Schlagwort: Jules Verne

Andreas Wilhelm: Die Projekt-Trilogie (2006/2007/2009)

Projekt Babylon (2006): Spannend – Interessant – Geistreich

Ein wirklich gelungener Roman. Andreas Wilhelm ist viel mehr als der „deutsche Dan Brown“. Sein Forschertrio ist viel besser geeignet, eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit im Dickicht der Mythen und Überlieferungen darzustellen, weil Skepsis, Pragmatik und Herz viel besser repräsentiert werden. Hier wird nicht einfach an Übersinnliches geglaubt – es wird aber auch nicht zu trocken – und die weibliche Komponente wird nicht so seltsam ignoriert, wie bei Dan Brown. Auch erfindet Andreas Wilhelm nicht ganz so wilde Zusammenhänge, wie Dan Brown. Das Spannungsniveau ist in etwa dasselbe, man bekommt wirklich etwas geboten. Dieser erste Band einer Trilogie, der eine in sich abgeschlossene Handlung hat, enthält auch bereits deutliche Hinweise, wo alles enden wird im dritten Band – für den, der sich auskennt : – )
Alles in allem: Große Leseempfehlung!

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Projekt Sakkara (2007): Der Autor weiß wovon er schreibt und präsentiert es meisterlich

Dieser zweite Teil der Projekt-Trilogie ist erneut eine gelungene Überraschung: Denn anders als bei anderen Autoren flacht Andreas Wilhelm in seinem zweiten Band keineswegs ab. Im Gegenteil: Er dreht so richtig auf und liefert eine Komplettverarbeitung der ägyptischen Kultur und all ihrer Geheimnisse, sowie ihrer Entdeckungsgeschichte, die das Herz jeden Kenners höher schlagen lassen muss. Erneut beweist Andreas Wilhelm auch, dass er die Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Pseudowissenschaft und Esoterik meisterlich beherrscht. Plumpe Geschmacklosigkeiten unterbleiben konsequent, statt dessen souveräne Raffinesse und Ironie ohne Ende – da kommt man auch als Skeptiker voll auf seine Kosten. Überhaupt bemerkt man, dass der Autor ein Themengebiet nicht nur „verarbeitet“, sondern sich selbst bestens darin auskennt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Projekt Atlantis (2009): Phantastisches Ende einer spannenden Suche – pro und contra

Das Forscherduo Peter und Patrick, wie immer ergänzt um eine Frau, macht sich in diesem dritten und letzten Band der Projekt-Trilogie dazu auf, das letzte und größte Geheimnis zu ergründen: Atlantis.

Da das Thema Atlantis im Gegensatz zu Templern oder Ägyptern z.Z. noch wenig real vorzuzeigende Substanz aufzuweisen hat, weitet sich die Story dieses Mal zu einer phantastischen Geschichte aus, die eines Jules Verne würdig gewesen wäre (man denkt unwillkürlich an „20000 Meilen unter dem Meer“ oder die „Reise zum Mittelpunkt der Erde“). Leider geht dabei ein wenig der Zauber verloren, der in den beiden ersten Bänden davon ausging, dass das Mystische sich sehr eng in das Bekannte und Erforschte einbettete. Die Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Pseudo-Wissenschaft und Esoterik wurde in diesem dritten Band leider deutlich verfehlt.

Es ist aber dennoch eine grandiose Abenteuergeschichte. Gut gefallen hat auch die realistische Darstellung eines Meeresforschungsprojektes: Das Schiff, die Technik, die Mannschaft, die Organisation. Auch das Verhalten der Medien wurde gut getroffen. Ganz amüsant war die Darstellung typischer Phänomene, wie es sie in der real existierenden Atlantisforschung tatsächlich gibt: Die Skeptiker, die Spinner, die Hochstapler, die verkannten Seriösen, die Selbstzweifel, die Euphorie, und noch einmal: die Medien und ihr ganz spezieller Blinkwinkel.

In einem Punkt stiftet der Autor unnötig Verwirrung (Nachwort): Das Atlantis des Romans entspricht zwar durchaus einem Teil des Mythengeflechts, das sich im Laufe der Jahrhunderte um das Thema Atlantis gesponnen hat – aber es wäre erwähnenswert gewesen, dass dieses Atlantis natürlich nicht dem originalen, von Platon beschriebenen Atlantis entspricht. Im Roman wurde vielmehr auf Vorstellungen von Atlantis zurückgegriffen, wie sie Ignatius Donnelly, mehr noch, wie sie Esoteriker und Theosophen im Laufe der Zeit sich frei zusammengedichtet haben. Wer sich hingegen auf eine realistische Weise mit dem originalen Atlantis des Platon beschäftigen möchte, dem sei z.B. folgendes Buch empfohlen: Thorwald C. Franke: Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis – Könnte Atlantis doch ein realer Ort gewesen sein?

