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Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (um 1320)

Verdichtung von Mittelalter und Antike provoziert aufklärerische Reaktion

Die Leistung Dantes

Die „Göttliche Komödie“ von Dante ist ein großartiger Bilderbogen der Weltanschauung des ausgehenden Mittelalters. Dante integriert eine ganze Reihe von Themen in ein umfassendes Epos: Das christliche Weltbild von Hölle, Fegefeuer und Himmel sowie die christliche Theologie von freiem Willen, Sünde, Gnade, Liebe, Erlösung und Trinität. Das aristotelische Weltbild von Erdgeographie, Kosmologie und Theologie. Die antike Mythologie und antike philosophische Ansichten über Gott, die Welt, Urbild und Abbild. Die Weltgeschichte und insbesondere die Geschichte der norditalienischen Stadtstaaten, insbesondere der von Florenz. Und nicht zuletzt Dantes eigene Lebensgeschichte und seine große Liebe Beatrice.

Jedes einzelne dieser Themen wird von kleineren dichterischen Freiheiten abgesehen mehr oder weniger brav und treu von Dante abgearbeitet. Dante ist in keinem inhaltlichen Punkt wirklich originell und es gibt für Kenner der jeweiligen Materie auch keine „größeren“ Geheimnisse bei Dante zu entdecken. „Kleine“ Geheimnisse gibt es hingegen in Hülle und Fülle: Die große dichterische Leistung Dantes muss in der Integration all dieser Themen zu einem umfassenden Gesamtwerk, zu einer anspielungs- und beziehungsreichen Wissensordnung seiner Zeit gesehen werden, die abstrakte Dinge wie Hölle oder Himmel in teils origineller Weise extrem konkret und anschaulich werden lässt. Das Eigentliche des Dichtens, die „Verdichtung“, ist die große Leistung Dantes!

Dante als unfreiwilliger Wegbereiter der Renaissance

Dante selbst muss eindeutig noch als mittelalterlicher Mensch gesehen werden, der den christlichen Glauben ungebrochen glaubte. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo die Philosphie als ungenügend verurteilt wird und der Glaube den Vorrang eingeräumt bekommt. Doch explodiert in Dantes Werk gewissermaßen die Konkretheit des christlichen Weltbildes und die Synthese mit antikem Denken wie komprimierte Materie in einem Urknall, so dass Dante unfreiwillig zu einem Verursacher der Renaissance geworden sein dürfte; dies auf folgende Weisen:

Zunächst trug Dante wie andere auch schon dazu bei, dass die antike neben der biblischen Mythologie wieder salonfähig wurde. Das eröffnete weitere Horizonte. Zudem schuf Dante eine unglaubliche Fülle an Bildern, die es in dieser Form bisher so nicht gab, und die die Menschen nun tatsächlich als Bild sehen wollten. Aber das ist nicht der wesentliche Beitrag Dantes.

Der Leser wird bei Dante von der Konkretheit und Anschaulichkeit des christlichen Weltbildes schockiert. Denn in dieser Konsequenz der Darstellung, die alles auf die Spitze treibt, wird zugleich auch die Absurdität des christlichen Weltbildes bewusst. Derart konkrete Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel mussten natürlich einen teilweise grotesken Eindruck machen, der ungewollt satirisch ist. Man stelle sich vor, der hl. Thomas von Aquin, ein Gelehrter, dessen Lebenselement das Studium von Büchern ist, tanzt im Himmel geistlose Tänze wie auf einem Kindergeburtstag: Was für ein unwürdiges Schauspiel! Gebt dem Mann doch eine Studierstube damit er glücklich sein kann, möchte man rufen vor Empörung! Die Bilderwelt von Dantes Hölle prägte zweifelsohne die negativen Auffassungen der Aufklärer über das Mittelalter mit. Man fühlt sich teilweise an die bitterböse Satire „Zappenduster“ („The Living End“) von Stanley Elkin erinnert, die ihren satirischen Effekt gerade daraus bezieht, dass sie die christlichen Jenseitsvorstellungen ganz und gar ernst nimmt. Ist es völlig abwegig zu vermuten, dass genau dieser satirische Effekt sich auch bei dem ein oder anderen Leser Dantes einstellte?

Am sympathischsten und glaubwürdigsten – wenn überhaupt – ist bei Dante das Fegefeuer: Hier trifft man auf Menschen, die sich mühen und arbeiten und auf ein Ziel hinarbeiten. Sie sind nicht verdammt, leben aber auch nicht in einer grenzdebilen Heiligkeit. Das Fegefeuer kommt dem irdischen Leben der Menschen am nächsten. Grotesk, dass ein Vergil nicht im Himmel ist, wohl aber getaufte Kleinkinder. Grotesk, dass moralisch gute Inder in der Hölle sind, nur weil sie nie von Christus hörten. Grotesk, dass zur Heirat gezwungene Nonnen einen Malus bekommen, weil sie statt in die aufgezwungene Ehe einzuwilligen schließlich auch den Märtyrertod hätten sterben können! Das Groteske ist aber nicht Dantes Schuld; Dante macht hier unfreiwillig auf den Widersinn der auf die Spitze getriebenen christlichen Theologie aufmerksam.

