Monat: September 2025

Jared Diamond: Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen (2005)

Völlig am Thema vorbei!

Der Titel „Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ weckt Hoffnung auf Antworten zu Fragen wie z.B.: Warum ging das römische Reich unter und wurde von der dunklen Zeit des Mittelalters abgelöst? Warum ging die antike Religion zugrunde und warum wurden die Menschen plötzlich Christen? Warum scheiterte in der Antike die Demokratie so endgültig und wurde durch 2000 Jahre Monarchie abgelöst? Wird der Westen als Kultur überleben oder wird der Islam die Errungenschaften der Aufklärung wieder zurückdrehen? Wird Deutschland als transkulturell integrierte Nation überleben, oder gehen wir in einem desintegrierten Völkergemisch auf, das im Bürgerkrieg endet?

Aber nichts davon in diesem Buch!

Dieses Buch lenkt den Blick nur auf ökologische und ökonomische Aspekte. Umweltkatastrophen werden als Untergangsszenarien an die Wand gemalt. Dies ist ein Buch für Multikulti-Fanatiker, die die islamistische Unterdrückung der Frau als kulturelle Eigenart „tolerieren“ und nur einen Blick dafür haben, wie man die Energie noch teurer machen kann, denn man muss ja den Planeten retten. Wen kümmert da schon der Niedergang der Aufklärung in der deutschen Gesellschaft?

Ergo null Punkte.

Wer wissen will, was man gegen den Niedergang unserer Gesellschaft tun könnte, der sollte besser das Buch „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates lesen.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 27. Juli 2008)

Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung (1997)

Gesellenstück eines Schriftstellers

In „Beerholms Vorstellung“ übte sich der 22jährige Daniel Kehlmann daran, seinen Stil und seine Themen zu finden, mit denen er als Schriftsteller Erfolg haben würde. Vieles wird man in seinen späteren Werken in verwandelter Form wiedererkennen. Die einzelnen Miniaturen sind bereits sehr gelungen, doch es fehlt noch der große Zusammenhang. Der rote Faden der Geschichte erscheint nicht zwingend und entwickelt sich jeweils überraschend, eben experimentell, und dabei noch ohne den richtigen Ernst, den ein 22jähriger wohl auch noch nicht hat.

Kehlmann gelingt es, typische Erfahrungen ironisch einzufangen und zum Thema zu machen, die den Leser sagen lassen: Ja, genau so, genau so habe ich es auch schon erlebt und empfunden, und genau so sollte man auch darüber lachen. Auch das Verschwimmen von Realität und Traum ist hier schon perfekt gelungen.

Auch die für Kehlmann typische Skurrilität der Geschichte und ihrer Personen ist schon angelegt: Es geht um einen jungen Mann, der sich von der Metaphysik der Mathematik dazu verleiten lässt, Theologie zu studieren, bis sich sein Talent zur Zauberei Bahn bricht. Schließlich zerfließen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, und das Ende ist tragisch.

Ein Thema ist die Unfähigkeit des Protagonisten, zu sich selbst zu finden, und nie bei dem bleiben zu können, was er ist und hat. Wohl eher ein Thema für junge Leute wie den Autor, die sich erst noch finden müssen, ebenso wie das Thema Suizid; langfristig ist aber jeder angefragt.

Alles in allem lesenswert, aber kein Muss.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 03. März 2015)

Hans-Olaf Henkel: Die Abwracker – Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen (2009)

Hinter der Finanzkrise steckt der Neosozialismus!

Hans-Olaf Henkel hat als gut vernetzter Industrieller den Beginn der Finanzkrise 2008 hautnah miterlebt. Hier berichtet er, wie sich die Dinge aus seiner Sicht entwickelten, und wie er die Lage einschätzt. Der Leser lernt hier ganz andere Einblicke und Sichtweisen kennen, als sie gemeinhin verbreitet werden. Da Henkel auch in den USA lebte, kann er auch von dort aus unmittelbar eigenem Erleben berichten.

