Schlagwort: Tradition

Christopher de Bellaigue: The Islamic Enlightenment – The Modern Struggle Between Faith and Reason (2017)

Modernisierungsgeschichte der islamischen Welt – Wichtig zum Verständnis der Verhältnisse

Christopher de Bellaigue hat mit „The Islamic Enlightenment“ (deutscher Titel: „Die Islamische Aufklärung“) einen äußerst wertvollen Beitrag zum Verständnis der islamischen Welt geliefert. Im Westen denkt man über die islamische Welt oft, dass sich dort in 1400 Jahren nichts verändert hätte. Und auch nichts verändern könne. Weil dass der Islam nicht zulasse, der seinerseits seit 1400 Jahren unverändert sei. Doch das alles ist falsch. Dieses Buch zeigt die dramatische Modernisierungsgeschichte des Nahen Ostens an den Beispielen Ägypten, Türkei und Iran.

Diese Modernisierungsgeschichte beginnt im Jahr 1798 mit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten und dessen Sieg über die Mameluken in der Schlacht bei den Pyramiden. In diesem Moment wurde den Menschen in der islamischen Welt schlaglichtartig klar, dass sie den Europäern hoffnungslos unterlegen sind und dass sie Europa in der kulturellen Entwicklung um Jahrhunderte hinterher hinken. Symbolisch steht dafür die Druckerpresse, die um 1450 in Europa erfunden wurde und zu einer fortwährenden geistigen Revolution geführt hatte – in der islamischen Welt war die Druckerpresse aufgrund einer religiösen Fatwa bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten.

Der Beginn der Modernisierung

Die treibende Kraft hinter der Modernisierung war am Anfang die Notwendigkeit, sich gegen moderne europäische Armeen verteidigen zu können. Denn so wie Ägypten gegen Napoleon, so hatten auch das Osmanische Reich und der Iran in dieser Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen Russland einzustecken.

Überall begann die Modernisierung mit der rigorosen Beseitigung konservativer Kräfte. In Ägypten war die bis dahin herrschende Schicht der Mameluken bereits durch Napoleons Sieg in der Schlacht bei den Pyramiden buchstäblich vernichtet worden. Der neue Herrscher Ägyptens, Muhammad Ali Pascha (regierte 1805-1848), führte zudem eine großflächige Enteigung von Land durch, wodurch er die Machtbasis des islamischen Klerus beseitigte. Von Klerikern angeführte Rebellionen wurden niedergeschlagen. (S. 23) – Im Osmanischen Reich blockierten die Janitscharen jede Reform, woraufhin Sultan Mahmud II. (regierte 1808-1839) im Jahr 1826 die Janitscharen zu tausenden massakrieren ließ und auf diese Weise die große Tradition der Janitscharen zu einem Ende brachte. (S. 59)

In allen drei Regionen – Ägypten, Türkei und Iran – spielte die Aussendung von jungen Gelehrten und Studenten in westliche Länder eine große Rolle im Modernisierungsprozess. Von Bedeutung waren insbesondere deren Reiseberichte aus Europa, die in tausend Einzelheiten die Unterschiede zwischen West und Ost beschrieben, und die von zahllosen Lesern verschlungen wurden und so moderne Gedanken weit verbreiteten. In Ägypten war dies insbesondere Rifaa al-Tahtawi, der fünf Jahre in Paris verbrachte. (S. 34-36) Aus dem Iran kam Mirza Saleh Schirazi nach England. (S. 118-125) Die Reisenden lernten aber auch Medizin und Technik, die sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatländern zu implementieren begannen, unterstützt von den Kontakten zu westlichen Gelehrten, die sie geknüpft hatten.

Eindrücklich werden die Verhältnisse beschrieben, bei denen die Reformen beginnen mussten. So verursachten die hygienischen Verhältnisse regelmäßige Seuchen. Der religiöse Fatalismus, der das Treffen von Vorsorge verhinderte, muss weit verbreitet gewesen sein. (S. 65 ff.) Frauen waren verschleiert und vegetierten ohne jede Ausbildung in ihren Harems dahin. (S. 175 ff.) Entsprechend war Homosexualität unter Männern extrem weit verbreitet, offenbar als eine Folge der Schwierigkeit, an Frauen heranzukommen. (S. 195 ff.) Auch die Sklaverei existierte noch, allerdings in teilweise milderer Form, als manche meinen, insofern der Islam die Freilassung von Sklaven motiviert. (S. 188 ff.)

Einzelne Modernisierungen

In rasendem Tempo wurde alles eingeführt, was man für nützlich hielt und sich von Europa abschaute, darunter Militär- und Ingenieurschulen, die Druckerpresse, Dampfschiffe, Industrie, Hygienemaßnahmen, Wasserbauten, nicht zuletzt der Bau des Suez-Kanals 1859-69. Sultan Mahmud II. brachte auch preußische Militärberater nach Istanbul, u.a. Helmut von Moltke. (S. 61) Ibrahim Schinasi publizierte 1860 die erste unabhängige Zeitung im Osmanischen Reich und trug durch seine Artikel maßgeblich zur Formung der modernen türkischen Sprache bei. (S. 77) In Ägypten startete Tahtawi eine große Übersetzungsbewegung, die westliches Schrifttum verfügbar machte. Zugleich erwachte das Bewusstsein für die ägyptischen Altertümer, deren Abtransport ins Ausland von nun an erschwert wurde. Man begann, ein eigenes ägyptisches Museum einzurichten. (S. 43)

Um 1830 wurde das Millet-System abgeschafft, das jeder Religion ihr eigenes Recht zugesprochen hatte, so dass alle Bürger des Osmanischen Reiches zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden. (S. 69 ff.) Im Jahr 1843 wurde auch der Wechsel der Religion offiziell erlaubt. (S. 72) Die praktische Durchsetzung dieses Erlasses steht auf einem anderen Blatt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, spät, aber noch vor den USA. (S. 188 ff.) In Tunis musste sich der Konsul der USA über die Vorzüge der Abschaffung der Sklaverei belehren lassen. (S. 191 f.) Schließlich wurden Verfassungen erlassen, die mal mehr, mal weniger demokratisch waren. (S. 103) Teilweise hatte sich das Volk diese Freiheiten auch selbst erkämpft, so z.B. im Urabi-Aufstand in Ägypten um 1880 oder in der „Konstitutionellen Revolution“ des Iran von 1905/06, wo die Geistlichen – ja! – das Volk unterstützten und ein Geist der Freiheit im Volk zu herrschen begann, der beeindruckend ist. (S. 210-213, 237 ff.)

Es bildeten sich politische Parteien, in der Türkei z.B. 1907 das Komitee für Einheit und Fortschritt, in dem die fortschrittlichen „Jungtürken“ den Ton angaben, oder 1908/09 die „Gesellschaft Mohammeds“ der konservativen Gegenkräfte (S. 261-268) Mit Ziya Gökalp (1876-1924) entstand der türkische Nationalismus im Gegensatz zum imperialen Gedanken des Osmanischen Reiches, das viele Völker unter einer autoritären Herrschaft umfasst hatte.

