Schlagwort: Verzögerungskonservativismus

Roger Scruton: Von der Idee, konservativ zu sein – Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft (2014)

Interessanter Vordenker des Konservativismus – doch ohne optimistische Vision

Der Brite Roger Scuton (1944-2020) gilt international als einer der ganz großen Vordenker des Konservativismus in unserer Zeit. Sein Buch How to be a Conservative, deutsch: Von der Idee, konservativ zu sein, liefert einen Einblick in sein umfassendes Denken. Die Grundlagen werden dabei in den Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches dargestellt, während der Mittelteil des Buches der originellen Idee folgt, jeweils die Berührungspunkte konservativen Denkens mit konkurrierenden Ideologien aufzuzeigen: Mit dem Nationalismus, dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Liberalismus, dem Multikulturalismus, dem Ökologismus und mit dem Internationalismus.

Lokales soziales Gewebe

Wie kein anderer weist Roger Scruton darauf hin, wie bedeutend und unersetzlich das soziale Gewebe ist, das sich lokal und auf unterster Ebene der Gesellschaft spontan und von selbst herausbildet (vulgo: Graswurzelprinzip). Dieses Gewebe kann nicht ökonomisch oder sozial oder sonstwie optimiert werden. Staatliche Eingriffe können es nur beschädigen. Die Zahl der ungeschriebenen Gesetze ist viel größer als alle geschriebenen Gesetze. In diesem Gewebe ist alles beschlossen: Geborgenheit und Heimat, aber auch die Motivation und die Kraft, alles nur erdenklich Gute zu schaffen in der Gesellschaft: Ob ökonomisch, sozial, ökologisch, pädagogisch, oder was immer man für erstrebenswert hält.

Grundlegend ist „We the people“ vor aller Verfassung. Die Römer sprachen von pietas, Frömmigkeit vor allem den Ahnen gegenüber. Die Verbundenheit und Verantwortung auch den Vor- und Nachfahren gegenüber ist für Roger Scruton sehr wichtig. Im Griechischen ist es oikophilia, Liebe zum Heim. Das englische common law (Gewohnheitsrecht) ist Ausdruck der gewachsenen Traditionen. Als Vordenker wird Michael Oakeshott und dessen Idee der civil association genannt. Scruton plädiert für möglichst viel Autonomie auf unterster Ebene, z.B. in Schulen (vulgo: Subsidiaritätsprinzip). Auch das Militär erwächst idealerweise aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus, ebenso die Polizei mit dem lokalen Police Constabler.

Für die Herstellung des sozialen Gewebes benötigen die Bürger außerdem die Kunst der Konversation sowie Arbeit und Muße. Eine gute Konversation sollte nicht missionieren, sondern deliberativ und offen verlaufen. Arbeit und Muße geben dem Leben Struktur und Sinn. Werte definiert Scruton als erfahrene Werte, die einem im Leben begegnen: Liebe, Familie, Verwirklichung in Arbeit, usw. Wahre Werte entstehen, während man lebt. Sie sind nicht austauschbar, nicht künstlich herstellbar.

Roger Scruton unterstützte in diesem Sinne auch Dissidenten im kommunistischen Ostblock, deren Widerstand aus dem lokalen sozialen Gewebe der Menschen erwuchs, das die Kommunisten zu vereinnahmen oder zu unterdrücken versuchten.

Abgehobene Eliten

Eine der größten Bedrohungen des sozialen Gewebes unserer Zeit ist die Dominanz ökonomischen Denkens. Dieses hat sich bei den Eliten in Politik und Medien herausgebildet, die völlig abgehoben vom „wirklichen“ Leben der kleinen Leute und deren kleinen sozialen Gewebe leben. Heute, 2024, könnte man sagen, dass sich bei den Eliten wieder ein ganz anderes Denken festgesetzt hat, nämlich der Wokismus, der bei Scruton nur am Rande als Postmodernismus vorkommt.

Scruton beschreibt, wie es dazu kommt, dass sich solche abgehobenen Eliten herausbilden. Linke machen ihren Weg durch Gewerkschaften und irgendwelche Nichtregierungsorganisationen. Konservative steigen häufig bei Beratungsfirmen auf. Unerwähnt bleiben Jugendorganisationen von Parteien und eine High Society, die ihre Kinder auf teure Internate schickt und auch sonst unter sich bleibt.

Oft treiben die Medien heute die Politik vor sich her und bestimmen so die politische Richtung. Die politische Opposition wird dabei oft gar nicht mehr zu Gehör gebracht (vulgo: polit-medialer Komplex). (S. 256-264)

Überschießen guter Grundideen

Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus, Liberalismus, Multikulturalismus, Ökologismus und Internationalismus beruhen für Scruton durchaus auf anerkennenswerten, guten Grundwerten, die jedoch ohne Rücksicht auf jeweils andere Werte verabsolutiert werden und deshalb über das Ziel hinausschießen (vulgo: Maßlosigkeit). Es sind die Traditionen und die über lange Zeiträume gewachsenen Gebräuche des sozialen Gewebes, die den überschießenden Ideen Einhalt gebieten, meint Scruton.

Die Nation ist praktisch die Erweiterung des sozialen Gewebes der Familie. Der Sozialismus hat erkannt, wie die Menschen aufeinander angewiesen sind. Beide Aspekte werden in Nationalismus und Sozialismus jedoch heillos übertrieben und wenden sich gegen die Autonomie des lokalen sozialen Gewebes.

Der Kapitalismus habe seinen guten Ursprung im Austausch von Gütern bei lokalen Kleinhändlern, werde jedoch durch Derivatehandel und Warenfetischismus pervertiert. Ein Grundübel unserer Zeit sei außerdem die einseitige Anwendung des ökonomischen Denkens in allen Lebensbereichen unter Vernachlässigung anderer, nicht weniger wichtiger Aspekte.

Der Liberalismus sichert das Recht des Einzelnen gegen die Übergriffigkeit des Staates und besteht auf einer vernunftgeleiteten Debatte. Doch in sozialen Menschenrechten, die der Idee des Empowerment von Armen und Minderheiten folgen, sieht Scruton ein Überschießen des Liberalismus, das zu neuer Unfreiheit und Ungerechtigkeit führt.

Der Multikulturalismus hat gut erkannt, dass der Unterscheidung Hegels zwischen Kultur und Zivilisation folgend nicht die verschiedenen Kulturen, sondern die gemeinsame Zivilisation das Entscheidende sein sollte. Doch übersieht der Multikulturalismus, dass sich Zivilisation immer nur durch Kultur entfaltet, weshalb die Trägerkultur der Zivilisation unersetzlich ist. Und der Multikulturalismus schießt auch dort über das Ziel hinaus, wo er die westliche Zivilisation mit Demokratie, Menschenrechten und Vernunftorientierung nur noch als eine Kultur unter mehreren gelten lässt, ganz zu schweigen von den schrecklichen Verirrungen der Postmoderne, die die Vernunft gänzlich abschaffen will.

