Monat: Juni 2025

Arthur Conan Doyle: Die Maracot-Tiefe (1927-1929)

Genre-prägende Verarbeitung des Atlantis-Themas

Wir kennen Sir Arthur Conan Doyle als den Schöpfer des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Hier jedoch könnte man meinen, einen der klassischen Science-Fiction-Romane von Jules Verne in Händen zu halten: Ein international besetztes Team von Wissenschaftlern taucht in die tiefsten Tiefen des Meeres hinab, und erlebt dort Abenteuer, deren Grundlage ein intelligentes Ausphantasieren des damaligen Standes der Wissenschaft ist. Der Grundton ist optimistisch, sowohl was die internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler anbelangt, als auch was den Fortschritt der Wissenschaft und der Aufklärung anbelangt. Es ist eine Lust, das zu lesen.

Die Genialität und Kreativität, mit der hier das Atlantis-Thema verarbeitet wurde, war offenbar so eindrucksvoll, dass sich eine ganz neue Perspektive auf das Atlantis-Thema ausgeprägt hat, die seitdem in immer neuen Variationen wiederkehrt. Die Merkmale dieser Perspektive auf das Atlantis-Thema sind:

  • Atlantis existierte vor 12000 Jahren. Damals hatte Atlantis einen „bösen“ Herrscher, durch den es unterging.
  • Es gab aber auch dessen „guten“ Gegenspieler, der ein Fortleben der Atlanter unter Wasser durch seine Genialität ermöglichte.
  • Das wurde ermöglicht durch eine Technik, die fortschrittlicher ist als die Technik der Gegenwart (Atomspaltung, Gedankenkino), bzw. durch übernatürliche Kräfte, Kristalle usw.
  • Wiedergeburt und Erinnerung an ein früheres Leben spielen eine Rolle. Ebenso Unsterblichkeit oder Weiterleben als Geistwesen, das inspiriert.
  • Irgendwann (nach langen geologischen Zeiträumen) wird Atlantis wieder auftauchen.
  • Wissenschaftler werden nach Atlantis verschlagen und begegnen auf dem Weg dorthin einem Ungeheuer der Tiefsee.
  • In Atlantis werden sie mit archaischen Sitten konfrontiert (Sklaverei, Tötung von Mischlingen).
  • Erneut muss der Kampf Gut gegen Böse bestanden werden.
  • Der Kampf wird mit übernatürlichen Kräften geführt, die u.a. durch List besiegt werden müssen.
  • Je nach Ausgang bleibt Atlantis bestehen oder geht unter.
  • Am Ende gelingt den Wissenschaftlern die Rückkehr in unsere Welt.

Die Motive wurden z.B. aufgegriffen in Walt Disney Comics, in denen die Atlanter im Laufe der Zeit zudem Fischschwänze entwickelt haben, oder der Walt Disney Zeichentrick-Film „Atlantis: The Lost Empire“ von 2001. Ein Atlantis, das unter Wasser fortbesteht, über hohe Technologie verfügt und eines Tages wieder auftauchen wird, ist auch zu einer typischen Vorstellung eines pseudowissenschaftlichen Atlantis geworden. Die fortentwickelte Technik taucht allerdings schon in Francis Bacons „New Atlantis“ auf und wurde hier von Sir Arthur Conan Doyle offenbar erneut literarisch verarbeitet.

Alles in allem ist die „Maracot Deep“ ein geniales Stück Literatur, das jeder Atlantis-Interessierte und Jules-Verne-Fan gelesen haben sollte, dessen Science-Fiction-Charakter aber immer klar sein sollte.

