Schlagwort: Fortschritt

Ernst Jünger: Am Sarazenenturm (1955)

Tradition vs. Fortschritt: Ernst Jüngers Lamoryanz ohne Synthese

Das Büchlein „Am Sarazenenturm“ von Ernst Jünger gibt ähnlich wie die „Italienische Reise“ von Goethe einen unmittelbaren Einblick in das Denken des Autors, denn es ist ein Tagebuch. Darin werden viele kleine Beobachtungen aus dem Urlaub in einem verschlafenen Nest auf Sardinien festgehalten. Immer wieder verdichten sich die Gedanken zu einer bemerkenswerten These. Und die Lebenserfahrung von Ernst Jünger fließt ein. Es ist sehr lesenswert. Geistige Entspannung im Urlaub auf hohem Niveau.

Im Zentrum von Jüngers Denken steht hier die Beobachtung einer von der Moderne noch weitgehend unverfälschten Lebensweise von Hirten und Fischern, und die ständig dräuende Vorahnung, dass die Moderne dieses idyllische Leben schon bald zerstören wird. Wer vom Wert der Tradition und der Vormoderne erfahren möchte, wird hier reichlich mit Gedankensplittern bedient.

Aber leider fehlt das Entscheidende: Der Versuch einer Lösung des Problems. Denn wie auch Ernst Jünger an wenigen Stellen einsieht, ist der Fortschritt nicht aufzuhalten. Es geht also darum, ihn so zu gestalten, dass eine vernünftige Synthese von Tradition und Fortschritt entsteht. Dazu hat Jünger aber praktisch nichts zu sagen. Und das ist ein Problem.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. März 2017)

Christopher de Bellaigue: The Islamic Enlightenment – The Modern Struggle Between Faith and Reason (2017)

Modernisierungsgeschichte der islamischen Welt – Wichtig zum Verständnis der Verhältnisse

Christopher de Bellaigue hat mit „The Islamic Enlightenment“ (deutscher Titel: „Die Islamische Aufklärung“) einen äußerst wertvollen Beitrag zum Verständnis der islamischen Welt geliefert. Im Westen denkt man über die islamische Welt oft, dass sich dort in 1400 Jahren nichts verändert hätte. Und auch nichts verändern könne. Weil dass der Islam nicht zulasse, der seinerseits seit 1400 Jahren unverändert sei. Doch das alles ist falsch. Dieses Buch zeigt die dramatische Modernisierungsgeschichte des Nahen Ostens an den Beispielen Ägypten, Türkei und Iran.

Diese Modernisierungsgeschichte beginnt im Jahr 1798 mit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten und dessen Sieg über die Mameluken in der Schlacht bei den Pyramiden. In diesem Moment wurde den Menschen in der islamischen Welt schlaglichtartig klar, dass sie den Europäern hoffnungslos unterlegen sind und dass sie Europa in der kulturellen Entwicklung um Jahrhunderte hinterher hinken. Symbolisch steht dafür die Druckerpresse, die um 1450 in Europa erfunden wurde und zu einer fortwährenden geistigen Revolution geführt hatte – in der islamischen Welt war die Druckerpresse aufgrund einer religiösen Fatwa bis ins 19. Jahrhundert hinein verboten.

Der Beginn der Modernisierung

Die treibende Kraft hinter der Modernisierung war am Anfang die Notwendigkeit, sich gegen moderne europäische Armeen verteidigen zu können. Denn so wie Ägypten gegen Napoleon, so hatten auch das Osmanische Reich und der Iran in dieser Zeit schmerzhafte Niederlagen gegen Russland einzustecken.

Überall begann die Modernisierung mit der rigorosen Beseitigung konservativer Kräfte. In Ägypten war die bis dahin herrschende Schicht der Mameluken bereits durch Napoleons Sieg in der Schlacht bei den Pyramiden buchstäblich vernichtet worden. Der neue Herrscher Ägyptens, Muhammad Ali Pascha (regierte 1805-1848), führte zudem eine großflächige Enteigung von Land durch, wodurch er die Machtbasis des islamischen Klerus beseitigte. Von Klerikern angeführte Rebellionen wurden niedergeschlagen. (S. 23) – Im Osmanischen Reich blockierten die Janitscharen jede Reform, woraufhin Sultan Mahmud II. (regierte 1808-1839) im Jahr 1826 die Janitscharen zu tausenden massakrieren ließ und auf diese Weise die große Tradition der Janitscharen zu einem Ende brachte. (S. 59)

In allen drei Regionen – Ägypten, Türkei und Iran – spielte die Aussendung von jungen Gelehrten und Studenten in westliche Länder eine große Rolle im Modernisierungsprozess. Von Bedeutung waren insbesondere deren Reiseberichte aus Europa, die in tausend Einzelheiten die Unterschiede zwischen West und Ost beschrieben, und die von zahllosen Lesern verschlungen wurden und so moderne Gedanken weit verbreiteten. In Ägypten war dies insbesondere Rifaa al-Tahtawi, der fünf Jahre in Paris verbrachte. (S. 34-36) Aus dem Iran kam Mirza Saleh Schirazi nach England. (S. 118-125) Die Reisenden lernten aber auch Medizin und Technik, die sie nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatländern zu implementieren begannen, unterstützt von den Kontakten zu westlichen Gelehrten, die sie geknüpft hatten.

Eindrücklich werden die Verhältnisse beschrieben, bei denen die Reformen beginnen mussten. So verursachten die hygienischen Verhältnisse regelmäßige Seuchen. Der religiöse Fatalismus, der das Treffen von Vorsorge verhinderte, muss weit verbreitet gewesen sein. (S. 65 ff.) Frauen waren verschleiert und vegetierten ohne jede Ausbildung in ihren Harems dahin. (S. 175 ff.) Entsprechend war Homosexualität unter Männern extrem weit verbreitet, offenbar als eine Folge der Schwierigkeit, an Frauen heranzukommen. (S. 195 ff.) Auch die Sklaverei existierte noch, allerdings in teilweise milderer Form, als manche meinen, insofern der Islam die Freilassung von Sklaven motiviert. (S. 188 ff.)

Einzelne Modernisierungen

In rasendem Tempo wurde alles eingeführt, was man für nützlich hielt und sich von Europa abschaute, darunter Militär- und Ingenieurschulen, die Druckerpresse, Dampfschiffe, Industrie, Hygienemaßnahmen, Wasserbauten, nicht zuletzt der Bau des Suez-Kanals 1859-69. Sultan Mahmud II. brachte auch preußische Militärberater nach Istanbul, u.a. Helmut von Moltke. (S. 61) Ibrahim Schinasi publizierte 1860 die erste unabhängige Zeitung im Osmanischen Reich und trug durch seine Artikel maßgeblich zur Formung der modernen türkischen Sprache bei. (S. 77) In Ägypten startete Tahtawi eine große Übersetzungsbewegung, die westliches Schrifttum verfügbar machte. Zugleich erwachte das Bewusstsein für die ägyptischen Altertümer, deren Abtransport ins Ausland von nun an erschwert wurde. Man begann, ein eigenes ägyptisches Museum einzurichten. (S. 43)

Um 1830 wurde das Millet-System abgeschafft, das jeder Religion ihr eigenes Recht zugesprochen hatte, so dass alle Bürger des Osmanischen Reiches zu gleichberechtigten Staatsbürgern wurden. (S. 69 ff.) Im Jahr 1843 wurde auch der Wechsel der Religion offiziell erlaubt. (S. 72) Die praktische Durchsetzung dieses Erlasses steht auf einem anderen Blatt. Die Sklaverei wurde abgeschafft, spät, aber noch vor den USA. (S. 188 ff.) In Tunis musste sich der Konsul der USA über die Vorzüge der Abschaffung der Sklaverei belehren lassen. (S. 191 f.) Schließlich wurden Verfassungen erlassen, die mal mehr, mal weniger demokratisch waren. (S. 103) Teilweise hatte sich das Volk diese Freiheiten auch selbst erkämpft, so z.B. im Urabi-Aufstand in Ägypten um 1880 oder in der „Konstitutionellen Revolution“ des Iran von 1905/06, wo die Geistlichen – ja! – das Volk unterstützten und ein Geist der Freiheit im Volk zu herrschen begann, der beeindruckend ist. (S. 210-213, 237 ff.)

Es bildeten sich politische Parteien, in der Türkei z.B. 1907 das Komitee für Einheit und Fortschritt, in dem die fortschrittlichen „Jungtürken“ den Ton angaben, oder 1908/09 die „Gesellschaft Mohammeds“ der konservativen Gegenkräfte (S. 261-268) Mit Ziya Gökalp (1876-1924) entstand der türkische Nationalismus im Gegensatz zum imperialen Gedanken des Osmanischen Reiches, das viele Völker unter einer autoritären Herrschaft umfasst hatte.

In Ägypten wurden Frauen zu Geburtshelferinnen ausgebildet. 1901 wurden die ersten Mädchen zur höheren Bildung nach Europa geschickt. Frauenzeitschriften verbreiteten sich. Um 1900 beginnt die Debatte um die Verschleierung der Frau, die damals noch allgemein verbreitet war. (S. 183 ff.) 1899 erschien das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ des Ägypters Qasim Amin. (S. 185 f.) Europäische Moden und Umgangsformen hielten Einzug. Der Umgang zwischen den Geschlechtern veränderte sich. Es wurden auch neue Worte eingeführt, um die neuen Verhältnisse abzubilden, z.B. „familiya“. (S. 169 f.) Und es entstand eine Romankultur, die sich an der europäischen Romankultur orientierte. In diesen Romanen wurden die neuen Verhältnisse gespiegelt und gesellschaftliche Konflikte verhandelt. Bekannte Autoren waren der Libanese Ahmad Faris al-Shidyaq oder Ahmet Midhat Efendi. (S. 167-172)

Optimismus zur Reform des Islam

Die Modernisierung wurde teilweise mit despotischer Gewalt durchgesetzt, auch gegen Religionsgelehrte (S. 23). Teilweise wurden die islamischen Religionsgelehrten aber auch mit Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht, ihre Zustimmung zu geben. Es gab aber auch islamische Gelehrte, die als Modernisierer wirkten, so z.B. der spätere Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo Hassan al-Attar, oder im Osmanischen Reich Sanizadeh Ataulla: Sie führten das Sezieren von Leichen für medizinische Zwecke ein, indem sie die Studenten schrittweise daran gewöhnten. (S. 30 f., 62-64) Zuguterletzt geschah es auch häufig, dass die islamischen Religionsgelehrten ihre Zustimmung zu einer Maßnahme im Nachhinein gaben, nachdem für alle zu sehen war, welchen Nutzen die Maßnahme hatte. (S. 67)

Generell herrschte bei führenden Intellektuellen das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein großer Optimismus vor, dass Moderne und Islam miteinander vereinbar wären. So z.B. bei Hassan al-Attar (1766-1835), der auch Großimam der Al-Azhar Universität in Kairo wurde. (S. 26 ff.) – Oder bei Rifaa al-Tahtawi (1801-1873), der an vielen Stellen als Reformer wirkte, vor allem als Übersetzer: Er meinte, dass sich der Islam, anders als das Christentum, leicht mit der Moderne vereinbaren lassen würde, weil der Islam so rational sei. Tahtawi übersetzte u.a. auch das Buch „Principes du droit naturel“ des Schweizer Philosophen Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), demzufolge Gott hinter den natürlichen Gesetzen steht. (S. 38-46) Tahtawi plante auch die Ausbildung von Mädchen, kam aber zu seiner Zeit nicht mehr dazu. – Optimismus sehen wir auch bei Namik Kemal (1840-1888), einem Schriftsteller, der nach Paris und London reiste. Kemal sah keinen Grund, warum Moderne und Scharia nicht vereinbar sein sollten. Die Scharia bestand für ihn als gebildeten Menschen natürlich nicht aus einer Sammlung überlieferter Detailregeln, sondern repräsentierte das abstrakte Gute.

Fortschritt trotz Rückschlägen

Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gab es ein ständiges hü und hott der Modernisierung: Mal ging es voran, dann stockte der Prozess wieder. Manchmal ging es auch rückwärts. Aber aufs Ganze gesehen ging es doch stetig voran, und alle Rückschläge waren nur temporär. Es kam dabei auf den jeweiligen Herrscher an, ob er sich für Modernisierung einsetzte oder lieber auf die Jagd ging. Und es kam auf die außenpolitische Konstellation der Kolonialmächte an: Mal wurde die Modernisierung als nützlich empfunden, mal wurde sie unterbunden. Und mal paktierte der Herrscher mit den Konservativen, um ein Ziel zu erreichen, mal konnte er ohne sie regieren.