Der Umweltschutz wird durch den Wunsch der Bürger, ihre direkte, lokale Umwelt zu schützen, am besten motiviert. Globale Institutionen bedrohen hingegen die lokalen Schutzinteressen und führen durch Abstraktion zu einer Abnahme von Motivation. Letztlich könne globaler Umweltschutz nur durch Techniken realisiert werden, die auf Akzeptanz stoßen, weil sie besser und billiger sind, meint Scruton (S. 161). Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Scruton in Sachen Umweltschutz den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Scheitern des Multilateralismus in Sachen Klima steht uns heute klar vor Augen.

Der Internationalismus wird mit Kant als eine Rechtsbeziehung unter Republiken definiert. Doch besteht das Problem darin, dass die Vertragspartner vielfach keine rechtsverlässlichen Republiken sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention hält Scruton für völlig aus der Zeit gefallen. Letztlich müssten Problemlösungen immer auf lokaler Ebene geschehen, egal wie grenzübergreifend ein Problem auch ist.

Kritik: Liberalismus statt Konservativismus?

Die Ausführungen Roger Scrutons über die Bedeutung des lokalen sozialen Gewebes und dessen möglichst freie und ungestörte Entfaltung sind wichtig und richtig. Allerdings stellt sich die Frage, ob das nicht eher ein liberaler Gedanke ist. Aus dem konservativen Denken erfolgt diese Erkenntnis zumindest nicht unmittelbar: Ein unmoderner Konservativer wird z.B. im 18. Jahrhundert an einer durch Kirche und Adel strukturierten Gesellschaft festgehalten haben, in der nicht viel Freiheit für ein bürgerliches soziales Gewebe war.

Man könnte allerdings mit Fug und Recht behaupten, dass es konservativ ist, an dieser einmal erreichten Errungenschaft eines bürgerlichen, lokalen sozialen Gewebes als einer bleibenden Errungenschaft festzuhalten.

Kritik: Zu viel Gewicht auf Christentum

Roger Scruton sieht die Säkularität und die Moderne als Errungenschaften „der christlichen Zivilisation“ an, und führt dies auf gewisse Aussagen in der Bibel zurück (S. 215 ff.). Das ist natürlich ziemlich falsch. Die Errungenschaften der Aufklärung beruhen vor allem auf der Philosophie der antiken Denker. Diese antike Philosophie wurde zunächst von der christlichen Theologie aufgegriffen, z.B. Aristoteles durch Thomas von Aquin, bis die antike Philosophie schließlich in der Renaissance, der „Wiedergeburt“ der Antike, auch ohne Theologie als eigenständiger Wert wiederentdeckt und bis zur Aufklärung schrittweise etabliert und weiterentwickelt wurde. Nicht wenige Gedanken mussten erst gegen die Kirche und gegen das Christentum erkämpft und etabliert werden.

Scruton kritisiert zurecht den Islam „in seiner heutigen Form“ (S. 217). Er hätte aber gut daran getan, zu sagen, dass auch das Christentum nur „in seiner heutigen Form“ all das zulässt. Die „christliche“ Zivilisation ist keinesfalls die Quelle der westlichen Errungenschaften. Das ganze Mittelalter war christlich, modern war es jedoch nicht (und wo es doch modern war, folgte es bereits antiken Denkern).

Kritik: Verzögerungs- statt moderner Konservativismus

Generell definiert Roger Scruton die Rolle des Konservativismus immer wieder nur im Festhalten und im möglichst langen Hinauszögern des Abbaus und Verfalls gegebener Verhältnisse (z.B. S. 61, 267 ff.). Das ist für einen modernen Konservativismus entschieden zu wenig.

Ein moderner Konservativismus sollte durchaus klare Vorstellungen davon haben, was er für wichtig und richtig hält, und sich nicht ausschließlich relativ zum aktuell Gegebenen und zu dessen Abservierung durch sogenannte „progressive“ Kräfte definieren.

Für Scruton fängt der Konservativismus erst mit der französischen Revolution an. Aber was ist mit den antiken Denkern? Ist Cicero kein Konservativer? Oder Karl der Große? Gibt es nicht unveränderliche Werte, die über alle Zeiten hinweg erhaltenswert sind? Und bleibende Errungenschaften, die, nachdem sie einmal entwickelt wurden, für alle Zeiten zu bewahren sind, soweit möglich? Familie? Klassische und aufgeklärte Bildung? Nation? Menschenrechte? Demokratie? Gewaltenteilung? Marktwirtschaft? All das gibt es bei Roger Scruton, aber nur im Sinne eines Festklammerns, bis es verschwunden ist. Dann ist es weg und verloren.

Kritik: Nihilismus statt optimistische Vision

In einer „Abschiedsrede“ am Ende des Buches werden die Defizite dieser Art von Konservativismus besonders deutlich. Hier referiert Scruton, wie englische Dichter im 19. Jahrhundert den christlichen Glauben bereits verloren hatten, doch immer noch inmitten einer völlig vom christlichen Glauben beherrschten Welt lebten, und wie sie den Mangel an Glauben dadurch zu „flicken“ versuchten, dass sie den christlichen Glauben umso mehr beschworen. So ist auch der Baustil der Neogotik zu verstehen, wie Roger Scruton als Architekturkenner ausführt. Auch die Schönheit der religiösen Bauten wird irrational als Wert an sich verklärt, die bleibe, wenn der Glaube geschwunden ist. Man kann mit dieser Form des Konservativismus durchaus Sympathie haben, denn es ist richtig: Man räumt das Alte nicht einfach ab.

Das Problem daran ist aber, dass ein Mensch, der den christlichen Glauben verloren hat, diesen Verlust nicht durch bloße Imitation „flicken“ kann. Erforderlich wäre gewesen, eine neue Weltanschauung zu entwickeln, die man wieder „echt“ glauben kann, und in die man das Vorhandene transformieren kann. Doch davon bei Scruton kein Wort. Statt dessen bringt er wiederholt Zitate von Nietzsche. Doch Nietzsche ist der denkbar anti-konservativste Denker, den man sich vorstellen kann! Nietzsche räumt den christlichen Glauben nämlich tatsächlich gründlich ab, und ersetzt ihn durch den Übermenschen, der glaubt, es gäbe keinen Gott und keinen echten Sinn in der Welt. Im Grunde ist Roger Scruton damit ein Nihilist, der keine Alternative zum verlorenen Christentum hat, und der sich lediglich davor fürchtet, sich den eigenen Nihilismus einzugestehen. Deshalb auch die Betonung des Festhaltens. Das ist nun wirklich kein moderner Konservativismus.