Beatrice wiederum erscheint wenig liebevoll, vielmehr rauh und derb, hält Dante bei ihrer Wiederbegegnung eine Gardinenpredigt, kommandiert herum, schleift ihn durch einen Bach, taucht ihn rüde unter, und ist abgehoben heilig, geradezu arrogant. Grotesk wiederum, dass Dante nicht an der Liebe von Beatrice interessiert ist, sondern nur an der Liebe Gottes, die sich durch Beatrice offenbare. Wenn dies eine Sublimation von Dantes Liebe zu Beatrice sein soll, dann ist sie missglückt, denn die Sublimation hat den Kern der Sache zerstört. Ja, das ist Christentum auf die Spitze getrieben. Auch ist es existentiell extrem unglaubwürdig, vor Gott zu stehen zu kommen, Gott bewiesen zu sehen, alle Zweifel ausgeräumt zu haben, und dann nichts besseres zu tun zu wissen, als theologische und philosophische Theoreme zu erörtern. Es passt auch nicht, die Philosophie dafür anzuprangern, dass sie die Menschen entzweie, wenn gleichzeitig darüber geklagt wird, wieviele theologische Irrtümer es doch gibt, die die Menschen … entzweien.

Mit all diesem auf die Spitze getriebenen Widersinn hat Dante gewiss manchen Leser zum Nachdenken gebracht, und so unfreiwilligerweise die Renaissance mit angeschoben.

Die zweite unfreiwillige Provokation zur Aufklärung ist der Umstand, dass Dante viele antike mythologische Figuren und Begebenheiten an Stellen und auf eine Weise in sein Werk verwoben hat, wo sie völlig unpassend sind. In der Hölle fällt dies noch am wenigsten auf, zumal auch die antike Mythologie einen Hades kannte. Doch spätestens im Himmel ist es teilweise äußerst unpassend. Da betritt Dante den Himmel des einen Gottes … und ruft Apollon an, auf dass er gut dichte. Da steht Dante vor dem einen Gott und staunt … wie Neptun beim Anblick des Schattens der Argo. Wie passen Apollon, Neptun, usw. zu diesem einen Gott?

Zum Dritten ist Dante erstaunlich anmaßend, scheint dies aber selbst nicht zu bemerken. Christliche Demut scheint ihm zu fehlen. Woher nimmt er sich das Recht, diverse Menschen in die Hölle zu bannen, noch dazu in bestimmte Höllenkreise, anderen aber den Himmel zuzusprechen? Was für einen modernen Schriftsteller bedeutungslos wäre, ist für einen mittelalterlichen Schriftsteller eine Anmaßung sondersgleichen. Dante benutzt zudem die christliche Theologie, um seine ganz eigene Geschichtsdeutung festzuschreiben. Florenz wird von ihm nach Strich und Faden durch den Kakao gezogen. Aber wer gibt ihm das Recht, seine persönliche Meinung mit den höheren Weihen eines religiösen Epos zu versehen? Tagespolitische Händel als Thema einer zeitlosen Dichtung?! Überhaupt ist zu fragen, warum er sich selbst für auserkoren hält, das Jenseits erkunden zu dürfen? Die Frage nach der ungeschminkten Kritik in seinem Werk beantwortet sich Dante gleich selbst in Canto XVII des Paradiso: Nur zu, es sei ein Ruf wie der Wind in den Wipfeln.

Völlig unangebracht ist es, die Caesar-Attentäter in die unterste Hölle in die Mäuler Satans zu platzieren, wo sie auf einer Stufe mit Judas stehen; sie überhaupt in die Hölle zu platzieren mag der mittelalterlichen Kaiserlichkeit Dantes zuzurechnen und zu entschuldigen sein, aber man bedenke ihre Gleichstellung mit Judas: Dadurch wird im Umkehrschluss Julius Caesar auf eine Stufe mit Christus gestellt! Es ist einfach unfasslich.

Einzelkritiken

Es ist oft wenig geschickt, dass Dante die Handlung über die Grenzen seiner Canti springen lässt. Es wäre kunstvoller gewesen, die Grenzen der Handlung und die Grenzen der Canti aufeinander abzustimmen. Man beachte: Dante ist kein Säulenheiliger, den man nicht kritisieren dürfte – Ungünstig ist, dass vieles nur angedeutet wird. Die klare Nennung von Namen hätte oft vieles erleichtert. Man liest darüber hinweg und erkennt es nicht. Nicht erkennbare Anspielungen sind schlechtes Handwerk. Auch bei Dante. – Wenig überzeugend ist es auch, wenn Dante sagt, er habe keine bildhafte Erinnerung mehr an die Trinität, aber dann mit einem sehr anschaulichen Bild von drei Kreisen aufwartet. – Im Sinne der Glaubwürdigkeit eines Berichtes aus dem Jenseits fehlt am Ende unbedingt auch der Rückweg auf die Erde. Wie soll denn Dante über all das berichten, wenn es keinen Weg zurück gab? – Was Dante hingegen teilweise recht gut gemacht hat, ist die Hinterfragung christlicher Fehldeutungen antiker Texte, so etwas die Gleichsetzung von Paradies und Goldenem Zeitalter oder die Vergil-Stelle zur Geburt eines Knaben. Dante schwärmt hier nicht ganz ohne zügelnde Vernunft. – Warum das Paradiso Paradiso heißt, ist unklar, es handelt sich bekanntlich nicht um das Paradies, sondern um den Himmel. Stammt diese Bezeichnung von Dante?