Christopher de Bellaigue diagnostiziert: „Islam did not show any more opposition to modernisation than Judaeo-Christian culture had done to its earlier iteration in the West.“ (S. xxv) Das kann man auch gut an der Reaktion des ägyptischen Religionsgelehrten Abd ar-Rahman al-Dschabarti (ca. 1753-1825) ablesen, von dem uns ein Bericht über die Franzosen in Ägypten erhalten ist. Seine Argumente gegen die Modernisierung gleichen aufs Haar den Argumenten, die katholische Priester gegen die Veränderungen der französischen Revolution vorbrachten: Wie könne es sein, so fragt er z.B., dass die Menschen gleich sind, wo Gott doch bestimmte Menschen zum Herrschen ausersehen hat? (S. 5-13) Hundert Jahre nach al-Dschabarti stellte niemand mehr diese Frage, auch Islamisten nicht.

Obwohl die europäischen Kolonialmächte hie und da übergriffig wurden – z.B. durch eine nicht unabsichtlich herbeigeführte Überschuldung der islamischen Staaten mit nachfolgender Abhängigkeit, oder indem die Briten Ägypten nach dem Urabi-Aufstand besetzten, um sich den Suez-Kanal zu sichern – blieb der Westen vorläufig dennoch das unangefochtene Vorbild für Modernisierung. (S. 159 f.) 1869 hatte der ägyptische Khedive Ismail Pascha den Suez-Kanals mit einer großen Show feierlich eröffnet, für die Giuseppe Verdi (angeblich) die Oper Aida komponierte, und 1878 erklärte er, dass Ägypten nicht länger in Afrika liege, sondern zu Europa gehöre. (S. 51) Tatsächlich hatte Ägypten in dem Wettlauf um Modernisierung lange Zeit die Nase vorn, noch vor der Türkei.

Dennoch begann eine langsame Umorientierung gegen Europa als Vorbild. So rückte z.B. Japan immer mehr als Vorbild in den Blick als Beispiel einer Nation, die sich modernisierte, ohne ihre Kultur aufzugeben. Als die Kolonialmacht Russland 1905 ihre Flotte gegen Japan verlor, erregte das große Freude im Nahen Osten. (S. 231 f.)

Der große Anlauf zur Reform des Islam

Die Modernisierungen des 19. Jahrhunderts waren zuerst weltlich motiviert. Dennoch betrafen sie in vielerlei Hinsicht auch den Islam. Doch zunächst blieb alles Denken in bezug auf den Islam nur Stückwerk, wenn auch viel Optimismus vorhanden war. Wie immer in der Geschichte, folgt die Modernisierung der Religion als der letzte Schritt am Ende von gesellschaftlichen Reformen. So auch hier. Der große Anlauf zur Reform des Islam selbst lässt sich an den folgenden Namen festmachen, mit denen die „kritische Masse“ für einen Durchbruch der Reformen erreicht war.

Dschamal ad-Din al-Afghani (1838-1897): Dschamal ad-Din wuchs im Iran auf, wo er in den Seminaren des Schia-Islams auch Philosophie lernte. Dann ging er nach Ägypten und lehrte an der Al-Azhar Universität.

Dschamal ad-Din entwickelte praktisch alle Grundlagen und Voraussetzungen für eine Reform des Islam. Er erneuerte das Wissen um den islamischen Rationalismus (Mutazila), bezog auch die menschliche Geschichte und ihre Errungenschaften vor Mohammed in sein Denken ein, und machte die Sunniten mit der neuplatonischen Philosophie bekannt. Dschamal ad-Din lehrte, dass Glück aus Vernunft und Einsicht rührt, und forderte Weltzugewandtheit, nicht Weltabgewandtheit. Seine Kritiker beklagten: „(his) interest in philosophy, his advocacy of certain Mutazilite principles, his prohibition of traditional interpretation, his call for the study of modern sciences, his preference for the science of the Franks.“

Dschamal ad-Din förderte ein pan-islamisches Bewusstsein der Muslime, für das er unermüdlich durch die islamische Welt reiste und eine vielgelesene Zeitschrift publizierte, wandte sich gegen den Einfluss der europäischen Kolonialmächte, und soll auch an einem Attentat auf den Schah von Persien beteiligt gewesen sein. Dschamal ad-Din gilt damit als der Vater des politischen Islams. Allerdings wollte Dschamal ad-Din einen modernisierten Islam als politischen Islam, keinen rückwärtsgewandten Islam. (S. 203-208, 217-219, 228-230)

Muhammad Abduh (1849-1905): Abduh war ein Anhänger von Dschamal ad-Din al-Afghani und gilt als der Gipfelpunkt der damaligen Reformbewegung. Er lehrte in Ägypten und wurde 1899 zum Großmufti von Ägypten ernannt (nicht zu verwechseln mit dem Großimam der Al-Azhar Universität). Als Großmufti setzte er Reformen in der Al-Azhar Universität durch. Sein Hauptwerk erschien 1897 unter dem Titel „Die Theologie der Einheit“ und wurde in der ganzen islamischen Welt rezipiert.

Abduh sah die Rationalität bestens in der islamischen Religion begründet und bedauerte, dass so viel Obskurantismus im Namen des Islams entstanden war. Er wandte sich gegen das Prinzip der bloßen Nachahmung (Taqlid) und für das Prinzip der individuellen Entscheidung mithilfe der Vernunft auf Grundlage der islamischen Quellen (Idschtihad). Wie die Mutaziliten hielt Abduh den Koran für geschaffen und damit offen für die Interpretation nach den Umständen. Der Koran als geschaffenes Werk könnte sogar Fehler enthalten, die von Menschen in ihn hineingetragen wurden. Abduh sprach sich für die Evolutionslehre aus, gegen die Mehrehe, und gegen eine Vorsehungslehre, die die Eigeninitiative lähmt. Auch Zinsen sah er nicht als Problem, weil das Gemeinwohl oberste Richtschnur sei.

Die ersten Muslime, die Salafs (Vorfahren), waren für Abduh maßgebend – aber nicht im Sinne einer blinden Nachahmung, wie heutige (Pseudo-)Salafisten das verstehen, sondern im gegenteiligen Sinne: Denn aus dem Koranvers, dass die Juden den Islam deshalb ablehnten, weil sie an der Lehre ihrer Vorväter festhielten, leitete Abduh folgerichtig ab, dass das blinde Festhalten an der Lehre der Vorväter nicht richtig sein kann und auch nicht dem Verhalten der Salafs entsprach, die von der Lehre ihrer Vorväter abwichen und sich für den Islam öffneten.

Abduh war umfassend gebildet. Er las Goethe und Schiller auf Französisch, außerdem den damals vorherrschenden Philosophen Herbert Spencer (1820-1903), der die Evolutionslehre erstmals auf die gesellschaftliche Entwicklung anwendete. Er zitierte aber auch aus der Korrespondenz von Kaiser Friedrich II. mit dem andalusischen Gelehrten Ibn Sabin (ca. 1217-1271). Abduh hatte eine freundliche Stimme und Erscheinung, die ihm ein Charisma verliehen, mit dem er seine Zuhörer faszinierte. – Muhammad Abduh wurde allerdings von der britischen Kolonialmacht, speziell von Lord Cromer, dem britischen Gouverneur in Ägypten, protegiert. Das brachte ihm Anfeindungen ein und war ein Hinderungsgrund für das weitere Wirksamwerden seine Reformideen. (S. 280-288)

Qasim Amin (1863-1908): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Wie wir oben schon sahen, verfasste Amin 1899 das einflussreiche Buch „Die Befreiung der Frau“ (S. 185 f.)

Raschid Rida (1865-1935): Ein libanesischer Schüler Abduhs, der dessen Reformtheologie weiterführte. Raschid Rida plädierte für eine Überwindung der Trennung der Muslime nach Rechtsschulen, und für ein Verständnis von Dschihad nur als Verteidigungskampf. Raschid Rida wollte außerdem die Tötung von Apostaten weitgehend einschränken, indem er sie nur noch für Fälle von offensivem Glaubensabfall vorsah. (S. 284)

Ali Abdel Razeq (1887/8-1966): Ein ägyptischer Schüler Abduhs, der als Vater des islamischen Säkularismus gilt. In seinem Buch „Das Kalifat und die Souveränität der Nation“ sprach er sich für eine klare Trennung von Staat und Religion aus. Außerdem betonte er, dass der Prophet Mohammed eben nur das war: ein Prophet, während seine weltliche Herrschaft rein weltlich war. Deshalb sollte man eine weltliche Gesetzgebung für eine weltliche Herrschaft nicht in der Offenbarung des Islam suchen. (S. 294)

Taha Hussain (1889-1973): Ein ägyptischer Schüler von Abduh. Einerseits der bedeutendste arabische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Andererseits der Begründer einer skeptischen Geschichtsschreibung des Islams. Taha Hussain betrachtete den Koran erstmals als ein literarisches Werk und forderte eine kritische Betrachtung überlieferter Texte. 1950-52 war er Erziehungsminister in Ägypten. (S. 294)

Jäher Abbruch der religiösen Reformen

Doch leider kam es nicht zum Durchbruch des religiösen Reformdenkens. Vielmehr wurde das religiöse Reformdenken mit dem Ersten Weltkrieg buchstäblich abgewürgt. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich:

Zum einen war die Übergriffigkeit der europäischen Kolonialmächte mit dem Ersten Weltkrieg zu groß geworden, um keine negative Reaktion hervorzurufen. Der ganze Nahe Osten – außer der Türkei, die Atatürk erfolgreich verteidigte – wurde von Briten und Franzosen besetzt. Grenzen wurden willkürlich gezogen und Regierungen nach Belieben ein- oder abgesetzt. Es kam zu Massakern und Bombardierungen. Auch die sich anbahnende Gründung Israels wurde als Willkür der Kolonialmächte gedeutet, auch wenn dieses Ereignis damals nicht im Zentrum stand. – Man hatte im Nahen Osten ganz wie in Deutschland auf die 14 Punkte des US-Präsidenten Woodrow Wilson gehofft, und ganz wie in Deutschland war man auch im Nahen Osten schmerzlich enttäuscht, als Woodrow Wilson sich nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges einfach wieder zurückzog. (S. 297) Den neuen Völkerbund verstand man nur noch als verlängerten Arm der Kolonialmächte.

Das alles war zuviel. Das Pendel der Sympathie schlug nun gegen Europa und den Westen aus, und damit taugte der Westen auch nicht mehr als Vorbild für weitere Reformen. Ob Liberalismus, Rationalismus oder Demokratie: Alles trug nun den Makel der kolonialen Übergriffigkeit an sich.

Der andere Grund war, dass die Eliten in Nahost oft keinen Reformislam anstrebten, sondern ihre Verbindung zur Religion gleich ganz kappten. Man las damals Darwin, Haeckel, Schopenhauer, Poincaré oder Herbert Spencer, spekulierte über die Seele als mechanischen Apparat und lancierte Polemiken gegen den Klerus. Von türkischen Medizinstudenten ist überliefert, dass sie Atheisten waren und das Buch „L’homme machine“ von d’Holbach wie den Koran als heiliges Buch aufgeschlagen im Zimmer stehen hatten. (S. 74 f., 276-279)

In der Türkei und im Iran wurden die Reformen nach dem Ersten Weltkrieg deshalb von Kemal Atatürk und Reza Schah ohne die Religion und gegen die Religion fortgesetzt. An einer Islamreform bestand schlicht kein Interesse, es gab auch kein Verständnis für die Notwendigkeit einer solchen Reform. Religion wurde beiseitegeschoben, unterdrückt und nur in einer streng reglementierten Form zugelassen. Das kam eher einer Kastration als einer Reform der Religion gleich. Auch in Ägypten feierten die Eliten in Kairo und Alexandria hemmungslose Parties, ohne sich um die Armut der religiösen Landbevölkerung zu kümmern. (S. 301-306)

Der Islamismus als Reaktion

Diese Zustände führten zur Herausbildung des Islamismus in Gestalt der „Muslimbrüder“, die von den beiden ägyptischen Lehrern Hassan al-Banna und Sayyid Qutb gegründet und geprägt wurden. Der Islamismus wurde von zwei Motiven getrieben: Man wollte die eigene Kultur und Freiheit gegen die Übergriffigkeit der Kolonialmächte verteidigen. Zu dieser Kultur gehörte der Islam fest dazu. (S. 306 ff.) Und man wollte gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen. (S. 309, 317) Kurz: Der Islamismus entstand praktisch als Aufstand der vergessenen kleinen Leute gegen eine Elite, die sich geistig völlig von ihren eigenen kulturellen Wurzeln entfernt hatte.