Weitere Schwächen sind

Das Verhalten des Kommandanten des Marine-Stützpunktes ist unrealistisch: Es ist kaum anzunehmen, dass ein professioneller Soldat nicht misstrauisch wird, wenn ein Außenstehender plötzlich über militärische Interna Bescheid weiß – und als Familienvater praktisch seine ganze Karriere aufs Spiel setzt, vielleicht sogar Gefängnis riskiert. – Etwas unlogisch war, dass die dunkle Trennschicht diesmal für die Elektronik durchlässig war. Diese für den Fortgang der Handlung wichtige Frage hätte man anders umschiffen müssen. – Ebenfalls etwas schwach motiviert war die Auffindung nicht von einer, sondern gleich von zwei Textquellen zu Atlantis. Wie es aussieht, hätte die aus Alexandria vollkommen genügt. Wozu dann die andere? – In Projekt Atlantis führen plötzlich vier Brücken zum Zentrum von Atlantis, während in den ersten beiden Bänden der Grundriss der Anlage nur einen solchen Zugang zum Zentrum aufweist, wie es ja auch der Beschreibung Platons entspräche. – Etwas enttäuschend war, dass keine näheren Inhalte aus dem vollständigen Manuskript des Platon-Dialoges Kritias präsentiert wurden. Man kann nicht die Auffindung einer so heißen Textquelle postulieren, aber dann kaum daraus zitieren.

Schließlich kann man noch den philosophischen Gehalt der Trilogie beleuchten: Alles in allem gut gemeint, aber doch etwas seicht. Liebe, Mitmenschlichkeit und Verantwortung als Werte sind ja nicht ganz neu. Problematisch wird es mit dem Motto „Wage zu wissen“: Denn Wissen erschließt sich dem Menschen in der realen Welt nicht aus telepathischen Archiven, sondern aus langwierigen Lern- und Denkanstrengungen, die teils harte Desillusionierungen und Enttäuschungen erfordern. Von einer solchen realistischen Erkenntnisphilosophie war aber kaum etwas zu sehen. Am beeindruckendsten war vielleicht die Verwandlung von Patrick im zweiten Band, die im dritten Band dann leider etwas unterging.

Alles in allem

Die Projekt-Trilogie von Andreas Wilhelm ist ungeachtet gewisser Schwächen längst dabei, ein Kult zu werden wie die Bücher von Dan Brown. Es ist die Spannung der bildungsschwangeren Schnitzeljagd in mysteriösen Gefilden, die es wohl ausmacht. Formal ist da außerdem nicht nur die Prägung von wiederkehrenden Motiven in den drei Romanen, sondern es ist auch die Homepage mit Trailer und eigens komponierter Musik: Man kann es kaum erwarten, bis man im Kinosessel sitzt, die Werbung vorbei ist, der Saal noch ein wenig dunkler wird, der Vorhang noch ein Stück weiter zur Seite rückt, und dann in völliger Dunkelheit diese Musik zu erklingen beginnt … – was ein Feeling!

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Februar und 25./26. März 2009)

Arthur Conan Doyle: Die Maracot-Tiefe (1927-1929)

Genre-prägende Verarbeitung des Atlantis-Themas

Wir kennen Sir Arthur Conan Doyle als den Schöpfer des berühmten Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Hier jedoch könnte man meinen, einen der klassischen Science-Fiction-Romane von Jules Verne in Händen zu halten: Ein international besetztes Team von Wissenschaftlern taucht in die tiefsten Tiefen des Meeres hinab, und erlebt dort Abenteuer, deren Grundlage ein intelligentes Ausphantasieren des damaligen Standes der Wissenschaft ist. Der Grundton ist optimistisch, sowohl was die internationale Zusammenarbeit der Wissenschaftler anbelangt, als auch was den Fortschritt der Wissenschaft und der Aufklärung anbelangt. Es ist eine Lust, das zu lesen.

