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Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie – Ein politischer Traktat (2020)

Für die Wiederherstellung rationaler Verhältnisse als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie

Der Traktat „Die gefährdete Rationalität der Demokratie“ von Julian Nida-Rümelin bringt viele Probleme unserer Zeit auf den Punkt: Es mangelt buchstäblich an Rationalität. Fernab jeder fundierten Bildung wird zu oberflächlich gedacht. Es wird zu viel Propaganda gemacht, statt ernsthaft Argumente auszutauschen und nach der Wahrheit zu suchen. Aber schlimmer noch: Manche haben aus der Ablehnung von Rationalität und Realität inzwischen eine Weltanschauung gemacht und stellen Gefühle und Empfinden über Vernunft und Wirklichkeit.

Dem begegnet Julian Nida-Rümelin mit einer wohlfundierten Analyse des politischen Philosophen: Was ist Demokratie eigentlich? Woran krankt Demokratie in unseren Tagen? Und was ist zu ihrer Gesundung vonnöten?

Geschrieben wurde das Buch im Sommer 2019, also noch vor der Corona-Pandemie und der nachfolgenden „Zeitenwende“ des Ukrainekrieges, was die Hellsichtigkeit der Analyse unterstreicht. Veröffentlicht wurde das Buch mitten im ersten Jahr der Pandemie, weshalb es nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdient hätte. Denn Julian Nida-Rümelin sagt hier viel Richtiges und Wichtiges. Und manches ist erstaunlich mutig gegen den Zeitgeist gesprochen.

Was ist Demokratie eigentlich?

Zuerst und vor allem klärt Julian Nida-Rümelin den Begriff „Demokratie“ auf. Es gibt heute so viele Missverständnisse zu diesem Thema, dass hier erst einmal gründlich aufgeräumt werden muss. Vieles von dem, was Julian Nida-Rümelin hier zu sagen hat, hat man vielleicht auch schon in der Schule im Politikunterricht gehört, sofern man einen guten Lehrer hatte.

Demokratie beruht nicht (!) zuerst auf dem Prinzip der Mehrheitsbeschlüsse, sondern auf einem „Konsens höherer Ordnung“, oder konkret: Auf der Akzeptanz einer gemeinsamen Staatsverfassung. Der Einzelne mit seiner „individuellen Autonomie“ lebt – grundsätzlich frei und gleich – mit anderen Menschen zusammen in einem Gemeinwesen. Die Staatsverfassung legt die Grundrechte fest, die jeder Einzelne auch gegen Mehrheitsbeschlüsse behält. Damit wird eine Balance zwischen Individualität und Kollektiv hergestellt. Einseitige Übertreibungen zugunsten von Individuum oder Kollektiv führen in die Katastrophe. Die Staatsverfassung legt auch die Verfahren fest, durch die das Gemeinwesen sich selbst bestimmt, d.h. „kollektive Autonomie“ ausübt. Diese Verfahren konstituieren eine „kollektive Rationalität“, die die Rationalität der Einzelnen nach vorgegebenen Regeln in ein großes Ganzes einfließen lässt. Hier spielt das Mehrheitsprinzip eine große Rolle.

Doch die Konstruktion der Verfahren, nach denen Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, ist dabei nicht beliebig. Das Condorcet-Paradoxon zeigt, dass Mehrheitsentscheidungen über Präferenzen in Zirkelschlüssen enden können. Das Arrow-Theorem zeigt, dass es grundsätzlich kein Verfahren gibt, dieses Problem zu umgehen. Konkret formuliert kennt jeder das Problem: Wenn man die Menschen nach ihren Wunschträumen abstimmen ließe, kämen dabei Beschlüsse heraus, die sich gegenseitig widersprechen, spätestens bei der Finanzierung.

Praktisch wird das Problem vor allem dadurch gelöst, dass Parteien und Politiker Politikangebote entwerfen und politisch aushandeln, die in sich widerspruchsfrei sind (oder sein sollten). Man kann Zirkelschlüsse auch dadurch verhindern, indem man die Zahl der Alternativen auf zwei reduziert. Die repräsentative Demokratie, in denen die Politik im wesentlichen von Politikern in gebündelter Form gemacht wird, hat also nicht nur den Sinn, den Bürger von politischer Arbeit zu entlasten, sondern auch den Sinn, dem Bürger in sich stimmige Politikangebote aus einem Guss zu unterbreiten. Überhaupt werden politische Angebote immer nur von Wenigen entwickelt, während die Masse der Menschen immer nur „Ja“ oder „Nein“ sagt. Deshalb wird man eine politische Elite auch niemals los. Man kann sich nur überlegen, wie sie strukturiert sein sollte. Jedenfalls führt die Idee, tausend Einzelfragen per Volksabstimmung zu entscheiden, zwangsläufig ins Chaos. Der Extremfall ist die „liquid democracy“, in der jeder Bürger beliebige Entscheidungen antriggern kann und jeder Bürger alle Einzelfragen per Mausklick entscheidet: Sie kann aus logisch zwingenden Gründen nicht funktionieren. Damit ist insbesondere auch Rousseaus Vorstellung von einer kollektiven Autonomie gescheitert.

Auch das alte Problem der Balance von Freiheit und Gleichheit wird sehr ausführlich diskutiert. Freiheit führt automatisch zu einer gewissen Ungleichheit, da die Präferenzen der Menschen verschieden sind. Das Sen-Paradoxon von Amartya Sen zeigt, dass es unmöglich ist, die individuellen Präferenzen so zu aggregieren, dass zugleich die Liberalität gesichert ist und und alle Chancen der Wohlstandsmehrung ergriffen werden. Sprich: Demokratie ist eine gewisse Form von Luxus, denn man verzichtet bewusst auf gewisse ökonomische Vorteile, um die Freiheit der Bürger zu erhalten. Damit erteilt Julian Nida-Rümelin auch den Sympathien für China eine Absage, die von manchen angesichts der (angeblichen) Effizienz des chinesischen Systems gehegt werden. Zudem muss ergänzend angemerkt werden, dass eine Diktatur zwar die Macht hat, die richtigen Entscheidungen für die Wohlstandsmehrung durchzusetzen, aber die Diktatur weiß keinesfalls besser als die crowd intelligence der freien Bürger darüber Bescheid, was die „richtigen“ Entscheidungen sind.

Demokratie lebt wesentlich davon, dass ihre Akteure sich nicht nur Propaganda und Lügen um die Ohren hauen, sondern rationale Argumente austauschen und einfordern. Die rationale Deliberation, die Politiker und Kommentatoren uns in den Medien zeigen, ist zwar dennoch teilweise Schau und Theater, aber sie darf auf keinen Fall vollständig zum Theater verkommen, weil sonst die Demokratie abhanden kommt. Rationalität, Realismus, Bodenständigkeit sind unerlässlich für das Funktionieren einer Demokratie. Um diese rationale Deliberation aufrecht zu erhalten, spielen die Medien eine wesentliche Rolle: Sie sind die Bühne dafür, und sie müssen diese rationale Deliberation auch von den Politikern einfordern.

Die Bedrohung durch den Klientel-Egoismus

Wichtig ist, dass die Bürger nicht nur nach kurzsichtigen, egoistischen Interessen entscheiden, sondern auch nach langfristigen Erwägungen und „höheren“ Interessen. Julian Nida-Rümelin unterscheidet hier mit Rousseau den bourgois vom citoyen. Der bourgois denkt nur an sich, der citoyen ist am Allgemeinwohl interessiert. Der Verzicht auf einen kurzsichtigen Egoismus wird von Julian Nida-Rümelin „strukturelle Rationalität“ genannt. Es handelt sich um eine Rationalität, die in der Lage ist, um langfristiger Vorteile willen auf kurzfristige Voreile zu verzichten. Auch abstrakte Vorteile, wie z.B. eine stabile Demokratie oder ein gutes Gewissen, spielen hier mit herein.

Was sich etwas utopisch anhört, ist in der politischen Praxis der westlichen Welt real existent. Der höhere Standpunkt, das gute Gewissen, die langfristige Rationalität: Sie fließen für uns alle beobachtbar in die Entscheidungen der Menschen mit ein. Die militärische Abwehr des Kommunismus im Kalten Krieg, die Unterstützung der Armen in der Welt, der Umweltschutz oder – am wichtigsten – die Beachtung von Verfassung und Gesetzen sind Beispiele dafür. Außerdem glaubt Julian Nida-Rümelin mit Aristoteles, dass der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft angelegt ist: Es handelt sich also um eine Eigenschaft des Menschen, die in uns allen angelegt ist. Diese kann zwar verkümmern, sie kann aber auch zum Wachsen und Blühen gebracht werden: Vor allem, wenn sich die Bürger ernst genommen fühlen und tatsächlich sehen, dass sie effektiv mitentscheiden. Daran fehlt es zur Zeit.

Gemäß dem Gibbard-Theorem ist es nicht möglich, demokratische Verfahren zu entwickeln, die nicht durch taktisches Abstimmen beliebig verfälscht werden können. In Italien nennt man es tatticismo: Vor lauter Taktik mit Rücksicht auf alle möglichen egoistischen Klientel-Gruppen gehen die politischen Inhalte verloren. Dieses taktische Verhalten „zieht“ aber nicht mehr, wenn die Bürger nicht rein egoistisch handeln, sondern übergeordnete Interessen mit im Blick haben. Die Rentnerin, die sich trotz der Erhöhung der Mütterrente gegen Angela Merkel entscheidet, weil sie an das größere Ganze und an ihre Enkel denkt, ist das Paradebeispiel (das sich so allerdings nicht in Julian Nida-Rümelins Buch findet).

Die identitäre Bedrohung von Links und Rechts

Linksradikale wie Rechtsradikale betrachten öffentliches Reden, Wahlen und Parlamentarismus nur mit zynischer Verachtung. Das alles sei nur eine große Show, und hinter den Kulissen würden die wahren Mächtigen die Strippen ziehen, meinen sie. Sie verhöhnen die humanistische Idee der öffentlichen rationalen Deliberation. Für Marxisten geht es um den Kampf der Arbeiter und Unterdrückten gegen eine imaginierte herrschende Klasse von „Reichen“. Die postmodernen Wokisten glauben überhaupt nicht mehr, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt geben könnte, und ersetzen Wahrheit durch Macht. Wokisten und Multikulturalisten teilen die Gesellschaft in Gruppen auf. Radikale Feministen möchten, dass Frauen überall 50:50 repräsentiert sind. Rechtsradikale Identitäre teilen die Menschen ebenfalls nach Herkunft und Rasse auf, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

In einer Gesellschaft, die in Gruppen zerfällt, die nur noch ihre egoistischen Interessen verfolgen – z.B. Frauen, Männer, Rentner, Jugendliche, Familien, Singles, Zuwanderer, Einheimische, Arbeiter, Schwarze – ist keine Demokratie mehr möglich, da der Einzelne in der Gruppe verschwindet. Die Gruppen stehen sich starr gegenüber, statt wechselnde Mehrheiten quer zu diesen Gruppen zu bilden. Zudem geht das Leistungsprinzip verloren, weil alle Posten in der Gesellschaft nur noch nach Gruppenproporz vergeben werden. Julian Nida-Rümelin kritisiert marxistische und postmoderne, aber auch multikulturalistische Konzepte von Gesellschaft, die immer nur Gruppen und deren „Kampf“ gegen die anderen in den Blick nehmen. Aus einem Eigeninteresse wird erst dann ein demokratisch-politisches Interesse, wenn man das Eigeninteresse mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen versucht und diskutable Vorschläge für die ganze Gesellschaft unterbreitet. So wie ein Bundeskanzler auch nicht nur Bundeskanzler für diejenigen sein sollte, die ihn gewählt haben, sondern natürlich für alle Bürger. Wo diese geistige Grundhaltung für das Gemeinwohl verloren geht, ist der Weg in den failed state beschritten.

Julian Nida-Rümelin im Wortlaut: „… die Multikulturalisten verabschieden die humanistischen Grundlagen der Demokratie in Gestalt eines pluralistischen … Kollektivismus.“ (S. 171) Und: „Wahrheit hat einen Ort in der Demokratie; ohne das Ringen um zutreffende empirische und normative Urteile entleert sich die Demokratie zu einem großen Illusionstheater, das dann von den Entlarvungen der Meisterdenker marxistischer, psychoanalytischer, dekonstruktivistischer, aber auch populistischer und identitärer Provenienz vorgeführt wird.“ (S. 250) Und: „Antirealismus ist keine Option, er befriedet nicht und ist mit der Form politischer Diskurse unvereinbar.“ (S. 250)

Demokratie ist kulturell verwurzelt

Völlig gegen den aktuellen Zeitgeist, und explizit gegen Vordenker wie John Rawls und Jürgen Habermas (S. 138 f.), vertritt Julian Nida-Rümelin die Auffassung, dass ein abstrakter, rein rationaler Verfassungspatriotismus nicht ausreicht, um eine demokratische Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieser Irrtum wird von ihm auch „liberalistische Illusion“ genannt (S. 34). Vielmehr sind gewisse gemeinsame kulturelle Voraussetzungen erforderlich, damit Demokratie möglich wird. Eine humanistische Leitkultur ist erforderlich. Das heißt konkret eine auf den einzelnen Menschen als Individuum ausgerichtete Kultur, sowie Rationalität, Mitgefühl mit allen Menschen, und Säkularität. Ein kleinliches Steckenbleiben in Religion, Herkunft usw. verträgt sich damit nicht.

