Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten (1945/2016)

Sehr authentischer und berührender Bericht von Verfolgung und Flucht

Die polnische Jüdin Françoise Frenkel hatte in Paris studiert und dann 1921 in Berlin eine französische Buchhandlung eröffnet. In ihrem 1945 erschienenen und kaum beachteten Buch „Nichts um sein Haupt zu betten“ berichtet sie über ihre Verfolgung und Flucht in der Zeit des Nationalsozialismus: Wie alles begann, mit den Pogromen in Berlin. Wie sie nach Frankreich floh. Wie nach dem Einmarsch der Deutschen auch dort die Verfolgung begann. Und wie sie mithilfe guter Menschen sich verstecken und schließlich fliehen konnte. Weniger guten Menschen begegnete sie ebenfalls in ausreichendem Maße.

Dieses jetzt von Patrick Modiano wiederentdeckte Buch überzeugt durch die authentischen Erlebnisse der Autorin mehr als viele literarische Verarbeitungen des Themas. Die Darstellung ist erstaunlich nüchtern und sachlich. Teilweise wird die Situation mit Sarkasmus und Galgenhumor getragen. Es ist die Persönlichkeit der Autorin, die überzeugt.

Eine wahre Entdeckung, eine Top-Empfehlung.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon in etwas anderer Fassung am 11. Juli 2018)

Platon: Die Apologie des Sokrates (4. Jhdt. v. Chr.)

Der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation

Platons Apologie des Sokrates ist der zentrale Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Viele werden jetzt fragen: Ist das nicht zuviel gesagt? Ist nicht die Bibel der Grundlagentext der westlichen Zivilisation? Und wieso überhaupt die Apologie? Die kennt doch so gut wie niemand? Und wie kann ein so kurzer Text so wichtig sein?

Nun, die Bibel ist natürlich ebenfalls ein unverzichtbarer Grundlagentext der westlichen Zivilisation. Aber die Bibel gab es schon lange bevor die spezifisch westliche Zivilisation mit Renaissance und Aufklärung ins Leben trat. Deshalb kann die Bibel nicht Zentrum und Ursache sein, sondern nur Wegbereiterin. Demgegenüber war die Apologie des Sokrates das ganze Mittelalter über verloren gewesen. Erst mit der Renaissance wurde der Text wieder verfügbar, und zwar präzise mit der ersten lateinischen Übersetzung von Platons Gesamtwerk durch Marsilio Ficino in den Jahren 1484/85. Erst von diesem Zeitpunkt an konnte die Apologie des Sokrates ihre Wirkung neu entfalten.

Der Geist der Apologie

Aber was war das für eine Wirkung? Um was geht es in der Apologie? Die Apologie des Sokrates ist die Verteidigungsrede des Sokrates in jenem Prozess, an dessen Ende er wegen Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend zum Tode verurteilt wurde. Zu Rechtfertigung seiner „Missetaten“ erzählt Sokrates, wie er zur Philosophie kam und was es damit auf sich hat. Wir lernen dabei folgendes:

  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss sich zunächst einmal klar machen, wie wenig er weiß. Im streng philosophischen Sinne des Wortes „Wissen“ wissen wir Menschen so gut wie gar nichts. Viel zu viele Menschen jedoch bilden sich ein, dass sie etwas wüssten. Doch fast immer, wenn Sokrates damit anfängt, nachzufragen, stellt sich heraus: Die Leute wissen nicht, was sie zu wissen glauben, und ihre Meinungen sind haltlos.
  • Wer sich der Wahrheit nähern will, muss in einen Dialog verschiedener Meinungen eintreten. Genau das tut Sokrates immer wieder und wieder. Denn erst in dem Dialog verschiedener Meinungen lässt sich eine neue und bessere Meinung entwickeln, die näher und näher an die Wahrheit herankommt. An die Stelle von „Wissen“ im Vollsinn des Wortes treten Meinungen, die möglichst gut begründet sein sollten. Je nach dem Grad der Begründetheit haben diese Meinungen eine hohe oder niedrige Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und sind dann entweder Überzeugungen auf der Grundlage von guten Argumenten, oder doch nur „bloße“ Meinungen.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss seine Meinung zur Debatte stellen. Denn auch eine wohlbegründete Meinung ist kein sicheres Wissen. Immer ist es möglich, dass weitere Aspekte auftauchen, die noch nicht bedacht wurden. – Sokrates blieb nicht beim Nichtwissen stehen, sondern begann, im Dialog mit Freunden und Gegnern verschiedene Thesen zu entwickeln, die tragfähig waren. Um dieses Werk fortzusetzen gründete Platon später eine Philosophenschule vor den Toren Athens, im Hain des Akademos. Platons Schüler strickten an dem neuen Erkenntnisgebäude weiter, darunter auch Aristoteles. Daraus entstand die Wissenschaft.
  • Wer die Wahrheit erkennen will, muss respektlos vor Autoritäten sein. Wir sehen, wie Sokrates auch vor angesehenen Politikern nicht haltmacht und auch diese befragt, was sie denn eigentlich wissen. Und es stellte sich heraus: Von allen Menschen wissen die Politiker am wenigsten, während die Handwerker, die praktischen Menschen, sich immerhin auf ihr praktisches Handwerk verstehen. Aber auch die Religion blieb von den Fragen des Sokrates nicht verschont.

Das ist das Zentrum unserer westlichen Welt: Sokrates und Platon haben eine Revolution der Erkenntnisgewinnung eingeläutet und auf diese Weise unser Denken für immer verändert. Es ist der Siegeszug der Rationalität. Und mit ihm auch der Siegeszug der Liberalität, denn nur freie Bürger können sich erlauben, respektlose Fragen zu stellen und gefährlich ins Offene und Unbekannte hinein zu denken. Dieser Geist begann ab 1484/85 wieder zu wirken.

Die Apologie heute

Es ist wahr, dass die Apologie des Sokrates heute kaum noch jemandem bekannt ist. Die Reduktion der humanistischen Bildung quer durch alle Schulfächer bis hin zur Abschaffung des Latein- und Griechischunterrichtes hat ganze Arbeit geleistet. Damals hieß es, man könne doch auch Übersetzungen lesen. Das ist wahr. Aber Lehrpläne, die die Lektüre dieser Übersetzungen vorsahen, wurden nie erstellt.

Ich selbst habe den wunderlichen Sokrates durch meinen Deutsch- und Geschichtslehrer Bruno Epple kennengelernt, der als Mundartdichter unseres Bodensee-alemannischen Dialektes bekannt war. Es war beeindruckend, wie er zwischen den Schulbänken auf und ab tigerte und ein ums andere mal ausrief: „Die waren doch verrrrrückt! Diese alten Griechen: Verrrrückt! Was die für komische Fragen gestellt haben! Das muss man sich mal vorstellen: Was die sich herausgenommen haben! Lauter Verrrrückte! usw.“ – Das war im siebten Schuljahr, um 1985, auf einem baden-württembergischen Gymnasium. Man muss dazu wissen: Bruno Epple hielt sich selten an die Vorgaben der Lehrpläne und setzte eigene, eher traditionelle Schwerpunkte. Womöglich sind andere Lehrer zur gleichen Zeit ohne viel Aufhebens über Sokrates hinweggegangen. Im Schulbuch waren Sokrates anderthalb Seiten gewidmet, seiner Befragung der Mitbürger aber nur ein Absatz. Den Originaltext der Apologie des Sokrates haben wir an der Schule nie gelesen. Auch in höheren Klassenstufen nicht. Und das, obwohl sich dieser Text aufgrund seiner Kürze als Schullektüre hervorragend eignen würde.

Heute kennt in der Tat kaum noch jemand die Apologie des Sokrates. Und das könnte ein wichtiger Teil der Probleme unserer Zeit sein. Denn heute geschehen schier unglaubliche Dinge, die niemand akzeptieren kann, der einmal vom Geist der Apologie ergriffen wurde:

  • Wir haben öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die nicht nur behaupten, kompetent zu sein (das wäre noch in Ordnung, wenn’s denn nur wahr wäre), sondern die doch tatsächlich auch noch behaupten, objektiv zu sein! Natürlich sollte jeder danach streben, so objektiv wie möglich zu sein, aber wir alle nähern uns der Wahrheit von verschiedenen Seiten her an. Es ist grundsätzlich nicht möglich, dass jemand auftritt und legitim sagen kann, er wäre der Verkünder objektiven Wissens. Das konnte einst die Kirche im Mittelalter tun. Aber in einer modernen Gesellschaft sollte das nicht mehr möglich sein.
  • Ständig werden wir dazu aufgefordert, irgendwelchen „Experten“ zu glauben. „Follow the Science“ ist ein beliebter Slogan. Aber es gibt doch gar nicht „den Experten“, der uns objektives Wissen verkünden könnte, denn verschiedene Experten vertreten verschiedene Meinungen. Und auch „die Wissenschaft“ gibt es so nicht, denn die Wissenschaft lebt davon, dass sich verschiedene Meinungen im freien Dialog miteinander befinden.
  • Sogenannte „Faktenfinder“ tragen „Fakten“ zu komplexen Fragen zusammen, und jubeln uns ihre Urteile als unumstößliche „Fakten“ unter. Nicht selten tragen solche Faktenfinder eine durchaus hilfreiche Sammlung von Informationen zusammen. Aber würde man sich sein Urteil nicht lieber selbst bilden?
  • In den sozialen Netzwerken des Internet werden aus den „Faktenfindern“ die berüchtigten „Faktenchecker“, die ihre Urteile als Verurteilungen auch gleich in die Tat umsetzen: Im Auftrag der sozialen Netzwerke bzw. der Regierungen unterdrücken sie unliebsame Meinungen, auch wenn diese gar nicht strafbar sind. Sie tun diese durch die Markierung von Beiträgen, durch die Drosselung der Reichweite, durch Shadow-Banning, durch die vollständige Sperrung einzelner Beiträge, durch Demonetarisierung oder durch die Sperrung von ganzen Kanälen und Accounts. Aber woher nehmen diese „Faktenchecker“ die übermenschliche Weisheit, zu wissen, was „wahr“ und was „falsch“ ist?
  • Carolin Ehmcke wurde 2016 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im Jahr 2024 sprach sie sich auf der Konferenz „re:publica“ allen Ernstes und unter frenetischem Beifall des „progressiven“ Publikums gegen Pro- und Contra-Formate in den Medien aus. Ehmcke glaubt, dass die Experten in vielen Fragen schon wissen würden, was die „richtige“ Wahrheit ist. Deshalb würde ein Pro- und Contra-Format die Menschen nur verwirren, denn dort würde die „richtige“ Wahrheit einer „falschen“ Wahrheit gleichberechtigt gegenübergestellt. Das ist schön gedacht. Aber weiß Carolin Ehmcke wirklich, welche Experten die „richtige“ Wahrheit besitzen? Eine dermaßen „richtige“ Wahrheit, dass man keine Fragen mehr stellen darf? Und wie kann sie sich sicher sein, dass nicht doch eines Tages eine Frage auftaucht, an die keiner gedacht hatte? Sollte die „richtige“ Wahrheit nicht triumphal überzeugen, wenn sie einer „falschen“ Wahrheit tatsächlich völlig gleichberechtigt gegenübergestellt wird? Und bezieht die „richtige“ Meinung nicht gerade daraus ihre Legitimität als „richtige“ Meinung, dass sie gegen andere Meinungen bestehen kann? Wie steht es denn um die Legitimität einer „richtigen“ Meinung, wenn sie der Konfrontation mit anderen Meinungen systematisch aus dem Weg geht?
  • Unsere Universitäten folgten einst dem Ideal des preußischen Reformers Wilhelm von Humboldt, dass Forschung und Lehre so miteinander verwoben sein sollten, dass die Studenten das Fragen und Hinterfragen lernen. Doch mit den Bologna-Reformen ist davon nicht viel übrig geblieben. Ob Preußen oder die humanistische Bildung: Mit solchen „ewiggestrigen“ Dingen will man heute nichts mehr zu tun haben, denn man will „progressiv“ sein. Aber ist es denn wirklich progressiv?
  • Die einflussreiche Online-Enzyklopädie Wikipedia arbeitet nach dem Prinzip des „neutralen Standpunktes“. Gemeint ist in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Objektivität, wie Wikipedia immer noch festlegt („möglichst objektiv“). Die Darstellung verschiedener Meinungen soll nach Möglichkeit vermieden werden. Auch wenn die heutige Version des Wikipedia-Artikels „Neutraler Standpunkt“ viel von der Darstellung verschiedener Meinungen spricht, ist das früher sehr viel schärfer formulierte Prinzip eines möglichst einheitlichen, objektiven Standpunktes immer noch das Ziel. Objektivität ist für Menschen aber nicht zu erreichen. In der Praxis führt das dazu, dass Wikipedia-Artikel vom Standpunkt eines allwissenden, autoritären, übermenschlichen Erzählers verfasst werden, der ganz und gar nicht neutral ist, sondern der genau eine einzige Meinung als die lexikographisch geoffenbarte Wahrheit darlegt, während alle anderen Meinungen folgerichtig entweder als Unsinn herabgewürdigt oder als unwürdig ausgeblendet werden. Diese Praxis entspricht zwar lexikographischer Tradition, aber sollte ein modernes Lexikon nicht besser den Standpunkt eines Beschreibers der Gesamtwirklichkeit einnehmen? Dieser würde es sich zur Aufgabe machen, überhaupt keine Meinung zu vertreten, also wirklich neutral zu sein, sondern alle existierenden Standpunkte wertfrei darzustellen. Eine legitime Unterscheidung verschiedener Standpunkte wäre der Grad ihrer Unterstützung in Wissenschaft und Öffentlichkeit: Erst stellt man Unstrittiges dar, dann die Mehrheitsmeinung, und zuletzt – etwas kleiner, aber wertfrei – Minderheitsmeinungen. Wer seinen Mitmenschen „Wissen“ vermitteln will, dabei aber immer nur eine einzige Meinung mitteilt, statt verschiedener Meinungen und ihrer Begründungen, begeht einen grundsätzlichen Fehler. Denn die Legitimität einer „richtigen“ Meinung beruht zentral darauf, dass sie die Konfrontation mit anderen Meinungen überlebt. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder und wieder.