PS: Zum genauen Ort der Maracot Deep: Auf der einen Seite spricht der Roman wiederholt von einem Ort 27N28W, auf der anderen Seite spricht er wiederholt von einem Ort 200 Meilen südwestlich der Kanaren. Das passt nicht zusammen, denn 27N28W liegt ca. 650 Meilen westlich der Kanaren. Beide Orte zeigen keinerlei bemerkenswerte Vertiefung im Meeresboden. Es ist also alles Fiktion.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Januar 2017)

Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike – Porträt einer Epoche (1994)

Extrem lehrreiches Buch über Antike, Mittelalter und europäische Kultur

Dieses Buch stellt eine Zeit in den Mittelpunkt, über die man sonst nur unzureichend informiert wird: Den Übergang von der Antike zum lateinischen Mittelalter. Obwohl man es nicht erwarten würde, lernt man hier enorm viel über die Antike, indem man sieht, auf was die Antike an ihrem Ende komprimiert wurde. Man lernt aber auch enorm viel über das Mittelalter, denn hier sieht man, wie es entstand. Vieles von dem, was wir für typisch mittelalterlich halten, ist in Wahrheit spätantik.

Für manche Leser mag der Ansatz ungewöhnlich sein, sich einem Zeitalter über seine Literatur zu nähern. Aber eigentlich ist das genau der richtige Ansatz: Hier diskutiert man die originalen Quellen, aus denen die Geschichtsschreiber dann die Erzählung der Geschichte ableiten. Mancher wird dabei die Seiten über Themen wie Bibelepik als langweilig überblättern, aber spätestens die Berichte über die Zustände während des schrittweisen Zusammenbruchs des römischen Reiches werden jeden fesseln.

Wir lesen von gebildeten Römern, die den bald kommenden Zusammenbruch nicht voraussehen. Wir lesen hier von Einzelschicksalen, die mit dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen zurecht kommen müssen. Wir sehen, wie es zu Arrangements mit den eindringenden germanischen Stämmen kommt. Wir sehen, wie die Kirche oft die letzte Institution ist, die noch funktioniert, und deshalb die Aufgabe des Staates übernimmt. Wir sehen, wie manche – als Bischöfe – die Verteidigung ihrer Heimat organisieren, andere von Germanen enteignet werden, wieder andere von ehrlichen Germanen unerwartet entschädigt werden, und wieder andere in noch sichere Gebiete des Reiches umgesiedelt werden. Wir sehen, wie die Bildung abnimmt und mit dem Schulwesen ihre Basis verliert. Wie die Bildung immer grobschlächtiger wird, bis sie ganz verschwindet. Wir sehen, wie manche Gebildete sich ins Mönchstum flüchten, um dort mit selbsterstellten Regeln für den Erhalt der Bildung zu sorgen (Cassiodor).

Über Antike und Mittelalter wusste man auch ohne dieses Buch Bescheid, und man wusste auch, dass es dazwischen die Völkerwanderung und überhaupt „irgendwie“ eine „dunkle“ Zeit gab, aber wie dies alles nun wirklich zusammenhängt, wie die Antike im Einzelnen zum Mittelalter transformiert wurde, dazu erfährt man in diesem Buch sehr viel. Man bekommt auch eine Ahnung davon, durch welche Zerrbrille wir die Antike teilweise noch heute sehen, wenn man sich klar macht, welche Prägungen die Wahrnehmung der Antike durch den Übergang zum Mittelalter erfahren hat.

Eine interessante Ergänzung zu diesem Buch könnte „Im Schatten des Schwertes“ von Tom Holland sein, das die Zeit der Spätantike im östlichen Mittelmeer schildert: Byzanz und Islam.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Juni 2015)

Stichworte: 5 von 5 Sternen, Antike, Bildungsverlust, Cassiodor, Dunkles Zeitalter, Europa, Germanen, Humanismus, Manfred Fuhrmann, Mittelalter, Mönchstum, Sachbuch, Spätantike, Völkerwanderung, Westeuropa

Marc-Antoine Mathieu: Gott höchstselbst (2009)

Gelungene Groteske über Gottes Besuch auf Erden

In „Gott höchstselbst“ spielt Marc-Antoine Mathieu den Gedanken durch, was wohl wäre, wenn Gott sich (nach höchst traditioneller Vorstellung) als alter Mann mit langem Bart auf Erden blicken lassen würde. Der Cartoon spießt nicht nur die theologischen bzw. philosophischen Probleme dieser Absurdität gekonnt auf, sondern entlarvt anhand der Reaktionen der Menschen auf das Ereignis deren allzu menschliche Menschlichkeit. Eingebaut ist auch eine subtile Reminiszenz an die Episode mit dem Computer Deep Thought und der Antwort „42“ auf die Frage nach dem Universum, dem Leben und überhaupt allem in „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ von Douglas Adams.