Einsicht Nr. 1 ist, dass der Hauptschuldige an der Finanzkrise von 2008 nicht etwa der „Kapitalismus“ oder „Gier“ waren, sondern im Gegenteil der von Henkel so genannte „Neosozialismus“ der Politiker. Die Politiker hatten die Blasen, die 2008 platzten, selbst durch unrealistische Gesetze verursacht, mit denen sie sich beim Wahlvolk beliebt machen wollten. Hinzu kommt, dass ausgerechnet die deutschen Staatsbanken am tiefsten in den faulen US-Papieren investiert waren – auf Anraten von Finanzminister Steinbrück (SPD) unter Einsatz staatlich garantierter Kredite.

Auch wenn Henkel übersehen hat, dass die Fördergesetze in den USA nur einen Teil der Immobilienblase direkt verursachten, so ist doch richtig, dass sie der Trigger zum allgemeinen Kredit-Run waren, weil alle mitziehen mussten, um am Markt zu bleiben. Vom Schattenbankensystem sagt Henkel leider nichts. Generell liegt Henkel aber richtig damit, dass die Risikobewertungssysteme der Banken systematisch falsch waren, und damit maßgeblich zum Crash beitrugen, ob nun Schattenbank oder nicht. Der Fehler war, dass sie die Abhängigkeiten von Risiken außer Acht ließen. Die Risiken verschiedener Kreditobjekte wurden gegeneinander verrechnet, doch mit der Möglichkeit, dass ganze Märkte einbrechen, rechnete keiner.

Henkel prägt für das naiv-soziale Verhalten der Politiker den Wählern gegenüber einen neuen Begriff, nämlich „Neosozialismus“. Paradoxerweise jammern jedoch alle, dass wir in „schlimmen“ „neoliberalen“ bzw. „kapitalistischen“ Zeiten leben würden … das ist kaum der Fall. Dass z.B. das Ziel von 25% Rendite von Deutsche-Bank-Chef Ackermann auf das Eigenkapital und nicht auf die Gesamtbilanz bezogen war, hört man in allgemeinen Medien nicht.

Aber auch die Wirtschaft bleibt von Kritik nicht verschont. Henkel nennt u.a. Namen für eine Hall of Shame von Unternehmensvorständen, die sich als Abwracker betätigt hatten.

Am Ende des Buches unterbreitet Henkel einige konkrete Vorschläge, wie man der Probleme Herr werden könnte. Der wichtigste davon wird wohl der Wunsch nach einer besseren ökonomischen Bildung der Menschen sein. Denn nur auf dieser Grundlage kann man die Probleme und die notwendigen Lösungen überhaupt verstehen und entsprechende politische Mehrheiten finden. Daran mangelt es heute erheblich. Zur Behebung dieses Mangels trägt das Buch einiges bei.

Bewertung: 5 von 5 Sterne.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 11. Februar 2015)

David Gibbins: Atlantis (2005)

Archaeo-Fantasy um die Sintflut im Schwarzen Meer und Platons Atlantis

Der Roman „Atlantis“ von David Gibbins (2005) – deutsch: „Mission Atlantis“ – ist leider misslungen. Er funktioniert weder literarisch noch historisch noch archäologisch, wie im folgenden Punkt für Punkt gezeigt wird.

Story und Erzählweise

Als Thriller ist der Roman „Atlantis“ von David Gibbins eine Enttäuschung. Das klassische „treasure hunting“, das historischen Romanen oft ihren Thrill gibt, ist bereits nach dem ersten Drittel des Romans beendet, und auch die beiden Hauptpersonen haben zu diesem Zeitpunkt bereits intim zueinander gefunden. Es geht im darauf folgenden Hauptteil des Romans nur noch darum, den Ort von Atlantis aufzusuchen und dabei künstlich in die Story eingebrachte Schwierigkeiten zu überwinden. Eine weitere Entwicklung der Charaktere bleibt aus.