Diese durchaus verständlichen Motive wurden leider ins Extrem gezogen, so dass eine Karikatur von Islam entstand. Der Islamismus ist nicht einfach eine Rückkehr zum traditionalistischen Islam, sondern stellt einen höchst seltsamen Synkretismus von traditionellen und modernen Ideen und Vorstellungen dar:

  • Getragen wird der Islamismus von Laien-Brüdern. Es ist also kein Islam der Religionsgelehrten, wie es früher einmal war. Zwar schlossen sich auch manche Religionsgelehrte dem Islamismus an, doch waren sie nicht die treibende Kraft.
  • Die islamistische Deutung des Islam ist denkbar oberflächlich und allzu wörtlich, wie man es von Laien erwarten kann. Dieser Islam hat sämtliche Denktraditionen des Islams abgeschnitten, sei es Mystik oder Rationalismus, und auch von der traditionellen Rezeption der antiken Philosophie ist nichts mehr übrig geblieben. Manchmal hat man das Gefühl, die islamistische Deutung des Islam orientiert sich an der Deutung westlicher Islamhasser: Wie wenn man aus Trotz die schwarzgemalte Islamdeutung der Islamhasser bestätigen wollte.
  • Die karitative Tätigkeit und Gemeinschaftsbildung der Muslimbrüder ist ebenfalls nicht traditionell islamisch, sondern ist natürlich durch den oben beschriebenen sozialen Konflikt motiviert. In der Praxis haben sich die Muslimbrüder eine Menge von der karitativen Tätigkeit der christlichen Missionaren abgeschaut, die damals in Ägypten tätig waren.
  • Kennzeichnend für den Islamismus ist auch ein übersteigerter Hass auf die Juden, den es in dieser Form – bei allen Problemen – im traditionellen Islam nicht gegeben hatte. (Dieser Punkt bleibt in diesem Buch allerdings unerwähnt.)
  • Weil man sich vom Westen nichts sagen lassen wollte, wurde großspurig behauptet, dass sich alle Gesetze für einen guten Staat in der islamischen Überlieferung finden würden, was natürlich genauso unsinnig ist, wie wenn man dasselbe über die Bibel behaupten würde.
  • Trotz allem finden sich zahllose moderne, „westliche“ Elemente im Islamismus. Allerdings auf eine völlig verklemmte Weise, was anzeigt, dass der Islamismus mit sich selbst nicht im Reinen ist: Irgendwie möchte man doch demokratisch sein und ein Parlament haben, nur soll die Scharia Vorrang haben. Wobei im Einzelnen völlig unklar bleibt und der reinen Willkür unterliegt, was man unter Scharia verstehen will. Frauen sollen irgendwie gleichberechtigt sein, aber doch nicht ganz, und bitte nur mit Kopftuch. Die westliche Technik übernimmt man gerne, aber die westliche Wissenschaftsfreiheit möchte man nicht haben. Und auch die Idee der Nation hat man übernommen, wobei man zugleich pan-islamisch sein möchte, was aber nie so richtig funktioniert hat. (Vgl. S. 330, 344 f.)

Christopher de Bellaigue schreibt, dass die Muslimbrüder sich heute etwas gemäßigt hätten. So würden sie heute z.B. den „Takfirismus“ ablehnen. Unter takfir versteht man die Erklärung eines Muslims zum Apostaten, was die Erlaubnis, diesen zu töten, zur Folge hat. (S. 328)

In Ägypten kam Präsident Nasser 1952 mithilfe der Muslimbrüder an die Macht. Zwei Jahre später bootete er die Muslimbrüder aus, was zu deren Radikalisierung beitrug. (S. 323)

Im Iran soll es der Schah mit der Unterdrückung der Religion und der radikalen Verwestlichung der Kultur völlig übertrieben haben. Damals sollen 25.000 Amerikaner im Iran gewesen sein, um alle Bereiche der Gesellschaft nach westlichem Muster umzugestalten, so dass nichts mehr von der angestammten Kultur übrig blieb, nicht einmal in der Architektur. (S. 332 f., 342)

Das rief die Kritik von Intellektuellen hervor: Dschalal Al-e Ahmad (1923-1969) schrieb das berühmte Buch „Gharbzadegi“, dessen Titel man mit „Westvergiftung“ übersetzen könnte. Darin wird eine nostalgische Kritik an der Moderne geübt, die naiv und undifferenziert ist, wie wenn früher alles besser gewesen wäre: Solches kennt man auch aus dem Westen. Und wie so oft war auch hier der Autor solcher Ideen selbst ein durchaus moderner Mensch. (S. 334 ff.) – Ali Schariati (1933-1977) hatte an der Universität in Paris den westlichen Antikolonialismus kennengelernt, den er nun mit dem Schia-Islam verband: Islam wolle, so meinte er, eine freie und klassenlose Gesellschaft. Das Volk erinnere sich nicht an die große Zeit des Perserreiches, die der Schah beschwor, sondern nur an den Schia-Islam. Diesen stellte sich Ali Schariati aber – verrückt! – ohne Klerus vor. (S. 342 ff.)

Als es zu ökonomischen Verwerfungen und schlussendlich zur Revolution im Iran kam, bootete Khomeini alle anderen Kritiker des Schah-Regimes aus und errichtete einen klerikalen Staat, den es in dieser Form noch nie zuvor in der Geschichte des Islams gegeben hatte. Doch obwohl die Religionsgelehrten im Iran eine große Rolle bei der Herausbildung des iranischen Islamismus gespielt hatten, sind auch die schiitischen Religionsgelehrten in ihrer Haltung zum Islamismus gespalten. Khomeini war übrigens auch nicht der höchste schiitische Geistliche. Der höchste schiitische Geistliche Ali as-Sistani (1930-) residiert in Nadschaf im Irak, der Stadt mit dem höchsten schiitischen Heiligtum, und lehnt die Idee eines Gottesstaates ab.

Abschluss: Das große Wendejahr 1979

Für Christopher de Bellaigue ist 1979 das große Wendejahr hin zum Islamismus. In diesem Jahr kam im Iran Khomeini an die Macht. Im selben Jahr marschierte die Sowjetunion in Afghanistan ein, wo islamistische Kämpfer Kampferfahrung sammeln konnten. In diesem Jahr wurde auch die islamistische Gruppe al-Dschihad gegründet, die zwei Jahre später Sadat ermordete. Und schließlich fand 1980 ein Militärputsch in der Türkei statt, der die politische Linke dermaßen dezimierte, dass anschließend (angeblich) der Weg frei war für den Aufstieg der Islamisten bis hin zu Erdogan. (S. 345 f.)

Nur am Rande erwähnt wird der Wahhabismus aus Saudi-Arabien, der sich durch die üppig fließenden Öl-Milliarden in der islamischen Welt ausbreitet. Der Ausblick auf die Zukunft am Ende des Buches ist eher düster.

Kritik

Christopher de Bellaigue hat ein großartiges Buch vorgelegt. Dennoch muss manches daran kritisiert und ergänzt werden. Das wollen wir im folgenden auf konstruktive Weise tun.

Kritik: Religion nicht ernst genommen?

Natürlich möchte der Autor den Islam ernst nehmen, aber an zwei Stellen überkommt den Leser das Gefühl, dass der Autor das nicht wirklich tut. Das eine ist der Untertitel des Buches: „The Modern Struggle Between Faith and Reason“. Ist es wirklich klug, Glaube und Vernunft als Gegensätze einander gegenüberzustellen? Geht es nicht darum zu zeigen, dass Glaube und Vernunft eben gerade keine Gegensätze sind? Hätte man nicht besser „Das Ringen um die richtige Balance zwischen Tradition und Fortschritt“ als Untertitel wählen sollen?

Die zweite Stelle ist ein Satz in der Conclusion des Buches: „people … who, while respecting the moral precepts they have received from their forebears, are lax in matters of observance. … in their secular world view and relatively liberal values they represent the successful part of the Islamic Enlightenment.“ (S. 350) – Menschen, die ihre Religion lax handhaben, mögen vielleicht in gewisser Weise aufgeklärt sein, aber eine „islamische Aufklärung“ ist das nicht! Eine islamische Aufklärung bestünde darin, dass die Religion des Islam selbst aufgeklärt wird, so dass Liberalität nicht durch Laxheit in der Beachtung der Regeln entsteht, sondern dadurch, dass die Regeln selbst liberal werden, soweit dies möglich ist. Ein großer Unterschied!

Kritik: Islamische Geschichte

Der Autor möchte mit diesem Buch vor allem zeigen, dass die islamische Welt zur Moderne fähig ist. Dazu liefert aber auch die islamische Geschichte vor dem Jahr 1798 reichlich Anschauungsmaterial – doch dieses Thema hechelt der Autor nur sehr kurz angebunden im Vorwort durch. Man hätte besser ein eigenes Kapitel daraus gemacht.

Zudem bleibt die neuere historisch-kritische Forschung zu den Anfängen des Islams unerwähnt. Wir wissen heute, dass die Anfänge des Islams anders waren, als es die Legenden überliefern. Das „zerstört“ den Islam keineswegs, sondern eröffnet im Gegenteil neue Möglichkeiten für eine Reformierung des Islams im Einklang mit dessen Ursprung.

Kritik: Zu trüber Ausblick

Am Ende des Buches wird ein etwas trüber Ausblick gegeben. Dafür gibt es aber keinen Grund. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, und wer die Wendungen der Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, der weiß, dass vieles möglich ist.

Zu kurz gekommen sind in diesem Buch Entwicklungen außerhalb der Zentren der islamischen Welt: Die Ölstaaten, Marokko, Indien oder Indonesien, aber auch die Muslime in den westlichen Ländern stricken an der Gesamtentwicklung des Islams in der Welt mit.

Manches hätte noch in einem Ausblick Erwähnung finden können. So z.B. auch das Werk „Die Kritik der arabischen Vernuft“ von Mohammed Abed Al Jabri (1935-2010) aus dem Jahr 1984, oder die Bemühungen um eine historisch-kritisch geerdete „Theologie der Barmherzigkeit“ von Mouhanad Khorchide in Münster.

Kritik: Linker Bias

Christopher de Bellaigue scheint einem politischen Bias zu unterliegen, einem linken Bias. Vielleicht verdankt sich der linke Bias teilweise auch der Notwendigkeit, Lippenbekenntnisse für das derzeit im Westen vorherrschende intellektuelle Milieu abzugeben, gerade auch bei diesem Thema. Der Wert des Buches wird dadurch kaum geschmälert, auch wenn manches fehlt.

Kritik Linker Bias: Selbstkritik des Westens

Christopher de Bellaigue spart nicht mit Kritik an den westlichen Kolonialmächten. Aber an einigen Stellen lässt Christopher de Bellaigue durchblicken, dass es noch eine andere Kritik am Westen gibt: Der Westen des 20. Jahrhunderts war nicht mehr so attraktiv zur Nachahmung wie der Westen des 19. Jahrhunderts.

Zur Reise von Sayyid Qutb in die USA wird angemerkt, dass die Permissivität der sexuellen Sitten, für die das Jahr 1968 schlaglichtartig steht, Muslime eher abschreckt. (S. 322) Zur radikalen Vewestlichung des Iran durch den Schah wird angemerkt, dass die damals herrschende westliche Kultur banal sei. (S. 333) Treffend wird kritisiert, dass die westliche Architektur Teheran „into a version of everywhere else“ verwandelte. (S. 337) Dieses Phänomen kennen wir aus unseren eigenen, westlichen Städten nur allzu gut. Sayyid Qutb soll gesagt haben, dass er keinen Zusammenhang sehe zwischen den Menschen, denen er in den USA begegnete, und den Errungenschaften des Westens. (S. 322)

Leider führt der Autor diese Kritik nicht weiter aus. Denn womöglich hatte Sayyid Qutb wenigstens teilweise Recht: Der Westen hat tatsächlich kulturell teilweise abgebaut und sich darüber teilweise selbst verloren. Immerhin wird der Gedanke auf der allerletzten Seite des Buches noch einmal aufgegriffen (S. 352): Christopher de Bellaigue hat also verstanden, dass hier ein wichtiges Thema lauert, das bearbeitet werden müsste. Es wäre aber eine konservative Kritik, die hier geübt werden müsste. Vielleicht hat er das Thema deshalb nur angedeutet.

Kritik Linker Bias: Verharmlosung

An manchen Stellen verharmlost der Autor islamische Verhältnisse zu sehr. So z.B. die Sklaverei im Islam. Es ist sicher richtig, dass der Islam auch einen Beitrag zur Milderung von Sklaverei geleistet hat und Sklaverei im Islam anders verstanden wurde als z.B. in den Südstaaten der USA. Dennoch erscheint die Darstellung zu weich gezeichnet. (S. 188 ff.) – Ähnliches gilt für die Homosexualität im Islam. Insbesondere der Gedanke, ob die sexuelle Toleranz der alten Zeit nicht besser war als die spätere Ächtung von Homosexualität unter dem Einfluss des viktorianischen Westen, ist völlig irreführend: Diese angebliche Toleranz war vielmehr eine Ausweich- und Ersatzhandlung und eine große Heuchelei. Eine Toleranz gegenüber Homosexualität, die diesen Namen verdient, hat erst der Westen im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. (S. 195 ff.)

Ebenfalls eine Verharmlosung ist die Behauptung, dass nur eine kleine Minderheit der Migranten, die aktuell aus islamischen Ländern nach Europa kommen, islamisch motiviert wären. (S. 352) Natürlich kommen die wenigsten mit der Absicht, eine Moschee zu gründen oder ein islamistisches Attentat zu verüben. Aber sehr viele kommen eben doch mit dem Mindset eines traditionalistischen bzw. islamistischen Verständnisses von Islam. Und das allein ist ein großes Problem, das man nicht unterschlagen darf. – Schließlich werden auch die islamistischen Selbstmordattentäter verharmlost: Dass sie oft keine Ahnung vom Islam hätten usw. usf. (S. 351) Es mag zwar richtig sein, dass sie oft nur wenig Ahnung haben, aber es ist der traditionalistische bzw. islamistische Mindset, der sie anfällig sein lässt für islamistische Propaganda, und in diesem Sinne sind diese Selbstmordattentäter sehr wohl Muslime und Islamisten, und nicht nur verwirrte Jugendliche.