Wer einmal mit Sokrates durch Athen gegangen ist und gesehen hat, wie Sokrates Handwerker, Händler und Politiker in Dialoge verwickelte, um herauszufinden, was sie wirklich wissen und was wirklich die Wahrheit ist, sofern sich dies überhaupt herausfinden lässt, der erkennt den Unsinn unserer Tage mit einem Blick. Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir die Texte, die einst Renaissance und Aufklärung entfachten, nicht mehr lesen, dann versteht es sich von selbst, dass uns die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung langsam wieder abhanden kommen. Wenn der Westen sich wieder auf sich selbst besinnen will, dann muss er zurück zu den Quellen: Ad fontes!

Anderes

Die Apologie hat noch mehr zu bieten: Sie zeigt Sokrates als einen Weisen, der nicht nur in Worten philosophiert, sondern seiner Philosophie auch mit großer Konsequenz Taten folgen lässt. Sokrates gibt seinen Anklägern nicht nach und geht auch keine faulen Kompromisse ein. Das Todesurteil am Endes des Prozesses nimmt er gelassen auf sich und nutzt auch diese Gelegenheit noch einmal, um seine Philosophie zu bekräftigen: Andersdenkende aus dem Weg zu räumen, ist weder schön, noch wird es Erfolg haben.

Die Rede ist außerdem voller Ironie und deshalb sehr vergnüglich zu lesen. Ein weiteres Thema ist die Schwierigkeit, Menschen zum Umdenken zu bewegen, nachdem sie über lange Zeit mit einer bestimmten Meinung indoktriniert wurden. Das Verhältnis von Bürger und Staat wird beleuchtet. Nicht zuletzt handelt es sich um eine Rede vor Gericht, weshalb sich auch manche Weisheit und Einsicht rund um die Juristerei finden lässt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Andreas Eschbach: Freiheitsgeld (2022)

Roman über die Dystopie einer grün-linken Degrowth-, Vollversorgungs- und Kontroll-Zukunft

Der Roman „Freiheitsgeld“ von Andreas Eschbach beginnt als Krimi, steigert sich dann zum Polit-Thriller und endet als wahrgewordene Verschwörungstheorie. Doch der Reihe nach.

Die Handlung spielt im Jahr 2064 in einem Deutschland, das ganz nach grünen und linken Vorstellungen umgestaltet wurde: Degrowth, bedingungsloses Grundeinkommen und Corona-artiger Kontroll-Staat – natürlich alles zum Wohle der Bürger – sind die Stichworte. Die Menschen leben jetzt alle in Mega-Städten. Freie Natur und Wald kennt man nur noch vom Hörensagen. Um die Städte herum wurden riesige Naturschutzzonen angelegt, die kein Mensch mehr betreten darf. Alle ehemaligen Ortschaften in den Naturschutzzonen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Statt dessen wurden riesige Wälder gepflanzt, um CO2 zu binden. Das Klima ist aber immer noch recht heiß.

Die Menschen des Jahres 2064 leben in kleinen Wohnungen und besitzen keine eigenen Autos mehr. Der Verkehr wird über zahlreiche automatisch und kostenlos fahrende Kleinbusse abgewickelt. Jeder besitzt ein Smartphone, das zugleich sein Geldbeutel ist, denn Bargeld gibt es nicht mehr. Die Menschen werden überall durch Kameras und Transponder überwacht. Der Bürger ist in allen seinen Aktionen und Bewegungen vollkommen durchschaubar und er kann nur über zugelassene Datensysteme Verkehrsmittel benutzen und Waren bezahlen. Upload-Filter kontrollieren das Internet. Die Abhängigkeit vom System ist vollkommen. Aber alle vertrauen dem System.

Jeder Bürger bekommt das sogenannte „Freiheitsgeld“. Es ist ein Basisbetrag, von dem man sein Leben bequem bestreiten kann, ohne große Sprünge zu machen. Man kann sich Geld dazu verdienen, muss aber nicht. Viele Gestalten in diesem Roman liegen deshalb nur noch in der Hängematte des Freiheitsgeldes. Die Gesundheitsversorgung ist ebenfalls kostenlos, aber völlig automatisiert. Es gibt personalisierte Medikamente. Außerdem sind Drogen freigegeben.

Was hingegen streng verboten ist, ist Schwarzarbeit und das Bezahlen in anderen Währungen. Damit wird verhindert, dass das System des Freiheitsgeldes ausgenutzt wird. Eine kleine Elite von Reichen und Prominenten wohnt in sogenannten „Oasen“, wo alles luxuriös eingerichtet ist und keine Kameras installiert sind. Auch die Polizei darf dort nicht ermitteln.

Andreas Eschbach ist es gelungen, diese seltsame Welt mit zahlreichen liebevoll ausgedachten Details zu beschreiben, die einen immer wieder zum Schmunzeln bringen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil uns manches nur allzu bekannt vorkommt.

– – – – Achtung: Spoiler! – – – –

Im Zentrum des Romans steht Kommissar Ahmad Müller. Sein heiles Weltbild bekommt Risse, als der Altpräsident Havelock und der ehemalige Journalist Leventheim zur selben Zeit ermordet werden: Havelock hatte einst das Freiheitsgeld eingeführt, Leventheim hatte ihn dafür heftig kritisiert. Im Laufe der Recherchen erkennt Ahmad Müller gravierende Nachteile des Freiheitsgeldes, die Havelock und Leventheim der Öffentlichkeit bekannt machen wollten und deshalb sterben mussten:

  • Es ist nicht nur so, dass sich ein allzu großer Teil der Bürger in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt.
  • Es ist auch so, dass die Bürger, die sich Geld dazu verdienen, horrende Steuern auf ihren Zuverdienst bezahlen müssen, um das Freiheitsgeld der anderen zu finanzieren. Das demotiviert zusätzlich, oder führt zu massiver Schwarzarbeit.
  • Durch die Automatisierung mit Robotern und KIs gibt es immer weniger Arbeitsplätze. Nicht alle, die arbeiten wollen, können dies auch. Und da die Arbeitswilligen um diese wenigen Arbeitsplätze konkurrieren, sinken die Löhne.
  • Die eigentlichen Profiteure sind die Besitzer der Roboter und KIs, die im Jahr 2064 den Löwenanteil der zu erledigenden Arbeit ausführen. Die Bezieher des Freiheitsgeldes werden praktisch mit einem Almosen abgespeist und haben keinen Anteil am Produktivvermögen.

Doch alle diese Nachteile reichen nicht aus, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. Alle haben sich an die „sichere“ Welt des Freiheitsgeldes und der Überwachung zu ihrer eigenen „Sicherheit“ gewöhnt und können es sich jetzt nicht mehr anders vorstellen.

Es ist aber alles noch schlimmer.

Ahmad Müller entdeckt, dass es hinter den Reichen eine noch kleinere Gruppe von Superreichen gibt. Diese wohnen nicht in den „Oasen“, sondern in gigantischen Residenzen in den Naturschutzzonen. Und sie haben große Pläne: Die Menschheit soll von 10 Milliarden auf 500 Millionen Menschen geschrumpft werden, denn in einer vollautomatisierten Welt braucht man einfach nicht mehr so viele Menschen, und es schont die Umwelt. Das geschieht mithilfe der personalisierten Medikamente, in die insgeheim Empfängnis-verhütende Mittel gepanscht werden. Die Auswahl wird nach dem Verhalten getroffen: Wer sich in die Hängematte des Freiheitsgeldes legt, darf sich nicht fortpflanzen. Den Leuten erzählt man das Märchen, die Fruchtbarkeit wäre deshalb stark reduziert, weil man in der alten Zeit so viele Hormone in die Umwelt gelangen ließ. Natürlich haben die Superreichen alles direkt oder indirekt in der Hand: Die Medien, die Politik, das Internet, und sämtliche Daten über die Bewegung von Personen oder Geld.

Hinzu kommt, dass die Superreichen beschlossen haben, dass die Welt modern genug ist: Deshalb gibt es schon seit Jahrzehnten keine neuen Erfindungen mehr. Neue Erfindungen bergen nämlich immer Risiken in sich, und Risiken will man auf jeden Fall vermeiden. Schließlich zapfen die Superreichen einigen besonders gesunden Normalbürgern – immerhin gegen Geld – einen speziellen Stoff aus dem Blut ab, mithilfe dessen sie praktisch unsterblich werden, während die Spender unwissentlich mit einem Verlust an Lebenszeit bezahlen. Gegenüber der Normalbevölkerung wird das hohe Alter der Superreichen verborgen gehalten.

Am Ende des Romans dringt Ahmad Müller in die Residenz einer Superreichen in der nahegelegenen Naturschutzzone ein. Es kommt zum Showdown zwischen Ahmad Müller und der Superreichen: Wird Ahmad Müller die Welt retten? Oder sitzen die Superreichen am längeren Hebel?

Fazit

Andreas Eschbach ist es gelungen, dem Leser eine grün-linke Dystopie lebendig vor Augen zu führen und hat dabei – nicht ohne Augenzwinkern – auch manche allzu steile Verschwörungstheorie mit verarbeitet. Die Lektüre dieses Romans stellt eine gute Impfung gegen die Gutgläubigkeit grün-linker Gutmenschen dar: Was manche naiv als naheliegende und innovative Lösungen für unsere Probleme ansehen, läuft in Wahrheit auf ein einziges Horrorszenario hinaus.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Robert Harris: Konklave (2016)

Ein wirklich ordentlich gemachter Vatikan-Thriller

Der Papst ist überraschend gestorben. Das Konklave wird vorbereitet und beginnt. Die Kardinäle sind unter sich. Ein Favorit nach dem anderen erweist sich als unwürdig. Bis am Ende eine überraschende Wahl erfolgt. Der Leser verfolgt das Geschehen durch die Augen von Kardinal Lomelli mit, dem Dekan des Kardinalkollegiums.

Es ist keine hochliterarische Offenbarung, aber es ist ein wirklich ordentlich gemachter, runder Vatikan-Thriller.

PS 23.09.2024

Der Roman bearbeitet u.a. das LGBT-Thema, und da er zu einer Zeit geschrieben wurde, als dieses Thema noch nicht zum Hype geworden war, wird dieses Thema auf eine glaubwürdige Weise bearbeitet, die man sich gefallen lassen kann. Ob der Film von 2024 diesen Anspruch ebenfalls einlösen kann, wird abzuwarten sein.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. Juli 2018)

Christopher de Bellaigue: The Islamic Enlightenment – The Modern Struggle Between Faith and Reason (2017)

Modernisierungsgeschichte der islamischen Welt – Wichtig zum Verständnis der Verhältnisse

Christopher de Bellaigue hat mit „The Islamic Enlightenment“ (deutscher Titel: „Die Islamische Aufklärung“) einen äußerst wertvollen Beitrag zum Verständnis der islamischen Welt geliefert. Im Westen denkt man über die islamische Welt oft, dass sich dort in 1400 Jahren nichts verändert hätte. Und auch nichts verändern könne. Weil dass der Islam nicht zulasse, der seinerseits seit 1400 Jahren unverändert sei. Doch das alles ist falsch. Dieses Buch zeigt die dramatische Modernisierungsgeschichte des Nahen Ostens an den Beispielen Ägypten, Türkei und Iran.

