Schlagwort: Denkfabrik "Republik 21"

Kristina Schröder: FreiSinnig – Politische Notizen zur Lage der Zukunft (2021)

Freimütig gegen vermeintliche Selbstverständlichkeiten des linken Zeitgeistes

Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder hat in diesem Buch einmal aufgeschrieben, was ihr zu verschiedenen politischen Themen an Argumenten gegen den Mainstream einfällt. Alle Punkte werden undogmatisch und mit erfrischender Freimütigkeit abgehandelt. Allzu tiefe und grundsätzliche Gedanken z.B. zur Definition des Konservativen sollte man sich aber eher nicht erwarten.

Der Schwerpunkt wird dabei auffällig auf Familie, Kinder und Frauen gelegt. Andere Themen wie z.B. die Klimakrise oder die Eurokrise kommen eher am Rande vor. Anlassbedingt gibt es auch ein Kapitel zu Corona. Es wird an einer Stelle auch der Gedanke ins Auge gefasst, dass die CDU sich wieder für manche politische Meinung öffnen sollte, die derzeit noch als „zu rechts“ empfunden wird.

Es lässt sich vorstellen, dass dieses Buch besonders geeignet ist, eher unpolitische Wählerinnen und Wähler anzusprechen, etwa junge Familien, um sie mit Gedankengängen vertraut zu machen, von denen man in der Öffentlichkeit sonst eher selten zu hören bekommt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 05.12.2021)

Andreas Rödder: Konservativ 21.0 – Eine Agenda für Deutschland (2019)

Im Schlafwagen weg von Merkel? Zu kurz gesprungen

Andreas Rödder ist einer der Mitbegründer der neuen politischen Denkfabrik „Republik 21“, die nach der Entkernung der CDU in der Ära Merkel und dem Verlust der Wahlen 2021 eine Neubestimmung des Konservativismus und der CDU zuwege bringen will. Doch leider springt Rödder zu kurz.

Theorie-Teil

Unter Konservativismus versteht Andreas Rödder vor allem einen reinen Verzögerungs-Konservativismus ohne eigenen Anspruch. Immer wieder sagt Rödder, dass man Entwicklungen nicht aufhalten könne, und es deshalb nur darum gehen könne, sie zu verzögern, um sie erträglicher zu machen (S. 26 f., 29). Immer wieder betont Rödder, dass alles, was heute gilt, morgen schon falsch sein könne (S. 42). Konservativismus, das sei Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit (S. 39). Zur Bestimmung des Bewährten will Rödder nicht allzu weit zurück in die Vergangenheit blicken, denn durch den Nationalsozialismus habe es einen Traditionsbruch gegeben, und deshalb müsse man mit allem, was davor war, brechen (S. 42). Dass er damit den Traditionsbruch des Nationalsozialismus akzeptiert statt sich ihm zu widersetzen, fällt ihm offenbar nicht auf.

Rödder verwirft die Idee, dass Konservativismus das sei, „was immer gilt“, mit folgenden Gründen (S. 38):

(x) Selbst in den Kirchen gelte nichts für immer. – Doch die krassen Fehlentwicklungen in den deutschen Kirchen können kein Maßstab sein.

(x) Rödder kann keine ewigen „politischen Werte“ erkennen. – Doch es geht um ein unpolitisches Höheres, aus dem sich die politischen Werte je nach Situation ableiten.

(x) Linksgrüne Vertreter einer radikalen Willkommenskultur hätten genau dieselben „ewigen“ Werte. – Doch das ist falsch, da sie Emotionen gegen Vernunft ausspielen.

(x) Der Satz stamme aus dem Umfeld der Konservativen Revolution und trage die Versuchung zum Absoluten in sich. – Das ist ein bedenkenswerter Einwand. Absolute Wahrheiten sind schwer zu finden und können zu Intoleranz führen. Allerdings müssen sie das keineswegs zwangsläufig, und ganz ohne das Absolute kommt kein Mensch aus.

Zwischenfazit: Rödders Konservativismus ist gar kein solcher. Im Grunde handelt es sich vielmehr um einen Progressivismus mit angezogener Handbremse. Rödder hat sicher Recht, dass es vor 1933 diverse konservative Strömungen gab, die nicht anschlussfähig sind. Aber was Rödder hier an Theorie präsentiert, ist fast schon seltsam: Wer soll sich denn für ein solches Konzept von Konservativismus begeistern? Warum sollte man sich im Hier und Heute für etwas einsetzen, wenn man in dem Bewusstsein lebt, dass es morgen schon überholt sein wird? Das ergibt keinen Sinn. Rödder schreibt, ein solcher Konservativismus sei immer für eine Überraschung gut (S. 50) – O ja, und hier fühlt sich der Leser unangenehm an den bösen Springteufel namens Angela Merkel erinnert, der ihm in den letzten 16 Jahren in der Tat immer wieder höchst unwillkommene Überraschungen bereitete, indem eine konservative Grundposition der CDU nach der anderen abgeräumt wurde.