Die Zeichnungen sind ästhetisch ansprechend und nicht überladen, wechseln häufig in origineller Weise die Perspektive des Betrachters, und beleben die Story durch überraschende Übergänge.

Leider kann dieser Cartoon keine Lösung für die aufgeworfenen Fragen anbieten. Die großen (bekannten) Fragen werden zwar alle angerissen, aber nirgendwo wirklich weitergeführt. Damit bleibt am Ende nur die Groteske in der Erinnerung des Lesers zurück. Das ist ein wenig schade. Die Groteske ist aber gelungen. Wer sich noch nicht allzu sehr mit den Fragen rund um Gott befasst hat, könnte es auch als Anregung und Einstieg in weiteres Nachdenken begreifen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. April 2019)

Norbert Bolz: Das Wissen der Religion – Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen (2008)

Allzu plumpe Religionsverneinung ist auch nicht rational

Sprache und Stil: Bolz spricht teilweise nicht sachlich und begründend, sondern in mythischer Sprache, in Andeutungen oder schwärmerisch. Auf diese Weise wird manches Richtige, was er zum Ausdruck bringen will, beschädigt. Bolz „raunt“ häufig, wie man es aus religiös motivierten Texten unserer Tage her nur allzu gut kennt; das kommt beim skeptischen Leser gar nicht gut an.

Geistesgeschichte überbewertet: Es ist ja richtig, dass Bolz die Geistesgeschichte anführt, um die allgemeinen Denkstrukturen der Gesellschaft kenntlich zu machen. Aber als Grund und Maßstab für das eigene Denken kann die Geistesgeschichte nicht dienen. Ich persönlich glaube doch nicht an x, nur weil sich x in der Gesellschaft als Denken entwickelt hat oder so und so bewährt hat. Etwas muss für mich ganz allein wahr sein, nicht allgemein oder bewährt, damit man es glauben kann. Diese persönliche, existentielle Perspektive kommt bei Bolz oft zu kurz.

Religion und Metaphysik werden bei Bolz nicht sauber unterschieden. Manches wäre richtig, wenn man es auf eine philosophische Metaphysik bezöge. Aber wenn man denselben Gedanken mit Religion statt Metaphysik formulliert, dann macht man eine viel zu weitgehende Aussage.

Alles in allem ein anregendes, aber über weite Strecken auch schwierig geschriebenes und deshalb anstrengend zu lesendes Buch, das gute Gedanken nicht sauber genug darlegt und eine viel zu große Nähe zur Religion pflegt; wer sich noch nie mit dieser Perspektive beschäftigt hat, sollte es lesen, aber die Wahrheit ist jenseits von Bolz und seinen Gegnern zu finden: Zwischen allen Stühlen.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 26. Februar 2012)

Peter Prange: Der letzte Harem (2007)

Übergang der Türkei vom Sultanat zur Republik mit Mord an den Armeniern

Historischer Hintergrund für diesen Roman ist das Ende des Sultanats in der Türkei, die Machtübernahme europäisch orientierter Kräfte, der Erste Weltkrieg und der Massenmord an den Armeniern, unter Anwesenheit von deutschen Verbündeten.

Das alles wird geschildert aus der Perspektive von zwei Frauen, die in den Harem des Sultans verschleppt werden, dort Karriere machen, und dann am Ende der Monarchie ihren eigenen Weg ins Leben finden müssen. Verstrickt darin ist ein fortschrittlicher türkischer Offizier und ein deutscher Mediziner. Das Ende des Romans ist teils melancholisch, teils sehr erfreulich.