Diese Modernisierungsgeschichte beginnt im Jahr 1798 mit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten und dessen Sieg über die Mameluken in der Schlacht bei den Pyramiden. In diesem Moment wurde den Menschen in der islamischen Welt schlaglichtartig klar, dass sie den Europäern hoffnungslos unterlegen sind und dass sie Europa in der kulturellen Entwicklung um Jahrhunderte hinterher hinken. Symbolisch steht dafür die Druckerpresse, die um 1450 in Europa erfunden wurde und zu einer fortwährenden geistigen Revolution geführt hatte – in der islamischen Welt war die Druckerpresse aufgrund einer religiösen Fatwa bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten.

Der Beginn der Modernisierung

Die treibende Kraft hinter der Modernisierung war am Anfang die Notwendigkeit, sich gegen moderne europäische Armeen verteidigen zu können. Denn so wie Ägypten gegen Napoleon, so hatten auch das Osmanische Reich und der Iran in dieser Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen Russland einzustecken.

Überall begann die Modernisierung mit der rigorosen Beseitigung konservativer Kräfte. In Ägypten war die bis dahin herrschende Schicht der Mameluken bereits durch Napoleons Sieg in der Schlacht bei den Pyramiden buchstäblich vernichtet worden. Der neue Herrscher Ägyptens, Muhammad Ali Pascha (regierte 1805-1848), führte zudem eine großflächige Enteigung von Land durch, wodurch er die Machtbasis des islamischen Klerus beseitigte. Von Klerikern angeführte Rebellionen wurden niedergeschlagen. (S. 23) – Im Osmanischen Reich blockierten die Janitscharen jede Reform, woraufhin Sultan Mahmud II. (regierte 1808-1839) im Jahr 1826 die Janitscharen zu tausenden massakrieren ließ und auf diese Weise die große Tradition der Janitscharen zu einem Ende brachte. (S. 59)

In allen drei Regionen – Ägypten, Türkei und Iran – spielte die Aussendung von jungen Gelehrten und Studenten in westliche Länder eine große Rolle im Modernisierungsprozess. Von Bedeutung waren insbesondere deren Reiseberichte aus Europa, die in tausend Einzelheiten die Unterschiede zwischen West und Ost beschrieben, und die von zahllosen Lesern verschlungen wurden und so moderne Gedanken weit verbreiteten. In Ägypten war dies insbesondere Rifaa al-Tahtawi, der fünf Jahre in Paris verbrachte. (S. 34-36) Aus dem Iran kam Mirza Saleh Schirazi nach England. (S. 118-125) Die Reisenden lernten aber auch Medizin und Technik, die sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatländern zu implementieren begannen, unterstützt von den Kontakten zu westlichen Gelehrten, die sie geknüpft hatten.

Eindrücklich werden die Verhältnisse beschrieben, bei denen die Reformen beginnen mussten. So verursachten die hygienischen Verhältnisse regelmäßige Seuchen. Der religiöse Fatalismus, der das Treffen von Vorsorge verhinderte, muss weit verbreitet gewesen sein. (S. 65 ff.) Frauen waren verschleiert und vegetierten ohne jede Ausbildung in ihren Harems dahin. (S. 175 ff.) Entsprechend war Homosexualität unter Männern extrem weit verbreitet, offenbar als eine Folge der Schwierigkeit, an Frauen heranzukommen. (S. 195 ff.) Auch die Sklaverei existierte noch, allerdings in teilweise milderer Form, als manche meinen, insofern der Islam die Freilassung von Sklaven motiviert. (S. 188 ff.)

Einzelne Modernisierungen

In rasendem Tempo wurde alles eingeführt, was man für nützlich hielt und sich von Europa abschaute, darunter Militär- und Ingenieurschulen, die Druckerpresse, Dampfschiffe, Industrie, Hygienemaßnahmen, Wasserbauten, nicht zuletzt der Bau des Suez-Kanals 1859-69. Sultan Mahmud II. brachte auch preußische Militärberater nach Istanbul, u.a. Helmut von Moltke. (S. 61) Ibrahim Schinasi publizierte 1860 die erste unabhängige Zeitung im Osmanischen Reich und trug durch seine Artikel maßgeblich zur Formung der modernen türkischen Sprache bei. (S. 77) In Ägypten startete Tahtawi eine große Übersetzungsbewegung, die westliches Schrifttum verfügbar machte. Zugleich erwachte das Bewusstsein für die ägyptischen Altertümer, deren Abtransport ins Ausland von nun an erschwert wurde. Man begann, ein eigenes ägyptisches Museum einzurichten. (S. 43)

Um 1830 wurde das Millet-System abgeschafft, das jeder Religion ihr eigenes Recht zugesprochen hatte, so dass alle Bürger des Osmanischen Reiches zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden. (S. 69 ff.) Im Jahr 1843 wurde auch der Wechsel der Religion offiziell erlaubt. (S. 72) Die praktische Durchsetzung dieses Erlasses steht auf einem anderen Blatt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, spät, aber noch vor den USA. (S. 188 ff.) In Tunis musste sich der Konsul der USA über die Vorzüge der Abschaffung der Sklaverei belehren lassen. (S. 191 f.) Schließlich wurden Verfassungen erlassen, die mal mehr, mal weniger demokratisch waren. (S. 103) Teilweise hatte sich das Volk diese Freiheiten auch selbst erkämpft, so z.B. im Urabi-Aufstand in Ägypten um 1880 oder in der „Konstitutionellen Revolution“ des Iran von 1905/06, wo die Geistlichen – ja! – das Volk unterstützten und ein Geist der Freiheit im Volk zu herrschen begann, der beeindruckend ist. (S. 210-213, 237 ff.)

Es bildeten sich politische Parteien, in der Türkei z.B. 1907 das Komitee für Einheit und Fortschritt, in dem die fortschrittlichen „Jungtürken“ den Ton angaben, oder 1908/09 die „Gesellschaft Mohammeds“ der konservativen Gegenkräfte (S. 261-268) Mit Ziya Gökalp (1876-1924) entstand der türkische Nationalismus im Gegensatz zum imperialen Gedanken des Osmanischen Reiches, das viele Völker unter einer autoritären Herrschaft umfasst hatte.

In Ägypten wurden Frauen zu Geburtshelferinnen ausgebildet. 1901 wurden die ersten Mädchen zur höheren Bildung nach Europa geschickt. Frauenzeitschriften verbreiteten sich. Um 1900 beginnt die Debatte um die Verschleierung der Frau, die damals noch allgemein verbreitet war. (S. 183 ff.) 1899 erschien das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ des Ägypters Qasim Amin. (S. 185 f.) Europäische Moden und Umgangsformen hielten Einzug. Der Umgang zwischen den Geschlechtern veränderte sich. Es wurden auch neue Worte eingeführt, um die neuen Verhältnisse abzubilden, z.B. „familiya“. (S. 169 f.) Und es entstand eine Romankultur, die sich an der europäischen Romankultur orientierte. In diesen Romanen wurden die neuen Verhältnisse gespiegelt und gesellschaftliche Konflikte verhandelt. Bekannte Autoren waren der Libanese Ahmad Faris al-Shidyaq oder Ahmet Midhat Efendi. (S. 167-172)

Optimismus zur Reform des Islam

Die Modernisierung wurde teilweise mit despotischer Gewalt durchgesetzt, auch gegen Religionsgelehrte (S. 23). Teilweise wurden die islamischen Religionsgelehrten aber auch mit Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht, ihre Zustimmung zu geben. Es gab aber auch islamische Gelehrte, die als Modernisierer wirkten, so z.B. der spätere Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo Hassan al-Attar, oder im Osmanischen Reich Sanizadeh Ataulla: Sie führten das Sezieren von Leichen für medizinische Zwecke ein, indem sie die Studenten schrittweise daran gewöhnten. (S. 30 f., 62-64) Zuguterletzt geschah es auch häufig, dass die islamischen Religionsgelehrten ihre Zustimmung zu einer Maßnahme im Nachhinein gaben, nachdem für alle zu sehen war, welchen Nutzen die Maßnahme hatte. (S. 67)

Generell herrschte bei führenden Intellektuellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein großer Optimismus vor, dass Moderne und Islam miteinander vereinbar wären. So z.B. bei Hassan al-Attar (1766-1835), der auch Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo wurde. (S. 26 ff.) – Oder bei Rifaa al-Tahtawi (1801-1873), der an vielen Stellen als Reformer wirkte, vor allem als Übersetzer: Er meinte, dass sich der Islam, anders als das Christentum, leicht mit der Moderne vereinbaren lassen würde, weil der Islam so rational sei. Tahtawi übersetzte u.a. auch das Buch „Principes du droit naturel“ des Schweizer Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), demzufolge Gott hinter den natürlichen Gesetzen steht. (S. 38-46) Tahtawi plante auch die Ausbildung von Mädchen, kam aber zu seiner Zeit nicht mehr dazu. – Optimismus sehen wir auch bei Namik Kemal (1840-1888), einem Schriftsteller, der nach Paris und London reiste. Kemal sah keinen Grund, warum Moderne und Scharia nicht vereinbar sein sollten. Die Scharia bestand für ihn als gebildeten Menschen natürlich nicht aus einer Sammlung überlieferter Detailregeln, sondern repräsentierte das abstrakte Gute.

Fortschritt trotz Rückschlägen

Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab es ein ständiges hü und hott der Modernisierung: Mal ging es voran, dann stockte der Prozess wieder. Manchmal ging es auch rückwärts. Aber aufs Ganze gesehen ging es doch stetig voran, und alle Rückschläge waren nur temporär. Es kam dabei auf den jeweiligen Herrscher an, ob er sich für Modernisierung einsetzte oder lieber auf die Jagd ging. Und es kam auf die außenpolitische Konstellation der Kolonialmächte an: Mal wurde die Modernisierung als nützlich empfunden, mal wurde sie unterbunden. Und mal paktierte der Herrscher mit den Konservativen, um ein Ziel zu erreichen, mal konnte er ohne sie regieren.

Christopher de Bellaigue diagnostiziert: „Islam did not show any more opposition to modernisation than Judaeo-Christian culture had done to its earlier iteration in the West.“ (S. xxv) Das kann man auch gut an der Reaktion des ägyptischen Religionsgelehrten Abd ar-Rahman al-Dschabarti (ca. 1753-1825) ablesen, von dem uns ein Bericht über die Franzosen in Ägypten erhalten ist. Seine Argumente gegen die Modernisierung gleichen aufs Haar den Argumenten, die katholische Priester gegen die Veränderungen der französischen Revolution vorbrachten: Wie könne es sein, so fragt er z.B., dass die Menschen gleich sind, wo Gott doch bestimmte Menschen zum Herrschen ausersehen hat? (S. 5-13) Hundert Jahre nach al-Dschabarti stellte niemand mehr diese Frage, auch Islamisten nicht.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte hie und da übergriffig wurden – z.B. durch eine nicht unabsichtlich herbeigeführte Überschuldung der islamischen Staaten mit nachfolgender Abhängigkeit, oder indem die Briten Ägypten nach dem Urabi-Aufstand besetzten, um sich den Suez-Kanal zu sichern – blieb der Westen vorläufig dennoch das unangefochtene Vorbild für Modernisierung. (S. 159 f.) 1869 hatte der ägyptische Khedive Ismail Pascha den Suez-Kanals mit einer großen Show feierlich eröffnet, für die Giuseppe Verdi (angeblich) die Oper Aida komponierte, und 1878 erklärte er, dass Ägypten nicht länger in Afrika liege, sondern zu Europa gehöre. (S. 51) Tatsächlich hatte Ägypten in dem Wettlauf um Modernisierung lange Zeit die Nase vorn, noch vor der Türkei.

Dennoch begann eine langsame Umorientierung gegen Europa als Vorbild. So rückte z.B. Japan immer mehr als Vorbild in den Blick als Beispiel einer Nation, die sich modernisierte, ohne ihre Kultur aufzugeben. Als die Kolonialmacht Russland 1905 ihre Flotte gegen Japan verlor, erregte das große Freude im Nahen Osten. (S. 231 f.)

Der große Anlauf zur Reform des Islam

Die Modernisierungen des 19. Jahrhunderts waren zuerst weltlich motiviert. Dennoch betrafen sie in vielerlei Hinsicht auch den Islam. Doch zunächst blieb alles Denken in bezug auf den Islam nur Stückwerk, wenn auch viel Optimismus vorhanden war. Wie immer in der Geschichte, folgt die Modernisierung der Religion als der letzte Schritt am Ende von gesellschaftlichen Reformen. So auch hier. Der große Anlauf zur Reform des Islam selbst lässt sich an den folgenden Namen festmachen, mit denen die „kritische Masse“ für einen Durchbruch der Reformen erreicht war.

Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897): Dschamal ad-Din wuchs im Iran auf, wo er in den Seminaren des Schia-Islams auch Philosophie lernte. Dann ging er nach Ägypten und lehrte an der Al-Azhar Universität.