Was fehlt: Klassischer Konservativismus

Ein zentraler Fehler in Andreas Rödders Konservativismus scheint die mangelnde Tiefe in der Betrachtung der Geschichte zu sein. Wer die Geschichte erst 1945 beginnen lässt und alles davor abschneidet, der erkennt das große Gewicht des geschichtlich Gewordenen nicht und kann deshalb nur bei einem erschreckend oberflächlichen Konservativismus landen. Der Konservative weiß natürlich um die Tiefendimension der Geschichte, wie sich die menschliche und auch die deutsche Kultur über Jahrtausende und Jahrhunderte hinweg in Schichten entwickelte und eine Schicht auf der anderen aufbaute. Hier nur ein sehr grober Überblick zum Verständnis:

  • Animalische Schicht. Familie. Patriarchat.
  • Ackerbau und Stadtkultur.
  • Schrift, Schriftkultur.
  • Griechenland und Rom, namentlich Platon, Aristoteles, Cicero.
    (a) Rationalität als Methode. Weltbild. Menschenbild. Wissenschaft.
    (b) Geschichte. Rechtsstaat. Republik: Wissen um die Grenzen des Machbaren und Planbaren.
  • Mittelalter: Christentum. Adelsherrschaft.
  • Renaissance: Wiedergeburt der Antike. Klassischer Humanismus.
  • Preußen. Das heutige Deutschland.
  • Aufklärung: Westliche Demokratie. Menschenrechte. Nationalstaat. Marktwirtschaft. Wissenschaft.
  • Industrialisierung. Globalisierung. Digitalisierung.
  • Gleichberechtigung für Frauen, Homosexuelle u.a.

Diese Schichten repräsentieren klassisch gewordene Errungenschaften der Menschheit bzw. einzelner Nationalkulturen wie etwa der deutschen Kultur. Der Konservative weiß um die Schwierigkeiten, mit denen diese Errungenschaften erreicht wurden. Es handelt sich nicht wirklich um ewige, absolute Werte, denn irgendwann sind sie ja in der Zeit entstanden und manche mussten auch wieder aufgegeben werden. Aber im Hinblick auf den Menschen und sein Wohlergehen handelt es sich eben doch vielfach um bewährte, „klassisch“ gewordene Dinge, und insofern diese Errungenschaften tief im Menschenbild wurzeln, kann man deren Absolutheit durchaus vermuten. Dogmatisieren im Sinne einer Kritikimmunität sollte man sie jedoch nicht.

Der Konservative weiß um die Komplexität und die Verwobenheit der Dinge. Brüche sind gefährlich, Anschlussfähigkeit ist gefragt. Und es ist keinesfalls einfach, eine Schicht wieder „abzuräumen“, auch wenn dies manchmal notwendig ist. Abzuräumende Schichten sind z.B. das Patriarchat, die Adelsherrschaft oder das Christentum. Doch leicht ist das nicht. Wir ringen bis heute um eine endgültige Form der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Eine vernünftige Elitenbildung statt der Adelsherrschaft haben wir in Deutschland bis heute nicht. Und das Christentum war bis vor kurzem bestimmend für unser Welt- und Menschenbild und unsere Verbindung zur metaphysischen Ebene: Es kann nicht einfach ersatzlos wegfallen und wird uns daneben auch noch lange als kulturelle Prägung erhalten bleiben. Die Gefahr ist, dass das Christentum schneller wegfällt, als wir Ersatz dafür finden können – einen Ersatz, der offener und zurückhaltender sein sollte als die eine alte Einheitsreligion (vgl. Albert Schweitzer). Die plumpe Negation des Christentums ist jedenfalls keine zivilisatorische Errungenschaft.

Aus dem Geist eines Klassischen Konservativismus heraus lassen sich die Entwicklungen, die unvermeidbar kommen, dann in der Tat gestalten oder auch zurückweisen, denn man hat dann einen Kompass, um das zu tun. Es geht dann auch nicht mehr immer nur um das Verzögern von Entwicklungen, sondern manchmal auch um das Beschleunigen von Entwicklungen. Entwicklungen sind zudem keinesfalls immer „progressiv“ im Sinne von „links“, wie Rödder ohne es zu hinterfragen annimmt. Zur Zeit ist z.B. das Patriarchat in Deutschland eindeutig auf dem Vormarsch, und wenn die demographische und kulturelle Entwicklung in Deutschland nicht gesteuert wird, dann hat das Patriarchat eine Chance darauf, sich dauerhaft in Teilen der deutschen Bevölkerung zu etablieren und eine rechtliche Anerkennung durchzusetzen (Millet-System). Dagegen vorzugehen würde die Modernität von Konservativismus beweisen. Rödder hingegen würde die Entwicklung nur verzögern und dann akzeptieren.