In Ägypten wurden Frauen zu Geburtshelferinnen ausgebildet. 1901 wurden die ersten Mädchen zur höheren Bildung nach Europa geschickt. Frauenzeitschriften verbreiteten sich. Um 1900 beginnt die Debatte um die Verschleierung der Frau, die damals noch allgemein verbreitet war. (S. 183 ff.) 1899 erschien das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ des Ägypters Qasim Amin. (S. 185 f.) Europäische Moden und Umgangsformen hielten Einzug. Der Umgang zwischen den Geschlechtern veränderte sich. Es wurden auch neue Worte eingeführt, um die neuen Verhältnisse abzubilden, z.B. „familiya“. (S. 169 f.) Und es entstand eine Romankultur, die sich an der europäischen Romankultur orientierte. In diesen Romanen wurden die neuen Verhältnisse gespiegelt und gesellschaftliche Konflikte verhandelt. Bekannte Autoren waren der Libanese Ahmad Faris al-Shidyaq oder Ahmet Midhat Efendi. (S. 167-172)

Optimismus zur Reform des Islam

Die Modernisierung wurde teilweise mit despotischer Gewalt durchgesetzt, auch gegen Religionsgelehrte (S. 23). Teilweise wurden die islamischen Religionsgelehrten aber auch mit Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht, ihre Zustimmung zu geben. Es gab aber auch islamische Gelehrte, die als Modernisierer wirkten, so z.B. der spätere Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo Hassan al-Attar, oder im Osmanischen Reich Sanizadeh Ataulla: Sie führten das Sezieren von Leichen für medizinische Zwecke ein, indem sie die Studenten schrittweise daran gewöhnten. (S. 30 f., 62-64) Zuguterletzt geschah es auch häufig, dass die islamischen Religionsgelehrten ihre Zustimmung zu einer Maßnahme im Nachhinein gaben, nachdem für alle zu sehen war, welchen Nutzen die Maßnahme hatte. (S. 67)

Generell herrschte bei führenden Intellektuellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein großer Optimismus vor, dass Moderne und Islam miteinander vereinbar wären. So z.B. bei Hassan al-Attar (1766-1835), der auch Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo wurde. (S. 26 ff.) – Oder bei Rifaa al-Tahtawi (1801-1873), der an vielen Stellen als Reformer wirkte, vor allem als Übersetzer: Er meinte, dass sich der Islam, anders als das Christentum, leicht mit der Moderne vereinbaren lassen würde, weil der Islam so rational sei. Tahtawi übersetzte u.a. auch das Buch „Principes du droit naturel“ des Schweizer Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), demzufolge Gott hinter den natürlichen Gesetzen steht. (S. 38-46) Tahtawi plante auch die Ausbildung von Mädchen, kam aber zu seiner Zeit nicht mehr dazu. – Optimismus sehen wir auch bei Namik Kemal (1840-1888), einem Schriftsteller, der nach Paris und London reiste. Kemal sah keinen Grund, warum Moderne und Scharia nicht vereinbar sein sollten. Die Scharia bestand für ihn als gebildeten Menschen natürlich nicht aus einer Sammlung überlieferter Detailregeln, sondern repräsentierte das abstrakte Gute.

Fortschritt trotz Rückschlägen

Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab es ein ständiges hü und hott der Modernisierung: Mal ging es voran, dann stockte der Prozess wieder. Manchmal ging es auch rückwärts. Aber aufs Ganze gesehen ging es doch stetig voran, und alle Rückschläge waren nur temporär. Es kam dabei auf den jeweiligen Herrscher an, ob er sich für Modernisierung einsetzte oder lieber auf die Jagd ging. Und es kam auf die außenpolitische Konstellation der Kolonialmächte an: Mal wurde die Modernisierung als nützlich empfunden, mal wurde sie unterbunden. Und mal paktierte der Herrscher mit den Konservativen, um ein Ziel zu erreichen, mal konnte er ohne sie regieren.

Christopher de Bellaigue diagnostiziert: „Islam did not show any more opposition to modernisation than Judaeo-Christian culture had done to its earlier iteration in the West.“ (S. xxv) Das kann man auch gut an der Reaktion des ägyptischen Religionsgelehrten Abd ar-Rahman al-Dschabarti (ca. 1753-1825) ablesen, von dem uns ein Bericht über die Franzosen in Ägypten erhalten ist. Seine Argumente gegen die Modernisierung gleichen aufs Haar den Argumenten, die katholische Priester gegen die Veränderungen der französischen Revolution vorbrachten: Wie könne es sein, so fragt er z.B., dass die Menschen gleich sind, wo Gott doch bestimmte Menschen zum Herrschen ausersehen hat? (S. 5-13) Hundert Jahre nach al-Dschabarti stellte niemand mehr diese Frage, auch Islamisten nicht.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte hie und da übergriffig wurden – z.B. durch eine nicht unabsichtlich herbeigeführte Überschuldung der islamischen Staaten mit nachfolgender Abhängigkeit, oder indem die Briten Ägypten nach dem Urabi-Aufstand besetzten, um sich den Suez-Kanal zu sichern – blieb der Westen vorläufig dennoch das unangefochtene Vorbild für Modernisierung. (S. 159 f.) 1869 hatte der ägyptische Khedive Ismail Pascha den Suez-Kanals mit einer großen Show feierlich eröffnet, für die Giuseppe Verdi (angeblich) die Oper Aida komponierte, und 1878 erklärte er, dass Ägypten nicht länger in Afrika liege, sondern zu Europa gehöre. (S. 51) Tatsächlich hatte Ägypten in dem Wettlauf um Modernisierung lange Zeit die Nase vorn, noch vor der Türkei.

Dennoch begann eine langsame Umorientierung gegen Europa als Vorbild. So rückte z.B. Japan immer mehr als Vorbild in den Blick als Beispiel einer Nation, die sich modernisierte, ohne ihre Kultur aufzugeben. Als die Kolonialmacht Russland 1905 ihre Flotte gegen Japan verlor, erregte das große Freude im Nahen Osten. (S. 231 f.)

Der große Anlauf zur Reform des Islam

Die Modernisierungen des 19. Jahrhunderts waren zuerst weltlich motiviert. Dennoch betrafen sie in vielerlei Hinsicht auch den Islam. Doch zunächst blieb alles Denken in bezug auf den Islam nur Stückwerk, wenn auch viel Optimismus vorhanden war. Wie immer in der Geschichte, folgt die Modernisierung der Religion als der letzte Schritt am Ende von gesellschaftlichen Reformen. So auch hier. Der große Anlauf zur Reform des Islam selbst lässt sich an den folgenden Namen festmachen, mit denen die „kritische Masse“ für einen Durchbruch der Reformen erreicht war.

Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897): Dschamal ad-Din wuchs im Iran auf, wo er in den Seminaren des Schia-Islams auch Philosophie lernte. Dann ging er nach Ägypten und lehrte an der Al-Azhar Universität.