Dschamal ad-Din entwickelte praktisch alle Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reform des Islam. Er erneuerte das Wissen um den islamischen Rationalismus (Mutazila), bezog auch die menschliche Geschichte und ihre Errungenschaften vor Mohammed in sein Denken ein, und machte die Sunniten mit der neuplatonischen Philosophie bekannt. Dschamal ad-Din lehrte, dass Glück aus Vernunft und Einsicht rührt, und forderte Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit. Seine Kritiker beklagten: „(his) interest in philosophy, his advocacy of certain Mutazilite principles, his prohibition of traditional interpretation, his call for the study of modern sciences, his preference for the science of the Franks.“

Dschamal ad-Din förderte ein pan-islamisches Bewusstsein der Muslime, für das er unermüdlich durch die islamische Welt reiste und eine vielgelesene Zeitschrift publizierte, wandte sich gegen den Einfluss der europäischen Kolonialmächte, und soll auch an einem Attentat auf den Schah von Persien beteiligt gewesen sein. Dschamal ad-Din gilt damit als der Vater des politischen Islams. Allerdings wollte Dschamal ad-Din einen modernisierten Islam als politischen Islam, keinen rückwärtsgewandten Islam. (S. 203-208, 217-219, 228-230)

Muhammad Abduh (1849-1905): Abduh war ein Anhänger von Dschamal ad-Din al-Afghani und gilt als der Gipfelpunkt der damaligen Reformbewegung. Er lehrte in Ägypten und wurde 1899 zum Großmufti von Ägypten ernannt (nicht zu verwechseln mit dem Großimam der Al-Azhar Universität). Als Großmufti setzte er Reformen in der Al-Azhar Universität durch. Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel „Die Theologie der Einheit“ und wurde in der ganzen islamischen Welt rezipiert.

Abduh sah die Rationalität bestens in der islamischen Religion begründet und bedauerte, dass so viel Obskurantismus im Namen des Islams entstanden war. Er wandte sich gegen das Prinzip der bloßen Nachahmung (Taqlid) und für das Prinzip der individuellen Entscheidung mithilfe der Vernunft auf Grundlage der islamischen Quellen (Idschtihad). Wie die Mutaziliten hielt Abduh den Koran für geschaffen und damit offen für die Interpretation nach den Umständen. Der Koran als geschaffenes Werk könnte sogar Fehler enthalten, die von Menschen in ihn hineingetragen wurden. Abduh sprach sich für die Evolutionslehre aus, gegen die Mehrehe, und gegen eine Vorsehungslehre, die die Eigeninitiative lähmt. Auch Zinsen sah er nicht als Problem, weil das Gemeinwohl oberste Richtschnur sei.

Die ersten Muslime, die Salafs (Vorfahren), waren für Abduh maßgebend – aber nicht im Sinne einer blinden Nachahmung, wie heutige (Pseudo-)Salafisten das verstehen, sondern im gegenteiligen Sinne: Denn aus dem Koranvers, dass die Juden den Islam deshalb ablehnten, weil sie an der Lehre ihrer Vorväter festhielten, leitete Abduh folgerichtig ab, dass das blinde Festhalten an der Lehre der Vorväter nicht richtig sein kann und auch nicht dem Verhalten der Salafs entsprach, die von der Lehre ihrer Vorväter abwichen und sich für den Islam öffneten.

Abduh war umfassend gebildet. Er las Goethe und Schiller auf Französisch, außerdem den damals vorherrschenden Philosophen Herbert Spencer (1820-1903), der die Evolutionslehre erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete. Er zitierte aber auch aus der Korrespondenz von Kaiser Friedrich II. mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Sabin (ca. 1217-1271). Abduh hatte eine freundliche Stimme und Erscheinung, die ihm ein Charisma verliehen, mit dem er seine Zuhörer faszinierte. – Muhammad Abduh wurde allerdings von der britischen Kolonialmacht, speziell von Lord Cromer, dem britischen Gouverneur in Ägypten, protegiert. Das brachte ihm Anfeindungen ein und war ein Hinderungsgrund für das weitere Wirksamwerden seine Reformideen. (S. 280-288)

Qasim Amin (1863-1908): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Wie wir oben schon sahen, verfasste Amin 1899 das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ (S. 185 f.)

Raschid Rida (1865-1935): Ein libanesischer Schüler Abduhs, der dessen Reformtheologie weiterführte. Raschid Rida plädierte für eine Überwindung der Trennung der Muslime nach Rechtsschulen, und für ein Verständnis von Dschihad nur als Verteidigungskampf. Raschid Rida wollte außerdem die Tötung von Apostaten weitgehend einschränken, indem er sie nur noch für Fälle von offensivem Glaubensabfall vorsah. (S. 284)

Ali Abdel Razeq (1887/8-1966): Ein ägyptischer Schüler Abduhs, der als Vater des islamischen Säkularismus gilt. In seinem Buch „Das Kalifat und die Souveränität der Nation“ sprach er sich für eine klare Trennung von Staat und Religion aus. Außerdem betonte er, dass der Prophet Mohammed eben nur das war: ein Prophet, während seine weltliche Herrschaft rein weltlich war. Deshalb sollte man eine weltliche Gesetzgebung für eine weltliche Herrschaft nicht in der Offenbarung des Islam suchen. (S. 294)

Taha Hussain (1889-1973): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Einerseits der bedeutendste arabische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Andererseits der Begründer einer skeptischen Geschichtsschreibung des Islams. Taha Hussain betrachtete den Koran erstmals als ein literarisches Werk und forderte eine kritische Betrachtung überlieferter Texte. 1950-52 war er Erziehungsminister in Ägypten. (S. 294)

Jäher Abbruch der religiösen Reformen

Doch leider kam es nicht zum Durchbruch des religiösen Reformdenkens. Vielmehr wurde das religiöse Reformdenken mit dem Ersten Weltkrieg buchstäblich abgewürgt. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich:

Zum einen war die Übergriffigkeit der europäischen Kolonialmächte mit dem Ersten Weltkrieg zu groß geworden, um keine negative Reaktion hervorzurufen. Der ganze Nahe Osten – außer der Türkei, die Atatürk erfolgreich verteidigte – wurde von Briten und Franzosen besetzt. Grenzen wurden willkürlich gezogen und Regierungen nach Belieben ein- oder abgesetzt. Es kam zu Massakern und Bombardierungen. Auch die sich anbahnende Gründung Israels wurde als Willkür der Kolonialmächte gedeutet, auch wenn dieses Ereignis damals nicht im Zentrum stand. – Man hatte im Nahen Osten ganz wie in Deutschland auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Woodrow Wilson gehofft, und ganz wie in Deutschland war man auch im Nahen Osten schmerzlich enttäuscht, als Woodrow Wilson sich nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges einfach wieder zurückzog. (S. 297) Den neuen Völkerbund verstand man nur noch als verlängerten Arm der Kolonialmächte.

Das alles war zuviel. Das Pendel der Sympathie schlug nun gegen Europa und den Westen aus, und damit taugte der Westen auch nicht mehr als Vorbild für weitere Reformen. Ob Liberalismus, Rationalismus oder Demokratie: Alles trug nun den Makel der kolonialen Übergriffigkeit an sich.

Der andere Grund war, dass die Eliten in Nahost oft keinen Reformislam anstrebten, sondern ihre Verbindung zur Religion gleich ganz kappten. Man las damals Darwin, Haeckel, Schopenhauer, Poincaré oder Herbert Spencer, spekulierte über die Seele als mechanischen Apparat und lancierte Polemiken gegen den Klerus. Von türkischen Medizinstudenten ist überliefert, dass sie Atheisten waren und das Buch „L’homme machine“ von d’Holbach wie den Koran als heiliges Buch aufgeschlagen im Zimmer stehen hatten. (S. 74 f., 276-279)

In der Türkei und im Iran wurden die Reformen nach dem Ersten Weltkrieg deshalb von Kemal Atatürk und Reza Schah ohne die Religion und gegen die Religion fortgesetzt. An einer Islamreform bestand schlicht kein Interesse, es gab auch kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Reform. Religion wurde beiseitegeschoben, unterdrückt und nur in einer streng reglementierten Form zugelassen. Das kam eher einer Kastration als einer Reform der Religion gleich. Auch in Ägypten feierten die Eliten in Kairo und Alexandria hemmungslose Parties, ohne sich um die Armut der religiösen Landbevölkerung zu kümmern. (S. 301-306)

Der Islamismus als Reaktion

Diese Zustände führten zur Herausbildung des Islamismus in Gestalt der „Muslimbrüder“, die von den beiden ägyptischen Lehrern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb gegründet und geprägt wurden. Der Islamismus wurde von zwei Motiven getrieben: Man wollte die eigene Kultur und Freiheit gegen die Übergriffigkeit der Kolonialmächte verteidigen. Zu dieser Kultur gehörte der Islam fest dazu. (S. 306 ff.) Und man wollte gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen. (S. 309, 317) Kurz: Der Islamismus entstand praktisch als Aufstand der vergessenen kleinen Leute gegen eine Elite, die sich geistig völlig von ihren eigenen kulturellen Wurzeln entfernt hatte.

Diese durchaus verständlichen Motive wurden leider ins Extrem gezogen, so dass eine Karikatur von Islam entstand. Der Islamismus ist nicht einfach eine Rückkehr zum traditionalistischen Islam, sondern stellt einen höchst seltsamen Synkretismus von traditionellen und modernen Ideen und Vorstellungen dar:

  • Getragen wird der Islamismus von Laien-Brüdern. Es ist also kein Islam der Religionsgelehrten, wie es früher einmal war. Zwar schlossen sich auch manche Religionsgelehrte dem Islamismus an, doch waren sie nicht die treibende Kraft.
  • Die islamistische Deutung des Islam ist denkbar oberflächlich und allzu wörtlich, wie man es von Laien erwarten kann. Dieser Islam hat sämtliche Denktraditionen des Islams abgeschnitten, sei es Mystik oder Rationalismus, und auch von der traditionellen Rezeption der antiken Philosophie ist nichts mehr übrig geblieben. Manchmal hat man das Gefühl, die islamistische Deutung des Islam orientiert sich an der Deutung westlicher Islamhasser: Wie wenn man aus Trotz die schwarzgemalte Islamdeutung der Islamhasser bestätigen wollte.
  • Die karitative Tätigkeit und Gemeinschaftsbildung der Muslimbrüder ist ebenfalls nicht traditionell islamisch, sondern ist natürlich durch den oben beschriebenen sozialen Konflikt motiviert. In der Praxis haben sich die Muslimbrüder eine Menge von der karitativen Tätigkeit der christlichen Missionaren abgeschaut, die damals in Ägypten tätig waren.
  • Kennzeichnend für den Islamismus ist auch ein übersteigerter Hass auf die Juden, den es in dieser Form – bei allen Problemen – im traditionellen Islam nicht gegeben hatte. (Dieser Punkt bleibt in diesem Buch allerdings unerwähnt.)
  • Weil man sich vom Westen nichts sagen lassen wollte, wurde großspurig behauptet, dass sich alle Gesetze für einen guten Staat in der islamischen Überlieferung finden würden, was natürlich genauso unsinnig ist, wie wenn man dasselbe über die Bibel behaupten würde.
  • Trotz allem finden sich zahllose moderne, „westliche“ Elemente im Islamismus. Allerdings auf eine völlig verklemmte Weise, was anzeigt, dass der Islamismus mit sich selbst nicht im Reinen ist: Irgendwie möchte man doch demokratisch sein und ein Parlament haben, nur soll die Scharia Vorrang haben. Wobei im Einzelnen völlig unklar bleibt und der reinen Willkür unterliegt, was man unter Scharia verstehen will. Frauen sollen irgendwie gleichberechtigt sein, aber doch nicht ganz, und bitte nur mit Kopftuch. Die westliche Technik übernimmt man gerne, aber die westliche Wissenschaftsfreiheit möchte man nicht haben. Und auch die Idee der Nation hat man übernommen, wobei man zugleich pan-islamisch sein möchte, was aber nie so richtig funktioniert hat. (Vgl. S. 330, 344 f.)

Christopher de Bellaigue schreibt, dass die Muslimbrüder sich heute etwas gemäßigt hätten. So würden sie heute z.B. den „Takfirismus“ ablehnen. Unter takfir versteht man die Erklärung eines Muslims zum Apostaten, was die Erlaubnis, diesen zu töten, zur Folge hat. (S. 328)

In Ägypten kam Präsident Nasser 1952 mithilfe der Muslimbrüder an die Macht. Zwei Jahre später bootete er die Muslimbrüder aus, was zu deren Radikalisierung beitrug. (S. 323)

Im Iran soll es der Schah mit der Unterdrückung der Religion und der radikalen Verwestlichung der Kultur völlig übertrieben haben. Damals sollen 25.000 Amerikaner im Iran gewesen sein, um alle Bereiche der Gesellschaft nach westlichem Muster umzugestalten, so dass nichts mehr von der angestammten Kultur übrig blieb, nicht einmal in der Architektur. (S. 332 f., 342)

Das rief die Kritik von Intellektuellen hervor: Dschalal Al-e Ahmad (1923-1969) schrieb das berühmte Buch „Gharbzadegi“, dessen Titel man mit „Westvergiftung“ übersetzen könnte. Darin wird eine nostalgische Kritik an der Moderne geübt, die naiv und undifferenziert ist, wie wenn früher alles besser gewesen wäre: Solches kennt man auch aus dem Westen. Und wie so oft war auch hier der Autor solcher Ideen selbst ein durchaus moderner Mensch. (S. 334 ff.) – Ali Schariati (1933-1977) hatte an der Universität in Paris den westlichen Antikolonialismus kennengelernt, den er nun mit dem Schia-Islam verband: Islam wolle, so meinte er, eine freie und klassenlose Gesellschaft. Das Volk erinnere sich nicht an die große Zeit des Perserreiches, die der Schah beschwor, sondern nur an den Schia-Islam. Diesen stellte sich Ali Schariati aber – verrückt! – ohne Klerus vor. (S. 342 ff.)