Die Genialität und Kreativität, mit der hier das Atlantis-Thema verarbeitet wurde, war offenbar so eindrucksvoll, dass sich eine ganz neue Perspektive auf das Atlantis-Thema ausgeprägt hat, die seitdem in immer neuen Variationen wiederkehrt. Die Merkmale dieser Perspektive auf das Atlantis-Thema sind:

  • Atlantis existierte vor 12000 Jahren. Damals hatte Atlantis einen „bösen“ Herrscher, durch den es unterging.
  • Es gab aber auch dessen „guten“ Gegenspieler, der ein Fortleben der Atlanter unter Wasser durch seine Genialität ermöglichte.
  • Das wurde ermöglicht durch eine Technik, die fortschrittlicher ist als die Technik der Gegenwart (Atomspaltung, Gedankenkino), bzw. durch übernatürliche Kräfte, Kristalle usw.
  • Wiedergeburt und Erinnerung an ein früheres Leben spielen eine Rolle. Ebenso Unsterblichkeit oder Weiterleben als Geistwesen, das inspiriert.
  • Irgendwann (nach langen geologischen Zeiträumen) wird Atlantis wieder auftauchen.
  • Wissenschaftler werden nach Atlantis verschlagen und begegnen auf dem Weg dorthin einem Ungeheuer der Tiefsee.
  • In Atlantis werden sie mit archaischen Sitten konfrontiert (Sklaverei, Tötung von Mischlingen).
  • Erneut muss der Kampf Gut gegen Böse bestanden werden.
  • Der Kampf wird mit übernatürlichen Kräften geführt, die u.a. durch List besiegt werden müssen.
  • Je nach Ausgang bleibt Atlantis bestehen oder geht unter.
  • Am Ende gelingt den Wissenschaftlern die Rückkehr in unsere Welt.

Die Motive wurden z.B. aufgegriffen in Walt Disney Comics, in denen die Atlanter im Laufe der Zeit zudem Fischschwänze entwickelt haben, oder der Walt Disney Zeichentrick-Film „Atlantis: The Lost Empire“ von 2001. Ein Atlantis, das unter Wasser fortbesteht, über hohe Technologie verfügt und eines Tages wieder auftauchen wird, ist auch zu einer typischen Vorstellung eines pseudowissenschaftlichen Atlantis geworden. Die fortentwickelte Technik taucht allerdings schon in Francis Bacons „New Atlantis“ auf und wurde hier von Sir Arthur Conan Doyle offenbar erneut literarisch verarbeitet.

Alles in allem ist die „Maracot Deep“ ein geniales Stück Literatur, das jeder Atlantis-Interessierte und Jules-Verne-Fan gelesen haben sollte, dessen Science-Fiction-Charakter aber immer klar sein sollte.

PS: Zum genauen Ort der Maracot Deep: Auf der einen Seite spricht der Roman wiederholt von einem Ort 27N28W, auf der anderen Seite spricht er wiederholt von einem Ort 200 Meilen südwestlich der Kanaren. Das passt nicht zusammen, denn 27N28W liegt ca. 650 Meilen westlich der Kanaren. Beide Orte zeigen keinerlei bemerkenswerte Vertiefung im Meeresboden. Es ist also alles Fiktion.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 15. Januar 2017)

Jules Verne: Von der Erde zum Mond / Reise um den Mond (1865/70)

Liebenswürdig erzählte Mondreise: Ein echter Jules Verne

Der zweiteilige Roman „Von der Erde zum Mond“ bzw. „Reise um den Mond“ von Jules Verne handelt davon, wie ein amerikanischer Verein von Artilleristen nach dem Ende des Bürgerkrieges seine Kräfte darauf verwendet, eine Aluminiumkugel auf den Mond zu schießen. Ein lebenslustiger Franzose kommt hinzu, und die Kugel wird zu einem wohnlichen Geschoss umgebaut, in dem drei sehr eigenwillige Charaktere die Reise zum Mond antreten. Wegen eines Berechnungsfehlers der Anfangsgeschwindigkeit und wegen der Begegnung mit dem „zweiten Mond“, dessen Existenz damals vermutet wurde, fällt das Geschoss nach einer ausführlich geschilderten Umrundung des Mondes wieder auf die Erde zurück, und alle sind wohlbehalten.

Dieser Roman entfaltet erneut das erzählerische Talent von Jules Verne, und der Leser gibt sich dem Strom der Ereignisse, Gedanken und Informationen gerne hin. Wieder werden die Nationen durch ihre Vertreter liebenswürdig charakterisiert, und wieder wird aus Technik und Naturwissenschaft alles aufgefahren, was man damals über Kanonen, Ballistik, Astronomie und natürlich den Mond wusste. Und das ist nicht wenig. Jules Verne hat seine Hausaufgaben wieder einmal gründlich gemacht und lässt uns alle daran teilhaben. Es ist auch interessant zu sehen wie Jules Verne elegant das Problem umschifft, dass man damals noch nicht wusste, was sich auf der anderen Seite des Mondes verbirgt.

Der Leser staunt, wieviel Jules Verne von der ziemlich genau einhundert Jahre später tatsächlich stattfindenden Mondfahrt bereits vorweggenommen hat. Selbst der Ort des Abschusses ist mit Florida so gewählt, wie es später tatsächlich geschah. Aber auch andere Details kommen einem seltsam bekannt vor. Selbst der Pragmatismus und die Begeisterungsfähigkeit der Amerikaner werden treffend dargestellt.