Dschamal ad-Din entwickelte praktisch alle Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reform des Islam. Er erneuerte das Wissen um den islamischen Rationalismus (Mutazila), bezog auch die menschliche Geschichte und ihre Errungenschaften vor Mohammed in sein Denken ein, und machte die Sunniten mit der neuplatonischen Philosophie bekannt. Dschamal ad-Din lehrte, dass Glück aus Vernunft und Einsicht rührt, und forderte Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit. Seine Kritiker beklagten: „(his) interest in philosophy, his advocacy of certain Mutazilite principles, his prohibition of traditional interpretation, his call for the study of modern sciences, his preference for the science of the Franks.“

Dschamal ad-Din förderte ein pan-islamisches Bewusstsein der Muslime, für das er unermüdlich durch die islamische Welt reiste und eine vielgelesene Zeitschrift publizierte, wandte sich gegen den Einfluss der europäischen Kolonialmächte, und soll auch an einem Attentat auf den Schah von Persien beteiligt gewesen sein. Dschamal ad-Din gilt damit als der Vater des politischen Islams. Allerdings wollte Dschamal ad-Din einen modernisierten Islam als politischen Islam, keinen rückwärtsgewandten Islam. (S. 203-208, 217-219, 228-230)

Muhammad Abduh (1849-1905): Abduh war ein Anhänger von Dschamal ad-Din al-Afghani und gilt als der Gipfelpunkt der damaligen Reformbewegung. Er lehrte in Ägypten und wurde 1899 zum Großmufti von Ägypten ernannt (nicht zu verwechseln mit dem Großimam der Al-Azhar Universität). Als Großmufti setzte er Reformen in der Al-Azhar Universität durch. Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel „Die Theologie der Einheit“ und wurde in der ganzen islamischen Welt rezipiert.

Abduh sah die Rationalität bestens in der islamischen Religion begründet und bedauerte, dass so viel Obskurantismus im Namen des Islams entstanden war. Er wandte sich gegen das Prinzip der bloßen Nachahmung (Taqlid) und für das Prinzip der individuellen Entscheidung mithilfe der Vernunft auf Grundlage der islamischen Quellen (Idschtihad). Wie die Mutaziliten hielt Abduh den Koran für geschaffen und damit offen für die Interpretation nach den Umständen. Der Koran als geschaffenes Werk könnte sogar Fehler enthalten, die von Menschen in ihn hineingetragen wurden. Abduh sprach sich für die Evolutionslehre aus, gegen die Mehrehe, und gegen eine Vorsehungslehre, die die Eigeninitiative lähmt. Auch Zinsen sah er nicht als Problem, weil das Gemeinwohl oberste Richtschnur sei.

Die ersten Muslime, die Salafs (Vorfahren), waren für Abduh maßgebend – aber nicht im Sinne einer blinden Nachahmung, wie heutige (Pseudo-)Salafisten das verstehen, sondern im gegenteiligen Sinne: Denn aus dem Koranvers, dass die Juden den Islam deshalb ablehnten, weil sie an der Lehre ihrer Vorväter festhielten, leitete Abduh folgerichtig ab, dass das blinde Festhalten an der Lehre der Vorväter nicht richtig sein kann und auch nicht dem Verhalten der Salafs entsprach, die von der Lehre ihrer Vorväter abwichen und sich für den Islam öffneten.

Abduh war umfassend gebildet. Er las Goethe und Schiller auf Französisch, außerdem den damals vorherrschenden Philosophen Herbert Spencer (1820-1903), der die Evolutionslehre erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete. Er zitierte aber auch aus der Korrespondenz von Kaiser Friedrich II. mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Sabin (ca. 1217-1271). Abduh hatte eine freundliche Stimme und Erscheinung, die ihm ein Charisma verliehen, mit dem er seine Zuhörer faszinierte. – Muhammad Abduh wurde allerdings von der britischen Kolonialmacht, speziell von Lord Cromer, dem britischen Gouverneur in Ägypten, protegiert. Das brachte ihm Anfeindungen ein und war ein Hinderungsgrund für das weitere Wirksamwerden seine Reformideen. (S. 280-288)

Qasim Amin (1863-1908): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Wie wir oben schon sahen, verfasste Amin 1899 das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ (S. 185 f.)

Raschid Rida (1865-1935): Ein libanesischer Schüler Abduhs, der dessen Reformtheologie weiterführte. Raschid Rida plädierte für eine Überwindung der Trennung der Muslime nach Rechtsschulen, und für ein Verständnis von Dschihad nur als Verteidigungskampf. Raschid Rida wollte außerdem die Tötung von Apostaten weitgehend einschränken, indem er sie nur noch für Fälle von offensivem Glaubensabfall vorsah. (S. 284)

Ali Abdel Razeq (1887/8-1966): Ein ägyptischer Schüler Abduhs, der als Vater des islamischen Säkularismus gilt. In seinem Buch „Das Kalifat und die Souveränität der Nation“ sprach er sich für eine klare Trennung von Staat und Religion aus. Außerdem betonte er, dass der Prophet Mohammed eben nur das war: ein Prophet, während seine weltliche Herrschaft rein weltlich war. Deshalb sollte man eine weltliche Gesetzgebung für eine weltliche Herrschaft nicht in der Offenbarung des Islam suchen. (S. 294)

Taha Hussain (1889-1973): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Einerseits der bedeutendste arabische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Andererseits der Begründer einer skeptischen Geschichtsschreibung des Islams. Taha Hussain betrachtete den Koran erstmals als ein literarisches Werk und forderte eine kritische Betrachtung überlieferter Texte. 1950-52 war er Erziehungsminister in Ägypten. (S. 294)

Jäher Abbruch der religiösen Reformen

Doch leider kam es nicht zum Durchbruch des religiösen Reformdenkens. Vielmehr wurde das religiöse Reformdenken mit dem Ersten Weltkrieg buchstäblich abgewürgt. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich:

Zum einen war die Übergriffigkeit der europäischen Kolonialmächte mit dem Ersten Weltkrieg zu groß geworden, um keine negative Reaktion hervorzurufen. Der ganze Nahe Osten – außer der Türkei, die Atatürk erfolgreich verteidigte – wurde von Briten und Franzosen besetzt. Grenzen wurden willkürlich gezogen und Regierungen nach Belieben ein- oder abgesetzt. Es kam zu Massakern und Bombardierungen. Auch die sich anbahnende Gründung Israels wurde als Willkür der Kolonialmächte gedeutet, auch wenn dieses Ereignis damals nicht im Zentrum stand. – Man hatte im Nahen Osten ganz wie in Deutschland auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Woodrow Wilson gehofft, und ganz wie in Deutschland war man auch im Nahen Osten schmerzlich enttäuscht, als Woodrow Wilson sich nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges einfach wieder zurückzog. (S. 297) Den neuen Völkerbund verstand man nur noch als verlängerten Arm der Kolonialmächte.

Das alles war zuviel. Das Pendel der Sympathie schlug nun gegen Europa und den Westen aus, und damit taugte der Westen auch nicht mehr als Vorbild für weitere Reformen. Ob Liberalismus, Rationalismus oder Demokratie: Alles trug nun den Makel der kolonialen Übergriffigkeit an sich.