Julian Nida-Rümelin denkt bei seiner humanistischen Leitkultur nicht an die Nationalkulturen. So spricht er z.B. von einer „multikulturell verfassten Demokratie“ (S. 138), oder er schreibt: „Nicht die multikulturelle Verfasstheit demokratischer Gesellschaften, sondern die multikulturalistische Ideologie ist mit den normativen Prinzipien moderner Demokratien unvereinbar.“ (S. 168) – Allerdings widerspricht sich Julian Nida-Rümelin hier selbst. Denn gegen Ende des Buches gibt er zu, dass die humanistische Leitkultur sich spezifisch in Europa entwickelt hat und bis heute nur in europäisch geprägten Ländern wirklich gut funktioniert (S. 229). Es handelt sich also um eine Art Europäischer Leitkultur, ähnlich wie Bassam Tibi vorgeschlagen hat.

Und hier müssen wir Julian Nida-Rümelin bei seiner eigenen Erkenntnis packen und kritisieren. Zunächst stellt sich die Frage, ob es denn wirklich eine „europäische“ Leitkultur ist? Funktioniert die Demokratie in Rumänien und Russland so gut wie in England und Dänemark, die ja alle in Europa liegen? Die Antwort ist klar: Nein, leider noch lange nicht. Die humanistische Kultur, die Julian Nida-Rümelin erstrebt, ist ganz offensichtlich keine „europäische“ Leitkultur, sondern eng mit den Nationalkulturen verwoben. Nicht in dem Sinne, dass nur bestimmte Nationen sich für den Humanismus öffnen könnten, aber doch in dem Sinne, dass der Humanismus sich in die jeweilige Nationalkultur inkulturieren muss. Und das ist in einigen europäischen Staaten geschehen, in anderen hingegen nicht.

Julian Nida-Rümelin sagt es ja selbst: Bevor Demokratie möglich wird, muss ihr ein zivilisatorischer Prozess vorangehen (S. 233). Es muss nämlich dazu kommen, dass sich die humanistische Leitkultur in die Nationalkultur inkulturiert. Das spricht Julian Nida-Rümelin zwar nicht explizit aus, aber genau das ist es. Was er aber sehr wohl explizit ausspricht, ist die Tatsache, dass Demokratie bis heute immer nur im Kontext des Nationalstaates funktioniert, siehe nächster Abschnitt. Wenn Julian Nida-Rümelin zwei und zwei zusammenzählen würde, müsste er darauf kommen, dass sich die erstrebte humanistische Leitkultur nur in der Nationalkultur manifestieren kann. Zerstört man die Nationalkultur und löst man die Nation in Multikulti auf, kann es auch keine humanistische Leitkultur mehr geben.

Das hätte Julian Nida-Rümelin explizit aussprechen müssen, statt von einer „multikulturellen Verfasstheit demokratischer Gesellschaften“ zu phantasieren. Demokratische Gesellschaften können nur transkulturell vielfältig sein, nicht jedoch multikulturell vielfältig. Will heißen: Alle Bürger können Kulturen pflegen wie sie wollen, aber alle Bürger müssen eine gemeinsame Kultur vor allen anderen pflegen: Die humanistisch geprägte Nationalkultur, auf die auch die Demokratie angewiesen ist.

Demokratie ist national verwurzelt

Gegen alle Blütenträume des linksliberalen Zeitgeistes stellt Julian Nida-Rümelin fest, dass Demokratie bis heute nur im Nationalstaat funktioniert (S. 57, 234). Und das lässt sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Vielleicht nie. Die allermeisten Menschen sind lokal verwurzelt. Ein Raum für öffentliche Debatte, der für die Demokratie unerlässlich ist, existiert nur auf nationaler Ebene. Die Auseinandersetzung zwischen den anywheres und den somewheres hält Julian Nida-Rümelin langfristig für entschieden: „Ein antikommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft“ (S. 63).

Julian Nida-Rümelin spricht sich deshalb auch klar gegen den Versuch aus, die Europäische Union zu einer Über-Demokratie über den Nationalstaaten auszubauen. Das Mehrheitsprinzip funktioniert nicht, wenn die Grundgesamtheit der Bürger nicht hinreichend homogen ist. Das ist aber nicht der Fall, jedes europäische Land hat seine ganz eigenen Traditionen (S. 70 f.).

Demokratie reformieren

Julian Nida-Rümelin fordert die Beendigung einer Politik des Durchwurstelns ohne Programm und abgekoppelt von der Realität (S. 240). Damit zielt Julian Nida-Rümelin direkt gegen den Politikstil von Angela Merkel und ihren Anhängern, die immer den Weg des kurzfristig geringsten Widerstandes gegangen waren, wie es dem illusionären Wunschdenken von Journalisten und Bürgern gefiel. Das spricht er aber nicht explizit aus.

Auch diejenigen, die die Demokratie nicht akzeptieren, sollten nicht von vornherein aus dem politischen Diskurs ausgegrenzt werden, meint Julian Nida-Rümelin (S. 148). Der Schaden, der durch allzu scharfe Ausgrenzung problematischer Andersdenkender entsteht, ist groß. Damit spricht sich Julian Nida-Rümelin mehr als deutlich gegen die grassierende Cancel Culture aus.

Julian Nida-Rümelin beklagt die falsche Rekrutierung des politischen Personals in Deutschland (S. 240 f.). In angelsächsischen Ländern würde die Rekrutierung des politischen Personals noch deutlicher günstiger sein.

Wie einst schon Karl Jaspers, so kritisiert Julian Nida-Rümelin auch, dass die Politischen Parteien in Deutschland die Politik in Koalitionen im wesentlichen unter sich aushandeln, vor allem in Großen Koalitionen, und das Volk kaum die Möglichkeit bekommt, Richtungsentscheidungen zu treffen; daran sei das Verhältniswahlrecht schuld. (S. 145 f.)

Allzu viel direkte Demokratie hält Julian Nida-Rümelin nicht für wünschenswert. Allerdings erkennt er an, dass Volksentscheide dazu führen, dass sich die Bürger besser informieren. Volksentscheide können auch dazu beitragen, dass sich Bürger nicht völlig machtlos fühlen (S. 99 f., 104). Wenig überzeugend ist allerdings der Einwand, dass eine Entscheidung wie der Brexit zu komplex für die Bürger gewesen wäre. Denn Komplexität kann niemals das Kriterium sein. Die Bürger sollen sich zwar um Rationalität bemühen, aber in der Demokratie geht es nicht um die rationalste Entscheidung. Sonst könnte man gleich Experten regieren lassen bzw. diejenigen, die sich dafür halten. Nein, in der Demokratie geht es darum, dass die Bürger ihr Schicksal selbst bestimmen, und dass sie Entscheidungen, die sie gestern noch für gut befunden hatten, heute aber bereuen, verändern können, ohne eine Revolution veranstalten zu müssen. Mit seiner Brexit-Kritik widerspricht Julian Nida-Rümelin seinen eigenen Einsichten in die Rationalität der Demokratie.

Wissenschaft und Politik, Klimawandel

Julian Nida-Rümelin weist darauf hin, dass Politik und Wissenschaft zwei Systeme sind, die verschiedenen „Rationalitäten“ folgen. Aber statt getrennt voneinander zu agieren, vermischen sich beide Bereiche immer mehr, wodurch sie ihre je eigene Rationalität schwer beschädigen: „So ist die wissenschaftliche Debatte um den Klimawandel und die unterschiedlichen erklärenden Modelle kontaminiert durch die hohe politische Relevanz dieser wissenschaftlichen Studien. Die Folge ist, dass, von vielen wohl unbemerkt, die politische Rationalität in der Wissenschaft, hier der Forschung zum Klimawandel, Einzug hält. Abweichende Positionen werden stigmatisiert, anstatt sie am Diskurs teilhaben zu lassen, und die Frage, wie viele Wissenschaftler nun eine bestimmte wissenschaftliche These zum Klimawandel befürworten, wird zu einem vermeintlichen wissenschaftlichen Argument.“ (S. 205) Und: „Die Wissenschaft darf sich nicht, wie es gegenwärtig immer wieder geschieht, politisch instrumentalisieren lassen.“ (S. 219)

Und: „Es ist das besondere Merkmal demokratischer Ordnungen, dass sie nicht das höhere Wissen einzelner besonders Gebildeter zugrunde legen …, oder es der Wissenschaft anheimstellen, zu bestimmen, was eine gute politische Praxis ist, wie es von der Ikone der Fridays for Future-Bewegung Greta Thunberg gefordert wird, sondern es ist die Bürgerschaft als ganze, die in einer inklusiven, alle umfassenden Deliberation zu klären versucht, was die richtige bzw. falsche politische Entscheidung wäre“ (S. 218) Und: „Der so sympathische Aufruf von Fridays for Future, doch auf die Wissenschaft zu hören, ist hier ein weiteres Indiz für die Vermengung zweier separat zu haltender Rationalitäten.“ (S. 206)

Eurokrise, Migrationskrise

Julian Nida-Rümelin wendet sich auch klar gegen die Politik von Angela Merkel in Sachen Euro und Migration. Er meint, dass Merkels Politik der Griechenland-„Rettung“ ein großer Fehler war, und dass man Griechenland besser mit einem Schuldenerlass aus dem Euro (nicht aber aus der EU) entlassen hätte. Es wäre überhaupt von Anfang ein Konstruktionsfehler des Euro gewesen, dass es keine institutionalisierte gemeinsame Wirtschaftspolitik gab. Die Hoffnung, dass die Euro-Staaten automatisch wirtschaftlich konvergieren würden, wäre naiv gewesen. (S. 237 f.)

In Sachen Migration konstatiert Julian Nida-Rümelin ein Gefühl der Täuschung bei den Bürgern (S. 238). Die Politiker sind nicht ehrlich und die Bürger haben keinen Einfluss. „Auch die großzügigste Aufnahme von Flüchtlingen aus den Armutsregionen wird das Weltelend aber nicht nennenswert mildern können.“ (S. 191) Und auch die Enttäuschungen bei der Integration von Zuwanderern, speziell von Muslimen, werden von Julian Nida-Rümelin klar angesprochen (S. 33).

Weiteres gegen den Zeitgeist

Julian Nida-Rümelin berührt en passant auch weitere Themen, in denen er Position gegen den Zeitgeist bezieht:

  • Gegen den Akademisierungswahn (S. 196).
  • Bildungsgerechtigkeit allein kann soziale Probleme nicht lösen (S. 196).
  • Die SPD ist zu einer Partei der Lehrer statt der Arbeiter geworden (S. 197).
  • Die Armutsdefinition in Deutschland muss dringend revidiert werden, so dass steigender Wohlstand nicht automatisch zu statistisch steigender Armut führt (S. 192).
  • In der DDR war das Leistungsprinzip im Bildungswesen noch intakter als in manchen westlichen Bundesländern (S. 236).
  • Viele Linke verstehen heute unter Säkularität die Bekämpfung von Religion, das sei aber ganz falsch (S. 138).
  • Die Militärdiktatoren in der islamischen Welt stehen uns näher als die Islamisten (S. 44).

Über Donald Trump sagt Julian Nida-Rümelin, dass seine Außenpolitik eine Wende zum Realismus war, und ein Versuch, gegen den deep state vorzugehen (S. 40 f.). Er benutzt tatsächlich das Wort deep state. Diese Meinung passt überhaupt nicht in die Landschaft des aktuellen Zeitgeistes. Julian Nida-Rümelin nimmt auch die Wähler von Donald Trump gegen die linksliberale Unterstellung in Schutz, sie würden gegen ihre eigenen Interessen wählen. Ihre Wahlentscheidung sei keinesfalls so irrational, wie es manchen linksliberalen Beobachtern erscheint (S. 76 f.).