Die literarische Qualität ist – wie so oft bei Peter Prange – gehobenes Mittelmaß und schöner Schmalz, der mehr sein könnte, aber leider nicht mehr ist. Worauf es aber wirklich ankommt bei diesem Historienroman ist in der Tat der historische Hintergrund, der durch die Handlung auch tatsächlich gut verlebendigt wird. Gerade deshalb ein lesenswertes Buch!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Januar 2015)

Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie (2003)

Völlig am Ziel vorbei geredet

Wenn man von der „Macht der Philologie“ hört, dann denkt man an die große Bedeutung, die die richtige Interpretation alter (und neuer) Texte für die Gegenwart hat, insbesondere für Humanismus und Aufklärung. Man denkt an die historisch-kritische Methode, an Historisierung, korrekte Einordnung vergangener Zeiten, Korrekturen von bedeutsamen Schreibfehlern, oder die Wiedergewinnung bedeutender Texte. Und man denkt auch an die große Aufgabe, dies nun alles auch für den Koran und andere islamische Grundlagentexte durchzuführen, ohne Rücksicht auf die allzu Rücksichtsvollen.

Enttäuschte Erwartungshaltung

Aber in diesem Buch wird unter „Macht“ etwas anderes verstanden. Der Autor versteht unter „Macht“ die Ergriffenheit des Philologen während seiner philologischen Tätigkeit, bzw. den fast schon körperlichen (An-)Trieb, sich philologisch zu betätigen. Sozusagen den Eros der Philologie. Letztlich ist „Macht“ hier natürlich eine unpassende Wortbildung, weil das Wort „Macht“ üblicherweise so nicht gebraucht wird.

Und leider wird die Ausführung dieses Ansatzes den Erwartungen nicht gerecht. Man hätte sich gewünscht, von Platon und der intrinsischen Motivation des Philosophen zu hören, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, statt sich zurückzuziehen, oder von der Motivation der Stoiker versus der Demotivation der Epikureer, oder von Platons Mythen, die auch das Ziel verfolgen, die Rationalität emotional zu unterstützen. Oder ganz modisch: Von Schamanen und ihren Beschwörungen, von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, von Sigmund Freud und seinen zwei Antrieben Eros und Tod. Zum Beispiel.

Statt dessen: Langweilige Betrachtungen von Walter Benjamin über Wolken, die über das Heidelberger Schloss ziehen. Und vieles andere „gelehrige Geschwätz“. Durchaus nicht falsch. Aber immer am Punkt vorbei. Eine lange Kette von mühsamen Assoziationen, an deren Ende man sich fragt, was man jetzt eigentlich gelernt hat. Nutzlos in diesem Sinne wie die „Dialektik der Aufklärung“. Die einzelne Denkfigur kann nützen, wenn der Leser sie aus ihrem morastigen Zusammenhang befreit und selbst durch Klarheit zu neuem, besserem Leben erweckt.

Kein überzeugendes Buch. Habe es nach zwei Fünfteln abbrechen wollen –
– Habe es dann aber doch zu Ende gelesen. Man lernt so dies und das. Und bekommt diesen oder jenen Einblick. Aber eher im Sinne von Wissenschaftsgeschichte. Nicht im Sinne von Wissenschaft selbst.

Nach dem ersten Kapitel hört man dann nicht mehr viel von der „Macht“ der Philologie, und die Überlegungen geraten in das Fahrwasser von üblichen philologischen Überlegungen. Vieles ist „g’schwoll’nes G’schwätz“, das dem Leser gegenüber offenbar bewusst einen klaren und unzweideutigen Zugang zum Verständnis des Textes verstellt. Man kann streckenweise nur raten, was das Buch wohl meint. Am Ende zeigt sich oft, dass man dasselbe auch wesentlich klarer und einfacher hätte formulieren können. An so einem ärgerlichen Text möchte man nicht „scheitern“. So weit kommt’s noch …

Gegen Ende kommt das Buch wieder auf die Ergriffenheit, auf die „Macht“ der Philologie zurück, von der bisher nur im ersten Kapitel die Rede war. Das Erlebnis der Konfrontation mit einer komplexen zu lösenden Aufgabe, für deren Lösung man nicht unter Zeitdruck steht, wird als das Erlebnis bezeichnet, was die Faszination der Philologie ausmache. Das ist aber in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Diese Faszination kann man auch beim Schachspiel erleben, in einem schwierigen Stellungsspiel, ohne Schachuhr. Ja, das ist auch eine Faszination. Aber es ist nicht die Faszination der Philologie.