Kritik: Verschränkung von göttlichem und weltlichem Recht

Roger Scruton nennt die Trennung von Staat und Religion eine Errungenschaft, hier insbesondere auch das säkulare Recht, das vom göttlichen Recht getrennt ist (S. 68 ff.). Doch hier hat Scruton nicht tief genug gedacht. Denn letztlich wurzelt alles in Weltanschauung. Auch der säkulare Staat und das säkulare Recht ruhen letztlich auf der Weltanschauung der Bürger. Die Menschenrechte und die Verfassung beruhen auf einem Menschenbild, das nur durch Gott oder die Natur der Dinge gerechtfertigt werden kann. In diesem Sinne ist es auch falsch, wenn Scruton schreibt, dass sich religiöses Recht nicht anpassen könnte. Religiöses Recht, insofern es mit Vernunft gedacht wird, schöpft aus unveränderlichen Quellen, wie das säkulare Recht, und passt sich den veränderlichen Situationen der Zeit an, wie säkulares Recht.

Das säkulare Recht und die Weltanschauungen der Bürger sind durchaus aufeinander bezogen, allerdings sind das säkulare Recht und die Weltanschauungen bzw. Religionen der Bürger gewissermaßen „entkoppelt“, insofern das humanistische Menschenbild die Schnittstelle bildet, auf die sich alle (akzeptablen) Weltanschauungen einigen können, und auf dem dann das säkulare Recht aufruht. Gerade ein konservativer Denker sollte diesen Zusammenhang immer klar vor Augen haben. Aber vielleicht ist Roger Scruton hier gar nicht konservativ, sondern mit Nietzsche auf dem Weg zum Übermenschen? Von Humanismus spricht Scruton wenig bis gar nicht. Dann wäre es verständlich, warum er glaubt, das religiöse Recht völlig abhalftern und vom säkularen Recht trennen zu können.

Beobachtungen am Rande

In Großbritannien scheint es einen ähnlichen Debattenverlauf zum Thema Einwanderung und Integration gegeben zu haben wie in Deutschland mit Thilo Sarrazin, nur früher. In Großbritannien war es der Schulleiter Ray Honeyford, der 1984 in einer von Roger Scruton herausgegebenen Zeitschrift praktische und gutgemeinte Vorschläge machte, wie man die Integration von Muslimen verbessern könnte (S. 37). Honeyford wurde als Rassist verfemt.

Interessant, dass die Bildungsreform zu mehr Egalitarismus in Großbritannien in den 1960er Jahren stattfand. Also nicht nach, sondern vor dem ominösen Jahr 1968 (S. 59). Hier zeigt sich wieder, dass 1968 kein Aufbegehren gegen die Altvorderen war, sondern die logische Fortsetzung einer geistigen Bewegung, die von den Altvorderen initiiert wurde.

In Großbritannien begann die Umweltschutzbewegung mit dem Schutz der Wälder, und der Wald ist in Großbritannien ein Mythos (S. 160). Sieh an: Solches hört man doch immer von Deutschland. Dort ist es also nicht anders.

Schließlich eine intelligente Beobachtung zu Massenbewegungen (S. 255): „Solidarische Massenbewegungen erstarken meiner Meinung nach immer dann, wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben, zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben. Massenbewegungen spiegeln die Rückfallposition der menschlichen Psyche wider, wenn Angst, Verbitterung und Wut die Macht übernehmen, und wenn keine Gesellschaftsordnung mehr akzeptabel erscheint, ohne die absolute Einigkeit über ein Ziel.“

Fazit

Ein gedankenreiches Buch eines erfahrenen Konservativen, auf dessen Erfahrung man hören sollte. Allerdings zeigt der Konservativismus von Roger Scruton erstaunliche intellektuelle Defizite. Für einen modernen Konservativismus ist das nicht genug. Manches erscheint sogar überhaupt nicht konservativ, sondern im besten Fall liberal, im schlechtesten Fall nihilistisch. Eine konstruktive, optimistische Vision wie in Albert Schweitzers Kulturphilosophie fehlt völlig. Schließlich ist auch die Strukturierung der Themen in und über die Kapitel hinweg nicht sehr glücklich. Nur der Mittelteil mit der Durchsprechung der konkurrierenden Ideologien ist übersichtlich. Alles in allem hätte man sich mehr erwartet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Alexander Gauland: Anleitung zum Konservativsein – Zur Geschichte eines Wortes (2002 / 2017)

Pseudo-konservatives Pamphlet eines bräunlichen Preußenfeindes

Alexander Gauland sieht sich selbst als honorigen Konservativen in der Tradition des großen englischen Konservativen Edmund Burke. Doch was er hier im Jahr 2002 – mit Nachwort von 2017 – abgeliefert hat, ist ein erstaunliches Sammelsurium von Obsessionen und Selbstwidersprüchen, das eine ganz andere Gesinnung durchscheinen lässt.

Gleich das erste Kapitel – nach dem einleitenden Kapitel – ist bemerkenswerterweise niemand anderem als Adolf Hitler gewidmet. Und ebenso ist auch der letzte Satz auf der letzten Seite dieses Büchleins, im Nachwort von 2017, Adolf Hitler gewidmet: Dass man sich nur ja nicht auf Hitler fixieren dürfe! Doch genau das scheint hier durch: Eine Fixierung auf Hitler. Man kann doch am Anfang des 21. Jahrhunderts ein Buch über die Aktualität des Konservativismus nicht mit Adolf Hitler beginnen! Es ist viel Hitler in Gauland, so scheint es: Gauland denkt von Hitler her, ganz so wie Joschka Fischer von Auschwitz – also von Hitler – her dachte.

Die nächste dicke Überraschung: Gauland verwendet ein ganzes Kapitel darauf, um Friedrich den Großen als gefühlskalten Zyniker, rücksichtslosen Kriegstreiber, verantwortungslosen Hasardeur und Verächter des Rechts darzustellen. Hier werden alle Register der preußenfeindlichen Propaganda gezogen. Und überhaupt hätte Preußen angeblich keine Staatsidee gehabt. – Anderswo kann man nachlesen, dass Friedrich der Große ein Meilenstein der Aufklärung in Deutschland war. Nicht zufällig wirkte zur selben Zeit Immanuel Kant im preußischen Königsberg. Die Werke Friedrichs sind voller moralischer Überlegungen, und seine Genialität war von Erfolg gekrönt. Dass er manchmal alles auf eine Karte setzte, war den Umständen geschuldet. Die preußische Staatsidee umfasste Rationalität und Ordnung. Preußen schnitt so manchen alten Zopf ab, während das morsche Österreich dahinsiechte. Aus dem Moder der Verwesung Österreichs ging Adolf Hitler hervor – doch Gauland sieht das Böse aus Preußen kommen.