Globale Rechtsordnung

Julian Nida-Rümelin sieht das Problem, dass die Nationalstaaten gegen grenzübergreifende Probleme und gegen internationale Konzerne oft machtlos sind. Sein Rezept dagegen ist nicht die Verlagerung von demokratischen Entscheidungen auf immer höhere Ebenen, sondern die Etablierung einer globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte müssen rechtlich verbindlich werden. Der Marktradikalismus muss durch internationale Regeln eingedämmt werden. Außerdem muss es einen ökonomischen Ausgleich in sozialen und ökologischen Fragen geben. (S. 55 f., 63-68, 199 f., 240)

Das Problem ist: Diese Versuche gibt es schon längst. Es gibt die UN, es gibt die UN-Menschenrechtscharta, es gibt einen UN-Menschenrechtsgerichtshof, es gibt das Welthandelsabkommen, und es gibt viele politische Formate, die Nationalstaaten international zu koordinieren. So z.B. die G7 und die G20 Gipfel, oder in Europa die EU, die KSZE, den Europarat. Sozialer Ausgleich findet statt durch Entwicklungshilfe, durch Schuldenerlass, durch den Einkauf von Rohstoffen. Der ökologische Ausgleich findet statt durch großzügige Geldgaben bei Weltklimakonferenzen, usw. usf. – Nur sind alle diese Versuche auf halbem Wege stecken geblieben. Viele Versuche, nationale Kompetenz auf höhere Ebenen zu übertragen, haben die Demokratie beschädigt. Handelsabkommen sind leider nicht immer fair. Die Durchsetzung von Regeln ist leider nicht in allen Ländern gleich. Und Geld an ärmere Länder zu geben, endete oft nur in Korruption.

Man kann Julian Nida-Rümelin zugute halten: Der Versuch bedarf einer Erneuerung. Es geht ihm auch nicht um die Übertragung von Demokratie auf höhere Ebenen, sondern um eine globale Rechtsordnung, also um Regeln und Gerichte, die die Einhaltung von Regeln überwachen. Auch Entwicklungshilfe kann klug statt dumm gestaltet werden. Aber egal wie klug man es anstellt: Es wird Jahrzehnte und Jahrhunderte brauchen. Deshalb ist der Schutz der Demokratie, die im Hier und Jetzt realisierbar ist, nämlich der Demokratie in den Nationalstaaten, vorrangig. Das hätte Julian Nida-Rümelin deutlicher sagen sollen.

Richtig ist, dass die Menschenrechte den anderen Ländern nicht vom Westen aufoktroyiert worden sind (S. 124 f.). Vielmehr kam die UN-Charta gegen den Willen der USA und Großbritanniens zustande. Die Menschenrechte sind auch keine kulturelle Folklore des Westens, sondern für alle Menschen nachvollziehbar, insofern sie vernunftbegabte Menschen sind. Humanismus ist kulturell global anschlussfähig.

Einige Kritikpunkte

Manche Kritik wurde bereits in den vorigen Abschnitten geäußert. Obwohl Julian Nida-Rümelin schon recht deutlich ist, kommt er doch nicht überall deutlich genug auf den Punkt. Insbesondere ist eine klare Benennung von Angela Merkel als einer Hauptschuldigen unserer Situation zu vermissen.

Eine gravierende Leerstelle ist das Thema Medien. Julian Nida-Rümelin spricht zwar von der Bedeutung der Medien für die Aufrechterhaltung der öffentlichen demokratischen Deliberation, aber zur Problematik der Öffentlich-Rechtlichen Medien hat er nur wenig zu sagen: Die Aufsichtsgremien sollten politikfern besetzt werden, und das öffentlich-rechtliche Prinzip sollte auch auf Print und Digital ausgeweitet werden (S. 242). Das ist entschieden zu wenig. Die Organisation des Mediensystems steht definitiv im Zentrum unserer Probleme, hier müsste sehr viel mehr gesagt werden: Sowohl was Kritik, als auch was Lösungen anbelangt.

Julian Nida-Rümelin spricht wiederholt von „Marktversagen“ als einer Ursache unserer Krisen (S. 195, 198), u.a. im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008. Aber diese Finanzkrise war letztlich von einer Politik verursacht worden, die die Marktkräfte auszuhebeln versuchte. In USA gab es Sozialgesetze, die den Banken vorschrieben, Hauskredite auch an Schuldner zu vergeben, die nicht kreditwürdig sind. Es war von vornherein klar, dass diese Kredite vielfach platzen mussten. Schuld war aber nicht der Markt, sondern eine falsche Politik. Und das ist oft so. Eigentlich immer. Diese Erkenntnis sollte Julian Nida-Rümelin in seine Analyse mit aufnehmen.

Auch bei der Einführung der Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR und in Russland sieht Julian Nida-Rümelin viel Versagen, was das Vertrauen in Marktwirtschaft und Liberalität dort untergraben hätte (S. 237 f.). Die Frage ist aber, wie man eine solche Umstellung hätte bewerkstelligen sollen, ohne dass es zu Brüchen kommt. Vermutlich gibt es dafür kein Patentrezept. Es wurden Fehler gemacht, ja, aber ob man es ökonomisch so viel besser hätte hinbekommen können, wie manche meinen, muss bezweifelt werden. Auch diese Opfer sind zuerst und vor allem dem sozialistischen System zuzuschreiben, das eine verheerte Ökonomie zurückließ.

Es ist gut, dass Julian Nida-Rümelin das Thema des Zusammenlebens von Individuen und wirtschaftlichen Unternehmen in einer freien Gesellschaft aufgreift (S. 59). Allerdings ist auch dieses Feld nicht unbeackert: Es gibt bereits Gesetze zum Verbraucherschutz, zum Umweltschutz usw. Und eigentlich war es immer gute Praxis, dass sich Unternehmen abseits ihrer ökonomischen Interessen eher nicht in die Politik einmischen. Ja, die Gesetze müssen weiterentwickelt werden, aber neu ist das Thema nicht.

Julian Nida-Rümelin beklagt zurecht, dass die Vereinigung der DDR mit der BRD eher ein Anschluss war, und keine echte Vereinigung. Denn es wurde keine neue Verfassung ausgearbeitet und auch die wenigen Errungenschaften, die die DDR vorzuweisen hatte, wurden untergebügelt (S. 236 f.). Das ist alles richtig, allerdings vermeidet Julian Nida-Rümelin auch hier, auf den Punkt zu kommen. Denn eine Vereinigung auf Augenhöhe und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, hätte bedeutet, dass Deutschland die Nachkriegszeit überwindet und sich als Nation selbstbewusst neu definiert. Dazu hätte z.B. auch die Wiederherstellung des Bundeslandes Preußen als einem ganz normalen Bundesland gehört, zusammengesetzt aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Vorpommern und Restschlesien. Julian Nida-Rümelin irrt auch, wenn er die Schuld daran nur bei Helmut Kohl sieht. Es war nicht nur Helmut Kohl, der diese Debatte scheute, sondern es waren natürlich die Linken und Linksliberalen mit ihrem nekrophilen nationalen Selbstbild, die das nicht wollten. Damals hieß es: „Deutschland? Wir wollen doch Europa!“

Bedauerlicherweise verwendet auch Julian Nida-Rümelin an einigen wenigen Stellen den Begriff „liberale Demokratie“. Aber Demokratie benötigt kein Adjektiv, auch nicht das Adjektiv „liberal“. Demokratie ist entweder demokratisch oder es ist keine Demokratie. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach per se liberal, insofern alle Meinungen, die die demokratischen Spielregeln einhalten, in der Demokratie mitspielen dürfen. Demokratie ist ihrer Verfasstheit nach aber zugleich auch nichtliberal, insofern auch konservative Kräfte Wahlen gewinnen dürfen. Deshalb ist der Zusatz „liberal“ so gefährlich. Es ist ein Versuch, konservative Kräfte aus dem demokratischen Spektrum auszuschließen. Man kann vermuten, dass das nicht die Absicht von Julian Nida-Rümelin war, denn es passt nicht zu dem hier vorgestellten Demokratiebegriff. Ein guter Lektor hätte auf das Problem hingewiesen.

Donald Trump wird ein Übermaß an Lügen unterstellt (S. 27). Hier liegt Julian Nida-Rümelin eindeutig falsch. Donald Trump lügt zwar hin und wieder, aber nicht im Übermaß. Vieles, was ihm als Lüge ausgelegt wird, ist eben eine andere politische Meinung. Und das wahre Problem ist doch nicht, dass Trump lügt, sondern dass auch die etablierten Demokraten in einem Maße zum Gebrauch der Lüge übergegangen sind, dass man erschrecken muss! Da werden Migranten pauschal „Flüchtlinge“, nein: „Geflüchtete“ genannt. Da wird behauptet, ein babylonisches Multikulti würde wunderbar funktionieren. Da wird alles an der westlichen Geschichte und Kultur schlechtgemacht. Da werden radikale Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels propagiert, die nachweislich keinen guten Effekt haben, während effektive Maßnahmen unterbleiben. usw. usf.

Der AfD wird unterstellt, ihre Rhetorik wäre von Anfang an „populistisch“ gewesen (S. 170). Aber in Wahrheit schlägt Julian Nida-Rümelin in diesem Buch genau dieselbe Alternative zu Angela Merkels Griechenland-„Rettung“ vor (s.o.), die damals von AfD-Gründer Professor Bernd Lucke vorgeschlagen wurde. Die These, dass die AfD von Anfang an populistisch gewesen sei, ist vollkommen unsinnig. Die These passt auch gar nicht zu dem, was Julian Nida-Rümelin an anderer Stelle des Buches sagt.

Zum Thema Islam sagt Julian Nida-Rümelin durchaus Richtiges, doch leider verfehlt er den Punkt. Einerseits will er im säkularen Staat von Religion gar nichts wissen: Julian Nida-Rümelin schaut geradezu bewusst weg, wenn er sagt, dass die Religion selbst nicht an den Kreuzzügen schuld sei, und auch Koranverse seien an nichts schuld (S. 230). Andererseits zählt er auf, welche religiösen Praktiken nicht zu einer humanistischen Leitkultur und damit zur Demokratie passen: Autoritäre Muster, religiöser Fundamentalismus, Sehnsucht nach vormodernen Zeiten, Angst vor Aufklärung und Veränderung (S. 230 f.). – Das ist soweit zwar richtig, aber Julian Nida-Rümelin hat sich damit um den entscheidenden Punkt herumgemogelt, den man aber verstehen muss, wenn man politisch zum Handeln kommen will: Wie ist es denn nämlich möglich, dass eine Religion diesen humanistischen Anforderungen genügen kann, wenn die traditionelle Interpretation der Religion dem nicht entspricht?

Die Antwort ist, dass die Vernunft selbst dem Gläubigen befiehlt, die alten Texte der Religion ernst zu nehmen und sie gerade deshalb auf der Grundlage von Vernunft und moderner Erkenntnisse neu zu lesen und historisch-kritisch zu deuten. Das ist keine „Verbiegung“ und keine „Anpassung“ an die Moderne, denn es werden dadurch keineswegs alle Ecken und Kanten einer Religion abgeschliffen. Im Gegenteil: Je mehr Vernunft dabei zur Anwendung kommt, desto authentischer wird die Religion dadurch. Es ist vielmehr die Emotionalität und die Vernunftfeindlichkeit, die der Feind einer authentischen Auffassung von Religion ist. Kurz: Es geht um theologisch valide religiöse Reformen. Die Religionen selbst müssen sich also für den humanistischen Geist öffnen, so wie sich auch die Nationalkultur für den humanistischen Geist öffnen muss. Das können sie auch, denn Vernunft und Menschlichkeit wird in allen Religionen großgeschrieben. Und diese Öffnung ist es, die der Staat abverlangen muss. Der Staat darf deshalb beim Thema Religion nicht so völlig blind sein, wie es manche propagieren. Mehr noch: In einer Situation, in der eine beträchtliche Zahl von Mitbürgern einer traditionellen Lesart von Religion verfallen ist, muss der Staat sogar aktiv werden, um den Humanismus in diese Religion zu inkulturieren. Dazu gibt es vielfältige Möglichkeiten direkter und indirekter Einflussnahme. Doch davon liest man bei Julian Nida-Rümelin nichts.

Die westliche Interventionspolitik in anderen Ländern wird scharf kritisiert: Sie sei schuld an einem Großteil der aktuellen Flüchtlingsbewegungen und hätte hunderttausenden Zivilisten den Tod gebracht (S. 191). Doch hier irrt Julian Nida-Rümelin. Es gab gewiss auch viel Versagen, aber hat nicht auch ein Saddam Hussein hunderttausendfachen Tod gebracht? Und wer hat eigentlich die Opferzahlen der westlichen Interventionen ermittelt? Antiamerikanische NGOs? Die jedes Bombenopfer des IS-Terrors den Amerikanern zuschreiben?! Gerade im Irak ist noch erstaunlich viel Gutes übrig: Es gibt immer noch die freien Kurdengebiete im Norden. Es gibt immer noch die Demokratie des Irak, so formal sie auch ist. Beide haben dem IS widerstanden und waren hilfreiche Verbündete des Westens. Man stelle sich vor, Obama hätte die Truppen nicht aus dem Irak abgezogen und damit dem IS Tür und Tor geöffnet, was für ein Stabilitätsanker hätte dieses Land für die Region werden können! Der große Traum des George W. Bush, endlich den Teufelskreis aus Diktatur und Islamismus in Nahost zu durchbrechen, lebt weiter. Julian Nida-Rümelin hat hier offenbar vieles nicht verstanden. Da ist er aber nicht allein.