Zu diesen künstlichen Schwierigkeiten gehört vor allem ein eindimensional böse gezeichneter Raubgräber mit der finanziellen Macht und der militärischen Ausrüstung eines ganzen Staates, der zufällig immer an der passenden Stelle auf den Plan tritt. Zudem ist ebenfalls rein zufällig direkt vor dem Eingang von Atlantis ein sowjetisches Atom-U-Boot mit Nuklearsprengköpfen gesunken, um das sich seitdem niemand mehr kümmert. Die Protagonisten leiden im Verlauf der Handlung unter Blutverlust, immer knapper werdender Atemluft, Kerosinmangel oder schwächer werdenden Batterien, und doch erreichen sie immer wieder kurz vor dem Exitus das erwünschte Ziel.

Weitere unglaubwürdige Zufälligkeiten sind drei gleichzeitige archäologische Funde an drei verschiedenen Orten, die sich natürlich alle drei auf dieselbe Sache beziehen. Unglaubwürdig auch, dass es auf einer kleinen, einsamen Vulkaninsel im Schwarzen Meer einen offenen Zugang in die Unterwelt von Atlantis geben soll, der über viele tausend Jahre unentdeckt blieb. Der Vulkan wird dann natürlich punktgenau zum Ende des Buches ausbrechen, nachdem er viele tausend Jahre lang ruhig blieb.

Den ganzen Roman über quält der Autor seine Leser mit technischen Begriffen aus der Welt der Schiffahrt, des Tauchens und der Waffentechnik. Zahlreiche technische Abkürzungen verwirren. Vielleicht könnte man als Taucher und Waffennarr dem Roman etwas abgewinnen? Mehr als die Hälfte der Zeit befinden sich die Protagonisten unter Wasser und kämpfen mit der Technik, den Elementen und menschlichen Feinden.

Völlig unnötig sind die vielen archäologischen Sensationsfunde und Entdeckungen, die die Protagonisten im Vorfeld der Romanhandlung gemacht haben wollen, mit denen die unglaubliche Story zusätzlich gestützt werden soll:

  • Ein Fund von verbrannten Schiffen der Griechen vor Troja.
  • Die Entzifferung des minoischen Linear A.
  • Der Fund eines zweiten Diskus von Phaistos.
  • Die Entdeckung eines Archivs in der Athener Akropolis.
  • u.v.a.m.

Zur Schwarzmeer-These im Allgemeinen

Ja, es ist zunächst richtig, dass das Schwarzmeerbecken einst besiedelt war. Ja, es ist richtig, dass das Wasser am Bosporus irgendwann durchbrach und das Schwarzmeerbecken flutete. Ja, es ist plausibel, dass die indogermanische Sprachfamilie von dort ihren Ursprung hat. Ja, es ist immerhin nicht unmöglich, dass in den Flutsagen des Gilgamesch und der darauf aufbauenden Bibel eine dunkle Erinnerung an dieses Ereignis enthalten ist. Ja, auf dem Grund des Schwarzen Meeres wird man noch manche steinzeitliche Siedlung finden, die das Bild der Steinzeit revolutionieren wird. Soweit so gut.

Es ist aber falsch, von diesem Ereignis eine direkte Verbindung zu späteren Hochkulturen wie z.B. Mesopotamien oder Ägypten zu ziehen; die Gründe dafür sind folgende:

  1. Die zeitliche Lücke zwischen dem Untergang der Schwarzmeerkultur und dem Aufstieg der späteren Hochkulturen umfasst mehrere tausend Jahre. Solange lässt sich keine detaillierte Überlieferung mündlich weitergeben und schon gar nicht geheimhalten. Mehr als dunkle und grobe Erinnerungen an ein Ereignis sind ohne Schrift nicht überlieferbar. Selbst mit Schrift wäre es schon schwierig genug.
  2. Die Schrift entwickelte sich in Ägypten und Mesopotamien eigenständig und unabhängig voneinander und bei Völkern, die nicht der indogermanischen Sprachgruppe angehörten. Wenn die Schwarzmeer-Kultur über eine Schrift verfügte, so war sie schon Jahrtausende zuvor verloren gegangen. Indogermanische Völker wie z.B. die Hethiter oder Griechen übernahmen die Schrift vielmehr aus dem Orient.
  3. Es ist offensichtlich, dass sich die späteren Hochkulturen eigenständig und angemessen langsam entwickelt haben, ohne einen Vorläufer, der ihnen einen Entwicklungsschub gegeben hätte.
  4. Die späteren Hochkulturen weisen keine Gemeinsamkeiten auf, die auf einen gemeinsamen Ursprung hindeuten würden; nur die indogermanischen Völker weisen natürlich gewisse Gemeinsamkeiten auf; Ägypten und Mesopotamien gehören aber z.B. nicht dazu.