Kritik Linker Bias: Mode-Themen

Die Beschaffung von Altertümern aus Ägypten und anderen Ländern des Nahen Ostens durch westliche Antiquare und Wissenschaftler wird wiederholt „loot“ genannt, also „Beute“ oder „Plünderung“. (S. 35, 43) Das ist in dieser Pauschalität natürlich falsch. Kultur gehört zunächst einmal immer demjenigen, der sich für sie interessiert und sie zu schätzen weiß. Und insofern ein solches Bewusstsein in diesen Ländern damals nicht vorhanden war, kann man nicht einfach von „loot“ sprechen, sondern man sollte die Dinge differenzierter sehen.

Völlig obskur und „woke“ ist ein Satz, der „multiculturalism“ mit „black slaves“ in Verbindung bringt. (S. 121) Hier wird so getan, als ob die Hautfarbe von Menschen kulturelle Vielfalt bedeuten würde. Das ist aber falsch. Hautfarbe und Kultur sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Gleich mehrfach falsch ist auch dieser Satz über die Migrationsbewegung ab dem Jahr 2015: „civil war in Syria, Libya and elsewhere, along with poverty and climate change, pushed millions of Muslims into Europe“ (S. 352) – Die größte Unwahrheit des Satzes liegt in dem Wort „push“: Denn die Migranten kommen vor allem deshalb nach Europa, weil Europa sie kommen lässt, statt sie zurückzuweisen, und dazu werden noch soziale Wohltaten verteilt, die eine große Anziehungskraft entfalten. Die pull-Faktoren sind entscheidend, nicht die push-Faktoren, sonst wären schon das ganze 20. Jahrhundert über die Armen nach Europa geströmt. Aber selbst heute machen sich gerade die Ärmsten der Armen nicht auf den Weg nach Europa: Dass es um Armut ginge, ist die zweite Unwahrheit. Die dritte Unwahrheit liegt in der angeblichen Fluchtursache „climate change“: Dass Menschen aus islamischen Ländern in Massen nach Europa kommen, weil sich das Klima gewandelt habe, glauben nur hartgesottene Ideologen.

Kritik Linker Bias: NS-Vergangenheit ausgeblendet

Seltsamerweise wird die Beeinflussung des Islamismus durch den Nationalsozialismus mit keinem Wort erwähnt. Weder die engen Verbindungen des palästinensischen Muftis von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1896-1974) mit den Nationalsozialisten, noch die bosnische SS-Division „Handschar“, noch die arabischsprachige Rundfunkpropaganda der Nationalsozialisten kommen zur Sprache. Dabei soll der nationalsozialistische Einfluss eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des spezifisch islamistischen Judenhasses gespielt haben. Im traditionellen Islam gab es – bei allen Problemen – keinen derartigen Judenhass wie im Islamismus.

Wir können nur vermuten, dass Christopher de Bellaigue diesen Aspekt der Geschichte des Islamismus aufgrund irgendwelcher falscher Rücksichtnahmen vollständig ausgeblendet hat. So etwas sollte man natürlich nicht tun.

Kritik Linker Bias: Versagen der Linken kleingeredet

Ganz am Rande wird erwähnt, dass die erfolgreiche Nasser-Regierung in Ägypten die Regierungen in anderen Ländern inspirierte, darunter Algerien, Syrien und der Irak. (S. 324) Völlig unerwähnt bleibt jedoch, dass diese Regime sich als sozialistische Regime verstanden („Baath-Partei“). Insofern auch das ein Beitrag zum Fortschritt in die Moderne war, bräuchte man das auch gar nicht verstecken. Es wird in diesem Buch aber dennoch versteckt. – Der Grund liegt wohl darin, dass diese linken Regime am Ende keine allzu rühmliche Rolle spielten. Ebenso wie Kemal Atatürk und der Schah von Persien strebten sie eine Modernisierung ohne und gegen die Religion an. Und nicht selten verkamen sie zu Diktaturen, wie in Syrien und Irak, aber auch Ägypten. Auch der Bürgerkrieg im Libanon soll sich linken Kräften verdanken.

Ebenfalls kaum beleuchtet wird der Umstand, dass sehr viele Intellektuelle der islamischen Welt direkt von linken Ideologien beeinflusst waren, die an europäischen Universitäten im Umlauf waren. Es wird nur erwähnt, dass der Iraner Ali Schariati vom Antikolonialismus der französischen Universität beeinflusst war (S. 342 ff). Solches galt natürlich nicht nur für Ali Schariati, sondern auch für viele andere Intellektuelle des islamischen Raumes. – Man hätte auch Mohamed Arkoun erwähnen können, der die postmoderne Philosophie auf den Islam münzte. Oder Michel Foucault, der die islamische Revolution von Khomeini begrüßte. Dieses falsche postmoderne Denken hat bis heute Hochkonjunktur im Westen.

Es wird auch die fatale Rolle von Mossadegh im Iran zu weich gezeichnet. (S. 331 ff.) Vielleicht war Mossadegh eben doch ein Steigbügelhalter der Kommunisten? Ganz gewiss waren seine Anhänger später Steigbügelhalter für Khomeini. – Und stimmt es wirklich, dass die Islamisten in der Türkei deshalb an die Macht kamen, weil zuvor die Linken in einem Putsch ausgeschaltet worden waren? (S. 346) Wird hier die Rolle der Linken nicht völlig überhöht? Ist es nicht vielmehr so, dass die Islamisten in der Türkei vor allem durch die demographische Entwicklung zur Mehrheit wurden? – Und man hätte auch gerne etwas von der Erfahrung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal gelesen: Laut Boualem Sansal war Algerien früher ein linkes Land. Als die ersten islamistischen Prediger eintrafen, verlachte man sie als die „Narren Allahs“ und nahm sie nicht ernst. Wenige Jahrzehnte später befand sich Algerien in einem blutigen Bürgerkrieg mit dem Islamismus.

Immer wieder stoßen wir darauf, dass die völlige Unfähigkeit der Linken, die Religion ernstzunehmen und einzubinden, in die Katastrophe führte. Christopher de Bellaigue schweigt dazu weitgehend.

Kritik Linker Bias: Irak-Krieg von George W. Bush

Den Irak-Krieg des US-Präsidenten George W. Bush von 2003 beschreibt Christopher de Bellaigue mit kurzen Worten als „failure of the Anglo-American occupation of Iraq“ (S. 349)

Doch war es wirklich nur ein „failure“? Hat man nicht den Diktator effektiv beseitigt, anders als z.B. in Syrien? Hat man nicht sichergestellt, dass der Diktator weder über Giftgas noch über sonstige Massenvernichtungswaffen verfügt? Und damit auch den Massenmord Saddam Husseins an Schiiten und Kurden ein für allemal unterbunden? Und war es wirklich nur eine „occupation“?! Wurden nicht Schiiten und Kurden, die immerhin 80% der Bevölkerung des Irak ausmachen, tatsächlich von der Herrschaft der sunnitischen Minderheit befreit? Haben wir nicht alle die Bilder gesehen, wie die westlichen Truppen von Schiiten und Kurden jubelnd begrüßt wurden? Der Schuh-Werfer auf George W. Bush war jedenfalls ein Sunnit aus der Hochburg der Saddam-Hussein-Anhänger. Und „Anglo-American“? Es waren über 40 Nationen am Irak-Krieg beteiligt. Nur Frankreich und Russland blieben fern. Aber das waren ja die Hauptwaffenlieferanten von Saddam Hussein, die sich in Ölkonzessionen hatten bezahlen lassen. Und Deutschland war so dumm, sich diesen beiden anzuschließen. Und hatte Bush nicht erreicht, dass die Terrorwelle im Irak am Ende abebbte? Und war die eigentliche Katastrophe nicht erst der Truppenabzug durch Obama und Obamas Syrienkrieg? Und existiert die formale Demokratie, die George W. Bush 2003 im Irak etablierte, nicht immer noch? Trotz allem immer noch? Und wer hat jetzt eigentlich Zugriff auf das irakische Öl bekommen? Der US-Konzern „Hölliburton“? Nein, sondern ein norwegisch-chinesisches Konsortium.

Christopher de Bellaigue hätte George W. Bush unbedingt für dessen Weitsichtigkeit loben müssen! Aber vielleicht konnte er das nicht, aus Rücksicht auf gewisse Milieus. Und weil de Bellaigue das versäumt hat, wollen wir dies hier nachholen, indem wir einige Worte aus einer Rede von George W. Bush vom 06. November 2003 zitieren, die ihre Kraft bis heute nicht verloren haben:

„Time after time, observers have questioned whether this country, or that people, or this group, are „ready“ for democracy … It should be clear to all that Islam – the faith of one-fifth of humanity – is consistent with democratic rule. … As we watch and encourage reforms in the region, we are mindful that modernization is not the same as Westernization. Representative governments in the Middle East will reflect their own cultures. They will not, and should not, look like us. … And working democracies always need time to develop – as did our own. … There are, however, essential principles common to every successful society, in every culture. …

Iraqi democracy will succeed – and that success will send forth the news, from Damascus to Teheran – that freedom can be the future of every nation. … Sixty years of Western nations excusing and accommodating the lack of freedom in the Middle East did nothing to make us safe – because in the long run, stability cannot be purchased at the expense of liberty. As long as the Middle East remains a place where freedom does not flourish, it will remain a place of stagnation, resentment, and violence ready for export.“

Und wer jetzt sagt: „Es ist doch schiefgegangen im Irak!“, der hat nichts verstanden. Denn diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird erst dann zu Ende sein, wenn das Happy End erreicht ist. George W. Bush hatte das erkannt. Obama nicht.

Fazit

Mit seinem Buch „The Islamic Enlightenment“ hat Christopher de Bellaigue eindrucksvoll seine zentrale Botschaft untermauert: Die islamische Welt verharrt nicht statisch im Mittelalter, sondern hat in den letzten 200 Jahren massive Modernisierungen durchlaufen und ist grundsätzlich auch zu weitergehenden Modernisierungen fähig. Es gibt gute und verstehbare Gründe, warum die Modernisierung bis heute nicht vollständig geglückt ist. Eine grundsätzliche Modernisierungsunfähigkeit der islamischen Welt ist jedenfalls nicht der Grund.

Allerdings gilt: Diese Modernisierung ist kein Selbstläufer. Man darf sich nicht zurücklehnen und glauben, dass mit der Zeit schon alles von selbst gut werden würde. Modernisierung muss aktiv herbeigeführt werden. Und auch Rückfälle sind jederzeit möglich. Übrigens auch in der westlichen Welt. Auch deren Modernität ist nicht in Stein gemeißelt, sondern kann verloren gehen.

Schlussfolgerungen

Welche Schlüsse für unsere heutige Zeit können aus diesem Buch gezogen werden? Hier eine kurze Liste von Vorschlägen. Dabei gilt: Es ist immer leichter gesagt als getan.