Als es zu ökonomischen Verwerfungen und schlussendlich zur Revolution im Iran kam, bootete Khomeini alle anderen Kritiker des Schah-Regimes aus und errichtete einen klerikalen Staat, den es in dieser Form noch nie zuvor in der Geschichte des Islams gegeben hatte. Doch obwohl die Religionsgelehrten im Iran eine große Rolle bei der Herausbildung des iranischen Islamismus gespielt hatten, sind auch die schiitischen Religionsgelehrten in ihrer Haltung zum Islamismus gespalten. Khomeini war übrigens auch nicht der höchste schiitische Geistliche. Der höchste schiitische Geistliche Ali as-Sistani (1930-) residiert in Nadschaf im Irak, der Stadt mit dem höchsten schiitischen Heiligtum, und lehnt die Idee eines Gottesstaates ab.

Abschluss: Das große Wendejahr 1979

Für Christopher de Bellaigue ist 1979 das große Wendejahr hin zum Islamismus. In diesem Jahr kam im Iran Khomeini an die Macht. Im selben Jahr marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, wo islamistische Kämpfer Kampferfahrung sammeln konnten. In diesem Jahr wurde auch die islamistische Gruppe al-Dschihad gegründet, die zwei Jahre später Sadat ermordete. Und schließlich fand 1980 ein Militärputsch in der Türkei statt, der die politische Linke dermaßen dezimierte, dass anschließend (angeblich) der Weg frei war für den Aufstieg der Islamisten bis hin zu Erdogan. (S. 345 f.)

Nur am Rande erwähnt wird der Wahhabismus aus Saudi-Arabien, der sich durch die üppig fließenden Öl-Milliarden in der islamischen Welt ausbreitet. Der Ausblick auf die Zukunft am Ende des Buches ist eher düster.

Kritik

Christopher de Bellaigue hat ein großartiges Buch vorgelegt. Dennoch muss manches daran kritisiert und ergänzt werden. Das wollen wir im folgenden auf konstruktive Weise tun.

Kritik: Religion nicht ernst genommen?

Natürlich möchte der Autor den Islam ernst nehmen, aber an zwei Stellen überkommt den Leser das Gefühl, dass der Autor das nicht wirklich tut. Das eine ist der Untertitel des Buches: „The Modern Struggle Between Faith and Reason“. Ist es wirklich klug, Glaube und Vernunft als Gegensätze einander gegenüberzustellen? Geht es nicht darum zu zeigen, dass Glaube und Vernunft eben gerade keine Gegensätze sind? Hätte man nicht besser „Das Ringen um die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt“ als Untertitel wählen sollen?

Die zweite Stelle ist ein Satz in der Conclusion des Buches: „people … who, while respecting the moral precepts they have received from their forebears, are lax in matters of observance. … in their secular world view and relatively liberal values they represent the successful part of the Islamic Enlightenment.“ (S. 350) – Menschen, die ihre Religion lax handhaben, mögen vielleicht in gewisser Weise aufgeklärt sein, aber eine „islamische Aufklärung“ ist das nicht! Eine islamische Aufklärung bestünde darin, dass die Religion des Islam selbst aufgeklärt wird, so dass Liberalität nicht durch Laxheit in der Beachtung der Regeln entsteht, sondern dadurch, dass die Regeln selbst liberal werden, soweit dies möglich ist. Ein großer Unterschied!

Kritik: Islamische Geschichte

Der Autor möchte mit diesem Buch vor allem zeigen, dass die islamische Welt zur Moderne fähig ist. Dazu liefert aber auch die islamische Geschichte vor dem Jahr 1798 reichlich Anschauungsmaterial – doch dieses Thema hechelt der Autor nur sehr kurz angebunden im Vorwort durch. Man hätte besser ein eigenes Kapitel daraus gemacht.

Zudem bleibt die neuere historisch-kritische Forschung zu den Anfängen des Islams unerwähnt. Wir wissen heute, dass die Anfänge des Islams anders waren, als es die Legenden überliefern. Das „zerstört“ den Islam keineswegs, sondern eröffnet im Gegenteil neue Möglichkeiten für eine Reformierung des Islams im Einklang mit dessen Ursprung.

Kritik: Zu trüber Ausblick

Am Ende des Buches wird ein etwas trüber Ausblick gegeben. Dafür gibt es aber keinen Grund. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und wer die Wendungen der Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, der weiß, dass vieles möglich ist.

Zu kurz gekommen sind in diesem Buch Entwicklungen außerhalb der Zentren der islamischen Welt: Die Ölstaaten, Marokko, Indien oder Indonesien, aber auch die Muslime in den westlichen Ländern stricken an der Gesamtentwicklung des Islams in der Welt mit.

Manches hätte noch in einem Ausblick Erwähnung finden können. So z.B. auch das Werk „Die Kritik der arabischen Vernuft“ von Mohammed Abed Al Jabri (1935-2010) aus dem Jahr 1984, oder die Bemühungen um eine historisch-kritisch geerdete „Theologie der Barmherzigkeit“ von Mouhanad Khorchide in Münster.

Kritik: Linker Bias

Christopher de Bellaigue scheint einem politischen Bias zu unterliegen, einem linken Bias. Vielleicht verdankt sich der linke Bias teilweise auch der Notwendigkeit, Lippenbekenntnisse für das derzeit im Westen vorherrschende intellektuelle Milieu abzugeben, gerade auch bei diesem Thema. Der Wert des Buches wird dadurch kaum geschmälert, auch wenn manches fehlt.

Kritik Linker Bias: Selbstkritik des Westens

Christopher de Bellaigue spart nicht mit Kritik an den westlichen Kolonialmächten. Aber an einigen Stellen lässt Christopher de Bellaigue durchblicken, dass es noch eine andere Kritik am Westen gibt: Der Westen des 20. Jahrhunderts war nicht mehr so attraktiv zur Nachahmung wie der Westen des 19. Jahrhunderts.

Zur Reise von Sayyid Qutb in die USA wird angemerkt, dass die Permissivität der sexuellen Sitten, für die das Jahr 1968 schlaglichtartig steht, Muslime eher abschreckt. (S. 322) Zur radikalen Vewestlichung des Iran durch den Schah wird angemerkt, dass die damals herrschende westliche Kultur banal sei. (S. 333) Treffend wird kritisiert, dass die westliche Architektur Teheran „into a version of everywhere else“ verwandelte. (S. 337) Dieses Phänomen kennen wir aus unseren eigenen, westlichen Städten nur allzu gut. Sayyid Qutb soll gesagt haben, dass er keinen Zusammenhang sehe zwischen den Menschen, denen er in den USA begegnete, und den Errungenschaften des Westens. (S. 322)

Leider führt der Autor diese Kritik nicht weiter aus. Denn womöglich hatte Sayyid Qutb wenigstens teilweise Recht: Der Westen hat tatsächlich kulturell teilweise abgebaut und sich darüber teilweise selbst verloren. Immerhin wird der Gedanke auf der allerletzten Seite des Buches noch einmal aufgegriffen (S. 352): Christopher de Bellaigue hat also verstanden, dass hier ein wichtiges Thema lauert, das bearbeitet werden müsste. Es wäre aber eine konservative Kritik, die hier geübt werden müsste. Vielleicht hat er das Thema deshalb nur angedeutet.

Kritik Linker Bias: Verharmlosung

An manchen Stellen verharmlost der Autor islamische Verhältnisse zu sehr. So z.B. die Sklaverei im Islam. Es ist sicher richtig, dass der Islam auch einen Beitrag zur Milderung von Sklaverei geleistet hat und Sklaverei im Islam anders verstanden wurde als z.B. in den Südstaaten der USA. Dennoch erscheint die Darstellung zu weich gezeichnet. (S. 188 ff.) – Ähnliches gilt für die Homosexualität im Islam. Insbesondere der Gedanke, ob die sexuelle Toleranz der alten Zeit nicht besser war als die spätere Ächtung von Homosexualität unter dem Einfluss des viktorianischen Westen, ist völlig irreführend: Diese angebliche Toleranz war vielmehr eine Ausweich- und Ersatzhandlung und eine große Heuchelei. Eine Toleranz gegenüber Homosexualität, die diesen Namen verdient, hat erst der Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. (S. 195 ff.)

Ebenfalls eine Verharmlosung ist die Behauptung, dass nur eine kleine Minderheit der Migranten, die aktuell aus islamischen Ländern nach Europa kommen, islamisch motiviert wären. (S. 352) Natürlich kommen die wenigsten mit der Absicht, eine Moschee zu gründen oder ein islamistisches Attentat zu verüben. Aber sehr viele kommen eben doch mit dem Mindset eines traditionalistischen bzw. islamistischen Verständnisses von Islam. Und das allein ist ein großes Problem, das man nicht unterschlagen darf. – Schließlich werden auch die islamistischen Selbstmordattentäter verharmlost: Dass sie oft keine Ahnung vom Islam hätten usw. usf. (S. 351) Es mag zwar richtig sein, dass sie oft nur wenig Ahnung haben, aber es ist der traditionalistische bzw. islamistische Mindset, der sie anfällig sein lässt für islamistische Propaganda, und in diesem Sinne sind diese Selbstmordattentäter sehr wohl Muslime und Islamisten, und nicht nur verwirrte Jugendliche.

Kritik Linker Bias: Mode-Themen

Die Beschaffung von Altertümern aus Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens durch westliche Antiquare und Wissenschaftler wird wiederholt „loot“ genannt, also „Beute“ oder „Plünderung“. (S. 35, 43) Das ist in dieser Pauschalität natürlich falsch. Kultur gehört zunächst einmal immer demjenigen, der sich für sie interessiert und sie zu schätzen weiß. Und insofern ein solches Bewusstsein in diesen Ländern damals nicht vorhanden war, kann man nicht einfach von „loot“ sprechen, sondern man sollte die Dinge differenzierter sehen.

Völlig obskur und „woke“ ist ein Satz, der „multiculturalism“ mit „black slaves“ in Verbindung bringt. (S. 121) Hier wird so getan, als ob die Hautfarbe von Menschen kulturelle Vielfalt bedeuten würde. Das ist aber falsch. Hautfarbe und Kultur sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Gleich mehrfach falsch ist auch dieser Satz über die Migrationsbewegung ab dem Jahr 2015: „civil war in Syria, Libya and elsewhere, along with poverty and climate change, pushed millions of Muslims into Europe“ (S. 352) – Die größte Unwahrheit des Satzes liegt in dem Wort „push“: Denn die Migranten kommen vor allem deshalb nach Europa, weil Europa sie kommen lässt, statt sie zurückzuweisen, und dazu werden noch soziale Wohltaten verteilt, die eine große Anziehungskraft entfalten. Die pull-Faktoren sind entscheidend, nicht die push-Faktoren, sonst wären schon das ganze 20. Jahrhundert über die Armen nach Europa geströmt. Aber selbst heute machen sich gerade die Ärmsten der Armen nicht auf den Weg nach Europa: Dass es um Armut ginge, ist die zweite Unwahrheit. Die dritte Unwahrheit liegt in der angeblichen Fluchtursache „climate change“: Dass Menschen aus islamischen Ländern in Massen nach Europa kommen, weil sich das Klima gewandelt habe, glauben nur hartgesottene Ideologen.

Kritik Linker Bias: NS-Vergangenheit ausgeblendet

Seltsamerweise wird die Beeinflussung des Islamismus durch den Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt. Weder die engen Verbindungen des palästinensischen Muftis von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1896-1974) mit den Nationalsozialisten, noch die bosnische SS-Division „Handschar“, noch die arabischsprachige Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Dabei soll der nationalsozialistische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des spezifisch islamistischen Judenhasses gespielt haben. Im traditionellen Islam gab es – bei allen Problemen – keinen derartigen Judenhass wie im Islamismus.

Wir können nur vermuten, dass Christopher de Bellaigue diesen Aspekt der Geschichte des Islamismus aufgrund irgendwelcher falscher Rücksichtnahmen vollständig ausgeblendet hat. So etwas sollte man natürlich nicht tun.