Die wahre Macht der Philologie

Aus irgendwelchen Gründen redet das Buch völlig am Kern der Sache vorbei. Die Faszination der Philologie besteht natürlich darin, dass die alten Texte elementare Einsichten über das Menschsein enthalten, die jeden betreffen und berühren. Deshalb u.a. haben sich diese alten Texte schließlich auch erhalten, und andere Texte nicht. Die Apologie des Sokrates hatte offenbar mehr Menschen zu allen Zeiten etwas zu sagen, als religiöse Hymnen oder technische Anleitungen, die verloren gegangen sind. Eine zweite Betroffenheit als Mensch ergibt sich aus der Erkenntnis, dass alte Texte über geistesgeschichtliche Entwicklungen Auskunft geben, die unser Denken bis heute prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – und dass wir uns dessen nur bewusst werden und dadurch freier und verständiger werden können, wenn wir die alten Texte kennen. Hüter und Pfleger dieses wertvollen Erbes der Menschheit zu sein, das ist die faszinierende Aufgabe der Philologie. Dies ist die Faszination der Philologie, dies ist der Zauber, der von ihr ausgeht, dies ist die Ergriffenheit dessen, der mit alten Texten arbeitet.

Das gilt auch für zunächst unwichtig erscheinende Texte, denn man weiß nie, zu welchen Schlussfolgerungen sie führen können. Es ist ein komplexes, nie endendes Puzzlespiel, das ist richtig. Der Philologe ist Gralshüter und Schatzsucher zugleich. Auf dem Weg zum Schatz sind natürlich – Dan Brown lässt grüßen – einige faszinierende Rätsel zu lösen, aber das eigentlich faszinierende ist der Schatz. Der Weg ist nicht das Ziel.

Wilamowitz-Moellendorff ist da mit seiner Erkenntis der Pflichtethik aus dem humanistischen Menschenbild heraus erheblich näher am Thema dran als das Buch. Ein authentisches Verständnis von Pflicht, nicht als blinder Gehorsam, sondern als innerer Antrieb, das zu tun, was einem als Mensch zu tun zukommt, ein solches authentisches Verständnis von Pflicht kann z.B. aus alten Texten gewonnen werden, und den, der es begreift, ergreift es. Pflicht eben. Von dieser Ergriffenheit ist in diesem Buch aber nicht die Rede.

Demotivierender Defätismus

Statt dessen finden wir die völlig unverständliche Auffassung, dass niemand mehr an den Nutzen der Geisteswissenschaften glaube, und dass alle Versuche, einen Nutzen zu begründen, gewissermaßen unästhetisch seien. Unästhetisch? Wo doch das Schöne selbst der höchste Nutzen ist. Unverständlich.

Völlig unverständlich auch der folgende Satz: „Nie wieder möchte ich Behauptungen hören müssen wie den Satz, die Geisteswissenschaften seien ‚aufklärend‘, weil sie angeblich den Auftrag haben, ‚als Barriere gegen die Remythisierungstendenzen unserer Zeit‘ zu fungieren.“ – Gewiss, solche Anforderungen sind manchmal etwas oberflächlich. Die persönliche Ergriffenheit durch die Botschaft alter Texte ist immer zunächst intim und privat, und ihre Anwendung für die Öffentlichkeit erscheint manchmal als Schamverletzung und Profanierung. Aber solche Anforderungen sind eben auch nicht falsch, denn die Philologie kann das tatsächlich leisten. Fühlt sich der Autor dieses Buches denn nicht ergriffen von der Macht der Philologie, Einsichten bewirken zu können, zuerst bei sich selbst, und dann auch bei anderen?