Kurz und gut: Die These von der Überbrückung dieser zeitlichen Lücke hat keine Chance.

    Die Schwarzmeer-These bei David Gibbins

    Gibbins behauptet nicht nur eine Überbrückung der großen zeitlichen Lücke, sondern dehnt das Erbe der Schwarzmeerkultur auch auf spätere Hochkulturen aus, die a) definitiv nichts mit einem indogermanischen Ursprung zu tun haben, b) zeitlich in ihrem Auftreten sehr variieren, c) in ihrer kulturellen Entwicklung sehr stark auseinanderliegen. Gibbins nennt u.a. Ägypten, Mesopotamien, die Kelten, die Indus-Valley-Kultur, die Israeliten und auf den letzen Seiten sogar die amerikanischen Indianerkulturen. Die Minoer, die bei Gibbins im Zentrum stehen, treten in Wahrheit erst vergleichsweise spät in Erscheinung. Auch ist die Idee, dass die Priesterkaste der Schwarzmeerkultur sich über Jahrtausende die Weltherrschaft gesichert hätte und die kulturelle Entwicklung steuerte, nichts als eine Verschwörungstheorie, die für damals noch unhaltbarer ist als für die Gegenwart.

    Das untergegangene Atlantis wird von Gibbins als eine ziemlich befremdliche Kombination von steinzeitlicher, minoischer und ägyptischer Kultur geschildert: Gebäudekomplexe wie in Catal Hüyük, eine Sphinx in Stiergestalt, gewaltige Stufenpyramiden usw. Es ist ein archäologisches Walt-Disney-Land in Form eines völlig anachronistischen Potpourris der bekannten Hochkulturen.

    Atlantisforschung

    Der Roman „Atlantis“ von David Gibbins bewegt sich leider auf dem Niveau der üblichen pseudo-wissenschaftlichen Thesen rund um das Atlantis des Platon: Am Ende sei Atlantis die uralte Wiege der Zivilisation, was es im Original bei Platon eben nicht ist. Der Leser bekommt keinen realistischen Einblick in die Fragestellungen und die wirklichen Möglichkeiten der wissenschaftlich fundierten Atlantisforschung. Wer Platons Atlantiserzählung gelesen hat, findet seine Vorstellungen von Platons Atlantis in dem „Atlantis“ des Romans von Gibbins nicht wieder.

    Die Begegnung von griechischer und ägyptischer Kultur, die eine der Kernfragen der Atlantisforschung ist, wird ganz falsch dargestellt: In Ägypten wurde kein nennenswertes Wissen ausschließlich der mündlichen Überlieferung vorbehalten, die Priester hüteten auch keine Geheimnisse und erst Recht keine Kenntnisse, die weit vor 3000 v.Chr. hinausgereicht hätten. Es ist auch nicht wahr, dass die höheren Priester höhere Weisheiten gewusst hätten; eher im Gegenteil wussten Priester von niederen Graden oft mehr, weil sie spezialisiert waren. Auch logen die ägyptischen Priester griechische Besucher nicht einfach an; die Gründe für Falschinformationen greifen häufig viel tiefer und sind eher als ein Missverstehen zu deuten, wie man bei Herodot sehr gut studieren kann. Gerade von Herodot zeichnet Gibbins ein ziemlich simplifizierendes Bild, u.a. auch im wissenschaftlich gemeinten Nachwort.

