Dostojewski nimmt das Großexperiment des Kommunismus literarisch vorweg!

In „Schuld und Sühne“ legt Dostojewski eine literarische Verarbeitung der „neuen Ideen“ vor, die offenbar zu seiner Zeit in Russland unter den jungen Menschen in Umlauf waren. Alle diese Ideen laufen mehr oder weniger darauf hinaus, dass die traditionelle christliche Moral abgelehnt und durch irgendeine Form von nützlichem Egoismus ersetzt wird. Das Buch ist eine einzige Warnung vor Rationalität ohne Liebe, mithin vor ideologischer Verblendung.

Unter den „neuen Ideen“ ist z.B. die „britische Nationalökonomie“, derzufolge der Egoismus des Einzelnen die Gesellschaft wie durch eine unsichtbare Hand als ganzes voranbringt. Dann wird der Sozialismus genannt, der die Gesellschaft grundlegend verändern will. Der Sozialismus glaube, dass die gesellschaftlichen Umstände an allen Verbrechen schuld seien. Ebenfalls prominent und etwas spöttisch erwähnt wird der Frühsozialist Fourier, der eine Welt anstrebte, in der Arbeit nicht mehr als Mühe sondern als Lust angesehen wird, und die Idee von Kommunen, in denen die „freie Liebe“ gelebt wird. Auch Charles Darwin und einige heute kaum noch bekannte Namen werden kurz angesprochen. Der wiederholt genannte Gipfelpunkt dieser Beispiele ist aber die Person von Napoleon, der auf der einen Seite große Verbrechen beging, um seine Karriere voranzubringen und seine Reformen durchzusetzen, der aber dennoch als großer Mann verehrt wird.

Dostojewski führt dem Leser nun einen jungen, im Grunde guten und klugen Menschen vor, nämlich den Studenten Raskolnikov, dessen Geist sich von der Liebe entfernt und sich in rein theoretischem Denken in diesen „neuen Ideen“ verfangen hat. Raskolnikov treibt die „neuen Ideen“ auf ihre Spitze, indem er glaubt, es gäbe Menschen, die dazu berechtigt seien, „Hindernisse“ aus dem Weg zu räumen, um Karriere zu machen und dadurch die Welt zum Besseren zu verändern. Alle anderen Menschen, die sich an die traditionelle Moral hielten, seien dagegen wie „Läuse“ und schwach, und dürften bei Bedarf aus dem Weg geräumt werden.

Deshalb ermordet Raskolnikov eine alte Pfandleiherin und deren Schwester.

Bei alledem ist das ganze Buch über weite Strecken schier unerträglich zu lesen. Schon bis zur Ausführung der Tat ist es ein ständiges ideologisches Hadern und ein Hin und Her. Man möchte als Leser dem jungen Mann zurufen: „Get real!“, „Komm mal wieder runter auf den Teppich!“ Oder: „Lass die Kirche gefälligst im Dorf!“ – Die Tat selbst ist natürlich ebenfalls nur schwer erträglich. – Danach entspinnt sich erst recht eine geradezu hysterisch hin- und herspringende Handlung: Raskolnikovs Nerven versagen unter der psychischen Last der Tat (nicht zu verwechseln mit Schuld!) und vor der Furcht vor Entdeckung. Sein Verhalten entwickelt sich sprunghaft, widersprüchlich, fast wahnsinnig. Er hadert auch mit der eigenen Deutung seiner Tat, und schließlich beginnt ein psychologisches Katz- und Mausspiel mit dem Kriminalisten Porfirij, der erstaunlich gut in die Seele Raskolnikovs zu blicken weiß, und ihn schließlich zum Geständnis treibt.

Dostojewski hat dabei einige falsche Fährten ausgelegt, warum Raskolnikov das Verbrechen begangen haben könnte. Da ist z.B. das – wiederum bis zur Unerträglichkeit ausgewalzte – soziale Elend der Familie des alkoholsüchtigen Beamten Marmeladov, insbesondere von dessen Tochter Sonja, die sich prostituiert, um die Familie durchzubringen. Und da ist die soziale Not von Raskolnikov selbst – die aber gar keine echte soziale Not ist, wie sich zeigt. Das Buch erklärt die genauen Hintergründe der Tat auch nicht von vornherein, weswegen der Leser erst nach und nach erfährt, wie sich alles genau verhält.