  • Der Westen muss wieder zu sich selbst kommen, damit er wieder die Anziehungskraft von früher entfalten kann. Liberalismus und Rationalismus müssen wieder zum Leuchten gebracht werden. Eine Rückbesinnung auf nationale und regionale Traditionen ist erforderlich. Außerdem eine Neubesinnung auf religiös-weltanschauliche Traditionen, namentlich Christentum, klassischer Humanismus und Aufklärung.
  • Der Westen sollte sich nicht dafür schämen, dass er fortschrittlicher als die islamische Welt war. Nicht alle Aspekte des Kolonialismus waren schlecht und falsch. (Einiges davon aber schon, aber das ist nichts Neues.)
  • Die islamische Welt muss akzeptieren, dass sie an dem ganzen Schlamassel vor allem selbst schuld ist. Denn es war die islamische Welt, die mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung verschlafen und sich auf diese Weise angreifbar gemacht hatte. Das, und nichts anderes, ist das Urübel.
  • Die islamische Welt muss verstehen, dass vieles von dem, was geschehen ist, jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, auch wenn es einst Unrecht war. Man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht auslöschen. Ein Vorbild kann hier Europa sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Begleichung alter Rechnungen verzichtete.
  • Alle beteiligten Akteure, ob religiös oder nicht religiös, ob westlich oder östlich, müssen begreifen, dass es eine nachhaltige Modernisierung nur mit dem Islam geben kann, nicht gegen den Islam.
  • Die Modernisierung des Islam muss dort fortgeführt werden, wo sie um 1900 liegengeblieben ist. Eine Modernisierung des Islam „zerstört“ oder „verfälscht“ den Islam nicht, solange sie mit Vernunft, Wahrhaftigkeit und ohne Eifer durchgeführt wird. Ein Vorbild kann die Modernisierungsgeschichte der katholischen Kirche sein, die sich dabei ebenfalls nicht selbst aufgegeben hat. Reformen sind erst dann dauerhaft tragfähig, wenn sie auch von der Mehrheit der Konservativen mitgetragen werden.
  • Offenbar leidet der Islam heute auch daran, dass seine historisch gewachsenen Strukturen zerstört worden sind. Der Islam muss wieder eine Struktur von Religionsgelehrten aufbauen, die legitim und authentisch für den Islam sprechen können und von staatlichen Einflüssen unabhängig sind. Irgendjemand muss die Reformen schließlich tragen und durchführen. Irgendjemand muss sagen können: Diese Reform gilt jetzt, und diese nicht.
  • Muslime werden damit leben müssen, dass es dauerhaft verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie ein moderner Islam aussieht. Hier ist mehr Toleranz und friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Auffassungen notwendig.
  • Linke müssen damit aufhören, die Muslime und die islamische Welt für ihre linken politischen Zwecke zu vereinnahmen, Islamismus und islamischen Traditionalismus zu verharmlosen, und den Westen in seiner Fortschrittlichkeit zu verteufeln. Vielmehr müssen Linke ihre eigene Geschichte von Schuld, Missbrauch und Versäumnissen in bezug auf den Islam und die islamische Welt, aber auch in bezug auf Christentum, klassischen Humanismus, die Aufklärung und die westliche Welt, aufarbeiten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Ayn Rand: Atlas Shrugged (1957)

Heilsame (Über-)Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten

Mit „Atlas Shrugged“ hat Ayn Rand einen Weltanschauungsroman geschrieben, der für viele zu einer Offenbarung, für viele aber auch zu einem Hassobjekt geworden ist. Im Mittelpunkt steht die Idee vom produktiven Menschen, der stolz ist auf seine Errungenschaften, und die Erkenntnis, dass ein Eingreifen in Eigentum und Freiheiten der produktiven Menschen durch soziale Dummschwätzer erstens verlogen und zweitens dumm ist, weil es nicht zu Wohlstand und Gerechtigkeit, sondern zu Niedergang und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt. Um diese Grundidee herum hat Ayn Rand eine komplette eigene Weltanschauung entwickelt, derzufolge der Egoismus moralisch ist. Für religiös und / oder sozialistisch sozialisierte Menschen ist diese Idee natürliche eine ungeheure Provokation.

Der Roman ist also eine Parabel mit philosophischer Aussage, doch weder trocken noch belehrend geschrieben (mit Ausnahme einiger zu lang geratener Reden). Vielmehr ist es Ayn Rand gelungen, eine realistische und glaubwürdige Handlung zu entwerfen, die den Leser in eine ganz erstaunliche und spannende Geschichte hineinzieht, von der der Leser oft erst hinterher bemerkt, dass sie nicht nur realistisch, sondern auch beeindruckend symbolisch ist. Neben dieser kunstvollen Konstruktion sind auch die enthaltenen Charakterstudien und Dialoge von produktiven Menschen und sozialen Dummschwätzern Perlen der Literatur.

Erstaunlich ist, wieviele Charaktere, Parolen und exemplarische Situationen aus diesem Roman man auch heute noch in seiner unmittelbaren Gegenwart wiedererkennen und selbst erleben kann. Gerade auch deshalb wird den Leser bisweilen ein unheimliches Gefühl beschleichen: In was für einer Welt lebt man eigentlich? Wie weit sind Freiheit und Vernunft bereits von sozialen Dummschwätzern untergraben worden?

Zu den Dingen, die Ayn Rand zweifelsohne richtig erkannt hat, gehören:

  • Vernunft muss über allem walten. Nur mit ihr können wir unser Universum geistig ordnen, d.h. verstehen, um dadurch fähig zu werden, das Universum auch physisch zu ordnen, d.h. sinnvoll in die Wirklichkeit einzugreifen.
  • Die Realität muss anerkannt werden wie sie nun einmal ist.
  • Man ist vollkommen selbst verantwortlich für die eigene Erkenntnis und das eigene Denken, niemand kann es einem abnehmen.
  • Erkenntnis ist ein ewig fortschreitender Prozess von Irrtum und Selbstkorrektur.
  • Man darf sich eine hinreichend klare Erkenntnis nicht von Relativisten als übertrieben oder überheblich ausreden lassen, sondern man muss sie festhalten.
  • Die Selbstliebe, die Liebe zum Leben, ist der wahre und einzige Antrieb für Moral.
  • Die Selbstachtung darf der Mensch nicht verlieren.
  • Moral ist nicht zuerst das Verhalten zu anderen, sondern das Verhalten zu sich selbst. Auch auf einer einsamen Insel braucht der Mensch Moral. Das Verhalten zu anderen ist ein Ausfluss des Verhaltens zu sich selbst.
  • Materieller Besitz ist der legitime Ausdruck des Geistes, der ihn erschaffen bzw. erwirtschaftet hat.
  • Der Geist ist das Entscheidende, nicht das Kapital.
  • Geist und Materie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie ergänzen sich und gehören zusammen.
  • Der Mittelweg ist nicht immer der richtige Weg; oft gibt es gar keinen Mittelweg.
  • Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit, ordnet die sozialen Beziehungen in gesunder Weise.
  • Liebe kommt aus Wertschätzung, und ist keineswegs antirational.
  • Man kann nicht alle Menschen lieben, das ist eine Überforderung und unrealistisch.
  • Alles muss einen Zweck haben, niemand sollte eine Sache nur um ihrer selbst willen tun.

Perfekt gelungen ist Ayn Rand die Zeichnung der Charaktere. Die produktiven Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, und dieser Stolz treibt sie dazu an, noch besser zu werden. Sie sind wie Künstler, die innerlich dazu getrieben sind, eine Vision, die in ihnen schlummert, in einem Werk zum Ausdruck zu bringen. Sie schaffen Werte, von denen auch weniger produktive Menschen profitieren. Ihr Besitz spiegelt ihren Geist wieder. Sie sind Meister darin, ihre Ziele gegen alle auftauchenden Widerstände zu erreichen. Oft jedoch sind es praktische Menschen, die über größere Zusammenhänge nie nachgedacht haben. Deshalb akzeptieren sie das Eingreifen von sozialen Dummschwätzern in ihren Besitz und ihre Freiheit als „moralisch“. Ihre Eigenschaft, Schwierigkeiten überwinden zu können, lässt sie erst spät erkennen, dass die sozialen Dummschwätzer immer mehr und immer Unmöglicheres von ihnen verlangen.

Den produktiven Menschen stehen die sozialen Dummschwätzer gegenüber: Sie machen Grundannahmen über die Welt, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst sind: Dazu gehört die Vorstellung, dass der Staat unendlich viel Geld hat; dass die produktiven Menschen immer genügend motiviert sein werden, egal welchen Regeln man sie unterwirft; dass die produktiven Menschen so unendlich reich sind, dass es ihnen nichts ausmacht, noch mehr und noch mehr abzugeben. Die sozialen Dummschwätzer denken nur an die Umverteilung von Geld, nicht aber daran, wie Werte / Geld erwirtschaftet werden; wie wenn dies von selbst und immer in ausreichendem Maße geschähe. Die sozialen Dummschwätzer weichen bei Nachfragen aus, sobald man sie mit logischen Widersprüchen in ihrem Weltbild konfrontiert. Moralisch ist für sie nur das, was man für andere tut, und nur das, was Opfer fordert. Die Sorge für sich selbst zählt für sie nicht zur Moral. Religiöse Menschen weichen tieferem Nachdenken oft mit dem Verweis darauf aus, dass es wohl Gottes Wille ist, oder dass Gott ein Problem schon lösen wird, oder dass der Mensch zu klein sei, um sich an die Lösung großer Probleme zu wagen. Die intellektuellen Vordenker des sozialen Denkens neigen dazu, Vernunft und Realitätssinn zu schmähen; sie entfesseln die irrationale, neidische, gefühlsgetriebene Bestie in den Menschen. Im Extremfall kommt es zu Diktatur und Mord, bis die Sache sich nach längerer Zeit totgelaufen hat, und keine motivierten produktiven Menschen mehr übrig sind, die die Gesellschaft am Laufen halten könnten. Der Plot von „Atlas Shrugged“ ist es, diesen Prozess des Niedergangs durch einen Streik der produktiven Menschen massiv zu beschleunigen, um so das Endstadium schneller zu erreichen, und den Wiederaufbau zu ermöglichen.

Kritik – Ohne Wissen Antike

Was Ayn Rand hier vorgelegt hat, ist eine Philosophie, die in vielen Punkten mit den philosophischen Errungenschaften der Antike übereinstimmt. Man denke an das Werk „De officiis“ von Cicero, das Friedrich der Große einst „das beste Buch über Moral“ nannte: Dort wird auch der eigene Nutzen in den Mittelpunkt gestellt, und das honestum als nützlich angesehen: D.h. das Ehrenhafte, bzw. das, wofür man geehrt werden würde, wenn es gerecht in der Welt zuginge, sprich: Die Selbstachtung. Die unbedingte Anerkennung der Realität finden wir z.B. bei den Stoikern: Secundum naturam vivere: Gemäß der Wirklichkeit leben.

Leider scheint sich Ayn Rand über diese antiken Wurzeln nicht bewusst zu sein. Sie nennt nur Aristoteles als ihren großen Vordenker, aber das ist nur einer von vielen. Dass Parmenides gemeinhin als der Philosoph angesehen wird, der die Vernunft begründete, ist ihr entgangen. Platon hingegen, das Zentrum der antiken Philosophie, wird von den Anhängern von Ayn Rand als Gegensatz zu Aristoteles und damit negativ gesehen, was vollkommen falsch ist.

Kritik – Selfmade-Philosophie ohne Potential

Auf diese Weise verliert die Philosophie von Ayn Rand an Tiefe und Anschlussfähgikeit, denn diese entsteht nur durch eine Anknüpfung an die Tradition. Ayn Rand erscheint wie eine einsame Einzelkämpferin, mit einer scheinbar originellen Idee, die aufgrund ihrer scheinbaren Alleinstellung zunächst etwas abstrus wirkt. In Wahrheit steht Ayn Rand in der größten denkerischen Tradition der Menschheit, nur wissen zu wenige davon; sie selbst vielleicht auch nicht.

Auch ist manches bei Ayn Rand einseitig oder schräg geraten, was durch eine bessere Kenntnis der antiken Denker leicht hätte korrigiert werden können. Solange die Anhänger von Ayn Rand in diesen Denkfehlern verharren, und den Anschluss an die Tradition nicht suchen, werden sie Einzelkämpfer bleiben, und keine neue Traditon begründen können.

Die Selfmade-Philosophie von Ayn Rand ist natürlich dennoch wertvoll und eine anzuerkennende, „echte“ Philosophie, denn letztlich sind wir alle jeder für sich ein Selfmade-Philosoph, jeder nach seinen Möglichkeiten. Ayn Rand hat vielen Menschen zu besseren Einsichten verholfen, auch wenn sie ihr Potential nicht ausgeschöpft hat.

Kritik – Gefahr einer kollektiven Weltanschauung

Ayn Rand sagte, dass sie keine Weltanschauungsgemeinschaft gründen möchte. Doch im Grunde hat sie genau das getan. Denn ihre Bücher präsentieren eine kompakte, geschlossene Sicht der Dinge. Es werden keine offenen Fragen gestellt, es wird kein Denken angeregt, um eigene Antworten zu finden. Vor allem fehlt Ayn Rand der vielfältige Hintergrund der antiken Philosophie, der ihren Anhängern ein geistiges Umfeld hätte bieten können, um sehr individuelle Weltbilder zu entwickeln.

Tatsächlich haben sich diverse Institutionen gegründet, um die sich die Anhänger des „Objektivismus“ scharen. Allein die Prägung eines Namens für eine Weltanschauung ist bereits ihre Gründung. Es gibt auch einen teils dogmatischen Streit um den wahren Objektivismus. Man muss allerdings zugute halten, dass der Individualismus im Objektivismus so stark betont ist, dass das Schlimmste hoffentlich verhindert wird.

Kritik – Schräges

Ayn Rand hätte deutlicher aussprechen müssen, dass ein unbedingter Wille zur Wahrhaftigkeit wichtig ist, und dass es Arbeit und Mühe und Selbstüberwindung kostet, diesen zu erwerben und zu halten. Die sozialen Dummschwätzer weichen nämlich bei Konfrontation mit Widersprüchen nicht einfach nur deshalb aus, weil sie irrational sind, wie Ayn Rand schreibt. Sondern sie weichen der Anerkennung der Wahrheit gerade deshalb aus, weil für sie der Glaube an das (vermeintlich) Gute stärker ist als der Glaube an die reinigende Kraft der Wahrhaftigkeit auch dort, wo es vielleicht pingelig erscheint. Die sozialen Dummschwätzer glauben tatsächlich, dass eine Lüge eine legitime Waffe ist, um das Gute zu verteidigen, weil sie die Gefahr nicht sehen, dass ein zu hoch getürmtes Lügengebäude sie in Konflikt mit der Wirklichkeit bringt. Dass es ein Problem sein könnte, die Wahrhaftigkeit als nutzlose Pingeligkeit zugunsten des (vermeintlich) Guten beiseite zu schieben, ist ihnen nicht bewusst! Neben dem Willen zur Vernunft ist der Wille zur Wahrhaftigkeit ebenso wichtig, das hat Ayn Rand nicht ausreichend betont.