Aber die Gedanken verlaufen seltsam krumm in diesem Buch. So heißt es z.B., dass Historisierung etwas „erschaffen“ würde, was sonst nicht da wäre. Das ist aber ganz falsch. Historisierung ist nichts anderes als eine richtige Erkenntnis von real existierenden Sachverhalten. Wer nicht erkennt, dass Dinge vergangen sind, einer anderen Zeit angehören, und unter der Perspektive dieser Zeit gesehen werden müssen, und nicht unter der Perspektive der Gegenwart, und dass die Perspektive der Vergangenheit einem Urteil unter der Perspektive der Gegenwart unterliegt, der schaut die Dinge nicht so an, wie sie sind, sondern der ist es, der den Dingen etwas zufügt, was sie nicht an sich haben. Ebenso ist es mit dem Klassischen. Klassisch ist, wo vergangene Perspektive und heutige Perspektive zusammenfallen. Etwas buchstäblich zeitloses. Auch da wird nichts „erschaffen“, sondern erkannt. Die Theorie dieses Buches, dass Historisierung sich nicht dem Streben nach richtiger Erkenntnis verdankt, sondern dem Streben nach der Überwindung des Todes, ist sehr schräg.

Es ist auch befremdlich, wie leicht sich der Autor dieses Buches der Auffassung hingibt, dass nach dem Tode nichts mehr komme. Woher will er das wissen? Das ist doch plumper Materialismus. Ein Geisteswissenschaftler weiß es doch besser. Es ist nicht so einfach. Es stört auch, wenn der Autor von seinen „sozialdemokratischen“ Instinkten spricht. Da fragt sich der Leser doch, ob das hier noch eine Abhandlung mit argumentativem Anspruch sein soll, oder eher ein persönliches Tagebuch? Seltsam auch, wenn die preußische Moral von Wilamowitz-Moellendorff mit „Eisen“ assoziiert wird und das für schlecht gehalten wird. Wäre eine Moral aus Gummi denn besser? Eisen ist doch für eine Moral eine sehr schöne Assoziation. Eisen lässt sich nämlich schmieden, verliert aber danach nicht so leicht seine Form, bricht aber andererseits auch nicht, sondern biegt sich, aber nur, wenn es gar nicht mehr anders geht. Man vergleiche auch mit Granit.

Und ach ja: Werner Jaeger … und dass man so heute nicht mehr denken könne. Nicht wirklich eine neue Einsicht. Aber was dann? Wie sollen wir denn Identität sinnvoll konstruieren? Denn ohne Identität lebt es sich nicht gut. Werner Jaeger hat uns eine Aufgabe gestellt, die wir noch nicht gelöst haben. Immer diese abwehrenden Reden gegen Jaeger, deren bloße Existenz das Eingeständnis ist, dass an Jaeger doch was dran war. Wenn an Jaeger nichts dran gewesen wäre, würde man von ihm nämlich schweigen. Es ist also ein komplexes Problem, das schon Jahrzehnte ungelöst vor uns liegt. Man könnte das faszinierend finden. Und sich zur Tat animiert fühlen.

Wir leben in einer Zeit, in der das Wort „Humanismus“ eine äußerst bedenkenswerte Bedeutungsverschiebung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit erfährt: Unter „Humanismus“ verstehen heute viele eine auf Atheismus gegründete Weltanschauung. Es ist so töricht. Und so elend. Man könnte sich dagegen empören. Aus innerster Seele. Dieses ganze gegenwärtige Unverständnis für das Erbe der Vergangenheit, für Tradition, für die Tiefe der Geschichte, für die conditio humana, und wie darüber die Errungenschaften des Westens aufgegeben werden zugunsten eines kulturvergessenen Kulturrelativismus: Man könnte sich darüber empören und kreativ werden. Daran geht dieses Buch aber vorbei.

Fazit

Ein Buch, das vor manche Tür geführt hat. Hineingehen musste man aber immer selber. Das Buch blieb draußen.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 08. Oktober 2017)

Elif Shafak: Der Architekt des Sultans (2013)

Erzählter Traum von einer besseren Türkei

Der Roman „Der Architekt des Sultans“ von Elif Shafak ist weniger ein realistischer Historienroman, der die wahre Historie trickreich mit einer spannenden Geschichte hinterlegen würde. Vielmehr ist es ein fast schon märchenhaftes Geschehen, das sich vor dem nur blass gezeichneten Hintergrund der Geschichte Istanbuls im 16. Jahrhundert entfaltet. Im Zentrum steht die Geschichte des Jungen Jahan, der als Elefantenführer nach Istanbul kommt und dort Schüler des berühmten Hofarchitekten Sinan wird.