Der andere Grund war, dass die Eliten in Nahost oft keinen Reformislam anstrebten, sondern ihre Verbindung zur Religion gleich ganz kappten. Man las damals Darwin, Haeckel, Schopenhauer, Poincaré oder Herbert Spencer, spekulierte über die Seele als mechanischen Apparat und lancierte Polemiken gegen den Klerus. Von türkischen Medizinstudenten ist überliefert, dass sie Atheisten waren und das Buch „L’homme machine“ von d’Holbach wie den Koran als heiliges Buch aufgeschlagen im Zimmer stehen hatten. (S. 74 f., 276-279)

In der Türkei und im Iran wurden die Reformen nach dem Ersten Weltkrieg deshalb von Kemal Atatürk und Reza Schah ohne die Religion und gegen die Religion fortgesetzt. An einer Islamreform bestand schlicht kein Interesse, es gab auch kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Reform. Religion wurde beiseitegeschoben, unterdrückt und nur in einer streng reglementierten Form zugelassen. Das kam eher einer Kastration als einer Reform der Religion gleich. Auch in Ägypten feierten die Eliten in Kairo und Alexandria hemmungslose Parties, ohne sich um die Armut der religiösen Landbevölkerung zu kümmern. (S. 301-306)

Der Islamismus als Reaktion

Diese Zustände führten zur Herausbildung des Islamismus in Gestalt der „Muslimbrüder“, die von den beiden ägyptischen Lehrern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb gegründet und geprägt wurden. Der Islamismus wurde von zwei Motiven getrieben: Man wollte die eigene Kultur und Freiheit gegen die Übergriffigkeit der Kolonialmächte verteidigen. Zu dieser Kultur gehörte der Islam fest dazu. (S. 306 ff.) Und man wollte gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen. (S. 309, 317) Kurz: Der Islamismus entstand praktisch als Aufstand der vergessenen kleinen Leute gegen eine Elite, die sich geistig völlig von ihren eigenen kulturellen Wurzeln entfernt hatte.

Diese durchaus verständlichen Motive wurden leider ins Extrem gezogen, so dass eine Karikatur von Islam entstand. Der Islamismus ist nicht einfach eine Rückkehr zum traditionalistischen Islam, sondern stellt einen höchst seltsamen Synkretismus von traditionellen und modernen Ideen und Vorstellungen dar:

  • Getragen wird der Islamismus von Laien-Brüdern. Es ist also kein Islam der Religionsgelehrten, wie es früher einmal war. Zwar schlossen sich auch manche Religionsgelehrte dem Islamismus an, doch waren sie nicht die treibende Kraft.
  • Die islamistische Deutung des Islam ist denkbar oberflächlich und allzu wörtlich, wie man es von Laien erwarten kann. Dieser Islam hat sämtliche Denktraditionen des Islams abgeschnitten, sei es Mystik oder Rationalismus, und auch von der traditionellen Rezeption der antiken Philosophie ist nichts mehr übrig geblieben. Manchmal hat man das Gefühl, die islamistische Deutung des Islam orientiert sich an der Deutung westlicher Islamhasser: Wie wenn man aus Trotz die schwarzgemalte Islamdeutung der Islamhasser bestätigen wollte.
  • Die karitative Tätigkeit und Gemeinschaftsbildung der Muslimbrüder ist ebenfalls nicht traditionell islamisch, sondern ist natürlich durch den oben beschriebenen sozialen Konflikt motiviert. In der Praxis haben sich die Muslimbrüder eine Menge von der karitativen Tätigkeit der christlichen Missionaren abgeschaut, die damals in Ägypten tätig waren.
  • Kennzeichnend für den Islamismus ist auch ein übersteigerter Hass auf die Juden, den es in dieser Form – bei allen Problemen – im traditionellen Islam nicht gegeben hatte. (Dieser Punkt bleibt in diesem Buch allerdings unerwähnt.)
  • Weil man sich vom Westen nichts sagen lassen wollte, wurde großspurig behauptet, dass sich alle Gesetze für einen guten Staat in der islamischen Überlieferung finden würden, was natürlich genauso unsinnig ist, wie wenn man dasselbe über die Bibel behaupten würde.
  • Trotz allem finden sich zahllose moderne, „westliche“ Elemente im Islamismus. Allerdings auf eine völlig verklemmte Weise, was anzeigt, dass der Islamismus mit sich selbst nicht im Reinen ist: Irgendwie möchte man doch demokratisch sein und ein Parlament haben, nur soll die Scharia Vorrang haben. Wobei im Einzelnen völlig unklar bleibt und der reinen Willkür unterliegt, was man unter Scharia verstehen will. Frauen sollen irgendwie gleichberechtigt sein, aber doch nicht ganz, und bitte nur mit Kopftuch. Die westliche Technik übernimmt man gerne, aber die westliche Wissenschaftsfreiheit möchte man nicht haben. Und auch die Idee der Nation hat man übernommen, wobei man zugleich pan-islamisch sein möchte, was aber nie so richtig funktioniert hat. (Vgl. S. 330, 344 f.)

Christopher de Bellaigue schreibt, dass die Muslimbrüder sich heute etwas gemäßigt hätten. So würden sie heute z.B. den „Takfirismus“ ablehnen. Unter takfir versteht man die Erklärung eines Muslims zum Apostaten, was die Erlaubnis, diesen zu töten, zur Folge hat. (S. 328)

In Ägypten kam Präsident Nasser 1952 mithilfe der Muslimbrüder an die Macht. Zwei Jahre später bootete er die Muslimbrüder aus, was zu deren Radikalisierung beitrug. (S. 323)

Im Iran soll es der Schah mit der Unterdrückung der Religion und der radikalen Verwestlichung der Kultur völlig übertrieben haben. Damals sollen 25.000 Amerikaner im Iran gewesen sein, um alle Bereiche der Gesellschaft nach westlichem Muster umzugestalten, so dass nichts mehr von der angestammten Kultur übrig blieb, nicht einmal in der Architektur. (S. 332 f., 342)

Das rief die Kritik von Intellektuellen hervor: Dschalal Al-e Ahmad (1923-1969) schrieb das berühmte Buch „Gharbzadegi“, dessen Titel man mit „Westvergiftung“ übersetzen könnte. Darin wird eine nostalgische Kritik an der Moderne geübt, die naiv und undifferenziert ist, wie wenn früher alles besser gewesen wäre: Solches kennt man auch aus dem Westen. Und wie so oft war auch hier der Autor solcher Ideen selbst ein durchaus moderner Mensch. (S. 334 ff.) – Ali Schariati (1933-1977) hatte an der Universität in Paris den westlichen Antikolonialismus kennengelernt, den er nun mit dem Schia-Islam verband: Islam wolle, so meinte er, eine freie und klassenlose Gesellschaft. Das Volk erinnere sich nicht an die große Zeit des Perserreiches, die der Schah beschwor, sondern nur an den Schia-Islam. Diesen stellte sich Ali Schariati aber – verrückt! – ohne Klerus vor. (S. 342 ff.)