Schließlich kommt Julian Nida-Rümelin auf das „Verrechnungsverbot“ von Menschenrechten zu sprechen (S. 133 f.). Dieses ist stark von der Philosophie Immanuel Kants geprägt, sowohl im Guten wie im Schlechten. Grundsätzlich ist es ja auch richtig: Man kann nicht einfach Menschenleben gegen Menschenleben verrechnen. Das ist unmoralisch. – Aber nun die Kritik: Wenn man dieses Verrechnungsverbot absolut setzt, und das wird es oft genug, dann kommt man in Teufels Küche. Dann dürfte kein Staat mehr Soldaten in einen Verteidigungskrieg schicken, um seine Bürger zu schützen, denn dann würde ja das Leben der Soldaten gegen das Leben der Bürger verrechnet. Dann wären auch keine verhältnismäßigen Entscheidungen bei einer Pandemiebekämpfung mehr möglich: Man dürfte Suizide, Depressionen, häusliche Gewalt und verdorbene Bildungskarrieren von Schülern nicht mehr gegen einen vorzeitigen Tod älterer Menschen abwägen. Wir müssen Julian Nida-Rümelin zugute halten, dass er zu diesem Problem in der Corona-Pandemie ausführlich gesprochen hat. Doch hier im Buch fehlt der Gedanke, und es wird ein radikales Verrechnungsverbot formuliert.

In der Danksagung spricht Julian Nida-Rümelin davon, dass viele politische Übereinstimmungen mit Jürgen Habermas deutlich würden (S. 254). Aber dass er bei der Frage nach der kulturellen Verwurzelung der Demokratie einen deutlich anderen Standpunkt bezogen hat (s.o.), davon schweigt er an dieser Stelle. Völlig verschwiegen wird auch, dass Habermas ein großer Unterstützer von Angela Merkels Politiken war, während Julian Nida-Rümelin auch hier eine klar andere Meinung hat. – Es hat den Anschein, als wollte Julian Nida-Rümelin mit diesen Worten der Danksagung einen klaren Dissens zu Jürgen Habermas überkleistern, der sich bei näherem Hinsehen an vielen Stellen zeigt, und der sich in der Corona-Pandemie noch stärker gezeigt hat.

Es fehlt eine tiefere Analyse

Julian Nida-Rümelin beschreibt, wie die Demokratie vor unseren Augen erodiert. Und er beschreibt und kritisiert auch verschiedene geistige Strömungen, die an dieser Erosion beteiligt sind. Aber was fehlt, ist eine Analyse der tieferen Ursachen hinter dem allen. Wie kommt es denn dazu, dass Phänomene wie z.B. der Multikulturalismus und der Wokismus entstehen? Nicht erklären muss man hingegen, wie die Gegenbewegung des Rechtspopulismus entsteht.

Man könnte der Spur des Geldes folgen. Große Unternehmen haben ein Interesse an linksliberalen Zuständen. Der lustorientierte Linksliberale ist einfach der bessere Konsument, verglichen mit einem asketischen Bildungsbürger, der sich mit Büchern begnügt. Auch die Vereinfachung der Zuwanderung und die Schleifung der Nationalkulturen war immer im Interesse des Kapitals, da sie den Zugang zu kostengünstigen Arbeitskräften ermöglicht. Man könnte auch an Betrugschemata denken: Indem man diese oder jene Angst schürt, verkauft sich dieses oder jene Produkt besser. Das alles ist es auch, aber das allein kann es nicht sein.

Einen besseren Fingerzeig, wo das Problem liegt, geben jene Milliardäre, die mit ihrem Geld versuchen, etwas „Gutes“ für die Welt zu tun und auf diese Weise großen Einfluss nehmen. Sie tun das nicht um des Geldes wegen. Vielmehr glauben sie an das, was sie predigen. Und wie wir alle sind sie mit ihren Überzeugungen nicht selten Opfer des Zeitgeistes. Wir haben es nicht so sehr mit einer Verschwörungstheorie zu tun, bei der dunkle Hintermänner die Welt steuern, sondern mit dem Phänomen des kollektiven Irrtums. Gesellschaften können sich kollektiv in einen Irrtum hinein steigern.

Aber woher kommt der Irrtum? Es ist letztlich eine Dekadenzerscheinung. Wenn die Menschen in zu großem Wohlstand leben, wird das Leben leichter. Man verliert den Kontakt zur Realität, der sich vor allem dort manifestiert, wo man hart mit der Realität zusammenstößt. Und mit dem Realitätsempfinden hängt bei weniger gebildeten Menschen die Rationalität eng zusammen. Rationalität könnte man als die Fähigkeit beschreiben, möglicher Zusammenstöße mit der Realität geistig vorwegzunehmen und auf diese Weise zu vermeiden. Und als die Fähigkeit, die Realität so zu ordnen, dass man Vorteil davon hat. Ohne Realitätsempfinden keine Rationalität.

Der Wohlstand reduziert die harten Zusammenstöße mit der Realität, und so heben die Menschen ab und verlieren sich in illusionärem Wunschdenken. Rationalität zählt immer weniger, Gefühle immer mehr. Konservative Skeptiker verschwinden, emotionale Linksliberale setzen sich kulturell durch. Betrachten wir z.B. das berühmte Buch von Thilo Sarrazin aus dem Jahr 2010: Es handelt sich um eine rationale Analyse der Wirklichkeit mit dem Ziel, unangenehme Folgen zu verhindern und gute Zustände anzustreben. Doch das Buch verletzte Gefühle und durchkreuzte liebgewonnene Illusionen. Es wurde deshalb von Angela Merkel als „nicht hilfreich“ bezeichnet. Eine öffentliche Diskussion von Inhalten und ein Austausch von Argumenten fand niemals statt, obwohl viele Bürger das wollten. Es war die totale Zerstörung der demokratischen öffentlichen Deliberation.

Man könnte sagen: Die hohen Herren und Damen tanzen in Versailles. In Versailles galt man etwas, wenn man immer mit der neuesten Mode ging und geistreichen Unsinn von sich geben konnte. Wer jedoch kluge Politik für die Menschen machen wollte, der galt in Versailles nichts und wurde bestenfalls herumgeschubst. Intrigieren und Charmieren war alles, Rationalität und Realismus waren nichts. Die Kritik eines Voltaire wurde am Hof von Versailles auch nicht mit dem Argument zurückgewiesen, dass Voltaire nicht Recht hätte. Es wurde vielmehr überhaupt nicht argumentiert, sondern Voltaire störte einfach nur. Er war eine Beleidigung für den Geschmack und die Sensibilität der Höflinge. Und deshalb musste er weg. Ganz so, wie Angela Merkel das Buch von Thilo Sarrazin für „nicht hilfreich“ erklärte.

Hinzu kommt, dass vielen Menschen ein Sinn in ihrem Leben abhanden gekommen ist. Der religiöse Glaube nimmt immer mehr ab. Und in einer Gesellschaft des Wohlstands gibt es auch immer weniger Not zu lindern. Es ist in der Tat gar nicht so einfach, einen Sinn im Leben zu finden, wenn man in einem materialistischen Paradies lebt. Und so suchen sich die vielen weniger gebildeten Menschen einen Sinn für ihr Leben, wo eigentlich gar keiner ist: Klima, Multikulti, Wokismus, oder Rechtsradikalismus.

Wir haben es also mit einem Dekadenzproblem zu tun. Eine größere Zahl von Menschen ist vor lauter Wohlstand in Illusionen und Wunschdenken sowie in eine quasi-religiöse Sinnsuche hinein geraten. Und sie werden aus ihrem Schlummer nur durch den Zusammenstoß mit der Realität erwachen. – Eine Analyse dieser Art hätte man sich von Julian Nida-Rümelin gewünscht. Vielleicht würde Julian Nida-Rümelin es ganz anders sehen?

Fazit

Julian Nida-Rümelin hat ein richtiges und wichtiges Buch geschrieben, das einmal mehr den betrüblichen Zustand unserer Demokratie beleuchtet und dabei vor mutigen Aussagen nicht zurückschreckt, auch wenn es noch mutiger hätte sein können. Es ist wahr: Die Rationalität selbst leidet heute. Nichts weniger steht auf dem Spiel als die Errungenschaften der Aufklärung.

Julian Nida-Rümelin ist ein weiterer SPDler in einer langen Reihe von SPDlern, die sich von ihrer eigenen Partei entfremdet haben und den Weg nach Linksaußen nicht mitgegangen sind. Teilweise gibt es Überschneidungen mit Thilo Sarrazin, der mit „Wunschdenken“ eine Art Handbuch für kommende Politiker zusammengestellt hat, wie gute Politik gemacht werden muss.

Leider erklärt Julian Nida-Rümelin seine Thesen etwas umständlich. In der zweiten Hälfte ist das Buch auch etwas langatmig geschrieben. Die Erklärungen sind nicht „knackig“ und „griffig“, sondern akademisch abstrakt. Griffige Erklärungen muss sich der Leser selbst suchen, und diese Rezension will einen Beitrag dazu leisten, die Thesen von Julian Nida-Rümelin griffig zu machen.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Winfried Kretschmann: Worauf wir uns verlassen wollen – Für eine neue Idee des Konservativen (2018)

Weltfremder Willkür-Wertkonservatismus verwickelt sich wahllos in Widersprüche

Winfried Kretschmann ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg und gerade deshalb beliebt, weil er als „konservativer“ Grüner und nicht als ideologischer Grüner wahrgenommen wird. Doch die Lektüre dieses Büchleins belehrt den Leser eines besseren. Winfried Kretschmann ist ein in der Wolle gefärbter ideologischer Grüner, der seiner Ideologie lediglich ein pseudokonservatives Mäntelchen umhängt, mit dem er seine Wähler, teilweise aber wohl auch sich selbst betrügt.

Konservatismus?

Von Konservatismus ist in Kretschmanns Buch viel die Rede, doch in Wahrheit sagt Kretschmann nur wenig darüber. Denn von Anfang an wird klar, dass er einen höchst selektiven Wertkonservatismus vertritt, dessen Werte willkürlich grün-links sind (S. 21 ff.). Ein solcher „Konservatismus“ ist wohlfeile Wortklauberei und genauso falsch wie die von Kretschmann mit Recht kritisierte CDU/CSU-Definition des Konservativen nach Franz-Josef Strauß, die auf die Bejahung des technischen Fortschritts hinauslief. Im Grunde ist der Kretschmannsche Konservatismus nur das verkehrte Spiegelbild des CDU/CSU-Fortschrittskonservatismus, denn gerade beim technischen Fortschritt hebt Kretschmann besonders auf das „conservare“ ab, während er in anderen Bereichen davon nichts wissen will.

Und genau wie die CDU/CSU blendet Kretschmann den Aspekt der Kultur völlig aus. Die CDU/CSU tut dies einerseits deshalb, weil sie glaubt, dass sich die deutsche Kultur von selbst versteht, und andererseits deshalb, weil man vermeiden möchte, als „Nazi“ verschrieen zu werden. Kretschmann tut dies hingegen, weil er glaubt, auf einen kulturellen Zusammenhalt in der Gesellschaft verzichten zu können, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.

Bei Kretschmann fällt die Kultur zwischen den beiden Polen Wertkonservatismus und Strukturkonservatismus durch den Rost, denn Kultur ist weder ein Wert noch eine Struktur. Wenn Kretschmann davon redet, dass Konservatismus einfach der große, friedliche Ausgleich aller in der Gesellschaft wäre (S. 31 f.), dann löst sich der Konservatismus-Begriff von Kretschmann vollends in Wohlgefallen auf. Denn der Ausgleich in der Gesellschaft ist nicht Aufgabe der Konservativen, sondern Aufgabe der Demokratie als solcher, in der die Konservativen eine von mehreren Kräften sein sollten, die zum Ausgleich gebracht werden.

Gegen Ende seines Büchleins definiert Kretschmann Konservatismus dann überraschenderweise als das Festhalten an dem, was immer schon galt bzw. in entscheidenden Epochen entwickelt wurde (S. 125) – diese Konzeption steht aber in völligem Widerspruch zu dem, was er am Anfang des Büchleins schreibt. Dieses Grundmuster des Selbstwiderspruchs werden wir im folgenden noch öfter sehen.

Lebensfremd abstrakter Verfassungspatriotismus

Ganz zentral für Kretschmanns „konservatives“ Credo ist die Idee eines abstrakten, kulturlosen Verfassungspatriotismus. Darauf kommt er im Laufe des Buches immer wieder zu sprechen (z.B. S. 53 f., 64-66, 82 f., 125 f.). Die Bürger sollten Heimat in der Demokratie finden, oder im Schutz der heimatlichen Natur (S. 54, 47). Aber die deutsche Kultur gehört für Kretschmann definitiv nicht zur Heimat dazu. Eine Leitkultur, die von den Bürgern mehr als die Einhaltung der Gesetze und die deutsche Sprache abverlangt, lehnt er ab (S. 53 f., 65 f., 82 f.).