Ayn Rand hat die Frage nach dem Mitgefühl fast vollkommen übergangen und degeneriert. So schreibt sie S. 970: Hilfe für einen anderen ist in Ordnung, wenn man durch die Anerkennung der Werte des anderen selbst Nutzen in Form von Freude aus der Hilfe zieht. Zunächst hat sie damit das Mitgefühl nur für diejenigen Menschen reserviert, die es wert sind. Der Gedanke, dass man in jedem Menschen allein schon das Potential zum wahren Menschsein und das Potential zum menschlichen Leiden achten muss, fehlt. Damit ist Ayn Rand keine vollwertige Humanistin.

Es fehlt bei Ayn Rand auch die Verdeutlichung des Prinzips, dass das Mitgefühl keineswegs völlig ausgeblendet wird, sondern weiterhin bestehen bleibt als ein berechtigter Faktor unter anderen Faktoren in der eigenen Nutzenkalkulation. Für das Zusammenleben ist das Kalkül mit dem Mitgefühl so zentral, dass es verwundert, dass es bei Ayn Rand nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Die meisten Leser werden nach Abschluss der Lektüre vermutlich das Verständnis gewonnen haben, dass das Mitgefühl als Absolutum böse und deshalb vollkommen ausgeschlossen ist. Denn verlangt nicht John Galt von Dagny Taggart Geld dafür, dass er sie nach ihrem Flugzeugabsturz als Gast aufnimmt und gesund pflegt?

Die Ablehnung von Immanuel Kant durch Ayn Rand gründet sich vermutlich auch darauf, dass Ayn Rand es ihrerseits versäumt hat, die Rolle des Mitgefühls deutlicher zu betonen, und dass Kant es seinerseits versäumt hat, auf den Egoismus in seiner Ethik deutlicher hinzuweisen. Deshalb sieht Ayn Rand in Kant nur einen sozialen Dummschwätzer, der die Selbstaufopferung für andere als Absolutum definiert hätte. Rand und Kant reden aneinander vorbei.

Ayn Rand löst auch den Widerspruch zwischen Gefühl und Verstand nicht auf, sondern entscheidet sich kalt für den Verstand, der über das Gefühl zu stellen ist. Der Gedanke, dass Verstand und Gefühl zwei völlig verschiedene Dimensionen sind, die recht besehen gar nicht in Konflikt miteinander liegen können, fehlt bei Ayn Rand. Was sie hätte sagen sollen, ist, dass es ein Gefühl aus Erfahrung ist, das uns sagt, dass die Benutzung der Vernunft gut tut. Überall dort, wo angeblich Verstand und Gefühl im Konflikt sind, sind in Wahrheit zwei Gefühle miteinander im Konflikt.

Völlig vergessen hat Ayn Rand ein Stereotyp, das für soziale Dummschwätzer vollkommen typisch ist: Das pazifistische Gerede vom Frieden. Auch hier hätte die Antike helfen können: Si vis pacem, para bellum: Wenn Du Frieden willst, rüste zum Krieg. Der Schwache lädt zum Krieg ein, der Starke schreckt andere vom Kriegführen ab.

Kritik – Zu idealistisch für die gesellschaftliche Realität

Die soziale Frage wird in „Atlas Shrugged“ nicht berührt. Was ist mit Menschen, die nicht hinreichend produktiv sein können? Mit Behinderten, Alten, Kranken oder weniger intelligenten Menschen? Sie repräsentieren keinen Wert, den man im Sinne Ayn Rand schätzen könnte, so dass sie nicht einmal Almosen verdient hätten; aber auch Almosen sind keine gute Antwort auf eine gesellschaftliche Herausforderung. Schon im antiken Athen gab es eine staatliche Armenfürsorge. Ayn Rand hat ein viel zu ideales, zu perfektes, zu glattes Menschenbild.

Ayn Rand sagt generell nichts zu der Problematik, dass die Intelligenz in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Wie soll man sich als intelligenter, produktiver Mensch in einer Welt einrichten, in der die meisten Menschen nicht so sind? Produktive Menschen sind eine zahlenmäßig machtlose Minderheit! Ohne ein Arrangement wird es nicht gehen. Bei Cicero finden wir z.B. die Überlegung, dass die Besitzenden sich politisch engagieren und einen sozialen Ausgleich suchen müssen, weil ihnen ihr rechtmäßiger Besitz sonst weggenommen wird. Eine derartige Überlegung ist bei Ayn Rand nicht zu finden.

Auch zum Thema Demokratie bzw. Republik sagt Ayn Rand nicht eben viel. Man hätte sich z.B. gewünscht, dass sie einen Satz wie den von Churchill formuliert: „Die Demokratie ist die schlechteste von allen Staatsformen, außer allen anderen.“ Aber sie schweigt. Immerhin lobt sie die Demokratie implizit, indem sie die Anfangsjahre der USA als ideale Zeit preist, und Richter Narragansett korrigiert am Ende des Romans die US-Verfassung, wodurch diese im Grundsatz anerkannt wird.

Recht unversöhnlich zeigt sich Ayn Rand auch gegenüber der Religion. Die Möglichkeit einer aufgeklärten Religiosität, die ihre eigene Geschichte historisch-kritisch aufgearbeitet hat und eine Moral der Lebensfreude predigt, blendet sie aus. Natürlich ist traditionelle Religion immer ein Mangel an Vernunft und Wahrhaftigkeit, aber sollte man nicht Abstufungen der Irrationalität unterscheiden, um das Zusammenleben der Menschen tolerant zu gestalten?

Überhaupt gibt das Buch „Atlas Shrugged“ wenig Handreichung für die Frage, wie man sich denn nun im wirklichen Leben verhalten soll. Die Diagnose ist top, die Therapie flop. Ein Streik der produktiven Menschen ist natürlich nicht realistisch. Im Extremfall könnte man außer Landes gehen, aber eine Lösung für das eigene Land ist das nicht.

Am Ende ihres Lebens nahm Ayn Rand selbst staatliche Wohlfahrt in Anspruch, was ihr immer wieder vorgeworfen wird. Sie hat also auch selbst nicht völlig nach ihren eigenen Idealen gelebt.

Kritik – Kapitalismus ist der falsche Name

Ayn Rand nennt die ideale Gesellschaftsordnung „Kapitalismus“ und ihr Symbol dafür ist das Dollarzeichen. Das erscheint seltsam, denn sie selbst schreibt doch auch, dass nicht das Kapital das Entscheidende ist, sondern der Geist, der dahinter steht. Wäre es demzufolge nicht angemessener gewesen, statt von Kapitalismus z.B. von Philosophie zu sprechen, und statt des Dollarzeichens z.B. das große griechische Phi (Φ) als Symbol für Philosophie zu wählen?

Für Ayn Rand ist die Moral des Händlers, des traders, die Metapher für die richtige Moral. Das ist für viele Situationen ein recht gutes Bild, doch wie sie selbst sagt, hat man Moral nicht zuerst für den Umgang mit anderen, sondern für den Umgang mit sich selbst: Aber mit sich selbst handelt man nicht. Hinzu kommt wiederum, dass gerade bei Geschäftsabschlüssen von Händlern jedes Mitgefühl und jede persönliche Wertschätzung mit Recht ausgeblendet wird. Damit reicht die Händlermetapher nicht hin, um alle Interaktionen von Menschen zu beschreiben, bzw. die Metapher ist zumindest schräg.

Kritik – Welcher Kapitalismus?

Das Ideal von Bei Ayn Rand sind inhabergeführte Personenunternehmen. Der Eigentümer ist zugleich Chef in seinem Unternehmen und ist verantwortlich für alles. Aktiengesellschaften, in denen es nur Manager gibt, die über große Bürokratien herrschen, und in deren Aufsichtsräten wiederum nur Manager von Banken sitzen, entsprechen nicht ihrem Ideal. Aktiengesellschaften, wo die Eigentümer zu weitgehend rechtlosen Aktionären degradiert sind, und echte Unternehmer nicht mehr vorkommen, sind aber im heutigen Kapitalismus der Normalfall. Insofern stellt sich die Frage, ob das, was Ayn Rand als Ideal vorschwebt, tatsächlich hinreichend mit dem Wort „Kapitalismus“ beschrieben ist.

Kritik – Naive Erkenntislehre

Ayn Rand ist misstrauisch gegen jede Form von Unklarheit, und sie meint, der Mensch hätte objektive Klarheit über die Objekte, die er erkennt. Daher auch der Name „Objektivismus“. Dass die menschlichen Sinne und die Verarbeitung der Sinneseindrücke bis zum Moment ihrer Bewusstwerdung und darüber hinaus bis zur Interpretation theoretisch beliebig von der Realität abweichen können, lässt sie unbeachtet. Kant wird verworfen. Auch der berühmte Satz des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ wird als Zeichen der Vernunftwidrigkeit und des Relativismus verworfen, was äußerst schmerzlich ist (S. 952). Für Ayn Rand gibt es nur Fakten oder keine Fakten. Dazwischen gibt es nichts. Die Natur gehorche Gesetzen, die sich nicht änderten. Dass dies nur eine Beobachtungserfahrung ist, von der keineswegs sicher ist, dass sie immer gilt, ist ihr ebenso wenig bekannt, wie die Änderung von Naturgesetzen im Zuge vertiefter Einsichten in der Wissenschaftsgeschichte. Man denke z.B. an das Aufgehen der Newtonschen Gesetze in den Gesetzen der relativistischen Physik.

Damit hat Ayn Rand ein zentrales Thema jeder Philosophie seit der Antike verfehlt: Dass der Mensch sehr viele Dinge nicht oder nur ungenau weiß, und dennoch dazu gezwungen ist, sich daraus mithilfe von Schätzungen, Annahmen, Postulaten, usw. ein Weltbild zu zimmern, das immer vorläufig ist und immer nachgebessert werden muss, und niemals letzte Gewissheit erlangt. Das Prinzip des ständigen Nachbesserns hat Ayn Rand zwar erkannt, aber die tieferen Gründe dafür leider nicht. Ayn Rand hat gewissermaßen nicht verstanden, was Platon mit seinem Konzept des „eikos mythos“, der „wahrscheinlichen Behauptung“, sagen wollte. Auch die fundamentale Großartigkeit des „Ich weiß, dass ich nichts weiss“ des Sokrates hat sich ihr bedauerlicherweise nicht erschlossen.

Fazit: Ein großartiges Buch mit Schwächen

Für sehr viele Menschen ist das Werk von Ayn Rand wie ein offener Türspalt, durch den sie einen Lichtstrahl aus jenem Reich erlangt haben, das die antike Philosophie eröffnet: Das Reich der Vernunft und der Aufklärung, das Reich der Freiheit und der Lebenslust! Auch wenn Ayn Rand die Tür dazu nicht völlig aufgestoßen hat, so hat sie doch viel erreicht.

Ihr Werk ist ein Klassiker der weltanschaulichen Literatur geworden, das jeder gelesen haben sollte: Einmal wegen seiner starken Bilder, die große Überzeugungskraft haben und Ikonen der Wahrheit bleiben werden, sei es Hank Rearden und Dagny Taggart und die Eisenbahn- und Stahlindustrie, seien es die sozialen Dummschwätzer wie James Taggart oder Hank Reardens Familie, seien es die Intellektuellen wie Balph Eubank oder Floyd Ferris, oder die Strippenzieher in Washington, oder natürlich John Galt, der von Ayn Rand für den Leser zu einer Figur aufgebaut wird, die über die Grenzen des Romans existiert, fast wie Jesus für Christen: John Galt ist überall und er begleitet uns, wo immer wir hingehen! (S. 745) Sein Körper wird mit einer griechischen Statue verglichen (S. 1045). – Ayn Rands Werk ist aber auch lesenswert, weil es für sehr viele Menschen zum Kristallisationspunkt eines vernunftorientierten Denkens geworden ist. Daran kann und muss man anknüpfen.

Ayn Rands „Atlas Shrugged“ ist eine heilsame Reaktion auf religiös-sozialistische Vernunftwidrigkeiten, wenn auch eine Überreaktion, die sich aus der Biographie von Ayn Rand erklären lässt.

Atlantis

In Ayn Rands „Atlas Shrugged“ wird Atlantis vor allem als eine Chiffre für das Paradies auf Erden verwendet, in dem die Menschen gemäß ihrer Vernunft in einem glücklichen Kapitalismus leben können (S. 147, 586, 643, 688, 735, 745, 843, 876, 1004). Dieses Atlantis realisiert sich im Roman in dem geheimen Tal, in das sich die produktiven Menschen zu ihrem Streik zurückziehen.