    Solons Aufenthalt in Ägypten wird leider völlig anders dargestellt als bei Platon. Wie Gibbins im Nachwort einräumt, geschah dies mit der Absicht, den Besuch des Solon in Sais mit dem Atlantis-Konzept des Romans in Einklang zu bringen. Es ist auch nicht wahr, wie Gibbins im Nachwort meint, dass der Name des Priesters, mit dem Solon sprach, mutmaßlich bekannt ist. Überliefert ist nur der Name Sonchis in der Solon-Biographie des Plutarch. Diese Angabe ist allerdings wenig glaubwürdig, gerade auch deshalb, weil der Priester, der von Atlantis weiß, bei Platon nicht als besonderer, „hoher“ Priester dargestellt wird. Platon wird von Gibbins freies Erfinden und grobes Anpassen historischer Stoffe unterstellt; kein vernünftiger Platonforscher würde das so unterschreiben. Die Frage, wie Platon seine Atlantiserzählung konstruierte, ist in der Tat eine der Kernfragen der Atlantisforschung, und kann nicht so beiläufig und einfach abgetan werden.

    Fazit

    Der Roman „Atlantis“ von David Gibbins ist literarisch und historisch eine Enttäuschung. Wenn der Roman auch literarisch nicht gelungen ist, so hätte man sich von einem Unterwasserarchäologen doch wenigstens in historischer Hinsicht mehr versprochen. Aber der Autor zerstört konsequent den Thrill, der sich aus der Möglichkeit entfalten würde, dass eine Geschichte wahr sein könnte, indem sie sich möglichst eng an die reale Welt und die reale Historie anlehnt. Die Versprechungen des Covers: „only this time, it really could be true“, oder die Behauptung im Nachwort: „the archaeological backdrop is as plausible as the story allows“ werden schlicht nicht eingehalten. Beim Roman „Atlantis“ von David Gibbins handelt es sich wohl eher um Archaeo-Fantasy mit Taucher-Thrill als um einen Historien-Thriller.

    Alternative Buchempfehlungen

    Wer sich auf wissenschaftliche Weise mit dem Atlantis des Platon beschäftigen möchte, dem seien folgende Bücher empfohlen (teilweise nur antiquarisch zu haben):

    Contra Existenz:

    • Heinz-Günther Nesselrath: Platon und die Erfindung von Atlantis.
    • Pierre Vidal-Naquet: Atlantis – Geschichte eines Traumes.

    Pro Existenz:

    • John V. Luce in: E.S. Ramage: Atlantis – Mythos, Rätsel, Wirklichkeit?
    • Thorwald C. Franke: Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis – Könnte Atlantis doch ein realer Ort gewesen sein?

    Bewertung: 1 von 5 Sternen.

    (Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. Juli 2012)

    Peter Meier-Hüsing: Nazis in Tibet – Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer (2017)

    Interessantes Thema durch Schnitzer des Lektorats getrübt

    Die Tibet-Expedition von Ernst Schäfer geistert schon lange durch die Literatur, bleibt aber meistens wenig greifbar, und jeder projiziert in das Thema hinein, was er möchte. Deshalb ist es erfreulich, dass dieses Thema jetzt aufgegriffen und analysiert wurde. Der Autor hat dazu viel Material zusammengetragen und offenbar auch Originalschauplätze besucht und mit Zeitzeugen gesprochen, die teilweise erst vor relativ kurzer Zeit verstorben sind. Es wird also durchaus was geboten in diesem Buch.

    Die Expedition wurde zwar von Heinrich Himmler mit gewissen okkulten Phantasien verbunden, doch der Expeditionsleiter Ernst Schäfer konnte sich dessen erwehren, so dass die Expedition wenigstens halbwegs wissenschaftlich war. Das schloss natürlich den Rassismus des Nationalsozialismus mit ein, der damals als Wissenschaft galt, aber das ist eben pseudowissenschaftlich, und nicht okkult, und insofern unspektakulär. Ebenfalls ein Malus dieser Expedition ist sicher der Opportunismus des Expeditionsleiters Ernst Schäfer, der sich dem Nationalsozialismus politisch offenbar allzu bereitwillig angebiedert hat. Das zeigt dieses Buch auch sehr gut.

    Tibet selbst zeigt sich in diesem Buch ebenfalls von einer anderen Seite, als gedacht: Es wurde also viel getrunken, damals, in Tibet ….. und womöglich ist die Kritik der Expeditionsteilnehmer an der mittelalterlichen Mönchsherrschaft nicht völlig falsch. Das diplomatische Gerangel mit den Briten um den Einlass nach Tibet ist recht gut nachgezeichnet.