Kretschmann wird hier sehr deutlich: Die Menschen müssten in ihrer „radikalen Verschiedenheit“ in der Demokratie zusammenkommen (S. 49 ff.). Zusammenhalt entstehe aus der abstrakten Zivilgesellschaft heraus, der es um die Demokratie geht (S. 54). Den Gedanken, die Kultur als ein wichtiges verbindendes Element zu sehen, lehnt Kretschmann vehement ab, indem er seine Ablehnung einer Leitkultur wiederholt durch die Beschwörung des anderen Extrems untermauert: Kretschmann wettert das ganze Buch hindurch immer wieder und wieder gegen die „homogene Volksgemeinschaft“ (S. 52) und gegen die „Völkischen“, die „Nationalisten“, die „Autoritären“, die „Primitiven“ (S. 64).

Kretschmann stellt an keiner Stelle die Frage, ob die Idee eines kulturlosen Patriotismus nicht an der Lebenswirklichkeit der Menschen völlig vorbei geht und in Wahrheit völlig unrealistisch ist. Nicht nur deshalb, weil der Normalbürger seine Heimat ganz gewiss nicht in der Demokratie findet. Von Politik will der Normalbürger in seinem heimatlichen Umfeld nicht belästigt werden. Kretschmann beschwört hier ein völlig weltfremdes Wunschbild vom Herrn Jedermann als einem politisch engagierten Citoyen. So sind die Menschen aber nicht.

Ein kulturloser Patriotismus ist auch deshalb weltfremd, weil die demokratische Verfassung nun einmal nicht vom Himmel fiel, sondern unter Voraussetzungen entstand, die in einer kulturellen Entwicklung begründet sind. Das weiß Kretschmann auch selbst, wenn er schreibt, sein Konservatismus bestehe im Festhalten dessen, was „die zivilisierte Menschheit“ in entscheidenden Epochen „entwickelt hat“ (S. 125). Menschen mit einem „radikal verschiedenen“ kulturellen Hintergrund lehnen unsere Verfassung oft gerade deswegen ab, weil ihre Kultur – jedenfalls bis zu diesem Moment – nicht dieselbe Entwicklung durchgemacht hat. Der Zusammenhalt der Zivilgesellschaft aufgrund abstrakter Werte und Gesetze ist unrealistisch und eine gefährliche Utopie.

Außerdem gilt: Eine Demokratie stirbt nicht nur, wenn sie zu homogen ist, sie stirbt auch, wenn sie zu heterogen wird. Wenn die Vorstellungen der Bürger wirklich „radikal“ auseinanderlaufen, wie Kretschmann sagt, dann werden Kompromisse immer schwieriger und immer unbefriedigender und am Ende unmöglich. Unfreiwillig hat Kretschmann diese Bedingung für das Gelingen von Demokratie selbst ausgesprochen: „Ohne Kompromiss kann eine bunte und vielfältige Demokratie genauso wenig funktionieren wie ohne zivilisierten Streit.“ (S. 74) Kretschmann hat wohl bemerkt, dass Kompromisse bereits jetzt immer schwieriger werden, doch er denkt keine Sekunde daran, dass das vielleicht auch daran liegen könnte, dass es immer bunter zugeht. Jeden, der Kritik in dieser Richtung äußert, brandmarkt Kretschmann als „Völkischen“, „Populisten“ und „Nationalisten“, wieder und wieder und wieder (verdichtet z.B. S. 64-66), wie wenn es nur zwei Extreme gäbe und nichts dazwischen. Damit stellt er seinen eigenen extremen Standpunkt als alternativlos dar.

Verklemmtes Schielen nach der Kultur

Ein wichtiges Zugeständnis an die Kultur haben die Grünen jedoch inzwischen stillschweigend gemacht: Während sie noch in den 1990ern von „Zwangsgermanisierung“ sprachen, als man Kindern vor der Einschulung die deutsche Sprache beibringen wollte, haben inzwischen auch die Grünen verstanden und akzeptiert, dass es ohne die deutsche Sprache nicht geht. Auch Kretschmann selbst erzählt von seiner gelungenen Integration durch den schwäbischen Dialekt (S. 48).

Jetzt ist es aber so, dass die deutsche Sprache – und erst recht ein Dialekt – ein wesentlicher Bestandteil der umfassenderen deutschen Kultur ist. Bei den Verfechtern der reinen Lehre des abstrakten Verfassungspatriotismus, die Kretschmann anführt, gehört die Sprache jedoch nicht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt dazu. Ganz heimlich, still und leise weicht Kretschmann also von der reinen Lehre ab. Und die Spatzen pfeifen es von den Dächern: So wie es ohne die deutsche Sprache nicht geht, so gibt es noch viele weitere Aspekte der deutschen Kultur, ohne die eine Integration nicht gelingen kann. Weder in den Arbeitsmarkt, noch in die Gesellschaft, noch in die Verfassung. Doch nicht so für Kretschmann. Der faselt etwas von der „Liebe zum eigenen Land“ (S. 66), aber die Kultur dieses Landes meint er damit explizit nicht. Vermutlich hofft er aber darauf, dass seine Wähler irrtümlich denken, er würde das meinen, wenn er das sagt.

Ganz im Widerspruch zu Kretschmanns wiederholt vorgetragener Idee eines abstrakten Verfassungspatriotismus finden wir aber bei Kretschmann selbst viele Hinweise, dass Kultur für ihn sehr wohl dazu gehört. So spricht Kretschmann z.B. von der „Nation, die der Demokratie eine Heimstätte bietet und Identität vermittelt.“ (S. 93), oder er spricht die „identitätsstiftende und kulturell verbindende Kraft des Nationalstaats“ an (S. 97), oder er nennt die Erinnerungskultur, die zur deutschen Identität dazugehört. Es gäbe sogar „helle Kapitel“ der eigenen Geschichte (S. 98), meint Kretschmann, lässt diese aber ungenannt. Wir seien mehr durch die Nation geprägt, als manchem von uns lieb sei (S. 98), und selbst die „eigene Küche“ der verschiedenen europäischen Regionen wird von Kretschmann genannt (S. 106). Wie kann eine Region aber eine „eigene Küche“ haben, wenn sie nur durch die Gesetze zusammengehalten wird und es „radikal verschieden“ in ihr zugeht? Darüber scheint Kretschmann noch nie nachgedacht zu haben.

Auch die zutiefst kulturelle Prägung durch das Christentum wird thematisiert (S. 133), oder auch Aspekte wie Respekt, Wahrhaftigkeit, Höflichkeit (S. 134 f.), die „ihren Ort nicht in einem fernen Wertehimmel haben“, also Teil der Kultur sind, und sich nicht abstrakten Gesetzen verdanken. Man denke nur daran, wer z.B. in der traditionellen arabischen Kultur wem gegenüber Respekt erweist und wahrhaftig ist – es ist „radikal“ anders als bei uns, den Deutschen, aber Kretschmann blendet das aus und verheddert sich in heillosen Widersprüchen: Auf der einen Seite ist die „identitätsstiftende Kraft des Nationalen“ laut Kretschmann „nicht antiquiert und überflüssig“, und dabei denkt er an „Sprache, Kultur, Geschichte“ – aber nur wenige Zeilen später zitiert Kretschmann Joachim Gauck wieder mit dem Konzept des abstrakten Verfassungspatriotismus: „Wir müssen Nation neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat.“ (S. 99)

Der Ideologe Kretschmann weiß also darum, dass eine Nation effektiv durch ihre Kultur zusammengehalten wird, will aber zugleich zu einem anderen, utopischen Begriff von Nation übergehen, in dem der Zusammenhalt allein durch eine abstrakte Wertebasis gewährleistet werden soll. Verräterisch an Gaucks Formulierung ist das „… zu akzeptieren hat.“ (S. 99) Das hört sich sehr autoritär an. Und tatsächlich, um „radikal verschiedene“ Staatsbürger noch zusammenhalten zu können, bedarf es in der Tat eines autoritären Staates. Ab einem gewissen Grad der Verschiedenheit gibt es keine Kompromisse mehr, und damit keine Demokratie mehr. Und Kretschmanns Verschiedenheit ist nun einmal „radikal“.

Zu dieser autoritären Attitüde passt Kretschmanns Interpretation des „Sommermärchens“ der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland, die er den Deutschen überstülpt: Angeblich hätte sich damals ein heiteres Nationalgefühl durchgesetzt, das nationale Gemeinschaft in kultureller Vielfalt zelebriert hätte, und mit nationalen Symbolen wäre „nun“ (also erstmals?) nicht „martialisch“ umgegangen worden (S. 96). Das mag Kretschmanns Wunschtraum sein und es war ja gewiss ein weltoffenes Ereignis, aber die Umdeutung der Fans der deutschen Mannschaft zu glühenden Anhängern eines abstrakten Verfassungspatriotismus und zu Demonstranten für die Auflösung der deutschen Kultur in einer Multikulti-Vielfalt ist nur Kretschmanns Wunschdenken, das er uns allen gerne überstülpen möchte, es ist jedoch nicht die Realität. Und je mehr die Buntheit Deutschlands betont wird, desto übergestülpter – vulgo: autoritärer – wird es.

Integration ohne Kultur

In der Frage der Integration von Zuwanderern ist Kretschmann in den 1980er Jahren stehen geblieben. Er hat zwar das Wort „Multikulti“ durch das harmloser klingende „Vielfalt“ ersetzt, es läuft aber auf dasselbe hinaus. Wie gesehen glaubt Kretschmann, dass es zur Integration vollauf genügen würde, wenn man die Gesetze einhält und die deutsche Sprache lernt. Noch immer rühmt sich Kretschmann, dass Rot-Grün in den 2000ern angeblich das Abstammungsprinzip in der Staatsbürgerschaft beseitigt hat (S. 96). Doch in Wahrheit war es in der BRD schon immer möglich, Deutscher zu werden, auch ohne von Deutschen abzustammen. Man musste sich eben kulturell integrieren und einige Jahre warten, dann wurde man eingebürgert. So gab es z.B. bereits im Kaiserreich Deutsche schwarzer Hautfarbe. Was Rot-Grün in den 2000ern einführte, war etwas anderes. Es war das Prinzip, dass jedes Kind, das auf deutschem Boden geboren wird, automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhält. Egal, ob die Eltern nur vorübergehend in Deutschland wohnen. Egal, ob die Eltern das Kind danach deutsch erziehen oder nicht. Egal, ob die Eltern das überhaupt wollen! Es gibt tatsächlich Eltern, meist hochqualifizierte Mitarbeiter von ausländischen Firmen, die nur auf Zeit in Deutschland sind, die verärgert darauf reagieren, dass ihr Kind plötzlich und ungefragt zum deutschen Staatsbürger gemacht wird. Das Märchen von der Abschaffung des Abstammungsprinzips ist eine linke Lebenslüge: Opa Kretschmann erzählt vom Krieg …

Kein Gedanke Kretschmanns führt über das plumpe Multikulti der 1980er Jahre hinaus. Inzwischen haben so viele Zuwanderer Bücher veröffentlicht, was mit der Integration in Deutschland schief läuft, doch Kretschmann weiß davon nichts, will davon offenbar auch nichts wissen. Man denke nur an den Gedanken des Transkulturalismus von Seyran Ates, an die vielen Warnungen vor Parallelgesellschaften, oder an die immer wieder und wieder vorgetragene Erfahrung aller Migranten, die in der deutschen Gesellschaft angekommen sind: Dass sie nämlich aus irgendeinem Grund das Glück hatten, aus ihrem migrantischen Milieu heraus und in die deutsche Gesellschaft hinein zu kommen, z.B. durch Schulklassen, in der es „nicht so viele Ausländer“ gab.

Doch Kretschmann bleibt lieber bei linken Lebenslügen: Deutschland sei ein „reiches Land“ (S. 80) und außerdem ein „starkes Land“ (S. 82) und deshalb werde Integration gelingen. So schwätzt man dumm an den Problemen vorbei, denn abgesehen davon, dass Deutschland gewiss kein reiches Land ist, gibt es Dinge, die auch für viel Geld nicht zu kaufen sind, z.B. Schulklassen mit „nicht so vielen Ausländern“. Besonders stark ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland ebenfalls nicht mehr: Spätestens mit Merkels verantwortungsloser Zuwanderungspolitik von 2015, die von den Grünen fanatisch bejubelt wurde, ist die Ressource „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ aufgebraucht. Kretschmann sagte damals, dass er jeden Tag für Merkel beten würde.

Kretschmann gibt offen zu, dass die Politik landauf landab vor allem deshalb Krippen für Kleinkinder baut, weil „Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien“ das brauchen (S. 79). Da stellt sich doch die Frage: Warum haben wir so viele bildungsferne Migrantenfamilien im Land? Sollte eine kluge Zuwanderungspolitik nicht darauf achten, dass Zuwanderer in unsere hochtechnisierte Gesellschaft ein Minimum an Bildung mitbringen? Und dass bildungsferne Flüchtlinge nahe zu ihrem Heimatland untergebracht werden, statt sie nach Deutschland zu holen, wo sie am Arbeitsmarkt keine Chance haben? Nur um sie mit Nahrung und Obdach zu versorgen, brauchen wir sie jedenfalls nicht nach Deutschland zu holen.