Die Grundvorstellung von Ayn Rand über das originale Atlantis ist falsch, sie verwechselt es praktisch mit der Insel der Seligen. Zudem hat Ayn Rand die Geschichte von Atlantis ihrer Vorstellung vom versteckten Tal als Paradies auf Erden angepasst, was der Leser übrigens erst viele hundert Seiten später erkennen kann. Das Atlantis bei Ayn Rand hat also nichts mehr mit dem Atlantis des Platon zu tun. Das Kraftwerk im Tal von Atlantis mit dem Motor von John Galt und dem eingeschriebenen Eid wird auch als „Tempel von Atlantis“ angesprochen (S. 843).

Der Chiffre-Charakter kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass neben der Atlantis-Chiffre auch noch weitere Elemente der antiken und anderweitigen Literatur als Chiffren für dieselbe Sache verwendet werden, so z.B. Prometheus oder die Quelle der Jugend (S. 478, 664 f.).

Der Untergang von Atlantis wird übrigens auch als Chiffre für das wegen sozialen Dummschwätzertums ökonomisch niedergehende New York verwendet (S. 583). Zuletzt ist Atlantis neben dem Garten Eden eine Chiffre für den Unschuldsstatus in der Kindheit, in der die wahren Werte des Menschseins noch nicht verbogen seien (S. 968).

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 14. Januar 2015)

Bram Stoker: Dracula (1897)

Ein unverdienter Klassiker – Emanzipation als unerwartetes Hauptthema

Für gewöhnlich verbindet man mit dem Wort „Klassiker“ ein Werk, das die Leser durch seine literarische Qualität und durch die darin transportierte Weisheit über mehr als ein Jahrhundert zu überzeugen vermag. Nicht so bei Bram Stokers „Dracula“. Dieses Buch ist allein deshalb von Bedeutung, weil es für die Ausbildung des Vampir-Genres von großer Bedeutung war und auf diese Weise zu einem Klassiker wurde. Der Leser verfolgt also mit Interesse, welche Unterschiede es zwischen diesem Urbild aller Vampirgeschichten und den ihm bekannten Vampirgeschichten gibt.

Der größte Unterschied ist sicher, dass Dracula nicht in Transsylvanien bleibt, sondern nach London kommt, und dort mitten in der modernen Stadt sein Unwesen treibt. Der Roman betont auch sonst die Moderne: Tagebücher werden z.B. auf Phonographen aufgenommen oder auf Reiseschreibmaschinen geschrieben. Bluttransfusionen werden vorgenommen. Man fährt sogar schon Untergrundbahn in London. Am Ende flieht Dracula zurück nach Transsylvanien und wird kurz vor Erreichen seines Schlosses zur Strecke gebracht. Verfolgt wird er mit der Eisenbahn und mit einem Dampfschiff, bewaffnet mit geweihten Hostien und modernen Winchester-Gewehren. Die „Bluttaufe“ von Mina Harker, d.h. das erzwungene Trinken von Blut aus den Adern des Vampirs, erinnert an Harry Potter, der in sich ein Element seines großen Gegenspielers Voldemort trägt. In der Trance der Hypnose kann Mina Harker deshalb in das Denken des Vampirs eindringen, ganz wie bei Harry Potter. Heutige Vampirgeschichten haben nichts mehr davon.

Literarisch ist das Buch nur von mäßiger Qualität. Insbesondere die erste Hälfte des Romans zeichnet sich dadurch aus, dass Doktor van Helsing unglaublich lange braucht, um den anderen Protagonisten zu verkünden, dass die seltsamen Phänomene, denen sie gegenüberstehen, auf Vampirismus zurückzuführen sind. Mindestens fünfmal wird Lucy Westenraa durch Bluttransfusion oder Abschirmung gerettet und dann doch wieder ausgesaugt, bis sie endlich tot ist, aber die Ursache für ihre seltsame Krankheit bleibt die ganze Zeit über ungenannt. Der Leser wird allzu sehr auf die Folter gespannt. Erst in der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Erzählung angenehm Fahrt auf. Sehr befremdlich auch, dass alle Frauen und Männer in diesem Roman die besten und die edelsten Frauen und die tapfersten und die verlässlichsten Männer sind. Das versichert insbesondere Doktor van Helsing jedem, dem er begegnet, und bietet ihm auch sogleich seine unverbrüchliche Freundschaft an. Dieser Stil kann nur teilweise mit den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts entschuldigt werden. Dementsprechend sind die Charaktere allzu flach.

Immerhin: Obwohl die Männer das ganze Buch über ständig dabei sind, verletzliche Frauen vor Gefahren zu schützen und zu retten, stellt sich regelmäßig heraus, dass die Frauen den Männern in nichts nachstehen. Insbesondere mit typischen Sekretärstätigkeiten (Schreibmaschine schreiben, Fahrpläne studieren, usw.), die Ende des 19. Jahrhunderts vielen Frauen den Weg ins Berufsleben bahnten, unterstützt Mina Harker die Vampirjagd ganz maßgeblich, und während die Männer ohne Mina Harker auf Vampirjagd gehen und sie zuhause zurück lassen, um sie zu schonen, wird sie genau dort zum Opfer des Vampirs.

Weisheiten hat das Buch kaum zu bieten, außer ein paar Lebensweisheiten am Rande, wie sie in jedem Groschenroman zu finden sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, was die Geschichte sagen will. Für welche menschliche Realität sind Vampire eine Chiffre? Es lässt sich nichts vorstellen. Der Kontrast zwischen Moderne und realisiertem Aberglauben fällt auf. Ob das ein Hinweis darauf sein soll, dass die Moderne die Vergangenheit nicht völlig abräumen kann? Es wäre ein allzu grobschlächtiger, geradezu kindischer Hinweis. Nein.

Vielleicht muss man für eine Deutung in die Niederungen der menschlichen Begierde hinabsteigen. Die Begehrlichkeit der Vampire wird regelmäßig erotisch konnotiert, ebenso die Schönheit der weiblichen Vampire. Und Graf Dracula hat es offenbar immer nur auf junge Frauen abgesehen. Die jungen Frauen verfallen dem Vampir in einer Art Hypnose und lassen sich willig aussaugen. Hinterher können sie sich an nichts mehr erinnern und sind verwirrt. Eine unbekannte Krankheit hat sie befallen, die sie schrittweise in einen von wollüstiger Blutbegierde getriebenen Vampir verwandelt. Im Kontrast dazu werden Beziehungen zwischen edlen Männern und Frauen von höchst niveauvoller Art vor Augen geführt, in auffällig übertriebener Weise. Nicht zuletzt erweist sich Mina Harker als eine moderne Frau, die den Männern in nichts nachsteht.

Soll das Buch eine Mahnung und Warnung vor allem an die Adresse junger Frauen sein, die Ende des 19. Jahrhunderts immer selbstbewusster und selbständiger werden, damit sie „edle“ Beziehungen schätzen lernen und sich nicht von bloßer Erotik leiten lassen, die sie „krank“ macht und ihr Leben „aussaugt“? Möglich. Gut möglich. Das wird es sein. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Roman nur flach und grotesk. Immerhin ist eine gute Absicht erkennbar.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 07. März 2023)

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1933-43)

Weltanschauliches Groß-Epos der Humanisierung mit jüdisch-christlicher und politischer Schlagseite

Der Roman „Joseph und seine Brüder“ ist das große weltanschauliche Epos von Thomas Mann. Anhand der bekannten biblischen Episode entfaltet Thomas Mann mehrere große und kleine Themen, die das weltanschauliche Denken des Autors reflektieren. Dabei greift Thomas Mann weit über den engeren Kulturkreis des jüdischen Mythos hinaus.

Hauptthema 1: Mythen

Das ganze Buch handelt von Mythen und ist selbst ein Mythos, es zeigt wie Mythen entstehen, sich entwickeln, und in anderen Mythen aufgehen. Immer wieder und wieder werden Mythen erzählt und immer neu erzählt, dabei variiert und kombiniert. Der Leser erfährt sehr praktisch und am eigenen Leib, was Mythen sind. Das ganze Buch ist in einer episch-altertümelnden Sprache gehalten, die eine sehr glaubwürdige Atmosphäre des Mythischen schafft. Allein das ein Meisterwerk von Thomas Mann.

Mythen sind nichts, was wir ablegen könnten. Sie liegen unserer Kultur zugrunde, ob wir wollen oder nicht. Entweder wir leben die Mythen, oder die Mythen leben uns. Es gibt kein Entrinnen. Zwischen Religion und Mythologie wird hier übrigens nicht unterschieden.

Literarisch geschickt erweitert Thomas Mann den Horizont der Mythen weit über den engeren Kreis des jüdischen Mythos hinaus. Neben der Mythologie der Griechen, der Ägypter, der Babylonier, der Sumerer oder auch der Etrusker (sehr viel verdankt Thomas Mann hier offenbar Egon Friedell) lässt Thomas Mann aber auch teils witzige literarische Reminiszenzen an Form und Inhalt einfließen, u.a. an Goethes Faust, Dante, Karl May, Schneewittchen oder den Golem. Vor allem aber fließt auch der christliche Mythos ein. Je mehr Vorbildung der Leser mitbringt, desto mehr wird er das Werk genießen können.

Wie so viele, so hat auch Thomas Mann in diesem Roman die Erscheinung des Pharao Echnaton in Verbindung mit dem Eingottglaube der Israeliten gebracht. Ein weiterer geschickter und sehr mythischer Topos ist, dass die jeweiligen Vaterfiguren der Geschichte zeitweilig an die Stelle Gottes treten, indem sie milde und belehrend-erziehend wirken: Jaakob, der Karawanenführer, Petepre, der Gefängnisdirekter, Pharao.

Schon hier sei gesagt, dass das Thema Mythen von allen Themen dieses Romans das Gelungenste ist, während die Behandlung der anderen Themen an schweren Defiziten leidet, wie wir unten zeigen werden.

Hauptthema 2: Mythenentwicklung hin zum Humanen

Thomas Mann sieht im jüdisch-christlichen Mythos eine fortschreitende Entwicklung zum Humanen. Der gottessorgende Mensch fühlt den Drang zur Milderung und zur Überwindung althergebrachter Sitte und Weisung. Diese Entwicklung geschieht im Selbstgespräch mit Gott und aus innerem Fühlen und Drängen heraus.

Zwar lässt Thomas Mann ein einziges Mal auch das platonische Thema kurz anklingen, dass Dichtung auch wahr sein müsse, doch sieht er dieses Kriterium darin erfüllt, dass sie von Gottessorge getragen ist (S. 1245-1247). Wahrheit ist demgemäß gar keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern das richtige Einfühlen in die Gottessorge, ein gefühliges Ins-Reine-Kommen mit sich selbst und Gott, ein höchst irrationaler Vorgang. Jaakobs Milde wird explizit einem „Wahrheitseifer“ als das Bessere gegenübergestellt (S. 1259).

Der Gott Thomas Manns ist kein rationaler Gott. Er entwickelt sich mit den Menschen mit, lässt sich von Luzifer und Menschen verführen, veranstaltet mit der Menschheit ein großes Gottesspiel, über das man lachen sollte, und am Ende wendet er alles entstandene Leiden doch immer zum Guten. Es ist offensichtlich, dass sich Thomas Mann dem so verstandenen jüdisch-christlichen Mythos auch persönlich verpflichtet fühlt.

Sehr glaubwürdig ist Thomas Manns Schilderung des menschlichen Haderns und Leidens, und der menschlichen Schwäche und Erniedrigung, die aber auch Kraft und Erneuerung aus geistigen Quellen erfahren kann.

Hauptthema 3: Judentum und Christentum

Thomas Mann unternimmt alles, um zu zeigen, dass der jüdische Mythos den christlichen Mythos vorbereitet und praktisch bereits enthält, von der Dreifaltigkeit bis hin zur leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Hier entfaltet Thomas Mann seine ganze sprachliche und erzählerische Meisterschaft, und spielt brilliant mit Worten wie „Ich bin’s“, „Auferstehung“, „leeres Grab“, oder „Sohn Gottes“.

Schließlich gestaltet Thomas Mann in dem Verhältnis von Gottessohn Joseph zu seinen „alten Brüdern“ andeutungsweise auch seine Vision vom wünschenswerten Verhältnis zwischen Christentum und Judentum. War das Gottesspiel auch böse, so war es doch ein Spiel zum guten Zweck, über das man lachen sollte, und allseitige Bitte um Vergebung ist angesagt.

Nebenthema: Erwählung und Leiden

Joseph ist der Erwählte, der Ausgesonderte. Der Liebling und der Schöne. Als solcher ist er naiv und offenherzig, muss für seinen „Frevelmut“ aber büßen durch den Neid der Nichterwählten. Er ist erwählt, muss dafür aber viel leiden, um zum Ziel zu kommen. Er erreicht das Besondere, aber der Segen geht dennoch nicht auf ihn und seine Nachkommen über, sondern auf einen anderen.