In einer Aussprache mit Sonja enthüllt Raskolnikov – wohl auch vor sich selbst – warum er die Tat wirklich begangen hat. Es sind zunächst tatsächlich diese „neuen Ideen“, vor allem auch das Vorbild des Napoleon, die ihn davon überzeugt haben, dass er richtig handelte und ohne Schuld ist. Aber dann ist da noch eine weitere, tiefer liegende Motivation: Es ging noch nicht einmal so sehr darum, seine Karriere zu befördern und später Wohltaten zu tun. Im Tiefsten wollte Raskolnikov sich selbst beweisen, dass er zu jenen „besseren“ Menschen gehört, die das Recht haben so zu handeln, und nicht zu den schwachen „Läusen“, indem er sich einer solchen Tat fähig zeigte! Hinter der Maske des Wohltäters steht also der Hochmut und die Meinung, er sei etwas besseres. Dies wird nur ein einziges Mal im Roman enthüllt.

Es ist deshalb auch kein Schuldbewusstsein, dass Raskolnikov am Ende zum Geständnis bringt, sondern ganz andere Dinge:

  • Es ist seine Enttäuschung darüber, dass seine Nerven die Tat nicht kalt aushielten, und er deshalb wohl doch nicht zu den „besseren“ Menschen gehört, sondern zu den schwachen „Läusen“.
  • Es ist seine Erfahrung, dass seine Tat und seine Anschauungen ihn radikal von allen Menschen entfremden, weil sie seine gefühllose Argumentation nicht akzeptieren können. Das gilt für seine Schwester und Mutter ebenso wie für seine späteren Mithäftlinge. Deshalb wohl auch der Name „Raskolnikov“, das ungefähr „Abspalter“ bedeutet.
  • Es ist sein Mitleid mit Schwester und Mutter, denen er durch seine Tat große Schmerzen zugefügt hat.
  • Schließlich seine Entlarvung durch den Kriminalisten Porfirij, der ihm Strafmilderung in Aussicht stellt, wenn er freiwillig gesteht. Die Strafe selbst erscheint Raskolnikov aber albern und unnütz.

Erst in den allerletzten Zeilen dieses gewaltigen Werkes bekommt dessen Titel seine Rechtfertigung: Denn bis kurz vor Schluss ist von Schuld und Sühne bei Raskolnikov nichts zu sehen. Erst ganz am Ende bricht sich die Liebe von Sonja ihre Bahn zu Raskolnikov, der sich aus dem lieblosen Theoretisieren zu befreien beginnt und Gefühle entwickelt. Es war die Liebe, die ihm fehlte. Und erst die Liebe und das Fühlen machen das Mitgefühl mit dem Opfer möglich, das damit keine schwache „Laus“ mehr ist, das die Voraussetzung von Schuldbewusstsein ist, das wiederum die Voraussetzung von Sühne ist. Das wird zwar nirgends explizit so gesagt, aber dieser Zusammenhang liegt auf der Hand, und nur so kann es zu jener inneren Verwandlung kommen, die am Ende angekündigt wird.

Anderes

Das Buch ist wie gesagt auf weite Strecken hin schier unerträglich, was natürlich an einer literarisch meisterhaften Verarbeitung eines in der Tat unerträglichen Themas liegt. Das allein ist lesenswert. Es finden sich aber auch große Reden, Dialoge und Szenen, in denen sich die verschiedenen Charaktere produzieren, und auch noch ganz andere Themen, die meisterhaft gestaltet werden.

Nebenthemen des Buches sind:

  • Armut und soziales Elend im damaligen St. Petersburg.
  • Damaliges Sexual- und Eheleben. Die Abhängigkeit der Frauen. Luschin. Svidrigailov.
  • Familie und Freundschaft.
  • Liebende und vernünftige Menschen: Rasumichin, Dunja, Porfirij.
  • Wie üblich in russischer Literatur ein wenig christliche Eschatologie.
  • Am Rande: St. Petersburg. Russland. Die kürzliche Aufhebung der Leibeigenschaft.