Überhaupt sind diese Krippen nur ein verzweifelter Versuch, an den Kindern das zu reparieren, was man an den Erwachsenen versäumt. Denn eigentlich müsste man zuerst den Eltern gegenüber eine Erwartungshaltung formulieren und kulturelle Integration abverlangen. Aber das geht nach der Ideologie von Kretschmann nicht, denn mehr als legales Verhalten und Spracherwerb dürfe man nicht abverlangen, meint er. Also versuchen es die Grünen über die Krippe! Denn was heißt Krippe? In der Krippe wird den Kindern natürlich mehr als nur die Sprache beigebracht, nämlich vor allem auch ein gehöriges Maß unserer deutschen Kultur!

Kretschmann hofft, mithilfe der Krippen den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln zu können (S. 110). Aber was heißt denn „soziale Herkunft“? Es heißt natürlich, eine für den Bildungserfolg ungünstige Kultur zu haben, sei es eine Proll-Kultur, sei es eine religiös-traditionalistische Kultur. Und Bildungserfolg heißt in diesen Fällen, die für den Bildungserfolg ungünstige Kultur zu überwinden, und zu einer anderen Kultur zu gelangen, in der Bildungserfolg möglich wird, nämlich zu unserer Kultur, der deutschen Kultur. Die Krippen sollen also heimlich, still und leise das ausbügeln, was die Grünen nicht offen und öffentlich zu fordern wagen. Und die Grünen hoffen gegen alle Vernunft, dass eine solche Erziehung gegen die Eltern funktionieren wird. Sie übersehen die Macht der elterlichen Erziehung und des familiären Zusammenhalts gerade in migrantischen Großfamilien, und dass aus Kindern eines Tages Erwachsene werden – sobald die Krippenkinder nämlich erwachsen sind, getrauen sich die Grünen nicht mehr, irgendetwas von ihnen abzuverlangen.

Und dann sagt Kretschmann noch, man wolle Mütter keinesfalls dazu drängen, ihre Kinder in die Krippe zu geben (S. 79) – aber genau das geschieht. Es entsteht natürlich ein gewisser Sog und Druck, dass nun alle ihre Kinder in die Krippe geben, das ist doch klar.

Parallelgesellschaften sind bei Kretschmann kein Thema. Kretschmann kennt nur die beiden Pole Einheitsgesellschaft und Atomisierung der Gesellschaft (S. 51). Parallelgesellschaften kommen in diesem Gesellschaftsbild nicht vor. Diese Vorstellungswelt entspricht den Theorien von Hannah Arendt, die ihre Gedanken für eine westliche Gesellschaft entwickelte, die kulturell noch sehr homogen war. In Kretschmanns Denken sind die Zuwanderer also immer noch eine Minderheit in einer homogenen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Gefahr der Zersplitterung der Gesellschaft in „radikal verschiedene“ Parallelgesellschaften kommt in Kretschmanns Denken nicht vor. Kretschmann lebt in den 80ern.

Wirtschaftsmigranten möchte Kretschmann in ihre Herkunftsländer zurückführen (S. 81). Doch es sind gerade die Grünen, die das immer wieder hintertreiben. Und dann möchte Kretschmann Asyl und Einwanderung klar trennen (S. 81 f.). Doch es sind die Grünen, die in der neuen Ampelkoalition ab 2021 den „Spurwechsel“ eingeführt haben, der diese beiden Bereiche vermischt.

Zum Thema Islam

Der Islam wird bei Kretschmann wiederholt grundsätzlich positiv dargestellt. So heißt es z.B., dass die Muslime den Terror „in ihrer überwältigenden Mehrheit ebenso verabscheuen wie der Rest der Bevölkerung.“ (S. 30) Ein „zeitgemäßer und weltoffener Islam“ könne wichtige Beiträge zur Gesellschaft leisten (S. 58). Islamischen Religionsunterricht müsse es für Muslime genauso geben wie für Christen, damit Muslime „ihre Religion authentisch und profund kennenlernen.“ (S. 90) Der Islam gehöre selbstverständlich zu Deutschland (S. 91). Kretschmann zeichnet damit ein Bild des Islam, als ob es mit dem Islam keinerlei Probleme gäbe. Islam und Islamismus sind bei Kretschmann sauber voneinander geschieden (S. 91).

Kretschmann verkennt, dass die Probleme mit dem Islam nicht so sauber vom Islam abgespalten werden können, wie er sich das mit dem Islamismus vorstellt. Das Hauptproblem ist nämlich gar nicht der Islamismus, sondern der Traditionalismus. Der Islam ist eine Religion wie jede andere auch, das ist wahr, und auch der Islam kann vernünftig ausgelegt werden, so wie man es inzwischen vom Christentum her gewohnt ist – doch in aller Regel wird der Islam eben leider nicht vernünftig sondern traditionalistisch ausgelegt. Und wieder sind wir bei der deutschen Kultur und deren kulturellen Entwicklung angelangt: Deutschland ist von jeher als der weltweite Treiber religiöser Reformen bekannt: Von Martin Luther und der Reformation über die in Deutschland entwickelte historisch-kritische Lesart der Bibel bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil, an dem der deutsche Papst Benedikt XVI. als Konzilstheologe teilnahm. Ohne diese kulturelle Entwicklung bleibt Religion mittelalterlich.

Nur ein einziger Satz verrät, dass auch Kretschmann um die Probleme weiß: „Ob auch der Islam mit seiner reichen Tradition und Kultur in Zukunft unser Gemeinwesen aktiv mitprägen … wird – das wird vor allem von ihm selbst abhängen. Eine wichtige Rolle spielt, wie willens und fähig er ist, sich … zu ‚inkulturieren‘, sich also für die europäische Kultur und Lebensweise zu öffnen …“ (S. 91) – Damit widerspricht Kretschmann wieder einmal allem, was er bis zu diesem Moment in seinem Büchlein geschrieben hatte. Erstens gibt es also doch ein Problem mit dem Islam und nicht nur mit dem Islamismus, sonst wäre dieser Satz überflüssig. Das Zauberwort, das nicht ausgesprochen wird, lautet: Traditionalismus. Zweitens genügen der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und das Erlernen der Sprache offenbar doch nicht, um sich zu integrieren – die Kultur gehört ganz offensichtlich auch dazu. Kretschmann spricht sogar explizit von „inkulturieren“: Wie passt das denn mit einem abstrakten, kulturlosen Verfassungspatriotismus zusammen?!

Der Satz verrät aber noch ein Drittes: Kretschmann meint also, dass der Islam nicht „mitspielen“ darf, sofern dieser sich nicht inkulturiert. Aber was, wenn der Islam trotzdem damit anfängt „mitzuspielen“, obwohl das „verboten“ ist? Unsere Verfassung ist nicht in Stein gemeißelt, sondern lebt allein dadurch, dass sie von den Bürgern getragen wird. Wenn eines Tages größere Anteile der Menschen in Deutschland die Verfassung nicht mehr tragen, dann wird alles, was uns bisher lieb und teuer war, zur Verhandlungsmasse. Kretschmann scheint eine solche Entwicklung aber nicht eine Sekunde für möglich zu halten. Der Gedanke existiert bei ihm einfach nicht.

Kretschmann schweigt über den verbreiteten Traditionalismus. Er schweigt auch über den hohen Organisationsgrad der Traditionalisten, und dass die Bundesregierung bisher immer mit den Traditionalisten gekungelt hat, statt die Vernünftigen zu fördern. Und er schweigt über die schwerwiegende Problematik der massiven und gezielten Beeinflussung der Muslime in Deutschland aus ihren Herkunftsländern, gegen die Kretschmann und Konsorten nicht allzuviel unternehmen. Kretschmann bevorzugt es, die angeblich so gut funktionierende Partnerschaft von Staat und Religionsgemeinschaften zu beschwören, auch für den Islam, obwohl er doch ganz genau weiß, dass die islamischen Religionsgemeinschaften, die der Staat bisher gepäppelt hat, nicht besonders demokratisch sind – doch davon schweigt er (S. 88).

Auch das Fanal der Kölner Silvesternacht 2015 wird von Kretschmann mit Scheuklappen gedeutet (S. 68). Kretschmann sorgt sich weder um die Frauen, die damals zu Schaden gekommen sind, noch um die bittere Realität in den Köpfen vieler junger Muslime, die damals offen sichtbar wurde. Nein! Kretschmann sorgt sich vielmehr darum, dass aufgrund des Ereignisses viele Bürger „Ressentiments gegenüber Flüchtlingen im Allgemeinen“ entwickeln könnten, oder dass viele Bürger denken könnten, dass Politik und Medien etwas bewusst verheimlicht hatten. – Kretschmann verschwendet keine Sekunde an den Gedanken, dass Politik und Medien vielleicht tatsächlich eine Tendenz zur Verheimlichung solcher Umstände haben! Oder dass Kritik an der schwierigen Integrierbarkeit vieler, ja der meisten Migranten aus Nahost demokratisch völlig gerechtfertigt, ja sogar notwendig ist! Und so schließt Kretschmann messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Das aber ist verantwortungslos.

Kretschmann tut immer noch so, oder glaubt vielleicht tatsächlich daran, dass es beim Islam um Probleme ginge, die man noch „unter dem Radar“ und von der breiten Bevölkerung unbemerkt lösen könnte, bevor sie allzu sichtbar werden und bevor der islamische Traditionalismus zu stark wird. Immerhin: Dass die Probleme grundsätzlich lösbar sind, ist richtig. Denn anders als AfD und viele Linke glauben, muss der Islam keineswegs so akzeptiert werden, wie er nun einmal ist, sondern es kann und muss zwischen Traditionalisten und Vernünftigen unterschieden werden. Die einen kann man päppeln, die anderen kann man deckeln. Doch wirklich lösen wird man diese Probleme „unter dem Radar“ nicht mehr. Dazu bedarf es eines deutlichen Kurswechsels, an dessen Anfang die Größe des Problems klar benannt werden muss. Bei Kretschmann ist von einer solchen Lösung jedoch nichts zu sehen. Bei Kretschmann stimmt noch nicht einmal die Analyse des Problems.

Thema Europäische Union

Die Ansichten von Kretschmann zur EU sind vollkommen antiquiert. So glaubt er z.B., die Kritik vieler Menschen an der EU würden sich am „Klein-Klein“ der EU festmachen, also z.B an der Gurkenkrümmungsverordnung (S. 30). Das war einmal in den 1980er Jahren. Heute gibt es ganz andere, viel gewichtigere Kritikpunkte:

  • Das Bail-out südeuropäischer Staaten auf Kosten der nordeuropäischen Staaten, obwohl das in den Verträgen klar ausgeschlossen ist.
  • Die Verursachung von Massenarbeitslosigkeit in südeuropäischen Staaten. (Merkel: Die können ja zu uns kommen, wir ha’m Arbeit.)
  • Die monetäre Gängelung südeuropäischer Staaten durch nordeuropäische Staaten (psychologisch wahnsinnig intelligent /irony-off).
  • Die Staatsfinanzierung durch die EZB, obwohl das in den Verträgen klar ausgeschlossen ist.
  • Das Anheizen der Inflation durch die EZB, die wiederum nichts gegen die Inflation unternehmen und die Zinsen nicht anheben kann, weil sonst das ganze Kartenhaus zusammenbricht.
  • Eine Folge davon sind die exorbitant gestiegenen Preise für Immobilien.
  • Das Erlauben von gemeinsamen EU-Staatsschulden, obwohl das in den Verträgen ausgeschlossen ist – zuerst als einmalige Ausnahme angekündigt, aber zugleich mit der Aussage des baldigen Bundeskanzler Olaf Scholz versehen, dass das kein einmaliger Vorgang bleiben sondern zur ständigen Praxis werden solle.
  • Das Anmaßen von immer mehr Rechten auf EU-Ebene, obwohl die Verträge anderes sagen. So beansprucht z.B. der Europäische Gerichtshof, unterstützt von der EU-Kommission und von Merkel, die Oberhoheit über das deutsche Bundesverfassungsgericht, wodurch die deutsche Verfassung endgültig ausgehebelt wird. Denn bislang galt das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verträge und achtete darauf, dass jede Abgabe an Zuständigkeiten nach Brüssel immer noch (gerade so eben) den Vorgaben der deutschen Verfassung genügte.
  • Obwohl die EU-Ebene immer mehr Macht bekommt, bleibt das Demokratiedefizit auf EU-Ebene unverändert bestehen. (Martin Schulz: Wenn die EU die Aufnahme in die EU beantragen würde, würde sie abgelehnt, weil sie nicht demokratisch genug ist.)
  • Absolut tödlich für den demokratischen Geist der EU war die Aussage von Jean-Claude Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ (1999)
  • Die Bestrebungen zur „Harmonisierung“ der EU nehmen auf die nationalen Kulturen immer weniger Rücksicht.