Kritik Linker Bias: Versagen der Linken kleingeredet

Ganz am Rande wird erwähnt, dass die erfolgreiche Nasser-Regierung in Ägypten die Regierungen in anderen Ländern inspirierte, darunter Algerien, Syrien und der Irak. (S. 324) Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass diese Regime sich als sozialistische Regime verstanden („Baath-Partei“). Insofern auch das ein Beitrag zum Fortschritt in die Moderne war, bräuchte man das auch gar nicht verstecken. Es wird in diesem Buch aber dennoch versteckt. – Der Grund liegt wohl darin, dass diese linken Regime am Ende keine allzu rühmliche Rolle spielten. Ebenso wie Kemal Atatürk und der Schah von Persien strebten sie eine Modernisierung ohne und gegen die Religion an. Und nicht selten verkamen sie zu Diktaturen, wie in Syrien und Irak, aber auch Ägypten. Auch der Bürgerkrieg im Libanon soll sich linken Kräften verdanken.

Ebenfalls kaum beleuchtet wird der Umstand, dass sehr viele Intellektuelle der islamischen Welt direkt von linken Ideologien beeinflusst waren, die an europäischen Universitäten im Umlauf waren. Es wird nur erwähnt, dass der Iraner Ali Schariati vom Antikolonialismus der französischen Universität beeinflusst war (S. 342 ff). Solches galt natürlich nicht nur für Ali Schariati, sondern auch für viele andere Intellektuelle des islamischen Raumes. – Man hätte auch Mohamed Arkoun erwähnen können, der die postmoderne Philosophie auf den Islam münzte. Oder Michel Foucault, der die islamische Revolution von Khomeini begrüßte. Dieses falsche postmoderne Denken hat bis heute Hochkonjunktur im Westen.

Es wird auch die fatale Rolle von Mossadegh im Iran zu weich gezeichnet. (S. 331 ff.) Vielleicht war Mossadegh eben doch ein Steigbügelhalter der Kommunisten? Ganz gewiss waren seine Anhänger später Steigbügelhalter für Khomeini. – Und stimmt es wirklich, dass die Islamisten in der Türkei deshalb an die Macht kamen, weil zuvor die Linken in einem Putsch ausgeschaltet worden waren? (S. 346) Wird hier die Rolle der Linken nicht völlig überhöht? Ist es nicht vielmehr so, dass die Islamisten in der Türkei vor allem durch die demographische Entwicklung zur Mehrheit wurden? – Und man hätte auch gerne etwas von der Erfahrung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal gelesen: Laut Boualem Sansal war Algerien früher ein linkes Land. Als die ersten islamistischen Prediger eintrafen, verlachte man sie als die „Narren Allahs“ und nahm sie nicht ernst. Wenige Jahrzehnte später befand sich Algerien in einem blutigen Bürgerkrieg mit dem Islamismus.

Immer wieder stoßen wir darauf, dass die völlige Unfähigkeit der Linken, die Religion ernstzunehmen und einzubinden, in die Katastrophe führte. Christopher de Bellaigue schweigt dazu weitgehend.

Kritik Linker Bias: Irak-Krieg von George W. Bush

Den Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush von 2003 beschreibt Christopher de Bellaigue mit kurzen Worten als „failure of the Anglo-American occupation of Iraq“ (S. 349)

Doch war es wirklich nur ein „failure“? Hat man nicht den Diktator effektiv beseitigt, anders als z.B. in Syrien? Hat man nicht sichergestellt, dass der Diktator weder über Giftgas noch über sonstige Massenvernichtungswaffen verfügt? Und damit auch den Massenmord Saddam Husseins an Schiiten und Kurden ein für allemal unterbunden? Und war es wirklich nur eine „occupation“?! Wurden nicht Schiiten und Kurden, die immerhin 80% der Bevölkerung des Irak ausmachen, tatsächlich von der Herrschaft der sunnitischen Minderheit befreit? Haben wir nicht alle die Bilder gesehen, wie die westlichen Truppen von Schiiten und Kurden jubelnd begrüßt wurden? Der Schuh-Werfer auf George W. Bush war jedenfalls ein Sunnit aus der Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger. Und „Anglo-American“? Es waren über 40 Nationen am Irak-Krieg beteiligt. Nur Frankreich und Russland blieben fern. Aber das waren ja die Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein, die sich in Ölkonzessionen hatten bezahlen lassen. Und Deutschland war so dumm, sich diesen beiden anzuschließen. Und hatte Bush nicht erreicht, dass die Terrorwelle im Irak am Ende abebbte? Und war die eigentliche Katastrophe nicht erst der Truppenabzug durch Obama und Obamas Syrienkrieg? Und existiert die formale Demokratie, die George W. Bush 2003 im Irak etablierte, nicht immer noch? Trotz allem immer noch? Und wer hat jetzt eigentlich Zugriff auf das irakische Öl bekommen? Der US-Konzern „Hölliburton“? Nein, sondern ein norwegisch-chinesisches Konsortium.

Christopher de Bellaigue hätte George W. Bush unbedingt für dessen Weitsichtigkeit loben müssen! Aber vielleicht konnte er das nicht, aus Rücksicht auf gewisse Milieus. Und weil de Bellaigue das versäumt hat, wollen wir dies hier nachholen, indem wir einige Worte aus einer Rede von George W. Bush vom 06. November 2003 zitieren, die ihre Kraft bis heute nicht verloren haben:

„Time after time, observers have questioned whether this country, or that people, or this group, are „ready“ for democracy … It should be clear to all that Islam – the faith of one-fifth of humanity – is consistent with democratic rule. … As we watch and encourage reforms in the region, we are mindful that modernization is not the same as Westernization. Representative governments in the Middle East will reflect their own cultures. They will not, and should not, look like us. … And working democracies always need time to develop – as did our own. … There are, however, essential principles common to every successful society, in every culture. …

Iraqi democracy will succeed – and that success will send forth the news, from Damascus to Teheran – that freedom can be the future of every nation. … Sixty years of Western nations excusing and accommodating the lack of freedom in the Middle East did nothing to make us safe – because in the long run, stability cannot be purchased at the expense of liberty. As long as the Middle East remains a place where freedom does not flourish, it will remain a place of stagnation, resentment, and violence ready for export.“

Und wer jetzt sagt: „Es ist doch schiefgegangen im Irak!“, der hat nichts verstanden. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird erst dann zu Ende sein, wenn das Happy End erreicht ist. George W. Bush hatte das erkannt. Obama nicht.

Fazit

Mit seinem Buch „The Islamic Enlightenment“ hat Christopher de Bellaigue eindrucksvoll seine zentrale Botschaft untermauert: Die islamische Welt verharrt nicht statisch im Mittelalter, sondern hat in den letzten 200 Jahren massive Modernisierungen durchlaufen und ist grundsätzlich auch zu weitergehenden Modernisierungen fähig. Es gibt gute und verstehbare Gründe, warum die Modernisierung bis heute nicht vollständig geglückt ist. Eine grundsätzliche Modernisierungsunfähigkeit der islamischen Welt ist jedenfalls nicht der Grund.

Allerdings gilt: Diese Modernisierung ist kein Selbstläufer. Man darf sich nicht zurücklehnen und glauben, dass mit der Zeit schon alles von selbst gut werden würde. Modernisierung muss aktiv herbeigeführt werden. Und auch Rückfälle sind jederzeit möglich. Übrigens auch in der westlichen Welt. Auch deren Modernität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann verloren gehen.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse für unsere heutige Zeit können aus diesem Buch gezogen werden? Hier eine kurze Liste von Vorschlägen. Dabei gilt: Es ist immer leichter gesagt als getan.

  • Der Westen muss wieder zu sich selbst kommen, damit er wieder die Anziehungskraft von früher entfalten kann. Liberalismus und Rationalismus müssen wieder zum Leuchten gebracht werden. Eine Rückbesinnung auf nationale und regionale Traditionen ist erforderlich. Außerdem eine Neubesinnung auf religiös-weltanschauliche Traditionen, namentlich Christentum, klassischer Humanismus und Aufklärung.
  • Der Westen sollte sich nicht dafür schämen, dass er fortschrittlicher als die islamische Welt war. Nicht alle Aspekte des Kolonialismus waren schlecht und falsch. (Einiges davon aber schon, aber das ist nichts Neues.)
  • Die islamische Welt muss akzeptieren, dass sie an dem ganzen Schlamassel vor allem selbst schuld ist. Denn es war die islamische Welt, die mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung verschlafen und sich auf diese Weise angreifbar gemacht hatte. Das, und nichts anderes, ist das Urübel.
  • Die islamische Welt muss verstehen, dass vieles von dem, was geschehen ist, jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn es einst Unrecht war. Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht auslöschen. Ein Vorbild kann hier Europa sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Begleichung alter Rechnungen verzichtete.
  • Alle beteiligten Akteure, ob religiös oder nicht religiös, ob westlich oder östlich, müssen begreifen, dass es eine nachhaltige Modernisierung nur mit dem Islam geben kann, nicht gegen den Islam.
  • Die Modernisierung des Islam muss dort fortgeführt werden, wo sie um 1900 liegengeblieben ist. Eine Modernisierung des Islam „zerstört“ oder „verfälscht“ den Islam nicht, solange sie mit Vernunft, Wahrhaftigkeit und ohne Eifer durchgeführt wird. Ein Vorbild kann die Modernisierungsgeschichte der katholischen Kirche sein, die sich dabei ebenfalls nicht selbst aufgegeben hat. Reformen sind erst dann dauerhaft tragfähig, wenn sie auch von der Mehrheit der Konservativen mitgetragen werden.
  • Offenbar leidet der Islam heute auch daran, dass seine historisch gewachsenen Strukturen zerstört worden sind. Der Islam muss wieder eine Struktur von Religionsgelehrten aufbauen, die legitim und authentisch für den Islam sprechen können und von staatlichen Einflüssen unabhängig sind. Irgendjemand muss die Reformen schließlich tragen und durchführen. Irgendjemand muss sagen können: Diese Reform gilt jetzt, und diese nicht.
  • Muslime werden damit leben müssen, dass es dauerhaft verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie ein moderner Islam aussieht. Hier ist mehr Toleranz und friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Auffassungen notwendig.
  • Linke müssen damit aufhören, die Muslime und die islamische Welt für ihre linken politischen Zwecke zu vereinnahmen, Islamismus und islamischen Traditionalismus zu verharmlosen, und den Westen in seiner Fortschrittlichkeit zu verteufeln. Vielmehr müssen Linke ihre eigene Geschichte von Schuld, Missbrauch und Versäumnissen in bezug auf den Islam und die islamische Welt, aber auch in bezug auf Christentum, klassischen Humanismus, die Aufklärung und die westliche Welt, aufarbeiten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Jostein Gaarder: Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht (2018)

Genau richtige Gedanken zu Sterben und Abschiednehmen

Englischlehrer Albert hat eine tödliche Diagnose bekommen, und da Frau und Kinder weggefahren und außer Haus sind, hat er sich in die typisch norwegische Einsamkeit der Familienhütte an einem kleinen, abgelegenen See zurückgezogen. Dort beginnt er seine Gedanken zu ordnen, und vielleicht wird er gleich noch in derselben Nacht seinem Leiden ein Ende setzen, noch ehe er Frau und Kinder damit belasten muss. Das Buch stellt die Wiedergabe der Gedanken Alberts dar, wie er sie in das Hüttenbuch schreibt. Ein Hüttenbuch ist eine weitere typisch norwegische Eigenheit, es handelt sich um eine Art Logbuch für alle Geschehnisse während des Hüttenaufenthaltes.

Drei Themen werden bearbeitet: Im Rückblick auf sein Leben erkennt Albert, wie so vieles in seinem Leben „genau richtig“ war. – Auch im Universum ist vieles „genau richtig“ eingerichtet, und vielleicht verbindet sich ja damit auch eine Hoffnung auf einen Sinn des Lebens.

Das dritte „genau richtige“ Thema hat Albert aber ganz vergessen, und wie Jostein Gaarder es zur Überraschung von Albert und zur Überraschung des Lesers in die Geschichte einführt, ist genial (und wird hier nicht verraten): Es geht um die Einbindung des Menschen in das Gefüge von Familie, Gesellschaft und Menschheit. Man kann sich eben nicht einfach in eine Hütte zurückziehen und alle Verbindungen zu den Mitmenschen ignorieren und die Sache ausschließlich mit sich allein abmachen. Der Mensch hat eine Rolle zu spielen, auch im Sterben und gewissermaßen auch über den Tod hinaus, und diese Rolle ist sinnvoll und verpflichtend.