Als es zu ökonomischen Verwerfungen und schlussendlich zur Revolution im Iran kam, bootete Khomeini alle anderen Kritiker des Schah-Regimes aus und errichtete einen klerikalen Staat, den es in dieser Form noch nie zuvor in der Geschichte des Islams gegeben hatte. Doch obwohl die Religionsgelehrten im Iran eine große Rolle bei der Herausbildung des iranischen Islamismus gespielt hatten, sind auch die schiitischen Religionsgelehrten in ihrer Haltung zum Islamismus gespalten. Khomeini war übrigens auch nicht der höchste schiitische Geistliche. Der höchste schiitische Geistliche Ali as-Sistani (1930-) residiert in Nadschaf im Irak, der Stadt mit dem höchsten schiitischen Heiligtum, und lehnt die Idee eines Gottesstaates ab.

Abschluss: Das große Wendejahr 1979

Für Christopher de Bellaigue ist 1979 das große Wendejahr hin zum Islamismus. In diesem Jahr kam im Iran Khomeini an die Macht. Im selben Jahr marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, wo islamistische Kämpfer Kampferfahrung sammeln konnten. In diesem Jahr wurde auch die islamistische Gruppe al-Dschihad gegründet, die zwei Jahre später Sadat ermordete. Und schließlich fand 1980 ein Militärputsch in der Türkei statt, der die politische Linke dermaßen dezimierte, dass anschließend (angeblich) der Weg frei war für den Aufstieg der Islamisten bis hin zu Erdogan. (S. 345 f.)

Nur am Rande erwähnt wird der Wahhabismus aus Saudi-Arabien, der sich durch die üppig fließenden Öl-Milliarden in der islamischen Welt ausbreitet. Der Ausblick auf die Zukunft am Ende des Buches ist eher düster.

Kritik

Christopher de Bellaigue hat ein großartiges Buch vorgelegt. Dennoch muss manches daran kritisiert und ergänzt werden. Das wollen wir im folgenden auf konstruktive Weise tun.

Kritik: Religion nicht ernst genommen?

Natürlich möchte der Autor den Islam ernst nehmen, aber an zwei Stellen überkommt den Leser das Gefühl, dass der Autor das nicht wirklich tut. Das eine ist der Untertitel des Buches: „The Modern Struggle Between Faith and Reason“. Ist es wirklich klug, Glaube und Vernunft als Gegensätze einander gegenüberzustellen? Geht es nicht darum zu zeigen, dass Glaube und Vernunft eben gerade keine Gegensätze sind? Hätte man nicht besser „Das Ringen um die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt“ als Untertitel wählen sollen?

Die zweite Stelle ist ein Satz in der Conclusion des Buches: „people … who, while respecting the moral precepts they have received from their forebears, are lax in matters of observance. … in their secular world view and relatively liberal values they represent the successful part of the Islamic Enlightenment.“ (S. 350) – Menschen, die ihre Religion lax handhaben, mögen vielleicht in gewisser Weise aufgeklärt sein, aber eine „islamische Aufklärung“ ist das nicht! Eine islamische Aufklärung bestünde darin, dass die Religion des Islam selbst aufgeklärt wird, so dass Liberalität nicht durch Laxheit in der Beachtung der Regeln entsteht, sondern dadurch, dass die Regeln selbst liberal werden, soweit dies möglich ist. Ein großer Unterschied!

Kritik: Islamische Geschichte

Der Autor möchte mit diesem Buch vor allem zeigen, dass die islamische Welt zur Moderne fähig ist. Dazu liefert aber auch die islamische Geschichte vor dem Jahr 1798 reichlich Anschauungsmaterial – doch dieses Thema hechelt der Autor nur sehr kurz angebunden im Vorwort durch. Man hätte besser ein eigenes Kapitel daraus gemacht.

Zudem bleibt die neuere historisch-kritische Forschung zu den Anfängen des Islams unerwähnt. Wir wissen heute, dass die Anfänge des Islams anders waren, als es die Legenden überliefern. Das „zerstört“ den Islam keineswegs, sondern eröffnet im Gegenteil neue Möglichkeiten für eine Reformierung des Islams im Einklang mit dessen Ursprung.

Kritik: Zu trüber Ausblick

Am Ende des Buches wird ein etwas trüber Ausblick gegeben. Dafür gibt es aber keinen Grund. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und wer die Wendungen der Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, der weiß, dass vieles möglich ist.

Zu kurz gekommen sind in diesem Buch Entwicklungen außerhalb der Zentren der islamischen Welt: Die Ölstaaten, Marokko, Indien oder Indonesien, aber auch die Muslime in den westlichen Ländern stricken an der Gesamtentwicklung des Islams in der Welt mit.

Manches hätte noch in einem Ausblick Erwähnung finden können. So z.B. auch das Werk „Die Kritik der arabischen Vernuft“ von Mohammed Abed Al Jabri (1935-2010) aus dem Jahr 1984, oder die Bemühungen um eine historisch-kritisch geerdete „Theologie der Barmherzigkeit“ von Mouhanad Khorchide in Münster.

Kritik: Linker Bias

Christopher de Bellaigue scheint einem politischen Bias zu unterliegen, einem linken Bias. Vielleicht verdankt sich der linke Bias teilweise auch der Notwendigkeit, Lippenbekenntnisse für das derzeit im Westen vorherrschende intellektuelle Milieu abzugeben, gerade auch bei diesem Thema. Der Wert des Buches wird dadurch kaum geschmälert, auch wenn manches fehlt.

Kritik Linker Bias: Selbstkritik des Westens

Christopher de Bellaigue spart nicht mit Kritik an den westlichen Kolonialmächten. Aber an einigen Stellen lässt Christopher de Bellaigue durchblicken, dass es noch eine andere Kritik am Westen gibt: Der Westen des 20. Jahrhunderts war nicht mehr so attraktiv zur Nachahmung wie der Westen des 19. Jahrhunderts.

Zur Reise von Sayyid Qutb in die USA wird angemerkt, dass die Permissivität der sexuellen Sitten, für die das Jahr 1968 schlaglichtartig steht, Muslime eher abschreckt. (S. 322) Zur radikalen Vewestlichung des Iran durch den Schah wird angemerkt, dass die damals herrschende westliche Kultur banal sei. (S. 333) Treffend wird kritisiert, dass die westliche Architektur Teheran „into a version of everywhere else“ verwandelte. (S. 337) Dieses Phänomen kennen wir aus unseren eigenen, westlichen Städten nur allzu gut. Sayyid Qutb soll gesagt haben, dass er keinen Zusammenhang sehe zwischen den Menschen, denen er in den USA begegnete, und den Errungenschaften des Westens. (S. 322)

Leider führt der Autor diese Kritik nicht weiter aus. Denn womöglich hatte Sayyid Qutb wenigstens teilweise Recht: Der Westen hat tatsächlich kulturell teilweise abgebaut und sich darüber teilweise selbst verloren. Immerhin wird der Gedanke auf der allerletzten Seite des Buches noch einmal aufgegriffen (S. 352): Christopher de Bellaigue hat also verstanden, dass hier ein wichtiges Thema lauert, das bearbeitet werden müsste. Es wäre aber eine konservative Kritik, die hier geübt werden müsste. Vielleicht hat er das Thema deshalb nur angedeutet.