Praxis-Teil

Was Andreas Rödder an konkreten Orientierungen zu den einzelnen Politikfeldern aufzählt, ist sehr viel vernünftiger und auch konservativer, als sein Theorie-Teil vermuten lässt. Zahlreiche Widersprüche zum Theorie-Teil zeigen das:

(x) Trotz der Ablehnung von Traditionen vor 1933 greift Rödder auf Wilhelm von Humboldt zurück (S. 68 ff.).

(x) Obwohl Rödder zu Preußen nichts weiter einfällt als die ausgeleierte Floskel „Macht- und Obrigkeitsstaat“ (S. 48) beruft sich Rödder auf Wilhelm von Humboldt (S. 68 ff.) und fordert Allgemeinwissen über Preußen und die Hohenzollern (S. 70).

(x) Obwohl der Röddersche Konservative keine festen Bindungen kennt und der Entwicklung immer nur hinterherläuft, spricht Rödder plötzlich von einer „Bindung“ des Konservativen, die ihn frei mache, und von einem Gestaltungsanspruch (S. 50).

In einigen Punkten bleibt Andreas Rödder sehr zurückhaltend und ohne „Biss“:

(x) In Sachen Klimawandel kennt Rödder nur radikale Klimawandelleugner oder Klimaskeptiker, die von der Ölindustrie bezahlt werden (S. 86). Dass es auch vernünftige und maßvolle Klimarealisten gibt, unterschlägt er. Insbesondere die Problematik der Verzerrung der real existierenden Wissenschaft durch die real existierende Politik bleibt undiskutiert, dabei ist das ein immer wiederkehrendes Thema in sehr vielen Politikbereichen.

(x) Beim Waldsterben behauptet Rödder, dass man nicht wissen könne, ob die Maßnahmen zur Lösung des Problems beitrugen (S. 87). Das ist falsch. Man weiß heute, dass es ein Waldsterben wie damals behauptet niemals gab. Das Waldsterben verschwand durch nüchterne Betrachtung, nicht durch Maßnahmen. Zu den Maßnahmen gehörte damals übrigens die Forcierung von Diesel-PKW durch die Politik, und die Wirtschaft lieferte, obwohl die Abgaswerte zu hoch waren. Heute wissen wir, dass die Software zur Messung der Dieselabgase gefälscht wurde – und niemand will es in Jahrzehnten bemerkt haben. Es ist leicht zu sehen, warum: Es durfte nicht bemerkt werden, weil es politisch gewollt war. Wahrhaft eine Blaupause für konservative Skepsis auch in unseren Tagen.

(x) In Sachen Leitkultur glaubt Rödder, ohne das Adjektiv „deutsch“ auskommen zu können. Er flüchtet sich stattdessen in das Adjektiv „westlich“ (S. 116) oder in die Beschwörung der „Mehrheitsgesellschaft“ (S. 119). Im Fazit schiebt er später das Wort „Heimat“ nach (S. 124). Doch damit redet er nur um den heißen Brei herum. Es geht auch um eine deutsche Leitkultur, und Konservative sollten diesen Anspruch im Meinungsstreit vertreten, denn das ist ihre Aufgabe, dazu sind sie da. Konservative, die sich um das Wort „deutsch“ herumdrücken, braucht kein Mensch.

(x) Rödder fordert eine politische Kultur des „Gehörtwerdens“ statt einer paternalistischen Bevormundung (S. 121, 124). Doch dieses „Gehörtwerden“ ist genau das: Eine paternalistische Bevormundung. Die Obrigkeit lässt sich dazu herab, die Bürger gnädig anzuhören, und entscheidet dann doch anders – das erleben wir alle Tage. Wir brauchen keine Kultur des „Gehörtwerdens“, sondern eine Kultur der echten politischen Vertretung und Einflussnahme! Die Bürger brauchen wieder echte Vertreter ihrer Meinungen in den Parlamenten und in den Talkshows, und die Bürger müssen wieder das Gefühl bekommen, dass sie mit ihren Meinungen auch Mehrheiten erringen und politische Vorhaben effektiv durchsetzen oder verhindern können.