Die Rationalität Preußens gefällt Gauland nicht: Denn für ihn gehorchte sein Vorbild Edmund Burke angeblich „zuallererst“ einem „romantischen Impuls“ (S. 13). Romantik ist natürlich das krasse Gegenteil von Rationalität. Später versucht Gauland abzuschwächen: Burke hätte sich nicht gegen die Rationalität gewandt, sondern gegen die Unvollkommenheit der Rationalität (S. 16). Das überzeugt nicht, denn nicht die Rationalität kann unvollkommen sein, sondern nur deren Gebrauch. Um die Grenzen der Rationalität zu erkennen, muss man weiterhin rational sein. – Im Nachwort schreibt Gauland, dass gewachsene Strukturen des Lebens und des Glaubens „eine Quelle andersartiger Vernunft“ seien. Hier wird etwas als Vernunft bezeichnet, was keine Vernunft ist, sondern z.B. Erfahrung. Es wird so getan, als stünde „die Vernunft“ im Widerspruch mit dieser „anderen“ Vernunft. Doch das ist falsch. Vernunft, wenn sie richtig gebraucht wird, integriert Erfahrung. – Schließlich schreibt Gauland, dass der moderne Mensch in einem „versteinerten Gehäuse der Rationalität“ leben würde, und dagegen ein „konservatives Widerlager“ nötig sei (S. 85). Damit verdeutlicht Gauland einmal mehr seine Opposition gegen die Vernunft.

Außerdem ist bereits die Analyse falsch. Der moderne Mensch lebt leider nicht in einer Welt der Rationalität, sondern im Gegenteil oft genug in den Illusionswelten eines höchst irrationalen Zeitgeistes: Der Konservativismus ist es, der auf Vernunft und Realismus bestehen muss. Moderner Konservativismus kann nur vernünftig gedacht werden. Aber Alexander Gauland redet einem romantischen Traditionalismus das Wort, dessen Irrationalität beliebig irre Auswüchse haben kann. Preußen stört da nur.

Gauland vollbringt sogar das Kunststück, ausgerechnet Friedrich dem Großen die Schuld dafür zuzuschreiben, dass die Ideen der Aufklärung in Deutschland nicht Fuß fassten und die Romantik an Boden gewann (S. 29). (Zumal der Romantiker Gauland diese Entwicklung doch begrüßen müsste?) Preußen hätte sich außerdem nach Osten gewandt, weg vom aufgeklärten Westen (S. 38). In Wahrheit wuchs Preußen immer weiter nach Westen in Deutschland hinein, während Österreich immer weiter aus Deutschland Richtung Osten herauswuchs. Gauland selbst zitiert die Bezeichnung „Rationalstaat“ Preußen (S. 20) und führt wiederholt an, dass die Attentäter vom 20. Juli 1944 aus dem preußischen Adel kamen (S. 34, 39). Gauland erwähnt den preußischen Klassizismus, Humboldt u.v.a.m. (schweigt aber über Kant) – doch all das lässt er nicht als kulturelle Errungenschaften gelten gegenüber den übernationalen Ideen von Frankreich, England und Spanien (S. 28). Man fragt sich, was für großartige übernationale Ideen denn Frankreich, England oder Spanien nach Meinung Gaulands gehabt haben sollen, dass davor der nicht unbeachtliche Beitrag Preußens, später Deutschlands, zur europäischen Kultur keine Geltung mehr haben soll?

Im ganzen Büchlein bleibt Österreich unerwähnt. Aber indirekt beklagt Gauland, dass Österreich nicht mehr zu Deutschland gehört. Denn darauf läuft seine Klage über Preußen hinaus. Hätte Friedrich sich nicht gegen das rückständige Österreich durchgesetzt, wäre Deutschland mitsamt Österreich in einem einzigen großen braunen Sumpf geendet. Gauland hat nicht verstanden, dass sich die Wege unwiderruflich getrennt haben, weil man völlig unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschlagen hatte, so wie z.B. auch die Deutschschweiz aus guten Gründen nicht mehr zu Deutschland gehört. Dümmlich fragt Gauland zudem, ob man denn Schlesien anders verloren habe, als man es gewonnen habe (S. 25): Dieser zynische Vergleich zweier völlig verschiedener Vorgänge – einmal die Annexion eines deutschen Gebiets durch einen anderen deutschen Staat ohne große Behelligung der Bevölkerung, das andere Mal die völlige Vertreibung der Bevölkerung und die völlige Vernichtung der deutschen Kultur auf diesem Gebiet – ist vollkommen unpassend. Auch Gaulands Klage über Friedrichs Umgang mit Sachsen spricht Bände. Alexander Gauland, der bekanntlich AfD-Vorsitzender im preußischen Kernland Brandenburg war, ist nämlich … ein Sachse. Auch sein Vize Andreas Kalbitz, ehemaliges Mitglied in neonazistischen Vereinigungen, ist Sachse. Nicht zuletzt war auch der große Inspirator des Nationalsozialismus, Richard Wagner, ein Sachse. Manchmal werden Klischees wahr.

Die nächste Überraschung: Das deutsche Kaiserreich sei angeblich ein auf das Materielle fixierter Machtstaat gewesen, der sich keinem Dienst an einer übernationalen Sache verschrieben hatte. Da es an einer Staatsidee gefehlt habe, hätte man den Mythos Preußen als Ersatz herangezogen. (S. 20-22) Im Grunde ist das einfach die Fortsetzung von Gaulands Preußenfeindlichkeit, übertragen auf das von Preußen begründete Deutschland. Wenn Gauland schon nicht verstanden hat, was die Staatsidee Preußens war, kann er natürlich auch nicht verstanden haben, dass der Rückgriff auf den Mythos Preußen sehr wohl übernationale Ideen in sich barg.

„Am deutschen Wesen soll einmal die Welt genesen“ hieß es damals bekanntlich. Mehr übernationales Selbstbewusstsein geht nicht. Das ist eher zuviel davon als zuwenig. Durch seine AfD-Reden wissen wir heute, dass Gauland ein großer Fan von Bismarck ist. In diesem Büchlein werden Bismarcks Preußen und das von Bismarck begründete deutsche Kaiserreich jedoch nach Strich und Faden abgekanzelt. Von Bismarck selbst ist hingegen so gut wie nicht die Rede. Das ist schon sehr seltsam. Aber Gauland widerspricht sich auch explizit selbst, denn er schreibt in diesem Büchlein auch Sätze wie diesen: „Wie Goethe, so verfocht auch Humboldt die Übernationalität des Deutschtums“ (S. 11). Und weiter hinten lesen wir, dass Deutschland angeblich das einzige Land neben Frankreich sei, das Ideen von universaler Geltung erzeugt habe (S. 109). Da fragt sich der Leser: Was denn nun? Seelenloser Materialismus oder übernationale Ideen?