Zentrale Themen des Buches sind Liebe, Vertrauen und Wohlwollen, dann auch Wissen und Bildung, und als Gegensatz dazu Hass, Verbitterung und religiöse Engstirnigkeit. Da ist zunächst die Liebe des Jungen zu seinem klugen Elefanten. Dann die mordende Geldgier des Kapitäns, der ihn nach Istanbul brachte. Dann der Hofarchitekt, der seine Schüler seltsamerweise danach aussucht, ob sie seelisch heilungsbedürftig sind. Die Sultane, die ihre Konkurrenten um den Thron ermorden lassen. Der schwelende Hass diverser Romanfiguren auf das Osmanische Reich, weil es ihr Land erobert und ihre Familien ermordet hat. Der Forscherdrang des Hofastronomen. Die Engstirnigkeit der Religionsgelehrten. Die Buchhändler voller Weisheit. Die Zusammenarbeit von Menschen verschiedener Religion und Herkunft. Eine islamische Gläubigkeit getragen von Liebe und Barmherzigkeit. Idyllische Zigeuner mit dem Herz am rechten Fleck. Usw. usf.

Shafaks Roman ist im Grunde ein Märchen, das auf die heutige Türkei abzielt, in der dieselben Kräfte wie im Roman immer noch schwer miteinander ringen.

Erzählerisch ist der Roman stark, die Sprache angenehm und gefällig. Man ist durch jede einzelne Episode aufs neue gefesselt. Eine Schwäche ist jedoch, dass der Roman nur einen dünnen roten Faden hat, in den viele kleine Nebenerzählungen eingewoben sind, die nicht dazu beitragen, die Geschichte voranzutreiben, und die teilweise so dramatisch sind, dass man jeweils einen eigenen Roman daraus hätte machen können. Auch die Auflösung diverser Verwicklungen am Schluss des Romans kommt etwas überraschend und hat sich eher nicht im Verlauf des Romans abgezeichnet. Auch die dramatische Eingangsszene wird im Roman dann eher beiläufig abgearbeitet, und auch der Prolog mit dem „Mittelpunkt des Universums“ ist am Ende nicht so zentral für diesen Roman, wie man erwarten könnte. Der Roman krankt ein wenig daran, dass er zu viele „zentrale“ Themen aufmacht, so dass am Ende keines davon mehr wirklich „zentral“ ist.

Eine weitere Schwäche ist eine teilweise zu sehr zur Schau gestellte Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Im wirklichen Leben geht es manchmal doch robuster zu, ohne dass es weniger herzlich wäre. Hier ist man versucht, das Wort vom „Frauenroman“ zu bemühen. Schließlich wurde das ganz am Anfang des Romans angeschlagene Gegensatzpaar „Liebe“ vs. „Liebe zum Lernen“ bzw. zur Wahrheit nicht wirklich bearbeitet. Richtig ist, dass Jahan kein Glück in der Liebe hat. Aber der Grund dafür scheint mir keineswegs seine Liebe zum Lernen und zur Wahrheit zu sein, die übrigens nur recht selten im Roman aufscheint. Beide Dimensionen bleiben unverbunden nebeneinander stehen, und stoßen sich nicht gegenseitig. Aus diesem Thema hätte man mehr machen können.

Eine kleine Liste weiterer Themen, die der Roman bearbeitet:

  • Das Verhältnis von Meister und Schüler.
  • Ein Leben voll begeisternder Arbeit, über der das Leben selbst zu kurz kommt.
  • Unerfüllte Liebe. Einsamkeit.
  • Abschied, Tod, Verlust, Verrat.
  • Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft, Verkleidung als Mann.
  • Studienreisen von osmanischen Architekten nach Rom.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. Juli 2017)