Kritik Linker Bias: Verharmlosung

An manchen Stellen verharmlost der Autor islamische Verhältnisse zu sehr. So z.B. die Sklaverei im Islam. Es ist sicher richtig, dass der Islam auch einen Beitrag zur Milderung von Sklaverei geleistet hat und Sklaverei im Islam anders verstanden wurde als z.B. in den Südstaaten der USA. Dennoch erscheint die Darstellung zu weich gezeichnet. (S. 188 ff.) – Ähnliches gilt für die Homosexualität im Islam. Insbesondere der Gedanke, ob die sexuelle Toleranz der alten Zeit nicht besser war als die spätere Ächtung von Homosexualität unter dem Einfluss des viktorianischen Westen, ist völlig irreführend: Diese angebliche Toleranz war vielmehr eine Ausweich- und Ersatzhandlung und eine große Heuchelei. Eine Toleranz gegenüber Homosexualität, die diesen Namen verdient, hat erst der Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. (S. 195 ff.)

Ebenfalls eine Verharmlosung ist die Behauptung, dass nur eine kleine Minderheit der Migranten, die aktuell aus islamischen Ländern nach Europa kommen, islamisch motiviert wären. (S. 352) Natürlich kommen die wenigsten mit der Absicht, eine Moschee zu gründen oder ein islamistisches Attentat zu verüben. Aber sehr viele kommen eben doch mit dem Mindset eines traditionalistischen bzw. islamistischen Verständnisses von Islam. Und das allein ist ein großes Problem, das man nicht unterschlagen darf. – Schließlich werden auch die islamistischen Selbstmordattentäter verharmlost: Dass sie oft keine Ahnung vom Islam hätten usw. usf. (S. 351) Es mag zwar richtig sein, dass sie oft nur wenig Ahnung haben, aber es ist der traditionalistische bzw. islamistische Mindset, der sie anfällig sein lässt für islamistische Propaganda, und in diesem Sinne sind diese Selbstmordattentäter sehr wohl Muslime und Islamisten, und nicht nur verwirrte Jugendliche.

Kritik Linker Bias: Mode-Themen

Die Beschaffung von Altertümern aus Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens durch westliche Antiquare und Wissenschaftler wird wiederholt „loot“ genannt, also „Beute“ oder „Plünderung“. (S. 35, 43) Das ist in dieser Pauschalität natürlich falsch. Kultur gehört zunächst einmal immer demjenigen, der sich für sie interessiert und sie zu schätzen weiß. Und insofern ein solches Bewusstsein in diesen Ländern damals nicht vorhanden war, kann man nicht einfach von „loot“ sprechen, sondern man sollte die Dinge differenzierter sehen.

Völlig obskur und „woke“ ist ein Satz, der „multiculturalism“ mit „black slaves“ in Verbindung bringt. (S. 121) Hier wird so getan, als ob die Hautfarbe von Menschen kulturelle Vielfalt bedeuten würde. Das ist aber falsch. Hautfarbe und Kultur sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Gleich mehrfach falsch ist auch dieser Satz über die Migrationsbewegung ab dem Jahr 2015: „civil war in Syria, Libya and elsewhere, along with poverty and climate change, pushed millions of Muslims into Europe“ (S. 352) – Die größte Unwahrheit des Satzes liegt in dem Wort „push“: Denn die Migranten kommen vor allem deshalb nach Europa, weil Europa sie kommen lässt, statt sie zurückzuweisen, und dazu werden noch soziale Wohltaten verteilt, die eine große Anziehungskraft entfalten. Die pull-Faktoren sind entscheidend, nicht die push-Faktoren, sonst wären schon das ganze 20. Jahrhundert über die Armen nach Europa geströmt. Aber selbst heute machen sich gerade die Ärmsten der Armen nicht auf den Weg nach Europa: Dass es um Armut ginge, ist die zweite Unwahrheit. Die dritte Unwahrheit liegt in der angeblichen Fluchtursache „climate change“: Dass Menschen aus islamischen Ländern in Massen nach Europa kommen, weil sich das Klima gewandelt habe, glauben nur hartgesottene Ideologen.

Kritik Linker Bias: NS-Vergangenheit ausgeblendet

Seltsamerweise wird die Beeinflussung des Islamismus durch den Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt. Weder die engen Verbindungen des palästinensischen Muftis von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1896-1974) mit den Nationalsozialisten, noch die bosnische SS-Division „Handschar“, noch die arabischsprachige Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Dabei soll der nationalsozialistische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des spezifisch islamistischen Judenhasses gespielt haben. Im traditionellen Islam gab es – bei allen Problemen – keinen derartigen Judenhass wie im Islamismus.

Wir können nur vermuten, dass Christopher de Bellaigue diesen Aspekt der Geschichte des Islamismus aufgrund irgendwelcher falscher Rücksichtnahmen vollständig ausgeblendet hat. So etwas sollte man natürlich nicht tun.

Kritik Linker Bias: Versagen der Linken kleingeredet

Ganz am Rande wird erwähnt, dass die erfolgreiche Nasser-Regierung in Ägypten die Regierungen in anderen Ländern inspirierte, darunter Algerien, Syrien und der Irak. (S. 324) Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass diese Regime sich als sozialistische Regime verstanden („Baath-Partei“). Insofern auch das ein Beitrag zum Fortschritt in die Moderne war, bräuchte man das auch gar nicht verstecken. Es wird in diesem Buch aber dennoch versteckt. – Der Grund liegt wohl darin, dass diese linken Regime am Ende keine allzu rühmliche Rolle spielten. Ebenso wie Kemal Atatürk und der Schah von Persien strebten sie eine Modernisierung ohne und gegen die Religion an. Und nicht selten verkamen sie zu Diktaturen, wie in Syrien und Irak, aber auch Ägypten. Auch der Bürgerkrieg im Libanon soll sich linken Kräften verdanken.

Ebenfalls kaum beleuchtet wird der Umstand, dass sehr viele Intellektuelle der islamischen Welt direkt von linken Ideologien beeinflusst waren, die an europäischen Universitäten im Umlauf waren. Es wird nur erwähnt, dass der Iraner Ali Schariati vom Antikolonialismus der französischen Universität beeinflusst war (S. 342 ff). Solches galt natürlich nicht nur für Ali Schariati, sondern auch für viele andere Intellektuelle des islamischen Raumes. – Man hätte auch Mohamed Arkoun erwähnen können, der die postmoderne Philosophie auf den Islam münzte. Oder Michel Foucault, der die islamische Revolution von Khomeini begrüßte. Dieses falsche postmoderne Denken hat bis heute Hochkonjunktur im Westen.