Gauland möchte auch, dass Preußen tot bleibt. Mit Bayern hat Gauland keine Probleme, obwohl München die „Hauptstadt der Bewegung“ war, obwohl in Nürnberg die Reichsparteitage der NSDAP stattfanden, und obwohl in Bayreuth der große Inspirator des Nationalsozialismus Richard Wagner auf dem grünen Hügel residierte. Aber mit Preußen, dem Land von Vernunft und Ordnung, hat Gauland ein Riesenproblem. Wiederholt betont Gauland, dass man auf keinen Fall und niemals nicht an Preußen anknüpfen könne, weil Preußen angeblich gesellschaftlich und territorial verloren sei (S. 34, 96). Doch im Widerspruch dazu registriert Gauland erfreut, wie die osteuropäischen Staaten nach 1990 dort wieder anknüpften, wo ihre Vergangenheit einst durch Nationalsozialismus und Kommunismus unterbrochen worden war (S. 101). Da fragt sich der Leser, warum das ausgerechnet in Deutschland nicht möglich sein soll? Länder wie z.B. Polen haben keine geringeren Verwerfungen und Gebietsverschiebungen erlebt.

Nachdem sich Gauland ausgiebig gegen Preußen ausgetobt hat, kommt er auf die Gegenwart zu sprechen. Auch hier ist vieles seltsam: Die CDU wird von ihm als völlig unkonservative Partei beschrieben, die sich allein der Konsum- und Industriegesellschaft verschrieben hätte. Adenauer und Ludwig Erhard finden bei Gauland nicht statt. Auch der Umbruch von 1968 existiert bei ihm nicht. Gauland geht nahtlos von Adenauer zu Merkel über (S. 34 ff.). Man fasst es nicht.

Immer wieder lässt Gauland seinen Antiamerikanismus durchblicken. Der „amerikanische Kapitalismus“ ist für Gauland „eine im Ansatz nicht weniger menschenfeindliche Ideologie“ als die „autoritären Systeme von rechts und links“ (S. 42), also als Nationalsozialismus und Kommunismus. Die USA stehen für Gauland für Kulturverfall (S. 130). Der kulturelle Anspruch der USA sei auch imperialistisch (S. 124). Gauland scheint den Unterschied zwischen Hegemonie und Imperium nicht verstanden zu haben. Zudem würden die USA rücksichtslos handeln, und auf dem Balkan Multikulti-Träume ausleben (S. 113, 122 f.). In Wahrheit waren es wohl eher die Europäer, die auf dem Balkan rücksichtslos auf Multikulti gesetzt hatten, bis ein Blutbad angerichtet war und die USA dem ein Ende setzten. Jedenfalls will Gauland die EU als Gegengewicht gegen die USA aufbauen (S. 116). Damit vertritt Gauland – gemeinsam mit vielen „Europäern“ – eine Form von EU-Nationalismus, die in dieselbe Sackgasse führt wie der nationale Nationalismus. Zwar will Gauland das Bündnis mit den USA erhalten und warnt vor einem Sonderweg abseits des Westens (S. 97, 116), aber angesichts seines krassen Antiamerikanismus erscheinen solche Phrasen wie bloße Lippenbekenntnisse.

Was den Konservativismus angelangt, der ja das eigentliche Thema dieses Büchleins sein soll, versagt Gauland völlig. Wir sahen oben bereits, dass Gauland keinen modernen Konservativismus will, der Rationalität und Realismus einfordert, sondern sich einer irrationalen Romantik verschrieben hat. Hinzu kommt, dass sich Gauland das ganze Büchlein hindurch als Vertreter eines plumpen Verzögerungs-Konservativismus zeigt (z.B. S. 87 ff.).

Gauland argumentiert explizit nicht mit ewigen Werten oder mit bleibenden Errungenschaften, sondern ständig immer nur damit, dass Veränderungen nicht zu schnell vonstatten gehen dürfen. Immer wieder bringt Gauland die völlig unkonservative Argumentation vor, dass zwar die moderne Eliten mit den schnellen Veränderungen ganz gut zurecht kommen, aber die Masse der kleinen Leute nicht (z.B. S. 58, 68 ff.). Dass konservative Werte einen Wert an sich haben und auch dann noch erhaltenswert sind, wenn sich niemand durch schnelle Veränderungen überfordert sehen würde, kommt Gauland nicht in den Sinn. Ebenfalls fehlt der Gedanke, dass die modernen Eliten ebenfalls der konservativen Werte bedürfen und sich lediglich in dem Irrtum befinden, dass es auch ohne ginge.

Aber es geht noch schlimmer: Gauland argumentiert wiederholt damit, dass die kleinen Leute angeblich nur rassistisch reagieren können, wenn die Veränderungen zu schnell gehen (S. 47). Schlechter lässt sich für konservative Werte nicht mehr argumentieren. Zumal es fraglich ist, ob die kleinen Leute auf Überforderungen tatsächlich rassistisch reagieren. Je nach Propaganda könnten sie z.B. auch linksradikal reagieren.

Und so hechelt Gauland über viele Kapitel hinweg diverse konservative Werte durch: Familie, Geschichtsbewusstsein, Symbole, Mythen, klassische Bildung, Heimat, Leitkultur, Religion, Tradition, Tugend, Kunst. Doch das alles sind für Gauland keine Werte an sich! Sie sind lediglich zu beachten, um die Geschwindigkeit der Veränderungen zu verzögern. Teilweise fügt Gauland auch eine weitere, schräge Begründung für den jeweiligen Wert hinzu: Beim Geschichtsbewusstsein argumentiert Gauland, dass unsere europäischen Nachbarn darüber verfügen würden, deshalb bräuchten wir das auch (S. 48). Dass wir es aber auch an und für sich bräuchten, dieser Gedanke existiert bei Gauland nicht. Und die klassische Bildung kennt Gauland nur als Statussymbol der Elite (S. 59 ff.). Dass klassische Bildung eine unersetzliche menschliche Bildung bedeutet, und eine klassische gebildete Elite eine kulturelle Errungenschaft für ein Land darstellt, kommt Gauland nicht in den Sinn.

Erst auf der buchstäblich allerletzten Seite – vor dem Nachwort von 2017 – kommt der Satz, dass das Konservative nicht ein Hängen an dem ist, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt (S. 133). Mit dem, was Gauland auf den 132 Seiten davor geschrieben hatte, hat dieser Satz nichts zu tun. Ohne weitere Erklärung wird dieser Satz dem Leser lapidar vor den Latz geknallt.

Gauland versäumt es in seiner Analyse der Gegenwart auch völlig, konservative Gegenkräfte zu benennen. Statt dessen schlägt Gauland alle möglichen politischen Maßnahmen zur Stärkung der Familie, der Bildung usw. vor (z.B. S. 75 ff.). Doch diese politischen Maßnahmen können von der Politik natürlich erst durchgeführt werden, nachdem (!) konservative Kräfte zur politischen Macht gelangt sind. Wie es aber dazu kommen könnte, dass der linke Zeitgeist sich wieder konservativem Denken zuwendet, dazu sagt Gauland nichts. Religion wird von Gauland zwar als eine der möglichen konservativen Gegenkräfte kurz angesprochen (S. 76), aber dann nirgendwo besprochen. Auch das ist seltsam.