Nebenthema: Ökonomie

Anhand von Josephs Wirtschaftssystem in Ägypten zeigt Thomas Mann, wie er sich die Organisation der Ökonomie in seiner Zeit vorstellt (um die Seite 1284):

  • Volksfürsorge für Ärmere.
  • Reichere werden enteignet, Bodenreform.
  • Der Eigentumsbegriff wird relativiert und an die Bewirtschaftung gekoppelt.
  • Eine Flat-Tax für alle.
  • Die Tempel werden geschont, weil das Volk es nicht verstehen würde.

Nebenthema: Klimawandel

Wissenschaftlich völlig korrekt deutet Thomas Mann die Möglichkeit einer zufälligen Aufeinanderfolge von sieben Dürrejahren nicht als Klimawandel, sondern als möglichen Zufall. Noch interessanter ist, dass Thomas Mann für einen Klimawandel die Sonnenflecke verantwortlich macht: „Das hat übergeordnete Gründe, es führt ins Kosmische und zu den Gestirnen, die zweifellos Wind und Wetter bei uns regieren. Da sind die Sonnenflecke – eine beträchtlich entlegene Ursache.“ (S. 1191)

Damit nimmt Thomas Mann eine Erkenntnis vorweg, zu der wir nach dem langen Irrtum der Treibhaus-Hypothese langsam wieder zurückkehren: Maßgeblich für Klimaschwankungen ist immer noch nicht der Mensch, sondern die Sonne.

Nebenthema: Atlantis

Thomas Mann akzeptiert offenbar im Gefolge des von ihm mit viel Zustimmung gelesenen Egon Friedell die pseudowissenschaftliche Annahme einer Urzivilisation namens Atlantis. Während zur gleichen Zeit manche Nationalsozialisten diese Vorstellung von Atlantis zum Herkunftsort der arischen Rasse umzudeuten versuchen, ist Atlantis für Thomas Mann der Herkunftsort sowohl der arischen als auch der semitischen Sprachen. Vermutlich bezieht sich folgendes Wort von Thomas Mann aus einem Vortrag von 1942 über seinen Roman auch auf diesen Sachverhalt: „Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert, – wenn die Nachwelt irgendetwas Bemerkenswertes daran finden wird, so wird es dies sein.“

Schwäche 1: Thomas Mann ignoriert den Kern unserer aufgeklärten Kultur

Thomas Mann konzentriert sich in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ allein auf das Mythische und die jüdisch-christliche Tradition. Den Kern unserer Kultur, die griechische Philosophie, übergeht er jedoch vollkommen. Damit muss Thomas Mann in vielerlei Hinsicht scheitern.

Philosophie bedeutet natürlich die Hinterfragung der Mythen, die Einführung der Herrschaft der Vernunft und die Frage nach der Wahrheit. Ohne das ist die menschliche Kultur seit über 2000 Jahren überhaupt nicht mehr denkbar, und Thomas Mann übergeht es vollkommen!

Damit gerät auch das zentrale Projekt, das Thomas Mann mit seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ verfolgte, ins Zwielicht: Denn nicht aus innerem Fühlen und Drängen heraus haben sich die Mythen und Religionen humanisiert, sondern aus dem Drang zur Vernunft heraus. Es gibt keine Garantie dafür, dass das innere Fühlen religiöser Menschen immer in Richtung Humanisierung geht; das Pendel des Fühlens und Meinens kann auch wieder in die gegenteilige Richtung umschlagen. Nur die Vernunft, nur der Humanismus der klassischen Antike ist Garant und wahre Quelle der Humanisierung. Alles andere kann dazu nur eine vorübergehende Vorstufe sein.

Wir müssen feststellen: Thomas Mann war eben leider nur ein Dichter, aber kein Denker.

Schwäche 2: Theologisch verfehlt

Die nächste Schwäche hängt sehr eng mit Schwäche Nr. 1 zusammen: Denn ohne Philosophie und Rationalität ist Theologie gar nicht zu haben. Es ist zu bezweifeln, dass Thomas Mann mit seinem Werk im Denken von jüdischen, christlichen oder islamischen Theologen einhaken kann. Allzu leicht tändelt dieser Gott, und lässt seine Anhänger im Stich, die seine unwiderrufenen Weisungen von gestern noch befolgen. Allzu leicht löst sich für Thomas Mann das Problem des guten Gottes, der Leiden zulässt, auf. Humanisierung auf dem Wege der Theologie schön und gut, aber so geht es nicht.

Ja, schlimmer noch: Die ganze jüdisch-christliche Tradition mit all ihren Mythen wird seit über 2000 Jahren im Spiegel der griechischen Philosophie überliefert und gedeutet und mythologisch weiter entwickelt. Selbst unter rein mythischen Gesichtspunkten hätte Thomas Mann hier also versagt.

Hier ist Thomas Mann dem schwärmerischen Drang zum Wünschenswerten erlegen, der aber die Auseinandersetzung mit der Realität nicht ersetzen kann.

Schwäche 3: Störend ahistorisch

Ein historischer Roman muss historisch nicht genau sein, er ist ja Literatur. Wo aber die beabsichtigte Botschaft eines historischen Romans davon abhängt, wird historische Genauigkeit doch wichtig.

Thomas Mann versetzt eine fortgeschritten humanistische Denkatmosphäre in den Kontext einer religiös-patriarchalischen Stammesgesellschaft: Das funktioniert so leider nicht. Natürlich repräsentieren auch die Geschichten um Jaakob und Joseph ein Stück Humanisierung, aber in einem weit geringeren Maße und einem weit früheren Stadium der Humanisierungsgeschichte, als dass es passen würde. Man darf als Literat durchaus Dinge hinzuerfinden, aber nur, wenn es sich in den vorgegebenen Rahmen einpasst. Sobald dieser Rahmen gesprengt wird, kommt immer etwas entschieden Falsches hinein, eine unauflösliche Dissonanz. Aus dem vorgegebenen Rahmen, der überlieferten Geschichte, wird etwas herausgeholt, was nicht in ihr steckt. Dann hätte der Literat seine Gedanken besser im Rahmen einer anderen Vorlage entwickelt.

Beispiele: Wenn Jaakob und Joseph bei Vollmond am Brunnen sitzen, beschleicht den Leser das unabweisbare Gefühl, hier würde doch eher der väterliche Sokrates mit dem jungen Phaidros am Ufer des Ilissos sitzen, als der Patriarch einer religiösen Stammesgesellschaft mit seinem Sohn. Die Gedanken schweifen viel zu frei. Besonders deutlich wird das Unpassende, wo Thomas Mann hinzuerfindet oder weglässt. Niemals könnte ein echter Patriarch es ohne Blutzoll dahingehen lassen, dass sein Sohn mit einer seiner Ehefrauen schläft. Niemals könnte ein Patriarch eine solche Selbsterniedrigung hinnehmen, wie Thomas Manns Jaakob vor Esaus Sohn Eliphas. Hingegen übergeht Thomas Mann dezent, mit welchen und wievielen Frauen dieser Patriarch Jaakob zu schlafen pflegt.

Schwäche 4: Der Islam fehlt

Nicht nur das Christentum, auch der Islam geht auf die biblischen Patriarchen zurück, und gerade heute wären wir alle höchst interessiert daran zu wissen, wie Thomas Mann den Islam in seine Erzählung eingewoben hätte, so wie er das Christentum auch hineingewoben hat. Doch mehr als den folgenden Satz finden wir nicht: „Da nahm er die ägyptische Magd und zeugte mit ihr einen Sohn und nannte ihn Ismael. War aber ein abwegig Erzeugnis, nicht auf der Heilsbahn, der Wüste gehörig, …“ (S. 1129). Das ist zu wenig, und würdigt weder die Errungenschaften noch die Schwächen des Islam in angemessener Weise, noch gibt es uns Rat, wie wir mit dem Islam umgehen sollen.

Schwäche 5: Allzu linker Linksliberalismus

Thomas Mann wollte den Mythos aus den Klauen der Ideologie befreien und sprachlich für immer humanisieren, doch er hat ihn womöglich doch nur für eine weitere politische Ideologie in Dienst genommen. Das ganze Werk atmet den Geist eines altbackenen, allzu linken Linksliberalismus.

Da ist zunächst die typisch linksliberale weltanschauliche Schwammigkeit, der Verzicht auf Rationalität. Man möchte sich gerne in den überkommenen Mythen wiegen, aber sie glauben möchte man nicht mehr. Alles soll nur noch im übertragenen Sinn gelten, bis vom eigentlichen Sinn nichts mehr übrigbleibt. Man haust offenbar gerne in den Trümmern einer gefallenen Weltanschauung. Die Mühe, eine direkt glaubhafte, konsistente Weltanschauung zu ersinnen, wird geradezu verpönt, und durch ein Schwelgen in überlieferter Bildung ersetzt. Ordnung und Disziplin vor sich selbst sind nicht gefragt. Wahrheit wird nicht gesucht, sondern für gefunden geglaubt, und als Pseudo-Wahrheit in den Dienst einer Sache gestellt, die man längst für ausgemacht hält. Wahre Bildung ist das nicht.

Aber auch die ökonomischen Visionen Thomas Manns zeigen es: Das Eigentum soll relativiert werden, Reiche soll es nicht mehr geben, alle Menschen sollen ökonomisch gleich sein, der gute Staat sorgt für alle. Das ist beinahe schon kommunistisch, denn wo die herausragenden Männer zurückgestutzt werden und der Staat der Übervater ist, dort ist keine Freiheit mehr. Die ökonomische Schonung der Tempel entspricht natürlich einer Schonung der heutigen Kirchen: Hier kommt die weltanschauliche Schwammigkeit eines Festhaltens am Christentum mit dem linken ökonomischen Denken zusammen.

Wenn man bedenkt, dass sich die Kirchen in der Bundesrepublik zu finsteren Horten eines allzu linken Linksliberalismus, eines schwärmerischen Utopismus, entwickelt haben, die sich bis heute an ihre überkommenen Privilegien klammern und darin vom links durchwirkten BRD-Establishment, das früher einmal kirchenkritisch war, maßgeblich unterstützt werden, bis hin zur bedenkenlosen Einführung eines Islamunterrichtes in Zusammenarbeit mit verfassungsfeindlichen Islamverbänden, nur um das analoge Privileg des christlichen Religionsunterrichtes weiter rechtfertigen zu können – wenn man das bedenkt, dann war Thomas Manns Werk in diesem Punkt wahrhaft prophetisch und vielleicht auch unheilvoll wirkmächtig.

Womöglich ist es kein Zufall, dass Thomas Mann gerade zum Islam nichts zu sagen hatte. Denn zum Islam weiß der allzu linke Linksliberalismus bis heute nichts Vernünftiges zu sagen, und glaubt, ihn unverwandelt und ungesiebt in die bestehenden Strukturen einbeziehen zu können. Wie wenn der Patriarch am Brunnen mit seinen zwölf Söhnen sich nahtlos in unsere durch griechisches Denken aufgeklärte Gesellschaft fügen könnte. Nach dem von Thomas Mann vorgegebenen Muster der Ignoranz des griechischen Erbes kollidiert hier Wunschdenken mit Wirklichkeit.

Schwäche 6: Literarische Faux-pas

Teilweise belästigt Thomas Mann den Leser mit einer läppischen Intimität. Wenn man zum soundsovielten Mal von „Dudu dem Ehezwerg“, dem „Hutzel“, gelesen hat, dann hat man davon irgendwann genug und will es nicht mehr sehen.

Längen sind eine Stärke dieses Romans, der alles in buchstäblich epischer Breite darlegt. Doch der Leser atmete sichtlich auf, als die Liebeswehen von Potiphars Weib Mut-em-enet endlich vorüber waren, und die Geschichte wieder an Fahrt aufnahm: Wer diese harte Prüfung bestanden hat, der wird den Roman auch vollends zu Ende lesen.

Fazit

Trotz gravierender Schwächen ist Thomas Mann ein sprachliches Meisterwerk gelungen, das über Mythen und Menschen viel zu sagen weiß, und das zu lesen sich lohnt. Man darf dabei aber niemals vergessen, dass Thomas Manns Weltsicht eine schwere jüdisch-christliche und politische Schlagseite hat, die der kundige Leser in seinem eigenen weltanschaulichen Denken in vielfacher Hinsicht nachkorrigieren muss – dann kann dieses Werk ein Genuss sein.

Ohne diese Korrektur jedoch wird dieses Buch zur Quelle eines unheilvoll mythischen Denkens, zu einem unendlich tiefen Brunnenloch, aus dem die Dämonen der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufsteigen können. Ob Thomas Mann das gewollt hätte? Wir glauben nicht: Denn mit Thomas Mann wissen wir, dass die Geschichten sich immer weiter spinnen, und wie sein Gott so hätte auch Thomas Mann inzwischen sicher längst wieder seine Meinung weiter entwickelt und würde jene bestraft sehen wollen, die am „Überständigen“ dieses Romans festhalten wollen: „Denn es ekelt den Herrn das Überständige, worüber er mit uns hinauswill“.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 20. Juli 2014)