Schluss

Dantes Werk geriet zwischenzeitlich offenbar in Vergessenheit, was nicht wunder nehmen kann, und wurde erst später wiederentdeckt, als Romantik und Nationalbewusstsein der Dichtung eine neue Bedeutung als Projektions- und Identifikationsobjekt gaben. Dantes Werk gehört sicher zur Weltliteratur, als eine große Dichtung eines großen Autors, der seine Zeit in sich und seinem Werk spiegelte und verdichtete und auf die Spitze trieb, und so unfreiwillig den Boden für eine kommende Zeit bereitete, was zweifelsohne eine große Leistung ist. Doch ist das eher als wichtige Etappe einer Entwicklung von Bedeutung. Dantes Werk ist zu zeitgebunden, um zur zeitlosen ersten Reihe der Weltliteratur dazu zu gehören, zu der z.B. Platons Dialoge oder die Epen Homers zählen. Wiederum unfreiwillig hat Dante mit der Wahl seines Führers, Vergil, seinen eigenen Platz zutreffend markiert: Auch Vergil gehört zweifelsohne zur Weltliteratur, doch auch er gehört nur in die zweite Reihe.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon um den 01. Juli 2013)

Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht (1957)

Tristesse des alternden, egozentrischen Materialisten – Ohne konstruktive Perspektive

Der Roman „Homo faber“ von Max Frisch zeigt den Schweizer Ingenieur Walter Faber im Alter von 50 Jahren, der für die Unesco Turbinen in Mittelamerika montiert, und der für seine Arbeit in New York wohnt und dabei auch nach Paris zu Konferenzen fliegt. Technisches Jet-Set sozusagen. Das Wort „faber“ bedeutet auf Lateinisch Handwerker oder Arbeiter.

Ein Hauptthema des Buches ist die bloß rationale, technische Intelligenz des egozentrischen Protagonisten. Für Faber gibt es praktisch keine Gefühle. Er ist immer sachlich. Alles ist planbar und erklärbar. Der Mensch ist für ihn eine schlecht konstruierte biologische Maschine. Roboter werden bald vieles besser können als der Mensch. Wenn nicht alles. Abtreibung ist für ihn eine Notwendigkeit zur Geburtenregelung, moralische Fragen nur sachfremd und störend. Literatur liest er keine. Er ist der perfekte Praktiker und Materialist. Die Welt des Geistes ist ihm verschlossen. Damit ist er natürlich auch etwas egozentrisch.

Das Buch ist als endloser Monolog gestaltet, den Walter Faber mit sich selbst führt, während er die Ereignisse aus der Erinnerung heraus nacherlebt. Dabei geht es immer praktisch zu. Und alles ist von einer gewissen Tristesse. Faber sieht das Schöne und Interessante nicht. Immer nur die Sache. Wir erleben die Tristesse des Fliegens und der Flughäfen, die Tristesse des mexikanischen Niemandslandes, wo seine Maschine notlandet, die Tristesse des Regenwaldes im Grenzgebiet von Mexiko und Guatemala, die Tristesse des Zusammenlebens mit dem geistlosen Mode-Flittchen Ivy in New York, die Tristesse der Party mit Arbeitskollegen. Immer wieder werden auch ekelhafte Bilder eingestreut, so z.B. die Zerreißung eines Eselkadavers durch Zopilote-Vögel.

Die geordnete Welt von Faber bekommt aber Risse: Die Tristesse richtet sich auf Erinnerungen und wird dann melancholisch. Seinen Jugendfreund Joachim trifft er erhängt im Regenwald von Guatemala. Wie er erfährt, hatte dieser einst seine Jugendfreundin Hanna geheiratet. Es kommen ihm Erinnerungen an das Aneinandervorbeireden mit Hanna, die Philologie studierte und ihn „homo faber“ nannte. Und wie Hanna – die Irrationalität in Person – ihn nicht heiraten wollte und sie schließlich voneinander schieden mit der Entscheidung, dass das gemeinsame Kind abgetrieben werden sollte. Außerdem beginnt der zuverlässige Ingenieur Faber, vor seinen Pflichten zu fliehen: In Houston versucht er spontan, das Flugzeug absichtlich zu verpassen. In Mexiko fährt er spontan zu seinem Jugendfreund statt zur Montage. In Rom begleitet er spontan das Mädchen Sabeth auf ihrem Trip nach Südfrankreich, Italien, Griechenland, wo deren Mutter lebt. In Avignon schläft er einmal mit ihr. Faber erlebt halbwegs frohe Tage.