Gaulands Büchlein ist voll von kleinen und großen Irrtümern. So spricht Gauland z.B. davon, dass der Westen den Islam gedemütigt habe, und dass man die Eigenständigkeit des Islam respektieren müsse (S. 124 ff.). Damit werden antiamerikanische Narrative bedient und völlig verkannt, dass der Nahe Osten nichts dringender braucht als eine rationale Modernisierung, einschließlich des Islam. – Ähnlich falsch ist Gaulands Analyse der politischen Kultur der osteuropäischen Länder. Diesen spricht er die Fähigkeit zu einer westlichen Gesinnung grundsätzlich ab (S. 100-104). Er übersieht dabei völlig die Möglichkeit und die Realität von Entwicklungen. – Entsprechend meint Gauland, dass die Ukraine keine eigene Identität hätte, und dass der Westen keine künstliche Staatenbildung betreiben solle (S. 105 f.). – Falsch ist auch die Analyse, dass Deutschland deshalb ein so schwaches nationales Selbstbewusstsein habe, weil es im 19. Jahrhundert als verspätete Nation gegründet wurde (S. 81). In Wahrheit ist die Schwäche des heutigen deutschen Nationalbewusstseins natürlich vor allem eine Überreaktion auf den Nationalsozialismus. – Gauland meint auch, es gäbe keine konservative Außenpolitik, sondern nur eine richtige oder eine falsche Außenpolitik (S. 98 ff.). Im Widerspruch zu sich selbst schreibt Gauland wenige Seiten später, dass Geschichte der Schlüssel zu einer konservativen Außenpolitik sei (S. 107). Natürlich! Denn für die Außenpolitik gilt dasselbe wie für die Innenpolitik: Sie ist zwischen den politischen Lagern umstritten. – Ganz analog falsch ist Gaulands Behauptung, dass sich die Einteilung der politischen Lager in Links und Rechts erledigt hätte, denn jetzt ginge es um Konservativ vs. Liberal (S. 97 f.). Aber auch das ist nur eine Variante von Links vs. Rechts, abgesehen davon, dass heutige „Liberale“ oft sehr links sind. – Falsch ist auch die Analyse, dass die Wirtschaft nach 1989 ins linke Lager gewechselt wäre (S. 51 ff.). Einerseits ist die Wirtschaft an der Förderung einer linksliberalen Gesinnung interessiert, denn enthemmte Linksliberale sind die besten Konsumenten. Aber das war schon vor 1989 so. Andererseits hat sich die Wirtschaft irgendwann lange nach 1989 tatsächlich dem linken Spektrum zugewandt, aber nur deshalb, weil das der Zeitgeist ist. Die Wirtschaft folgt immer dem, was „angesagt“ ist, das hat nichts mit Links oder Rechts zu tun.

Nur in ganz wenigen Punkten hat Gauland Recht. So war die alte BRD tatsächlich eine Art Auszeit von der Geschichte, so dass sich in der (west-)deutschen Gesellschaft Blütenträume entwickeln und festsetzen konnten (S. 66 ff.). Richtig ist auch, dass Angela Merkel den deutschen Rechtsstaat schwer beschädigt hat (S. 135 f.). Und Frankreich nutzt die EU tatsächlich zur Durchsetzung seiner nationalen Interessen (S. 111 f.), alles andere wäre ja auch unklug. Und die geschichtlichen Gewordenheiten der europäischen Staaten tragen auch heute noch, es gibt kein europäisches Staatsvolk (S. 115).

Unter formalen Gesichtspunkten lässt sich sagen, dass Gauland häufig nur in Andeutungen spricht. Ständig lässt er irgendwelche Namen fallen, ohne deren Bedeutung zu erklären. Das macht es manchmal schwierig, seine Gedankengänge nachzuvollziehen.

Fazit: Ein anti-konservatives, unangenehm bräunliches Buch.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 24. März 2022)

Andreas Rödder: Konservativ 21.0 – Eine Agenda für Deutschland (2019)

Im Schlafwagen weg von Merkel? Zu kurz gesprungen

Andreas Rödder ist einer der Mitbegründer der neuen politischen Denkfabrik „Republik 21“, die nach der Entkernung der CDU in der Ära Merkel und dem Verlust der Wahlen 2021 eine Neubestimmung des Konservativismus und der CDU zuwege bringen will. Doch leider springt Rödder zu kurz.

Theorie-Teil

Unter Konservativismus versteht Andreas Rödder vor allem einen reinen Verzögerungs-Konservativismus ohne eigenen Anspruch. Immer wieder sagt Rödder, dass man Entwicklungen nicht aufhalten könne, und es deshalb nur darum gehen könne, sie zu verzögern, um sie erträglicher zu machen (S. 26 f., 29). Immer wieder betont Rödder, dass alles, was heute gilt, morgen schon falsch sein könne (S. 42). Konservativismus, das sei Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit (S. 39). Zur Bestimmung des Bewährten will Rödder nicht allzu weit zurück in die Vergangenheit blicken, denn durch den Nationalsozialismus habe es einen Traditionsbruch gegeben, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen (S. 42). Dass er damit den Traditionsbruch des Nationalsozialismus akzeptiert statt sich ihm zu widersetzen, fällt ihm offenbar nicht auf.

Rödder verwirft die Idee, dass Konservativismus das sei, „was immer gilt“, mit folgenden Gründen (S. 38):

(x) Selbst in den Kirchen gelte nichts für immer. – Doch die krassen Fehlentwicklungen in den deutschen Kirchen können kein Maßstab sein.

(x) Rödder kann keine ewigen „politischen Werte“ erkennen. – Doch es geht um ein unpolitisches Höheres, aus dem sich die politischen Werte je nach Situation ableiten.

(x) Linksgrüne Vertreter einer radikalen Willkommenskultur hätten genau dieselben „ewigen“ Werte. – Doch das ist falsch, da sie Emotionen gegen Vernunft ausspielen.

(x) Der Satz stamme aus dem Umfeld der Konservativen Revolution und trage die Versuchung zum Absoluten in sich. – Das ist ein bedenkenswerter Einwand. Absolute Wahrheiten sind schwer zu finden und können zu Intoleranz führen. Allerdings müssen sie das keineswegs zwangsläufig, und ganz ohne das Absolute kommt kein Mensch aus.

Zwischenfazit: Rödders Konservativismus ist gar kein solcher. Im Grunde handelt es sich vielmehr um einen Progressivismus mit angezogener Handbremse. Rödder hat sicher Recht, dass es vor 1933 diverse konservative Strömungen gab, die nicht anschlussfähig sind. Aber was Rödder hier an Theorie präsentiert, ist fast schon seltsam: Wer soll sich denn für ein solches Konzept von Konservativismus begeistern? Warum sollte man sich im Hier und Heute für etwas einsetzen, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass es morgen schon überholt sein wird? Das ergibt keinen Sinn. Rödder schreibt, ein solcher Konservativismus sei immer für eine Überraschung gut (S. 50) – O ja, und hier fühlt sich der Leser unangenehm an den bösen Springteufel namens Angela Merkel erinnert, der ihm in den letzten 16 Jahren in der Tat immer wieder höchst unwillkommene Überraschungen bereitete, indem eine konservative Grundposition der CDU nach der anderen abgeräumt wurde.