Insbesondere zu Angela Merkel bleibt Andreas Rödder ohne „Biss“:

(x) Zwar wird eine kluge Haushaltspolitik der EZB und der EU-Staaten verlangt und sogar der Austritt eines Landes aus der Euro-Währungsunion für diskutierbar gehalten (S. 62), aber dass Angela Merkel das genaue Gegenteil verkörperte, bleibt ungesagt.

(x) Zwar ist von der moralischen Überhöhung der Migrationsfrage die Rede, aber die Willkommenskultur von 2015 von Angela Merkel scheint damit explizit nicht gemeint zu sein (S. 114).

Fehlende Themen:

(x) In einem einzigen Satz wird die Bereitschaft der Medien angemahnt, politische Auseinandersetzungen nicht zu skandalisieren, sondern Debatten auch austragen zu lassen. Dahinter verbirgt sich natürlich das Riesenproblem, dass die Medienlandschaft in Deutschland politisch nicht ausgewogen ist. Dazu hätte mehr gesagt werden müssen.

(x) Europa wird nicht grundsätzlich genug diskutiert. Es besteht die Gefahr, dass EU-Europa am Ende in derselben Situation endet, wie Deutschland als Mittelmacht in Europa: Durchaus stark, aber nicht stark genug, um den umgebenden Mächten paroli zu bieten. Unabdingbar ist die Westbindung an die angelsächsische Welt. Und Europa ist nur ein geographischer Begriff. Großbritannien ist nicht dabei. Russland ist nicht dabei. Rumänien und Bulgarien und der Balkan sind kaum auf dem westeuropäischen Niveau. Es geht um ein Bündnis der gefestigten Demokratien in Westeuropa unter der Ägide des angelsächsischen Hegemons. Die EU sollte sich auf ihre Binnenmarkt-Funktion zurückziehen, und das Politische besser der NATO u.a. Bündnissystemen überlassen, über deren Entwicklung man nachdenken sollte.

Kleinigkeiten am Rande:

(x) Die Interpretation von Platon und Aristoteles ist nicht akzeptabel (S. 46).

(x) Es entsteht der Eindruck, dass das Prinzip von Maß und Mitte gegen die Rationalität ausgespielt wird (S. 46). Das ist ganz falsch. Rationalität und Erfahrungswerte schließen sich nicht gegenseitig aus.

(x) Es wird gegen Zahlen und Statistiken argumentiert (S. 46). Das ist Unfug. Wir brauchen Zahlen und Statistiken, um uns in der Realität zu orientieren. Nicht zufällig lehnen gerade Linke Zahlen und Statistiken oft ab, weil ihnen die Realität nicht gefällt.

(x) Rödder verwendet das Wort „Humanisten“ nicht in seiner klassischen Bedeutung, sondern in der neumodischen Bedeutung zur Bezeichnung von Atheisten (S. 35). Das ist unakzeptabel. Humanisten sollten wir alle sein, ob Christen, Muslime, Atheisten u.a. Anti-Humanismus ist mit unserer westlichen Welt unvereinbar. Das hätte deutlich gemacht werden müssen.

(x) Rödder schreibt, dass es an Märkten auch zu Fehlallokationen kommen könne (S. 90). Das ist falsch. Märkte führen immer zur optimalen Allokation der Ressourcen. In Wahrheit sind es politisch gewollte Verzerrungen von Märkten, die dazu führen, dass Märkte nicht richtig funktionieren.

(x) Die Fußnoten sind nicht durchgängig durchnumeriert, sondern je Kapitel: Eine unnötige Erschwernis für den Leser.

FAZIT

Andreas Rödder präsentiert eine seltsam kastrierte Vorstellung von Konservativismus, und ist offenbar nicht völlig mit sich selbst im Reinen, wie manche Widersprüche offenbaren. Vielleicht wollte Rödder mit diesem Buch einen Weg aufzeigen, wie die CDU sich leise und verstohlen aus der Sackgasse retten kann, in die sie durch Angela Merkel geraten ist, ohne dass es einer merkt?

Eines muss klar sein: Ohne eine glasklare Verurteilung zahlreicher Politiken von Angela Merkel, mithin einer Verurteilung von Angela Merkel als einer anti-konservativen Politikerin, die der CDU und der Demokratie insgesamt großen Schaden zugefügt hat – wozu natürlich ein Schuldbekenntnis der CDU gehört, denn die hat es mit sich machen lassen – wird es einen neuen konservativen Aufbruch nicht geben können. Jedenfalls nicht mit der CDU. Der Traditionsbruch, der durch die Person von Angela Merkel markiert wird, ist nicht anschlussfähig.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 02. Dezember 2021)