Kommunismus

Das erstaunlichste an diesem Roman ist aber, dass Dostojewski damit im Grunde die historische Entwicklung Russlands vorweggenommen hat. Denn die „neuen Ideen“ des Raskolnikov mündeten nur wenige Jahrzehnte nach Erscheinen des Romans (1866) im Großexperiment des Kommunismus. Der Kommunismus ist nichts anderes als die Realisierung der Theorie von Raskolnikov: Um die Menschheit voranzubringen, ist es der Avantgarde der Arbeiterklasse, also den „besseren“ Menschen, erlaubt, „Hindernisse“ aus dem Weg zu räumen. Und so ermordete Lenin zigtausendfach und hunderttausendfach Adlige, Priester und andere Widersacher, und Stalin steigerte das Morden in die Millionenzahl, und das alles zum Wohle der Menschheit.

Psychologisch äußerst feinsinnig hat Dostojewski erkannt, dass im Tiefsten dieser selbsternannten Wohltäter der Menschheit die Lieblosigkeit und der Hochmut sitzen: Sie wollen gar nicht zuerst das Wohl der Menschheit, sondern zuerst wollen sie sich selbst beweisen, dass sie etwas „besseres“ sind, und dass die anderen schwach und „Läuse“ sind.

Dostojewski gehörte einst selbst einem frühsozialistischen Zirkel an, der sich an Fourier orientierte. Er wurde 1849 verhaftet und nach einer Scheinhinrichtung zu Zwangsarbeit verurteilt. Dostojewski erzählt also von einer Geisteshaltung, die er selbst durchlitten und später ganz offensichtlich überwunden hat.

Unter dem Gesichtspunkt der Geistesgeschichte ist es von großem Interesse, dass die Untaten Napoleons bei Dostojewski eine große Rolle spielen. Könnte es sein, dass es einen historischen Konnex gibt zwischen den Verbrechen Napoleons und den Verbrechen der Kommunisten in Russland?

Seltsame Missverständnisse

Es muss auch gefragt werden, ob dieses Werk von Dostojewski bei manchen Lesern möglicherweise einen gegenteiligen Effekt erzielte: Dass manche Leser dieses Buch nicht als Warnung vor einer Rationalität ohne Liebe, mithin vor ideologischer Verblendung lasen, sondern im Gegenteil in Raskolnikovs Tat eine Heldentat sahen? Dass manche Leser durch dieses Buch überhaupt erst auf dumme Gedanken gebracht wurden, und insbesondere die dramatische Wende, die sich erst in den allerletzten Zeilen des Buches ereignet, schlicht übersahen? Ein Charakter des Buches heißt „Luschin“, der „Zinnerne“. Es erinnert an „Lenin“ oder „Stalin“, der „Stählerne“. Auch weitere Bezüge lassen sich finden. Es wäre interessant zu untersuchen, ob nicht nur Marx und Engels, sondern auch Dostojewski unfreiwillig einer der Taufpaten der mörderischen Ideologie des Kommunismus in Russland war.

Interessanterweise verfehlen die meisten Inhaltsangaben und Rezensionen den Inhalt von „Schuld und Sühne“. Sie glauben, die nervliche Überlastung von Raskolnikov rühre von Schuldgefühlen her, und dass die den ganzen Roman hindurch ausgebreitete nervliche Überlastung zugleich auch die Sühnestrafe sei. Immerhin lautet so ja der Titel des Buches: Schuld und Sühne. Aber von Schuld und Sühne ist bis auf die allerletzten Zeilen nichts in diesem Buch zu sehen. – Offenbar haben nicht wenige Leser Schwierigkeiten, die Radikalität des Plots wirklich zu begreifen. Oder sie lesen das Buch unter der Perspektive irgendeiner vorgefassten Weltanschauung oder Ideologie, in die sie dann den Plot des Buches zu pressen versuchen, bis hin zur Verkehrung der Absicht Dostojewskis in ihr Gegenteil. Dostojewski hat offenbar ein Buch geschrieben, das für viele nur schwer zu verstehen ist. Für die Menschheit lässt das nichts gutes hoffen.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 08. August 2018)