Was fehlt: Klassischer Konservativismus

Ein zentraler Fehler in Andreas Rödders Konservativismus scheint die mangelnde Tiefe in der Betrachtung der Geschichte zu sein. Wer die Geschichte erst 1945 beginnen lässt und alles davor abschneidet, der erkennt das große Gewicht des geschichtlich Gewordenen nicht und kann deshalb nur bei einem erschreckend oberflächlichen Konservativismus landen. Der Konservative weiß natürlich um die Tiefendimension der Geschichte, wie sich die menschliche und auch die deutsche Kultur über Jahrtausende und Jahrhunderte hinweg in Schichten entwickelte und eine Schicht auf der anderen aufbaute. Hier nur ein sehr grober Überblick zum Verständnis:

  • Animalische Schicht. Familie. Patriarchat.
  • Ackerbau und Stadtkultur.
  • Schrift, Schriftkultur.
  • Griechenland und Rom, namentlich Platon, Aristoteles, Cicero.
    (a) Rationalität als Methode. Weltbild. Menschenbild. Wissenschaft.
    (b) Geschichte. Rechtsstaat. Republik: Wissen um die Grenzen des Machbaren und Planbaren.
  • Mittelalter: Christentum. Adelsherrschaft.
  • Renaissance: Wiedergeburt der Antike. Klassischer Humanismus.
  • Preußen. Das heutige Deutschland.
  • Aufklärung: Westliche Demokratie. Menschenrechte. Nationalstaat. Marktwirtschaft. Wissenschaft.
  • Industrialisierung. Globalisierung. Digitalisierung.
  • Gleichberechtigung für Frauen, Homosexuelle u.a.

Diese Schichten repräsentieren klassisch gewordene Errungenschaften der Menschheit bzw. einzelner Nationalkulturen wie etwa der deutschen Kultur. Der Konservative weiß um die Schwierigkeiten, mit denen diese Errungenschaften erreicht wurden. Es handelt sich nicht wirklich um ewige, absolute Werte, denn irgendwann sind sie ja in der Zeit entstanden und manche mussten auch wieder aufgegeben werden. Aber im Hinblick auf den Menschen und sein Wohlergehen handelt es sich eben doch vielfach um bewährte, „klassisch“ gewordene Dinge, und insofern diese Errungenschaften tief im Menschenbild wurzeln, kann man deren Absolutheit durchaus vermuten. Dogmatisieren im Sinne einer Kritikimmunität sollte man sie jedoch nicht.

Der Konservative weiß um die Komplexität und die Verwobenheit der Dinge. Brüche sind gefährlich, Anschlussfähigkeit ist gefragt. Und es ist keinesfalls einfach, eine Schicht wieder „abzuräumen“, auch wenn dies manchmal notwendig ist. Abzuräumende Schichten sind z.B. das Patriarchat, die Adelsherrschaft oder das Christentum. Doch leicht ist das nicht. Wir ringen bis heute um eine endgültige Form der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Eine vernünftige Elitenbildung statt der Adelsherrschaft haben wir in Deutschland bis heute nicht. Und das Christentum war bis vor kurzem bestimmend für unser Welt- und Menschenbild und unsere Verbindung zur metaphysischen Ebene: Es kann nicht einfach ersatzlos wegfallen und wird uns daneben auch noch lange als kulturelle Prägung erhalten bleiben. Die Gefahr ist, dass das Christentum schneller wegfällt, als wir Ersatz dafür finden können – einen Ersatz, der offener und zurückhaltender sein sollte als die eine alte Einheitsreligion (vgl. Albert Schweitzer). Die plumpe Negation des Christentums ist jedenfalls keine zivilisatorische Errungenschaft.

Aus dem Geist eines Klassischen Konservativismus heraus lassen sich die Entwicklungen, die unvermeidbar kommen, dann in der Tat gestalten oder auch zurückweisen, denn man hat dann einen Kompass, um das zu tun. Es geht dann auch nicht mehr immer nur um das Verzögern von Entwicklungen, sondern manchmal auch um das Beschleunigen von Entwicklungen. Entwicklungen sind zudem keinesfalls immer „progressiv“ im Sinne von „links“, wie Rödder ohne es zu hinterfragen annimmt. Zur Zeit ist z.B. das Patriarchat in Deutschland eindeutig auf dem Vormarsch, und wenn die demographische und kulturelle Entwicklung in Deutschland nicht gesteuert wird, dann hat das Patriarchat eine Chance darauf, sich dauerhaft in Teilen der deutschen Bevölkerung zu etablieren und eine rechtliche Anerkennung durchzusetzen (Millet-System). Dagegen vorzugehen würde die Modernität von Konservativismus beweisen. Rödder hingegen würde die Entwicklung nur verzögern und dann akzeptieren.

Praxis-Teil

Was Andreas Rödder an konkreten Orientierungen zu den einzelnen Politikfeldern aufzählt, ist sehr viel vernünftiger und auch konservativer, als sein Theorie-Teil vermuten lässt. Zahlreiche Widersprüche zum Theorie-Teil zeigen das:

(x) Trotz der Ablehnung von Traditionen vor 1933 greift Rödder auf Wilhelm von Humboldt zurück (S. 68 ff.).

(x) Obwohl Rödder zu Preußen nichts weiter einfällt als die ausgeleierte Floskel „Macht- und Obrigkeitsstaat“ (S. 48) beruft sich Rödder auf Wilhelm von Humboldt (S. 68 ff.) und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern (S. 70).

(x) Obwohl der Röddersche Konservative keine festen Bindungen kennt und der Entwicklung immer nur hinterherläuft, spricht Rödder plötzlich von einer „Bindung“ des Konservativen, die ihn frei mache, und von einem Gestaltungsanspruch (S. 50).

In einigen Punkten bleibt Andreas Rödder sehr zurückhaltend und ohne „Biss“:

(x) In Sachen Klimawandel kennt Rödder nur radikale Klimawandelleugner oder Klimaskeptiker, die von der Ölindustrie bezahlt werden (S. 86). Dass es auch vernünftige und maßvolle Klimarealisten gibt, unterschlägt er. Insbesondere die Problematik der Verzerrung der real existierenden Wissenschaft durch die real existierende Politik bleibt undiskutiert, dabei ist das ein immer wiederkehrendes Thema in sehr vielen Politikbereichen.

