Vernunft und der ewigen Suche nach der einen Wahrheit.

* * *

Die genannten Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Atlantis-Scout im September 2020)

Bibliographie und externe Links

Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstitutive Einbildungskraft, übersetzt von Markus May, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987. Original: Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Éditions du Seuil, Paris 1983. Englisch: Did the Greeks believe in their Myths? An essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, The University of Chicago Press, Chicago / London 1988.

Französische Originalversion, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=ZX6BAAAAQBAJ&pg=PT1
Englische Version, teilweise zugänglich:
https://books.google.de/books?id=EpbZLRPGgBsC&hl=de&pg=PP1
Deutsche Version, nicht zugänglich:
https://books.google.de/books?id=q3iYAAAACAAJ

Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller, Postmodernismus: Status quo einer philosophischen Strömung. Einleitung – Überblick der Beiträge, in: Bernd Goebel / Fernando Suárez Müller (Hrsg.), Kritik der postmodernen Vernunft – Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt WBG, Darmstadt 2007; S. 7-28.

Simon Goldhill, Review of: Paul Veyne, Did the Greeks Believe in their Myths? An Essay on the Constitutive Imagination, translated by Paula Wissing, University of Chicago Press, 1988, in: The Classical Review Vol. 40 Issue 1 (April 1990); S. 172.

Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Veyne

books & ideas: The Curious Monsieur Veyne
https://booksandideas.net/The-Curious-Monsieur-Veyne.html

Stefan Zweig: Die Kunst ohne Sorgen zu leben – Letzte Aufzeichnungen und Aufrufe (2023)

Stefan Zweig en miniature

Dieses schmale Insel-Bändchen versammelt einige kurze Texte, die Stefan Zweig in seinen letzten Lebensjahren verfasste, die aber bislang nirgendwo greifbar veröffentlicht worden waren. Es handelt sich um einige weitere Perlen aus der Feder des Verfassers, ganz im Stile der „Welt von gestern“, an der er zur selben Zeit arbeitete.

Einige Texte sind Charakterstudien und Beobachtungen menschlichen Verhaltens. Da ist der Habenichts Anton in Salzburg, der sich aber nützlich zu machen weiß und sich dadurch Dank und Anerkennung verdient, mehr noch als materielle Gegenleistungen, die er souverän nur nach Bedarf in Anspruch nimmt. Die Schilderung der Erlebnisse mit diesem Lebenskünstler gab dem Büchlein den Titel. Ein anderer Text reflektiert die Beobachtung, dass menschlicher Zuspruch spontan und sofort erfolgen sollte. Da ist auch die wunderbare Begegnung mit dem Künstler Rodin, bei dem Stefan Zweig lernte, dass wahre Kunst nur aus der völligen Versenkung in Konzentration auf die Sache erwächst. Oder es ist die tröstliche Geschichte von den Anglern an der Seine, die uns zeigt, dass kein Mensch das Geschehen in seiner Gegenwart ständig mit voller Anteilnahme verfolgen kann, sondern dass ein „Abschalten“ und der Rückzug ins Private hin und wieder eine innere Notwendigkeit sind. Die Inflation lehrte Zweig, dass Geld an sich keinen Wert hat, sondern nur das, was wir sind. Auch die Totenrede auf Alfonso Hernández-Catá ist enthalten, von der es im Nachwort heißt, dass sich Stefan Zweig in dieser Rede auch unfreiwillig selbst portraitiert habe.

Schließlich sind noch drei Stücke zum Nationalsozialismus von 1940, 1941 und 1942 enthalten. Stefan Zweig macht darauf aufmerksam, dass Diktatur Schweigen bedeutet, und wie bedrückend dieses Schweigen ist, und dass er sich anstelle derer zum Reden verpflichtet fühlt, die schweigen müssen. Er verteidigt auch die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gegen ihre Beschmutzung durch den Nationalsozialismus. Schließlich weist Stefan Zweig darauf hin, dass der Schriftsteller Vicente Blasco Ibáñez schon 1916 in seinem Roman „Los cuatro jinetes del apocalipsis“ mit der Romanfigur Hartrott einen Charakter erschuf, dessen wahnwitzige Ideologie die Ideologie Hitlers vorwegnahm. Was als absurde Satire gedacht war, traf die kommende Wirklichkeit nur zu gut.

Es fällt auf, dass in allen drei Stücken kein Wort über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu finden ist. Obwohl Stefan Zweig in Freiheit lebte und die westliche Presse nicht damit sparte, dem Feind jedes nur erdenkliche Übel zuzuschreiben, wusste damals offenbar niemand von diesem Verbrechen. Auch Hannah Arendt hielt 1945 die ersten Berichte von US-Korrespondenten aus befreiten KZs für alliierte Propaganda, bis sie begriff, dass es die Wahrheit ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

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