Der Roman ist halb als eine Satire auf den amerikanischen Charakter angelegt und vermittelt keine tiefere Botschaft. Auch die Handlung ist nicht sonderlich spannend: Denn im ersten Teil geht es um die planmäßige Errichtung der Abschusskanone, während im zweiten Teil die Mondreisenden weitgehend passiv den Ereignissen ausgeliefert sind. Dennoch lohnt die Lektüre. Zum einen wegen des liebenswürdigen Erzählstils. Zum anderen aber wegen der technischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die man damals schon hatte, und die den Leser mitdenken lassen, was und warum etwas passiert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 23. April 2023)

Jules Verne: Das Karpathenschloss (1892)

Provinzposse in Transsylvanien um Technik und Aberglauben

Thema dieses Romans ist die Wirkung von moderner Technik auf Menschen, die sie nicht kennen. Da sind zum einen die Bewohner eines rumänischen Dorfes, die bemerken, dass sich in dem nahe gelegenen, verlassenen Schloss plötzlich merkwürdige Dinge tun, die sie sich nicht erklären können. Aber auch ein durchaus aufgeklärter Graf, der hinzukommt, wird am Ende durch die moderne Technik getäuscht. Hineinverwoben ist eine tragische Geschichte um Liebe, Tod und Musik.

Die Geschichte selbst ist nicht sonderlich interessant und eher operettenhaft, man muss sich auf die farbige Schilderung der Dorfbewohner einlassen können und am Erzählen selbst gefallen finden, um dieses Buch zu lieben. Dann ist es aber ein schönes Stück Literatur.

Am Rande interessant ist, dass Vampire so gut wie nicht vorkommen. Jules Verne schrieb diesen Roman offenbar noch vor dem Hype um Dracula (1897). Außerdem interessant ist die Rolle der Juden in Rumänien, wie Jules Verne sie sieht: Sie treten entweder als fahrende Händler auf, die um Preise schachern, oder als Geldverleiher, die Wucherzinsen nehmen und auf diese Weise irgendwann ganz Rumänien in ihrem Besitz haben werden, so Jules Verne. Man könnte von einem „ökonomischen Antisemitismus“ sprechen; ein kultureller oder gar rassistischer Antisemitismus ist nicht zu sehen. Ganz am Rande werden auch Zigeuner als besonders abergläubische Menschen gezeichnet.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 06. März 2015)

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Jules Verne: Die Geheimnisvolle Insel (1874)

Oller Schinken? Weit gefehlt: Wunderbare Erzählung!

Die „ollen Schinken“ von Jules Verne werden plötzlich wieder lesbar, wenn man sie als Hörbuch genießt: So manche Länge fällt gar nicht mehr als solche auf, weil der Hörer sich in eine genießende, passive Haltung begibt. Vermutlich las man Bücher früher so, wie man sie heute hört?

Jedenfalls ist Jules Vernes „Geheimnisvolle Insel“ eine wunderbare Erzählung, die Jules Verne Schritt um Schritt vor den Augen des Lesers entfaltet. Ganz unterschiedliche Charaktere fliehen gemeinsam aus Gefangenschaft und landen auf einer einsamen Insel, wo sie sich zurecht finden müssen. Dabei spielt jeder Charakter seine Stärken aus. Nebenbei ist dieses Werk auch ein Loblied auf die Zivilisation, deren Aufbau aus einfachsten Verhältnissen hier exemplarisch beschrieben wird. Robinson Crusoe ist nichts dagegen. Der Ingenieur als Führungsfigur wird geradezu als Ikone der Wissenschaft verherrlicht. Der Aufbau der Zivilsation macht so manche Länge des Werkes aus, die im Hör-Modus aber kurzweilig bleibt: Es ist in Wahrheit richtig interessant!

Die einsame Insel hält außerdem ein Geheimnis vor, das die Gefährten erst nach und nach kennenlernen. Der Leser rätselt mit ihnen mit.

Was dieses Werk so angenehm macht, ist vielleicht auch der Umstand, dass es ein Werk aus einer besseren Zeit ist, aus einer besseren Welt: Man glaubte noch an Nation und Menschheit gleichermaßen, an Zivilisation und Wissenschaft, an Menschlichkeit und Wehrhaftigkeit. Die Welt, die sich auf der geheimnisvollen Insel entfaltet, ist eine Welt, die in Ordnung ist. Unsere Gegenwart sollte sich davon eine dicke Scheibe abschneiden.

Als Hörbuch gehört. Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon 22. März 2016)