Doch über alle diese Kritikpunkte findet sich in Kretschmanns Büchlein – nichts. Einfach nichts. Entweder lebt Kretschmann geistig tatsächlich immer noch in 1980er Jahren, oder er verschweigt diese Problem bewusst, weil er auch hier glaubt, dass man diese Problem „unter dem Radar“ lösen könnte, wie beim Islam – oder vielleicht glaubt er das auch nicht mehr: Dann möchte er das unabweisbare Aufschlagen dieser Probleme in der Realität in verantwortungsloser Weise hinauszögern bis es nicht mehr geht.

Kretschmann spricht lieber von der angeblich „einmaligen Erfolgsgeschichte von Frieden, Freiheit und Wohlstand“ der EU (S. 30, ähnlich S. 93). Oder davon, dass wir dem „vereinten Europa“ angeblich „70 Jahre Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand verdanken.“ (S. 105). – Das ist falsch. Wir verdanken die Demokratie, die Freiheit, den Wohlstand und auch den Frieden zuerst und vor allem den Amerikanern. Die Amerikaner sind nach 1945 – anders als nach 1918 – in Westeuropa geblieben, haben den Deutschen die Demokratie und die Marktwirtschaft verordnet, und haben insbesondere den Frieden gegen die Aggression der Sowjetunion bewahrt. Und zwar maßgeblich durch die Drohung mit der Atombombe und der Stationierung der Pershing II Raketen. Die Legende, dass wir das alles der EU verdanken würden, ist eine glatte Geschichtsfälschung. Und wie lange sich die Europäer untereinander vertragen würden, sollten die Amerikaner jemals wieder abziehen, steht in den Sternen. Schon 1914 glaubten viele, dass ein großer Krieg nicht mehr möglich ist, weil die ökonomischen Verflechtungen der Staaten zu groß sind. Ein Irrtum.

Kretschmann zitiert auch Immanuel Kant: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann.“ (S. 138) – Das ist ein schöner Gedanke, der durch die Realität leider zu oft widerlegt worden ist. Umgekehrt hört es sich realistischer an: Es ist der Handelsgeist, der den Krieg beschwört. Denn Handelsinteressen haben schon so manchen Krieg bewirkt. Kretschmann ist auch hier auf dem Holzweg.

Ebenfalls auf dem Holzweg ist Kretschmann mit seiner Einschätzung, dass die EU auf dem Balkan ein „Sehnsuchtsort“ sei (S. 137). Natürlich will man auf dem Balkan unser Geld. Und natürlich will man dort die Truppen der EU, damit niemand mehr auf dumme Gedanken kommt. Aber ein Sehnsuchtsort? Die Menschen auf dem Balkan wissen sehr genau um die Defizite und Illusionen der EU, denn sie erfahren sie unter EU-Verwaltung Tag für Tag am eigenen Leib. Es gibt inzwischen Artikel, Bücher und Filme, die sich über den Irrsinn der EU-Verwaltung auf dem Balkan lustig machen. Kretschmann scheint davon nie etwas gehört zu haben.

Die EU konnte sich in den 1990er Jahren zuerst nicht auf ein Eingreifen auf dem Balkan einigen, weil die einen die Serben favorisierten, die anderen die Kroaten, und wieder andere wollten ihren Traum vom Multikulti-Gebilde Jugoslawien retten. Dann kam das Massaker von Srebrenica, und es wurde gehandelt – von den Amerikanern. In Deutschland musste Joschka Fischer erst seine Grünen zum Jagen tragen, die „wegen der Geschichte“ und aus einer radikal-pazifistischen Einstellung heraus nicht eingreifen wollten. Bis heute versucht die EU ihre Illusionen von Multikulti im Balkan zu verwirklichen, gegen die Lebenswirklichkeit der Menschen dort.

Nach allem was geschehen ist, müssen diese Völker und Nationen sich erst einmal selbst finden, ohne die jeweils anderen. Erst wenn sich Völker ihrer selbst sicher sind, können sie auf andere Völker zugehen, ohne Angst zu haben, über den Tisch gezogen zu werden – wie einst im ehemaligen Jugoslawien, wo natürlich die Serben alle anderen über den Tisch zogen. Für Kroatien ist das inzwischen verstanden worden. Doch in Bosnien versucht die EU weiterhin, die Multikulti-Illusion aufrecht zu erhalten. Dort träumt man auch von einem europäischen Islam, und ignoriert deshalb tapfer, wie die bosnisch-muslimische Geistlichkeit mit Islamisten kungelt. Bei Kretschmann erfährt man von all dem nichts.

Kretschmann will auch die kulturellen Unterschiede in Europa nicht sehen. Seiner Meinung nach bestünden die europäischen Nationalkulturen zu 80% aus europäischem Gemeingut – deshalb sei auch der Gedanke einer deutschen Leitkultur unsinnig (S. 125 f.). Offenbar hat Kretschmann keine realistische Vorstellung davon, wie groß die kulturellen Unterschiede zwischen den europäischen Völkern tatsächlich sind. Kretschmann glaubt ja auch, zur Integration genügten Gesetze und Landessprache. Aber man wird doch nicht zu einem waschechten Italiener oder Griechen, indem man Italienisch oder Griechisch lernt: Das ist doch lächerlich! Zwischen Deutschland und Italien oder Griechenland liegen Welten.

Zudem glaubt Kretschmann, dass die europäischen Nationalstaaten gerade einmal 200 Jahre alt sind (S. 126). Das ist natürlich einfach nur falsch. Nur die geistige Bewegung des Nationalismus ist 200 Jahre alt. Die Nationalstaaten jedoch reichen in ihrer Geschichte mindestens bis zur Völkerwanderung zurück, wenn nicht noch weiter. Der Gegensatz von Frankreich und Deutschland wurde z.B. schon durch die Verschiedenheit von Galliern und Germanen markiert. Und dadurch, dass die Römer zwar Gallien eroberten, Germanien jedoch nur zum kleinen Teil. Und schließlich natürlich auch durch die Aufteilung des Reiches Karls des Großen in ein West- und ein Ostreich. Ähnliches lässt sich von anderen europäischen Staaten erzählen. All das ist viel länger her als 200 Jahre. Deshalb reichen die kulturellen Unterschiede auch viel tiefer, als Kretschmann glaubt.

Kretschmann stellt den Leser auch beim Thema EU vor die falsche Alternative: Entweder die EU wie sie nun einmal ist, oder Nationalismus (S. 137). Offenbar will Kretschmann auch hier nicht, dass seine Leser über dritte Wege jenseits der Extreme nachdenken. Immer wieder stellt Kretschmann seine Politik als alternativlos hin: Entweder Europa oder die Populisten. Die Bewegung „Pulse of Europe“ gilt ihm als Hoffnungszeichen (S. 105). Aber damit tappt Kretschmann schon wieder in die Falle eines Selbstwiderspruchs: Denn wie man las, ist das Zeigen der deutschen Nationalfahne bei „Pulse of Europe“ äußerst verpönt. Wie passt das mit Kretschmanns Einschätzung zusammen, wie schön es doch war, dass beim Fußball-Sommermärchen 2006 die deutsche Nationalfahne angeblich erstmals nicht in martialischer sondern in inklusiver Weise gezeigt wurde? (S. 96) „Pulse of Europe“ sind eben die Radikalen, die die Nationalstaaten am liebsten zugunsten eines EU-Zentralstaates abschaffen würden. Auch Kretschmann will die Nationalstaaten auf einen abstrakten Verfassungspatriotismus ohne Nationalkultur verpflichten, wie er mit dem schon angeführten Zitat von Gauck deutlich machte: „Wir müssen Nation neu definieren: als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat.“ (S. 99)

Thema Umwelt

Man hätte von einem grünen Ministerpräsidenten erwarten können, dass er mehr zum Thema Umwelt- und Klimaschutz sagt. Doch das tut er nicht. Dabei wollen die Grünen eine große Transformation der Gesellschaft, die alle Lebensbereiche umfasst, so dass mehr als genug dazu zu sagen gewesen wäre.

Was Kretschmann in wenigen Sätzen dazu skizziert, genügt jedoch, den ideologischen Standpunkt zu erkennen. Kretschmann will Umweltgütern Preisschilder umhängen (S. 111). Das ist jedoch hochproblematisch, da Preise, die nicht von einem freien Markt festgesetzt werden, reine Willkür sind und in Planwirtschaft münden. Am Ende werden die Ressourcen völlig falsch allokiert und die Wohlstandseffekte der Marktwirtschaft gehen weitgehend verloren. Um alternative Technologien zu fördern und um Ausgleich für ärmere Menschen zu schaffen, kommt außerdem eine riesige Umverteilungsmaschinerie in Gang, die die freie Marktwirtschaft erdrücken wird. Kretschmann ist aber von keinen Bedenken getrübt, denn er glaubt zu wissen, wie die Zukunft aussieht, nämlich Elektroautos und Öffentlicher Personenverkehr (S. 115). Und natürlich keine Atomkraftwerke.

Was aber, wenn Kretschmann sich täuscht? Dann ist die gesamte deutsche Ökonomie von der Politik auf ein falsches Ziel hin ausgerichtet worden. Das Risiko ist groß. Und die große, grüne Transformation betrifft praktisch alle Lebensbereiche. Das Risiko ist nicht nur ökonomisch hoch, es ist auch machttechnisch hoch, denn über den massiven Eingriffen des Staates wird auch die Demokratie leiden. Es kann gar nicht anders sein bei einem so gigantischen Vorhaben, das alle Lebensbereiche betrifft. Mit ein wenig Küchen-Mathematik kann ohnehin jeder schnell selbst feststellen, dass die angestrebten Ziele utopisch sind. Was aber geschieht, wenn Ideologen ihre Ziele nicht erreichen? Sie ziehen die Daumenschrauben ihrer Ideologie noch fester an. Hoffen wir auf ein gutes Schicksal, das die Ideologen alsbald wieder von der Macht vertrieben werden!

Über die Atomkraft wird gesprochen, wie wenn wir noch in den 80er-Jahren wären: Der Leser bekommt die volle Breitseite der damaligen Anti-Atom-Bewegung ab, ohne jede Differenzierung und ohne jedes Update auf den heutigen Stand der Atomtechnik (S. 35). Kretschmann erwähnt auch kurz das Bevölkerungswachstum des Planeten (S. 111), geht aber nicht weiter darauf ein. Zumindest dem Leser scheint es offensichtlich, dass Ökologie auch bei der Zahl der Menschen ansetzen muss, die auf diesem Planeten leben, nicht nur bei Atomkraftwerken und Autos. Aber von Kretschmann kein Wort dazu.

Kretschmann verkennt die Zeichen der Zeit

Wir haben bis zu diesem Punkt schon viele Themen gesehen, in denen Kretschmann sich geistig noch in den 1980er Jahren bewegt und völlig an der Problematik vorbei redet. Dem wollen wir noch einige Punkte unabhängig von bestimmten Themen hinzufügen.

Den Populisten wirft Kretschmann vor, sie würden die Welt in „wir“ und „die“ spalten (S. 11). Die Wahrheit ist natürlich, dass Kretschmann das auch tut, und zwar in derselben falschen Radikalität und Pseudo-Logik wie es Populisten tun. Das ganze Buch hindurch. Indem er legitime Kritiker zu Populisten stempelt, verengt er das demokratische Spektrum auf unzulässige Weise. Immerhin meint Kretschmann, dass Minderheiten in der Demokratie faire Bedingungen haben müssen, um zur Mehrheit werden zu können: „Die Narren von heute können die Helden von morgen sein“ (S. 62). Wenn man jedoch sieht, wie Kretschmann alle Kritik in die populistische Ecke verbannt und immer wieder und wieder geißelt, hat man nicht das Gefühl, dass Kretschmann diese Maxime wirklich lebt. Von Sokrates hat Kretschmann gelernt, dass kein Wissen völlig sicher ist – doch die Populisten würden „wissenschaftliche Tatsachen einfach ohne jedes Gegenargument“ bestreiten, z.B. beim Klimawandel (S. 127). Das ist einfach nur falsch. Es gibt gegen Kretschmanns Vorstellungen von Klimawandel, Migration, Integration, Nation, Europa usw. viele gute und kluge Einwände, die alle wohlbegründet sind, und nicht jeder Kritiker ist ein primitiver Populist und Nationalist. Kretschmann erweckt an keiner Stelle seines Büchleins den Eindruck, dass er offen für Debatten wäre, bei ihm ist fast alles alternativlos – wie bei Merkel.