Das zweite große Thema des Buch ist das Altern. Faber ist 50 geworden, und versucht mit Sabeth eine Art zweiten Frühling. Doch er bemerkt, dass er die Jugend nicht mehr richtig versteht. Es gibt keinen zweiten Frühling. Zweimal heißt es: Wir können nicht unsere eigenen Kinder heiraten. Man kann nicht unverändert leben, das Altern gehört zum Leben dazu.

In Griechenland erleidet Sabeth einen unnötigen Unfall und stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie das nicht abgetriebene gemeinsame Kind mit Hanna war, die er nun in Griechenland wiedertrifft. Hanna arbeitet als Archäologin und Faber staunt, dass man davon leben kann. Die Situation ist schal und trist: Faber war also in seine eigene Tochter verliebt. Und Faber ist zwar nicht wirklich schuld am Tod der gemeinsamen Tochter, doch sein Wiederauftauchen im Leben von Hanna fällt mit diesem Ereignis zusammen. Hanna lässt Faber trotzdem bei sich wohnen. Faber will sein Leben ändern. Es bleibt aber unklar, wie. Schließlich muss sich Faber wegen eines Magenleidens einer Operation unterziehen. Er tut dies in Griechenland, bei Hanna. Zwei gescheiterte Existenzen nähern sich einander an.

Nebenthemen

Der Deutsche Herbert blamiert sich als Nachkriegsdeutscher vor dem Schweizer. Walter Faber mag die Deutschen nicht.

Es gibt antiamerikanische Passagen: Die Amerikaner würden angeblich die Welt kolonisieren und aus allem einen Highway machen. Sie seien fett, ungebildet, und herrschten mit ihren Dollars. Amerikaner seien geschminkt, und ihre Leuchtreklame bloße Kulisse und Kitsch. „Aber wir leben von ihren Dollars.“ – Intelligente Kritik an Amerika gibt es in diesem Buch nicht.

Mindestens zweimal wird das intuitive Verhalten von Frauen „weibisch“ genannt. Für die Toilettenfrau am Flughafen in Houston und für die Huren in Havanna wird das Wort „Neger“ verwendet. Damit wäre auch Max Frisch für den aktuell herrschenden hysterischen Zeitgeist nicht mehr akzeptabel.

Kritik

Literarisch und sprachlich ist das Buch sehr gut gelungen. Jeder Satz sitzt. Jede Stimmung wird verlässlich eingefangen. Rück- und Vorblenden sind geschickt ineinander verwoben. Unpassend vielleicht, dass das Zusammentreffen mit Sabeth ein literarisch schlecht motivierter, unglaubwürdiger Zufall ist, nachdem Faber bereits zuvor durch einen ebensolchen Zufall auf seinen alten Jugendfreund gestoßen war.

Die Frage ist, was das Buch aussagen will. Die Bearbeitung des Themas Altern ist zumindest nicht originell. Besser steht es um die Kritik an der allzu praktischen, materialistischen Einstellung des Protagonisten. Aber auch hier werden Alternativen nur angedeutet. Die Irrationalität der Frauen, speziell von Hanna, wird auch keiner Lösung zugeführt. Beide sind gescheiterte Existenzen, Faber und Hanna: Der eine ist an seiner ausschließlichen Rationalität, die andere ist an ihrer ausschließlichen Irrationalität gescheitert. Ein gelungenes Leben wäre es gewesen, so liest sich dieser Roman ex negativo, wenn sie geheiratet und das gemeinsame Kind gemeinsam aufgezogen hätten. Doch das ist nicht mehr rückholbar und alle leiden nur noch melancholisch daran, anstatt konstruktiv zu werden.

Das Buch hinterlässt den Leser eher ratlos als bereichert. Da hilft auch die literarische Qualität nicht. Max Frisch scheint ein guter Beobachter aber ein schlechter Denker zu sein. Etliche Elemente des Romans sind offensichtlich autobiographisch motiviert. Das Leben von Max Frisch liefert genauso gutes Anschauungsmaterial und ist genauso wenig überzeugend wie dieser Roman.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichtung auf Amazon am 08. August 2020)

Michel Houellebecq: Unterwerfung (2015)

Linksliberale Sinnentleertheit wird „demokratische“ Islamisierung akzeptieren

Houllebecq ist ein Meister des zynischen Realismus. Der Held der Geschichte ist ein politisch unbedarfter linksliberaler Literaturwissenschaftler ohne Sinn und Ziel im Leben, außer Fressen und Ficken. Auch seine eigene Literaturwissenschaft gibt ihm keinen Sinn. Als Single kennt er kein Familienglück, sondern lebt ein äußert reduziertes Leben aus Mikrowelle und Youporn. Hin und wieder angelt er sich eine seiner Studentinnen oder bestellt sich den Escort-Service.