Ein sehr schönes, geistreiches, kleines, wertvolles Büchlein. Eben genau richtig.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 20. September 2020)

Manfred Fuhrmann: Bildung – Europas kulturelle Identität (2002)

Fetter Bildungshappen mit erstaunlichen Defiziten

Mit seiner kurz gehaltenen Streitschrift „Bildung“ hat Manfred Fuhrmann eine weithin beachtete Debatte angefacht: Inwieweit gehört das Hergebrachte, die Tradition, die Geschichte und das Bewusstsein um Geschichtlichkeit und der Umgang mit ihm noch zur Bildung dazu, bzw. was steht auf dem Spiel, wenn wir es vernachlässigen?

Zu diesem Zweck skizziert Fuhrmann in äußerst dichter Form den Werdegang der europäischen Bildungsgeschichte von der Antike über das Mittelalter, Renaissance und Reformation, die Goethezeit, das 19. Jahrhundert und die 68er-Bewegung bis heute. Allein dafür hat sich die Lektüre schon gelohnt. Auch die daran anschließende Diskussion orientiert sehr grundlegend.

Problematisch ist Fuhrmanns Sicht auf die moderne Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft, die sich nur noch in Strömungen des gehobenen oder trivialen Konsums von Kultur einteilen lasse. Denn völlig vergessen wird dabei, dass die europäischen Gesellschaften zu einem immer größer werdenden Anteil aus Menschen bestehen, die die überlieferte Kultur nicht etwa trivialisieren, sondern diese vielmehr – bis jetzt jedenfalls – überhaupt nicht zu ihrer Kultur zählen, nämlich ein großer Teil der Zuwanderer aus nichtwestlichen Ländern, insbesondere natürlich viele Muslime.

Und dadurch ist Manfred Fuhrmann auch eine mögliche Sinngebung für humanistische Bildung völlig entgangen: Die Integration dieser Zuwanderer in unsere westliche Gesellschaft. Denn die antiken Denker wurden in der islamischen Welt teilweise ebenfalls rezipiert, wodurch sich ein erstklassiger Anknüpfungspunkt für Integration in die westliche Kultur ergäbe, auf dem man aufbauen könnte. Außerdem kann nur in eine Kultur aufgenommen werden, wer sich über deren Werdegang definiert, und dazu muss man diesen kennen. Das gilt für Einheimische wie Zuwanderer gleichermaßen.

Ebenfalls befremdlich erschien mir, dass Manfred Fuhrmann die fehlenden Kenntnisse über Bibel und Christentum in den Mittelpunkt stellt. Meine Wahrnehmung aus der reformierten gymnasialen Oberstufe in Baden-Württemberg (um 1990 mit großem Latinum) ist rückblickend, dass man von der Bibel immerhin noch wusste, was man nicht wusste, aber bezüglich antiker Texte wusste man noch nicht einmal das. So habe ich z.B. von der Existenz der Gefallenenrede des Perikles, die für unsere westliche Welt von Bedeutung ist und von Karl Popper in seiner „Offenen Gesellschaft“ zitiert wird, erst lange nach dem Abitur durch eigenes Weiterlesen erfahren.

Wer sich für Bildung, für Identität, für Kultur, für Integration, für Humanismus, für Aufklärung, für Weltanschauung, für gesellschaftlichen Niedergang bzw. für gesellschaftliche Reformen interessiert, der sollte dieses Büchlein unbedingt lesen, und dann selbst weiterdenken.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 29. Juli 2011)

Tim Willocks: The Religion (2006)

Gelungenes Epos über die Belagerung von Malta durch die Türken 1565

Der Roman „The Religion“ / „Das Sakrament“ von Tim Willocks ist ein Werk von epischer Dimension: Völlig zurecht wird von einer maltesischen Iliade gesprochen. Weltgeschichte und Religionsgeschichte greifen hier eng ineinander mit den Biographien der handelnden Personen. Die großen Themen sind Liebe, Glaube und menschliches Schicksal unter den wechselnden Bedingungen der Zeitläufte, die virtuos präsentiert werden.

Gerüst der Handlung ist die Belagerung von Malta durch die Türken 1565, die von einer ähnlich entscheidenden Bedeutung für die Geschichte Europas war wie die Belagerung von Wien. Mitten im Getümmel steht die Person von Tannhauser, der als Kind von den Türken gekidnappt und zum Janitscharen ausgebildet wurde. Er machte dort Karriere und kehrte später nach Europa zurück. Weil er die Türken kennt, wird er kurz vor der Ankunft der türkischen Invasionsflotte als kriegswichtig auf die Insel gelockt – mithilfe einer Frau.

Islam und Christentum werden von Willocks als gleichermaßen fanatisch dargestellt, womit der Autor zumindest nichts falsch macht. Für die Probleme der Gegenwart kann man daraus kaum hilfreiche Schlüsse ziehen, weil dafür die Frage der weiteren Entwicklung nach 1565 zu stellen wäre – das ist jedoch nicht Thema dieses Buches. Die Schilderungen des Mordens sind in der Tat sehr realistisch gehalten, doch so muss es wohl sein. Der Ton der damaligen Zeit wird gut getroffen, der historische Anspruch wird erfüllt.

Das englische Hörbuch wird von Simon Vance in bestem Englisch und mit viel Pathos gelesen. Der Schwierigkeitsgrad ist Mittel, die Zahl der Vokabeln recht hoch, doch trägt die epische Breite der Geschichte den Leser wie auf einer breiten Woge über jede Verständnisklippe hinweg und viele Worte verstehen sich mit der Zeit von selbst. Bei den Grausamkeiten der Schlachtbeschreibungen will man es ohnehin nicht so genau wissen …

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Geschrieben August 2011)

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht (2018)

Sarrazins „Schwarze Legende“ des Islams stimmt so einfach nicht

Zum Islam gibt es eine „Schwarze Legende“. Sie besagt, dass der Gründer des Islam ein blutrünstiger Kriegsherr war, der rücksichtslos ganze jüdische Völkerschaften abschlachtete. Der Koran rufe zur Tötung der Ungläubigen u.a. schlimmen Dingen auf. Die ganze islamische Geschichte sei eine durchgängige Orgie von Gewalt, Sklaverei und Krieg. Dieser „Schwarzen Legende“ zufolge ist der Islam im Kern böse und nicht reformierbar, denn bereits der Gründer des Islam wäre ein böser Mensch gewesen, und die bösen Dinge stünden unmissverständlich im Koran. Und diese „Schwarze Legende“ macht sich nun auch Thilo Sarrazin zu eigen.

Koran und Mohammed

Sarrazins Koraninterpretation ist denkbar schwarzgemalt. Weniger, weil Sarrazin bewusst schwarz malt, sondern weil er einfach nicht gebildet genug ist, um die Untiefen der Koraninterpretation zu kennen.

Eine historisch-kritische Interpretation nennt Sarrazin zunächst grundsätzlich sinnvoll (S. 24), aber dann wird deutlich, dass das wohl nur eine vorgeschobene Schutzbehauptung gegen Kritiker ist. Denn in Wahrheit hält Sarrazin eine historisch-kritische Deutung für eine FALSCHE Deutung, denn er unterstellt ihr, die Botschaft des Koran in ihr „Gegenteil“ zu verdrehen (S. 205). Wer so denkt, hat die historisch-kritische Methode nicht verstanden! Die Traditionalisten sind es, die die Botschaft im Laufe der Zeit in ihr Gegenteil verdreht haben! Die historisch-kritische Methode will das Original hinter den Verdrehungen zurückgewinnen.

Die historisch-kritische Methode lehrt uns, dass die Anfänge des Islam anders waren, als es sich die Traditionalisten vorstellen. Der Koran sagt über Mohammed praktisch nichts und enthält viele zusammenhanglos dastehende Sätze, die sehr leicht so oder so interpretierbar sind. Die Prophetenbiographie von Mohammed, in der die eigentlich schlimmen Dinge stehen, wurde jedoch erst 150-200 Jahre nach Mohammed geschrieben und ist in vielen Punkten nachweislich falsch. Davon weiß Sarrazin aber nichts!!! (S. 46 f.). Insbesondere die Judenschlächtereien haben so niemals stattgefunden, sondern sind eine spätere Konstruktion, um die Juden aus der Umma herauszudrängen, zu der sie zu Mohammeds Zeit dazu gehörten. Und anders als der Koran gilt die Prophetenbiographie nicht als von Gott geoffenbart, was ihre Kritik sehr erleichtert. Der Islam kann genauso wie das Christentum mithilfe der historisch-kritischen Methode reformiert werden.

Sarrazin wendet außerdem ein, dass im Zeitalter der Massenmedien nur noch die wörtlichen Interpretationen von Texten gelten würden, nicht mehr die Interpretationen von (Reform-)Gelehrten (S. 56). Und dann sähe es für den Koran schlecht aus. Was für ein Unfug! Die verbreitete Wahrnehmung von Texten wie z.B. Verfassung, Koran oder Bibel (oder Sarrazins Bücher!) wird durch Schule und Medien bestimmt, nicht durch Eigenlektüre Einzelner. Wenn Sarrazin Recht hätte, wie erklärt er dann, dass Christinnen im Zeitalter der Massenmedien nicht mit Kopftuch rumlaufen und sich dem Manne untertan machen? So steht es nämlich im Neuen Testament, wenn man es nur wörtlich liest.

Geschichte des Islam

Im Goldenen Zeitalter des Islam rezipierte die islamische Welt die antiken Denker und schlug einen rationalistischen Weg ein. Zur gleichen Zeit ging es in der christlichen Welt ziemlich barbarisch und ungebildet zu. Später tauschten islamische und christliche Welt die Rollen. Auch die christliche Welt wurde erst modern, als sie die antiken Denker rezipierte, und auch für die christliche Welt gibt es keine Garantie, dass die Moderne von Dauer ist. Es ist falsch zu glauben, dass das Christentum immer top, und der Islam immer flop waren. Diese Dinge sind veränderbar!

Die Reformen des Islam haben bereits im 19. Jahrhundert begonnen. Aber Sarrazin weiß davon nichts!!! Die Namen Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abduh kommen in seinem Buch nicht vor. Viele islamische Länder waren mittlerweile z.B. sozialistische Länder. In Persien griff der Schah auf die vorislamische Tradition zurück. Heute zeigt man Fotos, wie man in den 1960er Jahren in vielen islamischen Ländern in westlicher Kleidung ohne Kopftuch herumlief. Der Wandel zum Kopftuch geschah nicht vor 1400 Jahren, sondern erst in den letzten Jahrzehnten, und so schnell dieser Wandel gekommen ist, so schnell könnte er auch wieder umgedreht werden, denn die ungebrochene Verwurzelung seit 1400 Jahren gibt es schlicht nicht.

Es ist einfach falsch, dass der Islam ein unveränderlicher, seit 1400 Jahren gleich gebliebener Monolith wäre. Die Anfänge waren anders. Das Goldene Zeitalter war anders. Die 1960er Jahren waren für uns alle erfahrbar anders. Es ist offensichtlich, dass es mit dem Islam auch anders geht.

Um 1900 sprach man vom Katholizismus genauso wie Sarrazin jetzt vom Islam. Der katholische Glaube sei rückständig, behindere den Fortschritt, und sei nicht reformierbar. Die ganze Kirchengeschichte sei eine einzige Orgie von Gewalt gewesen: Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Inquisition. Heute würde kein Mensch mehr so von der katholischen Kirche reden, sofern er bei Trost ist. Allerdings gilt: Ohne Reformen geht es nicht.

Reformpotential des Islam

Wie viele radikale Islamkritiker wartet Sarrazin passiv darauf, dass die Islamreformen sich quasi „von selbst“ vollziehen. Wenn dann nichts passiert, fühlt er sich bestätigt. Außerdem verweist Sarrazin darauf, dass Islamreformer unter Polizeischutz stehen, oder nach dem westlichen Staat als Helfer rufen (S. 207). Daraus schließt Sarrazin, dass Reformen derzeit Wunschdenken sind.

Zunächst ist es ganz falsch, dass von Reformern nicht viel zu sehen wäre. Man muss es aber auch sehen wollen, denn westliche Medien berichten davon nicht auf Seite 1. Immer mehr und mehr Politiker, Religionsgelehrte und Intellektuelle tauchen auf, die etwas bewegen wollen. Reformen werden im arabischen Fernsehen offen debattiert. In Marokko wurde sogar das Gebot zur Tötung von Apostaten historisch-kritisch hinterfragt und vom Rat der Religionsgelehrten (also von Theologen mit einer theologischen Argumentation!) für irrig erklärt. Es tut sich sehr wohl etwas.

Auch Martin Luther überlebte nur, weil er unter „Polizeischutz“ stand. Gewirkt haben seine Reformen trotzdem. Weil der Staat ihm half.