Es wird auch die fatale Rolle von Mossadegh im Iran zu weich gezeichnet. (S. 331 ff.) Vielleicht war Mossadegh eben doch ein Steigbügelhalter der Kommunisten? Ganz gewiss waren seine Anhänger später Steigbügelhalter für Khomeini. – Und stimmt es wirklich, dass die Islamisten in der Türkei deshalb an die Macht kamen, weil zuvor die Linken in einem Putsch ausgeschaltet worden waren? (S. 346) Wird hier die Rolle der Linken nicht völlig überhöht? Ist es nicht vielmehr so, dass die Islamisten in der Türkei vor allem durch die demographische Entwicklung zur Mehrheit wurden? – Und man hätte auch gerne etwas von der Erfahrung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal gelesen: Laut Boualem Sansal war Algerien früher ein linkes Land. Als die ersten islamistischen Prediger eintrafen, verlachte man sie als die „Narren Allahs“ und nahm sie nicht ernst. Wenige Jahrzehnte später befand sich Algerien in einem blutigen Bürgerkrieg mit dem Islamismus.

Immer wieder stoßen wir darauf, dass die völlige Unfähigkeit der Linken, die Religion ernstzunehmen und einzubinden, in die Katastrophe führte. Christopher de Bellaigue schweigt dazu weitgehend.

Kritik Linker Bias: Irak-Krieg von George W. Bush

Den Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush von 2003 beschreibt Christopher de Bellaigue mit kurzen Worten als „failure of the Anglo-American occupation of Iraq“ (S. 349)

Doch war es wirklich nur ein „failure“? Hat man nicht den Diktator effektiv beseitigt, anders als z.B. in Syrien? Hat man nicht sichergestellt, dass der Diktator weder über Giftgas noch über sonstige Massenvernichtungswaffen verfügt? Und damit auch den Massenmord Saddam Husseins an Schiiten und Kurden ein für allemal unterbunden? Und war es wirklich nur eine „occupation“?! Wurden nicht Schiiten und Kurden, die immerhin 80% der Bevölkerung des Irak ausmachen, tatsächlich von der Herrschaft der sunnitischen Minderheit befreit? Haben wir nicht alle die Bilder gesehen, wie die westlichen Truppen von Schiiten und Kurden jubelnd begrüßt wurden? Der Schuh-Werfer auf George W. Bush war jedenfalls ein Sunnit aus der Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger. Und „Anglo-American“? Es waren über 40 Nationen am Irak-Krieg beteiligt. Nur Frankreich und Russland blieben fern. Aber das waren ja die Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein, die sich in Ölkonzessionen hatten bezahlen lassen. Und Deutschland war so dumm, sich diesen beiden anzuschließen. Und hatte Bush nicht erreicht, dass die Terrorwelle im Irak am Ende abebbte? Und war die eigentliche Katastrophe nicht erst der Truppenabzug durch Obama und Obamas Syrienkrieg? Und existiert die formale Demokratie, die George W. Bush 2003 im Irak etablierte, nicht immer noch? Trotz allem immer noch? Und wer hat jetzt eigentlich Zugriff auf das irakische Öl bekommen? Der US-Konzern „Hölliburton“? Nein, sondern ein norwegisch-chinesisches Konsortium.

Christopher de Bellaigue hätte George W. Bush unbedingt für dessen Weitsichtigkeit loben müssen! Aber vielleicht konnte er das nicht, aus Rücksicht auf gewisse Milieus. Und weil de Bellaigue das versäumt hat, wollen wir dies hier nachholen, indem wir einige Worte aus einer Rede von George W. Bush vom 06. November 2003 zitieren, die ihre Kraft bis heute nicht verloren haben:

„Time after time, observers have questioned whether this country, or that people, or this group, are „ready“ for democracy … It should be clear to all that Islam – the faith of one-fifth of humanity – is consistent with democratic rule. … As we watch and encourage reforms in the region, we are mindful that modernization is not the same as Westernization. Representative governments in the Middle East will reflect their own cultures. They will not, and should not, look like us. … And working democracies always need time to develop – as did our own. … There are, however, essential principles common to every successful society, in every culture. …

Iraqi democracy will succeed – and that success will send forth the news, from Damascus to Teheran – that freedom can be the future of every nation. … Sixty years of Western nations excusing and accommodating the lack of freedom in the Middle East did nothing to make us safe – because in the long run, stability cannot be purchased at the expense of liberty. As long as the Middle East remains a place where freedom does not flourish, it will remain a place of stagnation, resentment, and violence ready for export.“

Und wer jetzt sagt: „Es ist doch schiefgegangen im Irak!“, der hat nichts verstanden. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird erst dann zu Ende sein, wenn das Happy End erreicht ist. George W. Bush hatte das erkannt. Obama nicht.

Fazit

Mit seinem Buch „The Islamic Enlightenment“ hat Christopher de Bellaigue eindrucksvoll seine zentrale Botschaft untermauert: Die islamische Welt verharrt nicht statisch im Mittelalter, sondern hat in den letzten 200 Jahren massive Modernisierungen durchlaufen und ist grundsätzlich auch zu weitergehenden Modernisierungen fähig. Es gibt gute und verstehbare Gründe, warum die Modernisierung bis heute nicht vollständig geglückt ist. Eine grundsätzliche Modernisierungsunfähigkeit der islamischen Welt ist jedenfalls nicht der Grund.

Allerdings gilt: Diese Modernisierung ist kein Selbstläufer. Man darf sich nicht zurücklehnen und glauben, dass mit der Zeit schon alles von selbst gut werden würde. Modernisierung muss aktiv herbeigeführt werden. Und auch Rückfälle sind jederzeit möglich. Übrigens auch in der westlichen Welt. Auch deren Modernität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann verloren gehen.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse für unsere heutige Zeit können aus diesem Buch gezogen werden? Hier eine kurze Liste von Vorschlägen. Dabei gilt: Es ist immer leichter gesagt als getan.