Parallel dazu wird beschrieben, wie die politische Linke aus Angst davor, fremdenfeindlich zu wirken, mit den mittlerweile als Partei organisierten Islamisten paktiert. Auf diese Weise kommt ein traditionalistischer, verfassungsfeindlicher Islam an die Macht, und beginnt das Land Stück für Stück umzubauen. Zuerst sind die Bildungseinrichtungen dran. Alles läuft ohne Härten ab, jeder wird mit Geldern aus Saudi-Arabien fürstlich bezahlt oder erhält ebenso fürstliche Vorruhestandsbezüge. Die identitäre Bewegung startet einen Bürgerkrieg, es gibt einige Tote, doch wird sie damit keinen Erfolg haben.

Während auf der großen politischen Bühne das Dogma der Fremdenfreundlichkeit jeden Widerstand gegen die Islamisierung lähmt, sind die kleinen Akteure gezwungen, im vorgegebenen politischen Rahmen eine Entscheidung zu treffen, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele treten auch zum Islam über, weil sie persönliche Vorteile davon haben: Saudische Geldgeber finanzieren Wohnen und üppige Gehälter an islamisierten Unis, zudem werden den alternden linksliberalen Professoren junge Studentinnen als Ehefrauen vermittelt, die sie sexuell und sozial versorgen.

Überhaupt zeigt sich die Widerstandskraft linksliberal denkender Menschen gegen einen philosophisch argumentierenden Islam als erstaunlich gering. Denn linksliberale Menschen haben heute kein Weltbild mehr, von dem sie überzeugt sind, und auch kein Ethos, für das sie Opfer bringen würden – heutige Linke leben nach einem sehr primitiven Weltbild: Links ist, was Fressen und Ficken garantiert.

Das Buch ist literarisch kein Hit, aber sein zynischer Realismus ist äußerst treffend und eine Warnung: Die politische Linke ist tatsächlich auf dem Weg, über ihrer Fremdenfreundlichkeit und ihre platte politische Ideologie Demokratie und Menschenrechte zu verraten. Der traditionalistische, verfassungsfeindliche Islam ist tatsächlich auf dem Weg, nicht durch Gewalt, sondern durch geistige Eroberung und durch den Marsch durch die Institutionen Positionen zu erobern, und so unsere freiheitliche, säkulare Gesellschaft schrittweise auszuhöhlen. Noch geschieht dies im Kleinen, doch das Schweigen von Medien und „aufgeklärten“ Politikern ist schon heute oft erschreckend. Und es nimmt zu. Schon bald wird es Vorteile bringen, Muslim zu sein, so wie es in Bayern Vorteile bringt, in der CSU zu sein.

Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung ist die bildungslose, satte Sinnentleertheit der linksliberalen Menschen, die nichts mehr wollen, nichts mehr erstreben, und sich für nichts mehr zu schade sind.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon Mai 2015 in einer zensierten Fassung; diese ist inzwischen verschwunden.)

Charles Dickens: David Copperfield (1849/50)

Heiter-ironischer Entwicklungsroman von herausragender Bedeutung

Mit „David Copperfield“ hat Charles Dickens einen heiter-ironisch gestimmten Entwicklungsroman geschrieben, der ein wahres Lesevergnügen ist und der auf viele spätere Autoren Einfluss ausgeübt hat.

Heiter-ironisch soll heißen: Der angeschlagene Ton macht von Anfang an klar, dass die Geschichte gut ausgehen wird. Der Protagonist blickt wohlwollend und weise auf die Höhen und Tiefen seines Lebens zurück. Teilweise nimmt der Roman den Charakter eines Schelmenromans an. Aber auch traurige, erschreckende, unglückliche und schmerzvolle Ereignisse kommen vor, deren Schrecklichkeit durch den Grundton gemildert und im Hinblick auf das erwartbare gute Ende aufgehoben ist.

Entwicklungsroman soll heißen: Es wird das Leben von David Copperfield von seiner Kindheit bis ins mittlere Alter erzählt. Dabei werden verschiedene Themen behandelt, darunter: Die Ausgeliefertheit des Kindes an die Erwachsenenwelt. Die Unsicherheiten und Tölpelhaftigkeiten und Unbeholfenheiten eines Kindes und jungen Mannes. Böse Stiefeltern und gute Tanten. Spießige, unironische Menschen. Schule im Kasernenhofstil. Freundschaften und Enttäuschungen. Berufswahl und Berufsweg. Liebschaften und Ehen. Wiederholt das Thema Einsamkeit, Sinnverlorenheit und Unbehaustheit.

Die jeweiligen Stationen sind in vielen Aspekten so exemplarisch und archetypisch erzählt, dass sich wohl jeder Leser ein wenig in ihnen wiederfinden kann. Dickens kann die psychologische Lage jeder Situationen gut darstellen. Eine ganze Reihe von Lebenseinsichten werden in der Handlung demonstriert und dann auch explizit formuliert: Etwa, dass ein Ehepartner Anteil an den Gedanken des anderen Ehepartners nehmen sollte. Oder dass Nachlässigkeit und allzu große Gutmütigkeit eine Verführung der Mitmenschen zum Ausnutzen derselben sind. Oder dass, wer an sich selbst glaubt, sich für gewöhnlich nicht selbst lobt.