Überhaupt ist es eine Illusion zu glauben, religiöse Reformen würden sich praktisch „von selbst“ vollziehen. Das war noch nie so. Erst recht nicht bei jenen Islamverbänden, die vom Ausland her bei uns gerade zu dem Zweck gegründet worden sind, um Reformen und Integration zu verhindern! Schon immer hat die Politik Einfluss auf die Religion genommen, schon immer war es eine Frage von Macht und Geld. Es ist also völlig plausibel und richtig, davon auszugehen, dass die westliche Welt einen ganz erheblichen Beitrag zu Reformen leisten kann, indem sie Reformer aktiv fördert und Traditionalisten aktiv deckelt. Auf ihrem eigenen Territorium kann die westliche Welt das mit Leichtigkeit und mit gutem Recht, denn der islamische Traditionalismus ist schlicht verfassungsfeindlich. Aber auch in Nahost: Angefangen von Wirtschaftsbeziehungen, über Geheimdienstaktionen bis hin zu militärischem Druck.

Es ist eine politische Grundsatzfrage, ob wir als westliche Welt diese Reformen anschieben helfen wollen oder nicht. Es ist in etwa so wie damals, als die ersten Demokratien in Europa den Bürgern in anderen europäischen Staaten halfen, ebenfalls zur Demokratie zu gelangen. Selbstverständlich sollten wir das tun, es ist in unserem eigenen vitalen politischen Interesse!

Die Maßnahmen Sarrazins

Bei praktischen Maßnahmen ist Sarrazin wie immer zurückhaltender, als die Analyse vermuten lässt. Hier findet sich auch viel richtiges. Neben bekannten Punkten, wie einer Reform der Sozialsysteme, einer klugen Zuwanderungspolitik, oder einer stärkeren Betonung der Integration in die deutsche Gesellschaft (Sarrazin muss natürlich von „Assimilation“ sprechen), findet sich vor allem auch das hier:

Sarrazin möchte die verbliebenen Staatskirchenprivilegien der christlichen Kirchen abschaffen! Weil sie sich überlebt haben. Das ist im Grundsatz richtig. Damit werden dem Islam automatisch die Schaffung ähnlicher Strukturen verweigert. Insbesondere möchte Sarrazin den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen abschaffen, und für alle Kinder eine Religionskunde einführen, in der ein liberales Islambild gezeichnet wird (wie passt das mit seiner Analyse des Islam zusammen?). Islamtheologische Lehrstühle an den Universitäten findet Sarrazin im Grundsatz richtig, wenn sie nicht traditionalistisch besetzt sind.

Fazit

Sarrazin gehört jetzt auch zu denen, die die „Schwarze Legende“ des Islam verkünden. Diese besteht vor allem in der Idee, dass es für das Islam-Problem KEINE Lösung gäbe, weil religiöse Reformen nicht möglich wären.

Damit liegt Sarrazin erstens sachlich falsch, und zweitens führt der Ausschluss einer Lösung des Islam-Problems zwangsläufig zu einem ungerechten Pauschalurteil über den Islam. Und das ist für eine Integration der Muslime äußerst schädlich: Sarrazin treibt potentiell liberale Muslime in die Arme der Traditionalisten!

In vielen Einzelfragen und vorgeschlagenen Maßnahmen hat Sarrazin zwar Recht, aber er verdirbt auch die guten Gedanken in seinem Buch durch die alles überwölbende Schwarzmalerei.

Alternative Buchempfehlungen

  • Tom Holland: Mohammed, der Koran und die Entstehung des arabischen Weltreichs. (Was wirklich am Anfang des Islam geschah.)
  • Prof. Hans Jansen: Mohammed, eine Biographie. (Jansen geht so weit, die Existenz von Mohammed infrage zu stellen. Davon abgesehen aber ein sehr lehrreiches Buch.)
  • Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum.
  • Ahmad Mansour: Generation Allah, und: Klartext zur Integration.
  • Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion.
  • Wikipedia: „Liberale Bewegungen im Islam“.

Warnung an Sarrazin-Gegner

Man löst die Probleme nicht, indem man die Schwarzmalerei von Sarrazin ablehnt. Der Kuschelkurs gegenüber dem Islam kann nicht fortgesetzt werden. Gerade die falsche Toleranz ist es, die zu dem worst case Scenario im Sinne Sarrazins führt. Das darf nicht geschehen!

Es müssen jetzt Zuckerbrot und Peitsche ausgepackt werden, damit der Islam in Europa eine ähnliche Reformentwicklung nimmt wie das Christentum. Reformer müssen massiv gefördert, Traditionalisten müssen effektiv gedeckelt werden. Und für die islamische Welt muss auf allen Ebenen (Wirtschaft, Kulturaustausch, Diplomatie, Enwicklungshilfe, Geheimdienste, Militärischer Druck) intensiv daran gearbeitet werden, dass sich Reformkräfte durchsetzen.

Kurioses

Sarrazin interpretiert den Koran recht schwarz und lehnt eine historisch-kritische Lesart ab, aber in einer Frage ist er völlig auf der Spur der historisch-kritischen Interpretation: Vom Kopftuch stehe nichts im Koran, meint Sarrazin! (S. 44) Recht hat er.

Selbstwiderspruch: Auf S. 28 meint Sarrazin, der Islam sei keine komplizierte Religion und verlange nicht viel vom Gläubigen. Auf S. 47 wird der Islam als kompliziertes System von Regeln für jede Tätigkeit beschrieben, die sich aus den Hadith ableiten. Dieser Widerspruch steckt bereits im islamischen Traditionalismus drin, und Sarrazin hat ihn wohl einfach übernommen, ohne zu merken, dass dieser Selbstwiderspruch geradezu nach einer religiösen Reform schreit.

In Sarrazins allererstem Buch „Deutschland schafft sich ab“ stand auf S. 268 f. ein ziemlich kluger Satz, dessen Weisheit Sarrazin leider verlassen hat:

„Liberale Muslime wehren sich dagegen, ‚dem Islam‘ als solchem bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und damit haben sie Recht. … Leider ist aber nicht zu bestreiten, dass unter den vielen teils uneindeutigen, teils widersprüchlichen Strömungen des Islam ein Gesellschaftsbild dominiert, bei dem die Trennung von Religion und Staat weitgehend noch nicht angekommen ist, die Gleichberechtigung der Geschlechter kaum existiert … Der innerislamische Krieg zwischen Okzidentalismus und Antiokzidentalismus ist noch in vollem Gange, sein Ausgang ungewiss.“

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 02. September 2018)

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668)

Lebenserfahrung und Wissensordnung des 17. Jahrhunderts

Der Simplicissimus von Grimmelshausen ist kein Schelmenroman und kein Entwicklungsroman, in dem ein Dorfdepp durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges stolpern würde – das ist nur der Anfang, der zum falschen Inbegriff des ganzen Buches wurde, weil der Verdacht offenbar mit Recht besteht, dass viele Leser das wegen seiner altertümlichen Sprache nur mühsam zu lesende Buch schon bald wieder aus der Hand legten und deshalb nur dessen Anfang bekannt war. Es ist ein wahres Glück, dass nun diese gelungene Übersetzung von Reinhard Kaiser in einem modernen, lesbaren Deutsch vorliegt, die diesen verkannten Schatz der deutschen Literatur wieder ans Licht des Tages befördert hat!

Beim Simplicissimus handelt es sich in Wahrheit um einen autobiographisch gehaltenen Roman, dessen drei Hauptthemen die folgenden sind:

a) Lebenserfahrung – wie es so zugeht in der Welt; wie vieles nicht so ist, wie es zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor aus eigener und echter Lebenserfahrung schöpft, die einiges zeitloses Gewicht bis in unsere modernen Tage hinein hat.

b) Lebensweisheit – worin das wahre Glück besteht. Hier wird viel in christlicher Sprache formuliert, aber es lässt sich auch alles nichtchristlich denken und deuten.

c) Wissensordnung – was man als Mensch des 17. Jahrhunderts alles wissen konnte über Religion und Gläubigkeit, antike Literatur, Geographie, Geologie, Medizin, Alchemie, zeitgenössische Literatur, Sitten der Völker, Torheiten und Laster und vieles andere.

Die bereisten Länder und Städte sind u.a.: In Deutschland: Spessart und Hanau, Magdeburg, Soest in Westfalen, Lippstadt, Köln, Wien und ein Kurort mit „Sauerbrunnen“ im Schwarzwald. Außerdem geht die Reise nach der Schweiz: Einsiedeln, Schaffhausen, Bern. Nach Paris in Frankreich. Nach Moskau, die Tartarei, Korea, Macao, Indien, Konstantinopel, Venedig, Rom. Nach Ägypten: Alexandrien. Schließlich nach einer südlichen Insel irgendwo bei Madagaskar. Die Rollen, in die Simplicius im Verlauf seines Lebens schlüpft, sind u.a.: Dorfdepp, Schüler, Narr, Soldat, Draufgänger und Jäger, Frauenheld, Ehemann, begehrter Schauspieler und Beau, Alchemist, Freund, Landwirt, Eremit, Pilger, Paradiesinselbewohner.

Einige der Abenteuer sind übertrieben phantastisch: Dreimal hat Simplicius es mit Geistern zu tun, jedesmal übrigens im Zusammenhang mit einem verborgenen Schatz. Einmal fährt er auf einer verhexten Bank zu einem Hexensabbat. Der Autor zwinkert mit den Augen dazu. In der Nachschrift schaut Simplicius die Hölle mit Lucifer. In der Mummelsee-Passage taucht Simplicius bis zum Mittelpunkt der Erde; das dabei geschilderte System von Wasserverbindungen von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt der Erde könnte durch den Platonischen Mythos über das Schicksal der Seele nach ihrem Tode inspiriert worden sein (Dialog Phaidon 107d – 115a). Schließlich macht Simplicius zwei Fernreisen, einmal über Moskau bis Korea, dann nach Ägypten.

Der Leser wird zahlreiche Redewendungen wieder erkennen, die bis heute in der deutschen Sprache vorhanden sind und unsere Sprache lebendig machen. Man entdeckt auch ein entwickeltes deutsches Nationalbewusstsein; dieses ist also nicht erst im Gefolge der französischen Revolution entstanden. Für Grimmelshausen sind die Nationalstaaten klar abgesteckt, die typischen Eigenarten anderer Völker werden treffsicher beschrieben. Die Vision des Jupiter von einem Europa unter deutscher Führung kommt hinzu.

Das Buch ist auch sehr sozialkritisch. Man meint, ein Buch aus der Zeit der französischen Revolution in der Hand zu haben, wenn man die gesellschaftliche Hierarchie am Bild eines Baumes gezeigt bekommt, auf dem die Adligen hocken und um Karriere kungeln. Sehr modern wirkt auch die bereits angesprochene Vision des Jupiter über die Idealzukunft Europas, hier unter deutscher Führung. Ebenfalls verblüffend modern ist der Schluss des Buches: Simplicius flieht vor der Welt auf eine einsame Insel, wo er in Genügsamkeit paradiesisch lebt. Wer dächte da nicht an gewisse moderne westliche Menschen, die die Einfachheit weniger entwickelter Völker für das wahre Glück halten? Auch der Stil ist teils extrem modern. Das Buch scheint wie ein Verschnitt aus den Sonetten des Andreas Gryphius und den geistig weiten Überlegungen eines Montaigne.

Alles in allem macht das Buch einen wunderlich aufgeklärten Eindruck, der Autor zeigt eine sehr gesunde Skepsis und viel gesunden Menschenverstand, den er ohne Anleitung eines anderen benutzt. Er denkt auch nicht nur oberflächlich dahin, sondern macht sich tiefer seine Gedanken, jedoch immer aus der „Froschperspektive“ des Einzelnen; ein alternativer Gesellschaftsentwurf entsteht nicht. Zahllose Anspielungen auf antike Autoren sind eingeflochten, ebenso einige Verweise auf zeitgenössische Autoren. Der Autor muss extrem belesen und gut bekannt mit der antiken Geisteswelt gewesen sein, was seine Aufgeklärtheit besser verstehen lässt. Nett auch, wie er den Raimundus Lullus beurteilt, das muss man selbst gelesen haben und versteht es nur, wenn man sich selbst schon mit Lullus beschäftigt hat.

Dennoch bricht der Autor noch nicht aus dem Korsett des christlichen Weltbildes aus, sondern benutzt es, um in ihm seine Gedanken zu entfalten. Man muss hinter der Frage nach der christlichen Moral und der christlichen Glückseligkeit auf Erden dieselben Fragen in säkularisierter Form erkennen, sonst würde das Buch für moderne Leser unerträglich sein.

Die Bedeutsamkeit des Buches und sein Einfluss müssen als sehr hoch eingeschätzt werden. Es stellt sich z.B. die Frage, inwieweit Goethes Faust davon beeinflusst war: Auch dieses Werk ist eine Summe von Lebenserfahrung und Lebensweisheit, auch dies eine Wissensordnung, und auch hier wird vieles in christlichen Bildern ausgedrückt. Es gibt überhaupt zahlreiche Parallelen zwischen Goethes Faust und dem Simplicissimus des Grimmelshausen. Ein wahrhaft unergründliches und unerschöpfliches Werk!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. August 2012)

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