    Sehr zu loben sind insbesondere auch die Kapitel über den weiteren Werdegang der Expeditionsteilnehmer während des Krieges und natürlich danach. Die Verstrickung in Schuld und der Umgang damit ist immer ein lehrreiches Thema über Fehlentscheidungen und den wahren Charakter von Menschen. Erst in diesen Kapiteln wird besonders deutlich, dass die ideologische Verstrickung eben kein harmloser Opportunismus war, so dass die Schuld eher abstrakt blieb, sondern dass die Ideologie sehr direkt mit dem Tod von Menschen in Zusammenhang gebracht werden kann.

    Fehler

    Der Autor des Buches ist eher Journalist als Wissenschaftler, doch der Theiss-Verlag erhebt einen wissenschaftlichen Anspruch: Deshalb seien die folgenden Fehler weniger dem Autor, sondern vor allem dem Lektorat des Verlags angelastet.

    Obwohl der Autor letztlich klar herausarbeitet, dass die Expedition eben nichts mit okkultem Gedankengut zu tun hatte (z.B. S. 266), ist das Buch voller widersprüchlicher Aussagen zu diesem Thema. Man hat den Eindruck, dass der Verlag für dieses Buch ganz bewusst mit dem okkulten Thema gespielt hat, um Käufer zu finden.

    Der Leser bekommt jedenfalls kein völlig klares Bild vom Zusammenhang von Nationalsozialismus und Okkultismus. Das Anfangskapitel vermittelt sogar die ewig falsche Legende von einer engen Verknüpfung von Nationalsozialismus und Okkultismus. Da wird die falsche These vom starken Einfluss der Ariosophie auf Hitler in dessen Wiener Zeit aufgewärmt. Doch Hitler war schon vor Wien stark durch die Schönerer-Bewegung geprägt und wurde durch die Ariosophie gewiss nicht stark beeinflusst. Liebenfels war eben nicht der Mann, der Hitler die Ideen gab. Und dass Hitler ein Gastredner bei der Thule-Gesellschaft war, lese ich hier zum ersten Mal (und selbst wenn: die Thule-Gesellschaft war ihrerseits nicht sonderlich okkult, und Gastredner treten oft bei Organisationen auf, denen sie sich nicht näher verbunden fühlen). Rosenberg war ebenfalls kein Mitglied der Thule-Gesellschaft, das kann man heute sogar bei Wikipedia nachlesen.

    Eine intensive Lektüre von Goodrick-Clarke hätte eine Menge der falschen Informationen, die hier gegeben werden, zerstreuen können. Auf S. 267 lesen wir dann mit Klarheit, dass es Unsinn ist, den führenden Nationalsozialisten eine okkulte Lehre zu unterstellen. Ein gutes Lektorat hätte diese Klarheit schon früher im Buch hergestellt und solche populären pseudowissenschaftlichen Ansichten nicht durchgehen lassen. Oder hat das Lektorat diesen Mix erst mit angerührt, um den Verkauf zu steigern?!

    Richtig ist aber, dass Heinrich Himmler einen Hang zum Okkulten hatte. Damit war er aber in der Führungsriege des Nationalsozialismus ziemlich allein. Und Himmler hielt seine okkulten Vorstellungen vorwiegend privat. Auch im Ahnenerbe, das ihm direkt unterstand, wurden Forschungsaufträge mit okkultem Inhalt nicht offiziell deklariert. Die okkulten Absichten Himmlers blieben inoffiziell und wurden allein durch persönliche Beziehungen transportiert (z.B. zu Edmund Kiß oder Herman Wirth).