Der Roman hilft dem Leser dabei, das Leben unter der Perspektive eines heiteren Grundtons zu sehen, und Menschlichkeit und Herzlichkeit zu bewahren. Es lässt sich vorstellen, dass dieses Buch für denkende junge Menschen ein guter Begleiter, Seelentröster und Ratgeber sein könnte.

Skurrilität als Nebenthema: Im Laufe seines Lebens begegnet David Copperfield einer ganzen Reihe von äußerst skurrilen Typen. Diese sind sehr liebevoll gestaltet und erhöhen das Vergnügen an diesem Roman erheblich. Man erkennt hier auch ein wenig das Thema des englischen Exzentrikers.

Sozialkritik als Nebenthema: Schul- und Gefängniswesen werden heftig kritisiert. Auch die Pädagogik, die Charaktere wie den schmierigen Uriah Heep hervorbringt, wird aufs Korn genommen. Gerichts- und Parlamentswesen werden nicht verschont. Diese Kritik taucht aber nur am Rande auf. Eine kleine antisemitische Spitze zu Wechselgeschäften ist enthalten. Und dann ist da noch „der Türke“ als Urbild eines Menschen, dem das Wohl seiner Familie egal ist. Solche Stereotypen schrieb man damals sorglos.

Die Romanhandlung ist bei Lichte besehen ein wenig unglaubwürdig. Einerseits ereignen sich doch recht viele Unglücksfälle, andererseits findet der Protagonist immer wieder Menschen, die ihm aus der Patsche helfen. David Copperfield wirkt dadurch manchmal (nicht immer) ein wenig wie ein Passepartout, ein Stehaufmännchen, bei dem Schmerz und Leid keine Spuren hinterlassen. Am Ende rundet sich alles, und alle Fäden kommen zu einem guten und gerechten Ende. Die Wirklichkeit sieht leider oft anders aus. Daraus eine Kritik an diesem Roman zu machen, wäre allerdings ein Missverständnis: Der Roman scheint auch mit der Absicht geschrieben worden zu sein, seine Leser aufzumuntern, damit sie trotz Widrigkeiten nicht am Leben verzweifeln. Diesen Zweck hat der Autor bestens erfüllt.

Da es ein sehr guter Roman ist, blieb er nicht ohne Folgen. Man teilt die englische Literaturgeschichte gemeinhin in die Zeit vor Dickens und die Zeit nach Dickens ein. Der Einfluss von „David Copperfield“ reicht von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, in dem Skurrilität und Sprachspiele („begin at the beginning“) auf die Spitze getrieben wird, bis zu Joanne K. Rowlings Harry Potter, wo zahlreiche Anleihen bei „David Copperfield“ in Stil und Thematik nachweisbar sind. Aber auch weltweit haben sich Autoren beeindrucken und beeinflussen lassen, so z.B. Tolstoj.

Fazit

Ein Klassiker wie er sein soll: Immer noch ein sehr großes Lesevergnügen, immer noch sehr lehrreich, und man erkennt, welche Spuren er hinterlassen hat.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 30. September 2018)

Peter Hacks: Der Bär auf dem Försterball (1966)

Zeitlose Parodie auf das menschliche Sozialverhalten

Eine köstliche Kurzgeschichte, die sehr viel mehr ist als nur ein Kinderbuch. Mit wenigen, wohlgesetzten Worten wird folgende Geschichte erzählt: Der Bär möchte verkleidet als Förster zu einem Maskenball von Bären, doch er begegnet einem Förster, der ihn für einen Förster hält, sogar für den Oberförster, weil er so tief brummt, und sie gehen gemeinsam zum Försterball. Der Bär übernimmt sofort die Führungsrolle der Festgesellschaft, indem er am dicksten aufträgt: Er säuft am meisten, hat die meisten Haare im Gesicht und schlägt seinen Kameraden am kräftigsten auf die Schulter. Die Förster sind blind für ihren Irrtum und gehen am Ende soweit, dass sie einen jungen, schwächlichen Kollegen für den Bären halten. Für den Bären ist es der reine Spaß, wie er die Förster an der Nase herumführen kann. Er geht sogar soweit, sich offen zu erkennen zu geben. Wie es nach dieser Offenbarung weitergegangen wäre, bleibt jedoch offen, denn in diesem Moment wird der Bär von seiner Ehefrau nachhause geholt.

Peter Hacks führt in dieser Parodie das Phänomen vor Augen, wie eine Gesellschaft, oder eine Organisation, sich einem Anführer unterwirft, selbst wenn er ihr größter Widersacher ist, solange er nur am dicksten aufträgt. Es ist also eine Studie in Sozialverhalten. Dieses können wir überall in der Gesellschaft im Kleinen wie im Großen bestätigt sehen. Dick auftragen verschafft Aufmerksamkeit und Respekt, unabhängig von Kompetenz und moralischer Qualität. Und das Böse kann sich oft genug ganz offen und frech zeigen, ohne als das benannt zu werden, was es ist, gerade weil es offen und frech daherkommt und auf diese Weise soziale Ausrichtung stiftet.