Kretschmann verwendet wiederholt den Begriff der „liberalen Demokratie“ (S. 8, 71). Er begreift nicht, dass er damit ein antidemokratisches Reizwort benutzt. Denn einerseits ist die Demokratie von Natur aus liberal in dem Sinne, dass in der Demokratie viele Meinungen fair und dauerhaft im Wettbewerb stehen. Andererseits ist die Demokratie keinesfalls liberal in dem Sinne, dass immer nur die „liberalen“ Kräfte Wahlen gewinnen dürfen und Konservative nicht. Das Wort Demokratie mit einem Zusatz zu versehen – welcher Zusatz es auch immer sei – zeigt immer eine Schmälerung der Demokratie an. Denn das bedeutet ja, dass nicht die Demokratie an sich akzeptiert wird, sondern nur eine Demokratie, die ein erwünschtes Ergebnis produziert. Und das geht nicht. Das Gerede von der „liberalen Demokratie“, das in den letzten Jahren eingerissen ist, ist hochgradig schädlich für die Demokratie. Wenn man z.B. der Meinung ist, dass Ungarn keine Demokratie mehr ist, weil es keinen fairen und dauerhaften Wettbewerb der Meinungen mehr gibt, dann sollte man das so sagen, und nicht davon faseln, dass Ungarn keine „liberale Demokratie“ mehr ist. Das hört sich nämlich so an, als ob Ungarn sehr wohl noch eine Demokratie ist, nur dass einem die Wahlergebnisse nicht passen.

Vielleicht ist an der Aushöhlung des Rechtsstaatsprinzips, das Kretschmann im Hinblick auf bestimmte EU-Mitgliedsländer beklagt, tatsächlich etwas dran (S. 130). Das Problem ist jedoch: Kretschmann ist völlig blind dafür, dass Deutschland und die EU nicht besser sind, sondern ein böses Vorbild geben: Das ganze Euro-System ist seit der Finanzkrise auf einer ganzen Reihe von Vertragsbrüchen aufgebaut, und eine Rückkehr zu den Verträgen – oder deren Anpassung – ist nicht in Sicht. In der Migrationspolitik gibt es zwischen nationalem Recht und den Dublin-Abkommen einen solchen Verhau an gesetzlichen Regelungen, dass kein Mensch mehr weiß, was hier wirklich noch Recht ist – und auch das ist ein schweres Problem für einen Rechtsstaat, denn am Ende bedeutet das Willkür. Weitere Beispiele von Verstößen gegen die Verträge haben wird bereits oben aufgelistet. In Deutschland wurden die Atomkraftwerke nach dem Tsunami von Fukushima aufgrund eines Beschlusses von Bundeskanzlerin Merkel heruntergefahren, obwohl der Bundeskanzler gar nicht die Befugnis dazu hat, sondern die Länder. In einem hessischen Untersuchungsausschuss zu den dadurch entstandenen Schadensersatzansprüchen der Atomkraftwerksbetreiber sagte Merkel dann nonchalant, sie habe mit dem Herunterfahren der Atomkraftwerke nicht das geringste zu tun, das sei Ländersache. In der Corona-Krise hat man „genehme“ Demonstrationen und Veranstaltungen wie z.B. Black Lives Matter und den Christopher Street Day trotz Corona geduldet, zugleich aber Corona-kritische Demos wegen Corona verboten. Der deutsche Verfassungsschutz verkündet öffentlich, dass er eine Partei als „Prüffall“ einstuft, was er natürlich nicht darf, weil es – logischerweise – vorauseilend rufschädigend ist, solange noch geprüft wird. Sehr bedenklich ist auch, dass es fast schon zur Gewohnheit geworden ist, dass die Wahlplakate „rechter“ Parteien von linken Banden systematisch und flächendeckend zerstört werden. Ein demokratischer Rechtsstaat würde dies niemals zulassen. Auch die Konstruktion und Vorgehensweise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland gibt vielfach Anlass zu Bedenken. Die Liste der rechtsstaatlich problematischen Aktionen auf europäischer und deutscher Ebene ließe sich beliebig verlängern, aber Kretschmann tut so, als gäbe es das nur bei den „Populisten“ in Polen und Ungarn.

Kretschmann wettert gegen die Bezeichnung der etablierten politischen Parteien als „Kartellparteien“, und gegen die Kritik, dass die Parteien kaum mehr voneinander zu unterscheiden seien (S. 72) – diskutiert aber keine Sekunde lang das reale Problem, dass die Parteien inhaltlich tatsächlich immer enger zusammengerückt sind und auf diese Weise immer größere Teile des politischen Spektrums ohne Repräsentanz sind. So gibt es z.B. zwischen der Merkel-Mitte und der rechtsradikalen AfD keine liberalkonservative Partei mehr. Kretschmann schweigt dazu. Nur eine Seite später meint Kretschmann dann, die FDP hätte 2017 gefälligst in eine Regierung mit Merkel und den Grünen eintreten müssen, was die FDP damals nicht tat, denn: „Lieber gar nicht regieren als schlecht.“ – Doch Kretschmann meint, zur Rettung der „liberalen Demokratie“ hätte die FDP über ihren eigenen Schatten springen sollen (S. 72 f.). Damit bestätigt Kretschmann, dass er das System der etablierten Parteien für wichtiger hält als die politischen Inhalte, wegen der die Parteien von ihren Wählern gewählt werden. Kretschmanns Meinung ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Kretschmann spricht sich für eine Kultur des Gehörtwerdens aus (S. 54). Doch vom Gehörtwerden haben die Bürger längst genug. Schon oft hat die Obrigkeit zugehört und dann doch ganz anders entschieden. Die Bürger wollen mit ihrer Stimme endlich wieder tatsächliche Entscheidungen über die politische Richtung selbst treffen können. Dass Kretschmann nicht gut zuhören kann, zeigt das ganze Buch: Seiner Meinung nach sind die Menschen im Land durch lauter „grüne“ und „linke“ Themen verunsichert, für die die Grünen genau die richtigen Lösungen anzubieten haben: Flüchtlinge, Globalisierung, Klima, Artensterben, das Klein-Klein der EU, Islamismus (S. 28-30), oder auch: Klimakrise, Digitalisierung, Wohnungsmangel, Pflegenotstand (S. 8 f.). Dass die Menschen auch durch „konservative“ Themen verunsichert sein könnten, kommt Kretschmann nicht in den Sinn. Er sieht diese Probleme gar nicht, wie wir oben ausführlich diskutiert haben. Eine solche Unkultur des Nichtgehörtwerdens der „Untertanen“ soll der Landesfürst Kretschmann lieber gleich bleiben lassen.

In einem Punkt hat Kretschmann allerdings Recht: Volksentscheide können zur Befriedung einer Frage beitragen, so z.B. der Volksentscheid zum Umbau des Stuttgarter Bahnhofes (S. 61). Zugleich hört man aber nichts davon, dass sich die Grünen in irgendeiner Form für mehr Volksentscheide einsetzen würden.

Gravierende Sachfehler

Zuguterletzt sind Kretschmann auch einige gravierende Sachfehler unterlaufen. Einige davon hatten wir bereits kennengelernt, so z.B. die falsche These, dass die EU seit 70 Jahren Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa garantiert hätte. Dazu passt, dass Kretschmann Donald Trump wiederholt vorwirft, er hätte mit dem Ende der NATO gedroht (S. 134-137). Dabei verschweigt Kretschmann, dass Donald Trump vor allem Vertragstreue eingefordert hatte, denn Deutschland verfehlt schon seit langem sein vertraglich vereinbartes Ziel, mindestens 2% des BIP für Verteidigung auszugeben. Und das letzte Mittel, um gegen Vertragsbruch vorzugehen, ist natürlich die Drohung mit dem Ende des Vertrages. Oder anders formuliert: Es ging nie darum, dass Trump die NATO beenden wollte, sondern es ging immer nur darum, dass Deutschland die Verträge nicht erfüllen wollte. Ironischerweise lobte Kretschmann auf derselben Seite 136 nur wenige Zeilen zuvor die Tugend der Vertragstreue! So scheitert Kretschmann einmal mehr an seinen eigenen Halbwahrheiten und Selbstwidersprüchen.

Ein ähnliches Märchen erzählt Kretschmann über einen angeblich „weltweiten Siegeszug“ der erneuerbaren Energien, statt der Atomkraft (S. 36). Es gibt keinen solchen Siegeszug, und die Atomkraft erlebt gerade im Zeichen der Klimakrise eine fulminante Renaissance. Selbst Greta Thunberg sprach sich schon für die Atomkraft aus.

Zur Klimathematik präsentiert Kretschmann nur das Schlimmste (S. 38 ff.): Da wird der radikale Potsdam-Forscher Schellnhuber mit den Worten zitiert, dass die Klimakrise „wie ein Asteroideneinschlag“ sei. Sämtliche Waldbrände, Stürme und Fluten der letzten Zeit werden ohne Umschweife dem Klima zugeschrieben. Dann natürlich die gar schröcklichen Kipppunkte, die in der Wissenschaft jedoch sehr umstritten sind. Nur die radikalen Potsdam-Forscher von Merkels Gnaden glauben ganz fest daran. Und zuguterletzt: „Schon heute zwingt der Klimawandel mehr Menschen zur Flucht als alle Kriege zusammen.“ (S. 40) Mit Verlaub: Das ist kompletter Blödsinn. Bislang gibt es keinen einzigen Flüchtling, der anerkanntermaßen wegen des Klimas fliehen musste. Wenn man natürlich sämtliche Wetterkatastrophen zu Klimakatastrophen umdefiniert, was völlig unzulässig ist, kommen schon ein paar Flüchtlinge zusammen – doch dann sind es immer noch viel weniger als die übergroße Zahl der Kriegsflüchtlinge. Mit dieser Aussage hat sich Kretschmann grob vergriffen.

Einen sehr schwerwiegenden Fehler begeht Kretschmann, wenn er die Verteuerung von Wohnraum mit „Marktversagen“ begründet (S. 109). Denn damit verschleiert Kretschmann die wahren Gründe und betreibt plumpe antikapitalistische Propaganda. In Wahrheit verdankt sich die Verteuerung der Wohnungen natürlich seiner Europa-Politik, zu der das Gelddrucken der EZB zentral dazu gehört; sie verdankt sich auch seiner Energiewende-Politik, denn immer mehr Umweltvorschriften verteuern das Bauen; und sie verdankt sich zu einem kleineren Teil auch seiner Migrationspolitik, denn wer 1,5 Mio. Migranten ins Land lässt, darf sich nicht wundern, wenn der Wohnraum knapp wird (das ist nicht die Schuld der Migranten). Kurz: Kretschmann ist schuld, und nicht der „böse“ Markt! Man muss sich klar machen, dass der, der diese grobe Unwahrheit in die Welt setzt, und womöglich auch noch selbst daran glaubt, Ministerpräsident ist und Macht über uns hat!

Zu allerletzt: Hannah Arendt!

Kretschmann hält sich einiges darauf zugute, seine Politik auf Hannah Arendt, die große Theoretikerin der Politik, zu stützen, doch ausgerechnet sein zentrales Zitat von Hannah Arendt wird von ihm nur verstümmelt wiedergegeben und völlig sinnwidrig gedeutet. Kretschmann zitiert Hannah Arendt in indirekter Rede wie folgt:

„Ihr zufolge ist die Verschiedenheit der einzelnen Menschen innerhalb einer Gesellschaft sogar größer als die relative Verschiedenheit von Völkern, Nationen oder Rassen. Diesen Gedanken muss man in seiner ganzen Radikalität erfassen“, meint Kretschmann (S. 49 f.). Hierher kommt also Kretschmanns Rede von der „radikalen Verschiedenheit“.

Wenn wir aber das Originalzitat nachschlagen (in: Was ist Politik? Fragment 1), dann lesen wir dort:

„In der absoluten Verschiedenheit aller Menschen voneinander, die größer ist als die relative Verschiedenheit von Völkern, Nationen oder Rassen, ist in der Pluralität die Schöpfung des Menschen durch Gott enthalten. Hiermit aber hat Politik gerade nichts zu schaffen. Politik organisiert ja von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Gleichheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen.“

Hannah Arendt ist hier ganz deutlich: Die radikale Verschiedenheit, die sie hier meint, ist eine überpolitische, quasi-religiöse Verschiedenheit. Deshalb hat Politik damit gerade nichts zu schaffen! Denn Politik organisiert die quasi-religiös absolut Verschiedenen im Hinblick auf ihre relative Gleichheit!

Damit bricht Kretschmanns Kartenhaus einer Begründung durch Hannah Arendt für seinen Traum einer Gesellschaft der „radikal Verschiedenen“, die nur durch einen abstrakten Verfassungspatriotismus zusammengehalten wird, in sich zusammen. Kretschmann hat nicht ohne Grund den ersten Teil des Zitates nur in indirekter Rede wiedergegeben, und die beiden Teile „ist in der Pluralität die Schöpfung des Menschen durch Gott enthalten“ und „Hiermit aber hat Politik gerade nichts zu schaffen“ einfach weggelassen.

Mit Hannah Arendt können wir also sagen, dass Kretschmanns Vision einer Gesellschaft der „radikal Verschiedenen“ keine politische sondern eine quasi-religiöse ist, und wo immer die Politik versucht, quasi-religiöse Ansprüche im Hier und Jetzt zu verwirklichen, da wird sie zur bösen Utopie, die natürlich an der Realität scheitern muss.

Bewertung: 1 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung einer stark gekürzten Fassung auf Amazon 23. Januar 2022)

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