(x) Beim Waldsterben behauptet Rödder, dass man nicht wissen könne, ob die Maßnahmen zur Lösung des Problems beitrugen (S. 87). Das ist falsch. Man weiß heute, dass es ein Waldsterben wie damals behauptet niemals gab. Das Waldsterben verschwand durch nüchterne Betrachtung, nicht durch Maßnahmen. Zu den Maßnahmen gehörte damals übrigens die Forcierung von Diesel-PKW durch die Politik, und die Wirtschaft lieferte, obwohl die Abgaswerte zu hoch waren. Heute wissen wir, dass die Software zur Messung der Dieselabgase gefälscht wurde – und niemand will es in Jahrzehnten bemerkt haben. Es ist leicht zu sehen, warum: Es durfte nicht bemerkt werden, weil es politisch gewollt war. Wahrhaft eine Blaupause für konservative Skepsis auch in unseren Tagen.

(x) In Sachen Leitkultur glaubt Rödder, ohne das Adjektiv „deutsch“ auskommen zu können. Er flüchtet sich stattdessen in das Adjektiv „westlich“ (S. 116) oder in die Beschwörung der „Mehrheitsgesellschaft“ (S. 119). Im Fazit schiebt er später das Wort „Heimat“ nach (S. 124). Doch damit redet er nur um den heißen Brei herum. Es geht auch um eine deutsche Leitkultur, und Konservative sollten diesen Anspruch im Meinungsstreit vertreten, denn das ist ihre Aufgabe, dazu sind sie da. Konservative, die sich um das Wort „deutsch“ herumdrücken, braucht kein Mensch.

(x) Rödder fordert eine politische Kultur des „Gehörtwerdens“ statt einer paternalistischen Bevormundung (S. 121, 124). Doch dieses „Gehörtwerden“ ist genau das: Eine paternalistische Bevormundung. Die Obrigkeit lässt sich dazu herab, die Bürger gnädig anzuhören, und entscheidet dann doch anders – das erleben wir alle Tage. Wir brauchen keine Kultur des „Gehörtwerdens“, sondern eine Kultur der echten politischen Vertretung und Einflussnahme! Die Bürger brauchen wieder echte Vertreter ihrer Meinungen in den Parlamenten und in den Talkshows, und die Bürger müssen wieder das Gefühl bekommen, dass sie mit ihren Meinungen auch Mehrheiten erringen und politische Vorhaben effektiv durchsetzen oder verhindern können.

Insbesondere zu Angela Merkel bleibt Andreas Rödder ohne „Biss“:

(x) Zwar wird eine kluge Haushaltspolitik der EZB und der EU-Staaten verlangt und sogar der Austritt eines Landes aus der Euro-Währungsunion für diskutierbar gehalten (S. 62), aber dass Angela Merkel das genaue Gegenteil verkörperte, bleibt ungesagt.

(x) Zwar ist von der moralischen Überhöhung der Migrationsfrage die Rede, aber die Willkommenskultur von 2015 von Angela Merkel scheint damit explizit nicht gemeint zu sein (S. 114).

Fehlende Themen:

(x) In einem einzigen Satz wird die Bereitschaft der Medien angemahnt, politische Auseinandersetzungen nicht zu skandalisieren, sondern Debatten auch austragen zu lassen. Dahinter verbirgt sich natürlich das Riesenproblem, dass die Medienlandschaft in Deutschland politisch nicht ausgewogen ist. Dazu hätte mehr gesagt werden müssen.

(x) Europa wird nicht grundsätzlich genug diskutiert. Es besteht die Gefahr, dass EU-Europa am Ende in derselben Situation endet, wie Deutschland als Mittelmacht in Europa: Durchaus stark, aber nicht stark genug, um den umgebenden Mächten paroli zu bieten. Unabdingbar ist die Westbindung an die angelsächsische Welt. Und Europa ist nur ein geographischer Begriff. Großbritannien ist nicht dabei. Russland ist nicht dabei. Rumänien und Bulgarien und der Balkan sind kaum auf dem westeuropäischen Niveau. Es geht um ein Bündnis der gefestigten Demokratien in Westeuropa unter der Ägide des angelsächsischen Hegemons. Die EU sollte sich auf ihre Binnenmarkt-Funktion zurückziehen, und das Politische besser der NATO u.a. Bündnissystemen überlassen, über deren Entwicklung man nachdenken sollte.

Kleinigkeiten am Rande:

(x) Die Interpretation von Platon und Aristoteles ist nicht akzeptabel (S. 46).

(x) Es entsteht der Eindruck, dass das Prinzip von Maß und Mitte gegen die Rationalität ausgespielt wird (S. 46). Das ist ganz falsch. Rationalität und Erfahrungswerte schließen sich nicht gegenseitig aus.

(x) Es wird gegen Zahlen und Statistiken argumentiert (S. 46). Das ist Unfug. Wir brauchen Zahlen und Statistiken, um uns in der Realität zu orientieren. Nicht zufällig lehnen gerade Linke Zahlen und Statistiken oft ab, weil ihnen die Realität nicht gefällt.

(x) Rödder verwendet das Wort „Humanisten“ nicht in seiner klassischen Bedeutung, sondern in der neumodischen Bedeutung zur Bezeichnung von Atheisten (S. 35). Das ist unakzeptabel. Humanisten sollten wir alle sein, ob Christen, Muslime, Atheisten u.a. Anti-Humanismus ist mit unserer westlichen Welt unvereinbar. Das hätte deutlich gemacht werden müssen.

(x) Rödder schreibt, dass es an Märkten auch zu Fehlallokationen kommen könne (S. 90). Das ist falsch. Märkte führen immer zur optimalen Allokation der Ressourcen. In Wahrheit sind es politisch gewollte Verzerrungen von Märkten, die dazu führen, dass Märkte nicht richtig funktionieren.

(x) Die Fußnoten sind nicht durchgängig durchnumeriert, sondern je Kapitel: Eine unnötige Erschwernis für den Leser.

FAZIT

Andreas Rödder präsentiert eine seltsam kastrierte Vorstellung von Konservativismus, und ist offenbar nicht völlig mit sich selbst im Reinen, wie manche Widersprüche offenbaren. Vielleicht wollte Rödder mit diesem Buch einen Weg aufzeigen, wie die CDU sich leise und verstohlen aus der Sackgasse retten kann, in die sie durch Angela Merkel geraten ist, ohne dass es einer merkt?

Eines muss klar sein: Ohne eine glasklare Verurteilung zahlreicher Politiken von Angela Merkel, mithin einer Verurteilung von Angela Merkel als einer anti-konservativen Politikerin, die der CDU und der Demokratie insgesamt großen Schaden zugefügt hat – wozu natürlich ein Schuldbekenntnis der CDU gehört, denn die hat es mit sich machen lassen – wird es einen neuen konservativen Aufbruch nicht geben können. Jedenfalls nicht mit der CDU. Der Traditionsbruch, der durch die Person von Angela Merkel markiert wird, ist nicht anschlussfähig.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 02. Dezember 2021)