Es gibt auch eine Deutung, dass der Bär gar nicht bemerkt habe, dass er auf dem Försterball ist, sondern denkt, er wäre auf einem Maskenball mit lauter Bären. Dem ist zu widersprechen. Erstens wären auf einem Maskenball verschiedene Masken anwesend. Zweitens gibt der Bär klare Kriterien an, woran ein Bär zu erkennen ist, und er weist darauf hin, dass der junge Kollege kein Bär ist, so dass ziemlich klar ist, dass der Bär wusste, dass er nicht unter Bären ist. Zu keinem Zeitpunkt ruft der Bär verwundert aus, dass die Förster keine Krallen usw. haben, so wie die Förster es am Ende bei ihm tun. Und nur wenn der Bär sich im Klaren darüber war, dass er nicht unter Bären ist, kommt auch die Deutung zum tragen, dass Frechheit siegt. Der Bär, „schon in der besten Laune“, hatte einfach die Gelegenheit ergriffen und frech die Scharade mitgemacht, die ihm in der Zufallsbegegnung mit dem Förster angeboten wurde.

Das Insel-Buch ist neu illustriert von Reinhard Michl. Die neuen Illustrationen sind gut gelungen und „erwachsener“, und bringen den Schalk des Bären gut zum Ausdruck. aber auch die alten Illustrationen hatten in ihrer genialen Einfachheit ihren Reiz und Wert.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Andreas Eschbach: Die Haarteppichknüpfer (1995)

Religion, Tradition, Macht, Lüge und Sinn im Leben der Menschen

Der Roman „Die Haarteppichknüpfer“ ist eine zunächst lose erscheinende Aneinanderreihung von Einzelepisoden aus der Welt der Haarteppichknüpfer. Diese leben in einer vergessenen Region des Universums und führen ein mittelalterliches Leben mit einem strengen Patriarchat. Dazu gehört auch ein religiöser Kaiserkult, der jeden Ketzer tötet, und vor allem ein lebenslanges Knüpfen von Teppichen aus Menschenhaaren, die über fahrende Händler in Raumhafenstädte gelangen, von wo sie an einen unbekannten Ort im Universum verschifft werden.

Jeweils am Ende der ersten Episoden kommen die Protagonisten überraschend und rücksichtslos zu Tode (ähnlich wie in Game of Thrones), so dass zunächst keine durchgängige Geschichte erzählt zu werden scheint, doch allmählich fügt sich doch eine zusammenhängende Erzählung über die rauhe Welt der Haarteppichknüpfer zusammen. Schließlich wird die Geschichte auch im Wechsel mit Episoden aus der Sicht der Rebellen erzählt, die mittlerweile den Kaiser gestürzt haben und das Geheimnis der Haarteppiche zu ergründen versuchen.

Der Roman schlägt mehrere große Themen an: Zunächst der Missbrauch von Religion und Tradition zur Unterjochung von Menschen in einem ganz klassischen Sinne. – Dann aber auch in der Person des Kaisers das Thema der Sinnlosigkeit eines materiell vollendeten Daseins Der Kaiser hat buchstäblich alles erreicht: Er ist unermesslich reich, unermesslich mächtig, und durch medizinischen Fortschritt auch unsterblich. Er kann alles und hat alles. Alles dreht sich um ihn, und das Universum in seiner Unendlichkeit ist seine Spielwiese, um seine Macht auszuprobieren. Doch der Kaiser muss erkennen, dass all das nur ganz eitel und ohne Sinn ist, und so zettelt er selbst eine Rebellion an, um sich stürzen zu lassen und dabei den Tod zu finden, gewissermaßen als die letzte noch nicht von ihm ausprobierte Spielart seiner Machtausübung sowie als klassischer Suizid aus Verzweiflung über die Sinnlosigkeit der Welt.

Nebenthemen sind Liebe, Musik, Bürokratie, Eltern und Kinder, brain in the tank, Gehorsam und Emanzipation, die Versuchung der Macht für die Rebellen, sowie die Unendlichkeit der möglichen Geschichten im Universum. Diese wird angedeutet in den unendlichen Weiten des Universums und des kaiserlichen Reiches, in dem vieltausendjährigen Alter des Kaisers, der zahllose Dinge erlebt haben muss, und schließlich vor allem in der Unermesslichkeit des Archivs im kaiserlichen Palast. Es erinnert an die „Bibliothek von Babel“ von Jorge Luis Borges.

Kritik

Literarisch geht der Roman nicht völlig auf. Es gibt ein paar Handlungsfäden, die am Ende nicht wieder aufgegriffen und deshalb zu keinem Abschluss gebracht werden, z.B. der geflohene Schüler des Dreiflötenmeisters.