  • Der Westen muss wieder zu sich selbst kommen, damit er wieder die Anziehungskraft von früher entfalten kann. Liberalismus und Rationalismus müssen wieder zum Leuchten gebracht werden. Eine Rückbesinnung auf nationale und regionale Traditionen ist erforderlich. Außerdem eine Neubesinnung auf religiös-weltanschauliche Traditionen, namentlich Christentum, klassischer Humanismus und Aufklärung.
  • Der Westen sollte sich nicht dafür schämen, dass er fortschrittlicher als die islamische Welt war. Nicht alle Aspekte des Kolonialismus waren schlecht und falsch. (Einiges davon aber schon, aber das ist nichts Neues.)
  • Die islamische Welt muss akzeptieren, dass sie an dem ganzen Schlamassel vor allem selbst schuld ist. Denn es war die islamische Welt, die mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung verschlafen und sich auf diese Weise angreifbar gemacht hatte. Das, und nichts anderes, ist das Urübel.
  • Die islamische Welt muss verstehen, dass vieles von dem, was geschehen ist, jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn es einst Unrecht war. Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht auslöschen. Ein Vorbild kann hier Europa sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Begleichung alter Rechnungen verzichtete.
  • Alle beteiligten Akteure, ob religiös oder nicht religiös, ob westlich oder östlich, müssen begreifen, dass es eine nachhaltige Modernisierung nur mit dem Islam geben kann, nicht gegen den Islam.
  • Die Modernisierung des Islam muss dort fortgeführt werden, wo sie um 1900 liegengeblieben ist. Eine Modernisierung des Islam „zerstört“ oder „verfälscht“ den Islam nicht, solange sie mit Vernunft, Wahrhaftigkeit und ohne Eifer durchgeführt wird. Ein Vorbild kann die Modernisierungsgeschichte der katholischen Kirche sein, die sich dabei ebenfalls nicht selbst aufgegeben hat. Reformen sind erst dann dauerhaft tragfähig, wenn sie auch von der Mehrheit der Konservativen mitgetragen werden.
  • Offenbar leidet der Islam heute auch daran, dass seine historisch gewachsenen Strukturen zerstört worden sind. Der Islam muss wieder eine Struktur von Religionsgelehrten aufbauen, die legitim und authentisch für den Islam sprechen können und von staatlichen Einflüssen unabhängig sind. Irgendjemand muss die Reformen schließlich tragen und durchführen. Irgendjemand muss sagen können: Diese Reform gilt jetzt, und diese nicht.
  • Muslime werden damit leben müssen, dass es dauerhaft verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie ein moderner Islam aussieht. Hier ist mehr Toleranz und friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Auffassungen notwendig.
  • Linke müssen damit aufhören, die Muslime und die islamische Welt für ihre linken politischen Zwecke zu vereinnahmen, Islamismus und islamischen Traditionalismus zu verharmlosen, und den Westen in seiner Fortschrittlichkeit zu verteufeln. Vielmehr müssen Linke ihre eigene Geschichte von Schuld, Missbrauch und Versäumnissen in bezug auf den Islam und die islamische Welt, aber auch in bezug auf Christentum, klassischen Humanismus, die Aufklärung und die westliche Welt, aufarbeiten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Andreas Eschbach: Die Haarteppichknüpfer (1995)

Religion, Tradition, Macht, Lüge und Sinn im Leben der Menschen

Der Roman „Die Haarteppichknüpfer“ ist eine zunächst lose erscheinende Aneinanderreihung von Einzelepisoden aus der Welt der Haarteppichknüpfer. Diese leben in einer vergessenen Region des Universums und führen ein mittelalterliches Leben mit einem strengen Patriarchat. Dazu gehört auch ein religiöser Kaiserkult, der jeden Ketzer tötet, und vor allem ein lebenslanges Knüpfen von Teppichen aus Menschenhaaren, die über fahrende Händler in Raumhafenstädte gelangen, von wo sie an einen unbekannten Ort im Universum verschifft werden.

Jeweils am Ende der ersten Episoden kommen die Protagonisten überraschend und rücksichtslos zu Tode (ähnlich wie in Game of Thrones), so dass zunächst keine durchgängige Geschichte erzählt zu werden scheint, doch allmählich fügt sich doch eine zusammenhängende Erzählung über die rauhe Welt der Haarteppichknüpfer zusammen. Schließlich wird die Geschichte auch im Wechsel mit Episoden aus der Sicht der Rebellen erzählt, die mittlerweile den Kaiser gestürzt haben und das Geheimnis der Haarteppiche zu ergründen versuchen.

Der Roman schlägt mehrere große Themen an: Zunächst der Missbrauch von Religion und Tradition zur Unterjochung von Menschen in einem ganz klassischen Sinne. – Dann aber auch in der Person des Kaisers das Thema der Sinnlosigkeit eines materiell vollendeten Daseins Der Kaiser hat buchstäblich alles erreicht: Er ist unermesslich reich, unermesslich mächtig, und durch medizinischen Fortschritt auch unsterblich. Er kann alles und hat alles. Alles dreht sich um ihn, und das Universum in seiner Unendlichkeit ist seine Spielwiese, um seine Macht auszuprobieren. Doch der Kaiser muss erkennen, dass all das nur ganz eitel und ohne Sinn ist, und so zettelt er selbst eine Rebellion an, um sich stürzen zu lassen und dabei den Tod zu finden, gewissermaßen als die letzte noch nicht von ihm ausprobierte Spielart seiner Machtausübung sowie als klassischer Suizid aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der Welt.

Nebenthemen sind Liebe, Musik, Bürokratie, Eltern und Kinder, brain in the tank, Gehorsam und Emanzipation, die Versuchung der Macht für die Rebellen, sowie die Unendlichkeit der möglichen Geschichten im Universum. Diese wird angedeutet in den unendlichen Weiten des Universums und des kaiserlichen Reiches, in dem vieltausendjährigen Alter des Kaisers, der zahllose Dinge erlebt haben muss, und schließlich vor allem in der Unermesslichkeit des Archivs im kaiserlichen Palast. Es erinnert an die „Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges.

Kritik

Literarisch geht der Roman nicht völlig auf. Es gibt ein paar Handlungsfäden, die am Ende nicht wieder aufgegriffen und deshalb zu keinem Abschluss gebracht werden, z.B. der geflohene Schüler des Dreiflötenmeisters.

Das schwerste Versäumnis des Romans liegt in der Unterlassung der Problematisierung des Endes des Kaiserkultes und der Tradition der Haarteppichknüpfer. Natürlich handelte es sich dabei um Betrug durch die Macht. Doch es war mehr als das: Es gab der Gesellschaft Ordnung und Sinn. Wenn man die Tradition ersatzlos fortnimmt, gehen Ordnung und Sinn verloren. Diese Sinnlosigkeit führt der Roman selbst anhand der Person des Kaisers eindrücklich vor Augen. Doch der Roman überträgt das Drama des Kaisers nicht auf die Menschen und übergeht diese Problematik völlig. Es werden Rebellen gezeigt, die die Menschen von ihren Irrtümern befreien, und verbohrte Haarteppichknüpfer, die irgendwann einsehen müssen, dass es keinen Sinn mehr hat, Haarteppiche zu knüpfen. Das war’s.

Die Überwindung falscher Traditionen und die Entmachtung der Traditionalisten ist aber bestenfalls die halbe Miete. Die Notwendigkeit der Gewinnung von Ordnung und Sinn durch andere, tunlichst wahre Anschauungen, bleibt völlig undiskutiert. Es bleibt deshalb der Eindruck, dass der Autor selbst an keinen Sinn glaubt. Der Leser bleibt deshalb etwas ratlos wie ein desillusionierter Haarteppichknüpfer zurück: Wie geht es denn nun weiter in diesem Universum? Doch dazu sagt der Roman nichts.

Fazit

Andreas Eschbach hat mit den „Haarteppichknüpfern“ ein faszinierendes Universum voller verblüffender Einfälle erschaffen, das geeignet ist, einige wesentliche Themen des menschlichen Daseins zu reflektieren. Leider ist er dabei zu sehr an der Oberfläche geblieben.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)