    Bei Ernst Schäfer kam er damit aber nicht an, wie das Buch an manchen Stellen richtig zeigt (an manchen Stellen leider nicht). Richtig ist, dass Schäfer ein skrupelloser Opportunist und mehr als nur ein „Mitläufer“ war, aber er teilte die okkulten Ideen von Himmler eben nicht, wie das Buch selbst klarstellt (S. 55). Schäfer wehrte sich auch erfolgreich gegen das Ansinnen von Himmler, den Atlantissucher Edmund Kiß oder Welteislehreanhänger mit auf die Expedition zu nehmen (S. 60). Auch bei der Finanzierung des Unternehmens achtete Schäfer darauf, nicht nur vom Ahnenerbe der SS abhängig zu sein. Obwohl Ahnenerbe-Geschäftsführer Sievers von der Expedition abriet, weil ihm Schäfer zu unabhängig war, entschied sich Himmler doch für die Expedition (S. 60).

    Richtig ist ebenfalls, dass die Expedition u.a. auch Rasseforschung betrieb. Das geschah aber im Rahmen der damals üblichen und öffentlichen NS-Rassetheorien, und nicht mit einem okkulten Hintergedanken oder einem „Atlantis-Glauben“. Diese Hintergedanken blieben in Himmlers Kopf, sie gingen nicht mit auf die Expedition. Der mitreisende Rasseforscher Beger soll sogar unzufrieden mit der Expeditionsleitung durch Schäfer gewesen sein, und nach der Expedition entwarf Beger eine Expedition nach seinen eigenen Wünschen (S. 161).

    Sehr positiv zu vermerken ist die historische Rekonstruktion des rassistisch motivierten Tibet-Interesses über Blumenbach und den Wagner-Schwiegersohn Chamberlain. Doch es fehlen natürlich die französischen Naturforscher wie Bailly, Buffon und Delisle de Sales, die die Menschheit von Norden und den höchsten Bergen in Innerasien her entstehen ließen, oder Burnouf, und natürlich Richard Wagner selbst! Und wie diese Vorstellungen über Gleizès und Richard Wagner dann zu Chamberlain, Schönerer und Hitler kamen.

    Die Tibet-Zusammenhänge von Bailly, Buffon, Delisle de Sales, Blumenbach, Burnouf, Gleizès, Richard Wagner und Chamberlain werden z.B. in dem Buch „Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis“, 2016, von Thorwald C. Franke, behandelt. Auch hier das Ergebnis: Von Heinrich Himmler abgesehen war da „nur“ Pseudowissenschaft, aber nichts Okkultes, und der ganze Hype um die Nazi-Esoterik ist maßlos übertrieben. Der Nationalsozialismus war eben ein Hitlerismus, und kein Himmlerismus, das wird gerne übersehen.

    Leider arbeitet das Buch den Unterschied zwischen Pseudowissenschaft und Okkultismus nicht klar heraus. Das hätte ganz an den Anfang gehört. Es ist übrigens durchaus nicht so, wie das Buch meint, dass Hitler an Tibet kein Interesse gehabt hätte. Hitler hatte durchaus ein gewisses Interesse an Tibet. Aber eben ein pseudowissenschaftliches Interesse im Sinne seines Idols Richard Wagner, kein okkultes Interesse. Allerdings gilt auch, dass Hitler die Herkunft der „arischen Rasse“ stets für unwichtig hielt. Für ihn war vor allem wichtig, dass es sie überhaupt gab. Das hatte er mit Chamberlain gemeinsam.

    Ein weiteres Problem dieses Buches sind vielfache chronologische Sprünge vor und zurück in der Zeit. Hinzu kommen zahlreiche Tippfehler, und auch nicht wenige sprachliche Schiefheiten. Hier hat wirklich das Lektorat versagt. Schließlich hat das Buch eine Neigung dazu, den Geist der damaligen Zeit aus einer etwas selbstgerechten Haltung der Moderne zu beurteilen. Dadurch kommt manchmal ein fieser Ton in die Darstellung, der stört, selbst wenn der verurteilende Blick berechtigt ist, wie sich teilweise zeigt.

    Fazit

    Man bekommt eine Menge Material geboten, das interessant und lesenswert ist. Ein richtiges und wichtiges Buch. Man muss sich aber leider teilweise selbst seine Gedanken machen, wie sich alles zusammenpuzzelt. Von einem Verlag wie Theiss hätte man ein besseres Lektorat erwarten können.

    Bewertung: 4 von 5 Sternen.

    (Erstveröffentlichung auf Amazon am 17. September 2017)