Das schwerste Versäumnis des Romans liegt in der Unterlassung der Problematisierung des Endes des Kaiserkultes und der Tradition der Haarteppichknüpfer. Natürlich handelte es sich dabei um Betrug durch die Macht. Doch es war mehr als das: Es gab der Gesellschaft Ordnung und Sinn. Wenn man die Tradition ersatzlos fortnimmt, gehen Ordnung und Sinn verloren. Diese Sinnlosigkeit führt der Roman selbst anhand der Person des Kaisers eindrücklich vor Augen. Doch der Roman überträgt das Drama des Kaisers nicht auf die Menschen und übergeht diese Problematik völlig. Es werden Rebellen gezeigt, die die Menschen von ihren Irrtümern befreien, und verbohrte Haarteppichknüpfer, die irgendwann einsehen müssen, dass es keinen Sinn mehr hat, Haarteppiche zu knüpfen. Das war’s.

Die Überwindung falscher Traditionen und die Entmachtung der Traditionalisten ist aber bestenfalls die halbe Miete. Die Notwendigkeit der Gewinnung von Ordnung und Sinn durch andere, tunlichst wahre Anschauungen, bleibt völlig undiskutiert. Es bleibt deshalb der Eindruck, dass der Autor selbst an keinen Sinn glaubt. Der Leser bleibt deshalb etwas ratlos wie ein desillusionierter Haarteppichknüpfer zurück: Wie geht es denn nun weiter in diesem Universum? Doch dazu sagt der Roman nichts.

Fazit

Andreas Eschbach hat mit den „Haarteppichknüpfern“ ein faszinierendes Universum voller verblüffender Einfälle erschaffen, das geeignet ist, einige wesentliche Themen des menschlichen Daseins zu reflektieren. Leider ist er dabei zu sehr an der Oberfläche geblieben.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Xenophon: Das Gastmahl (4. Jhdt. v.Chr.)

Eine Party als lebendiges Sinnbild des Humanismus

Xenophon macht uns in dieser Schrift zu Zeugen einer Party, und so müsste auch eine korrekte Übersetzung des Titels in modernes Deutsch lauten: „Die Party“. An sich ist eine Party ja nichts außergewöhnliches, aber diese Party fand bereits vor 2500 Jahren statt – und ist dennoch erfrischender und moderner als so manche Party unserer Tage. Neugierig geworden?

Wir erleben mit, wie die Partygäste sich einfinden, gemeinsam plaudern, lachen, scherzen, sich auf das Essen stürzen, Kleinkunst bewundern, und am Ende voller Freude, Elan und guter Ideen wieder auseinander gehen. Auch Sokrates ist zu dieser Party geladen, aber wer erdenschwere philosophische Monologe erwartet, wird angenehm enttäuscht: Xenophon schreibt ganz anders als Platon, und so regieren nicht Ernst und Gedankenschwere, sondern Witz und Esprit diesen Text. Hier findet man keine von der Lebenswirklichkeit isolierten Gedankengänge, sondern das pralle Leben.

Doch es ist eben nicht nur das pralle Leben, sondern auf subtile Weise auch der Geist, der aus diesen uralten und doch so jungen Zeilen spricht: Der Geist des klassischen Athen, der eine völlig neue und noch nie dagewesene Welt hervorbrachte: Die Lust am Leben, an der Natur, am Spielerischen, an der Freiheit des Ausprobierens, an der Vernunft, am Denken selbst; das also, was sich an Lebendigem hinter Begriffen wie „Humanismus“ oder „Aufklärung“ verbirgt.

Wer eintauchen will in die Ursuppe der Moderne und verstehen will, aus was sich das alles zusammengebraut hat, der sollte seine Schuhe schnüren und sich auf den Weg machen, um teilzunehmen an dieser einmaligen Party, die die Leser Xenophons nun schon seit 2500 Jahren begeistert feiern.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juni 2010)

Apuleius: Der goldene Esel (2. Jhdt. n.Chr.)

In die Vollen des antiken Alltagslebens gegriffen

Der Goldene Esel des Apuleius (auch bekannt als: Metamorphosen) ist ein Stück antike Unterhaltungsliteratur, die uns auch heute noch bestens amüsieren kann. Mit Witz und Ironie wird eine Abenteuergeschichte erzählt, die weitere Erzählungen und Anekdoten in sich einschließt, darunter auch so bekannte Erzählungen wie die von Amor und Psyche.

Der Leser erhält Einblick in das Denken und Leben antiker Menschen im 2. Jahrhundert n.Chr. Ob Handel, Handwerk, Reisen und Erotik, ob Geizhälse, Räuber, Frauen und Mägde, ob Zauberei und Isis-Kult – man kommt voll auf seine Kosten.

Wegen der Erzählkunst des Autors, und wegen der tiefen Einblicke in die antike Welt wird dieses Kleinod mit gutem Grund zur Weltliteratur gezählt.

Die kostenlose Kindle-Ausgabe der Übersetzung von August Rode 1920 ist erfreulich fehlerfrei und akzeptabel lesbar.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. September 2013)

Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)

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