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Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant (1867/68)

Vergnüglich-pseudodramatische Weltumrundung durch südliche Geographie und Völkerkunde

Der Titel des Romans ist irreführend: Hauptthema ist die Suche nach dem schiffbrüchig gewordenen Vater der Kinder des Kapitän Grant. Als der schottische Lord Glenarvan eine Flaschenpost des verschollenen Kapitäns findet, zögert er nicht, ihn zu suchen. Da die Schrift der Flaschenpost verwaschen ist, weiß man jedoch nur, dass Kapitän Grant sich irgendwo auf dem 37. Grad südlicher Breite befinden muss. Nacheinander wird die Theorie aufgestellt, dass er sich in Südamerika, Südostaustralien oder Nordneuseeland befinden muss, und damit beginnt eine etwas irre Durchquerung dieser Länder immer stur dem 37. Breitengrad folgend.

Auf der Segeldampfjacht „Duncan“ hat sich dazu eine bunte Truppe versammelt: Zunächst Lord Glenarvan mit seiner jungen Ehefrau Lady Helena, dann sein tapferer Kapitän John Mangles mit seinen Matrosen, dann der stets dienstbereite Butler und Steward Olbinett, natürlich auch die beiden Kinder des Kapitän Grant Mary und Robert, außerdem der Major Mac Nabbs und der französische Geograph Jacques Paganel. Letztere beiden entwickeln eine Hassliebe und sorgen meist für den Humor im Roman: Während Major Mac Nabbs kühl, überlegt und skeptisch ist, ist Paganel begeisterungsfähig, schwärmerisch und zerstreut. Im Hörbuch wird Paganel mit französischem Akzent gelesen, was das Vergnügen noch einmal steigert.

Im Laufe der Reise erfährt man viel über Geographie, Flora und Fauna sowie das Klima der jeweiligen Länder, aber auch Interessantes über die jeweils dort lebenden Ureinwohner und die europäischen Kolonisten. Teilweise erfährt man es durch die Abenteuer, die zu bestehen sind, teilweise durch eingeschobene Vorträge des französischen Geographen Paganel. Egal welche Abenteuer zu bestehen sind, egal wie vergeblich die Suche nach Kapitän Grant immer wieder ist: Der Leser weiß genau, dass die Sache gut ausgehen wird. Alle Dramatik in diesem Roman ist eine vergnügliche Pseudodramatik, und die Lektüre ein wahrer Genuss. Deshalb stört es auch nicht, wenn sich der Leser oft im voraus denken kann, was passieren wird, oder wenn sich Zufälle ereignen, die man in anderen Romanen für unglaubwürdig halten würde: Hier gehört das alles zum Vergnügen der Pseudodramatik dazu. Schließlich ist auch dieses Buch mit der für Jules Verne charakteristischen kosmopolitischen Menschenfreundlichkeit und seinem Aufklärungsoptimismus geschrieben, der sich von Fortschritt und Wissenschaft alles Gute erhofft.

Zwei Themen ziehen sich darüber hinaus durch das ganze Buch: Zum einen Jules Vernes Vorliebe für Schottland und die Schotten. Zum anderen eine scharfe Kritik an den Engländern, die alle Länder der Welt erobern und die Ureinwohner massakrieren. Damit und mit der Skepsis des Major Mac Nabbs wird ein gewisser Gegenpol zum sonst bei Jules Verne üblichen Fortschrittsoptimismus gesetzt. Sie findet sich in anderen Büchern auch in der pessimistischen Weltsicht von Kapitän Nemo wieder.

Aus der Sicht des modernen Leser gibt es an manchen Stellen etwas zuviel Rührseligkeit. An anderen Stellen ist die Belehrung über die jeweiligen Länder etwas zu penetrant. Das alles kann aber das Vergnügen nicht stören. Von besonderem Interesse sind die Sichtweisen des 19. Jahrhunderts unter der Perspektive unserer modernen Gegenwart. So mancher Abschnitt ist politisch sehr unkorrekt und könnte auch durch den Austausch einzelner Worte nicht mehr für den heutigen Zeitgeist gerettet werden – und zugleich ist doch alles sehr wahr und menschlich, was Jules Verne ohne zeitgeistige Bedenken zu Papier bringt.

Am Ende wird Kapitän Grant – natürlich – gefunden, und außerdem der Schurke Ayrton auf einer einsamen Insel ausgesetzt, womit ein Teil der Handlung des Romans „Die geheimnisvolle Insel“ vorbereitet ist.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 25. Juli 2020)

Xenophon: Das Gastmahl (4. Jhdt. v.Chr.)

Eine Party als lebendiges Sinnbild des Humanismus

Xenophon macht uns in dieser Schrift zu Zeugen einer Party, und so müsste auch eine korrekte Übersetzung des Titels in modernes Deutsch lauten: „Die Party“. An sich ist eine Party ja nichts außergewöhnliches, aber diese Party fand bereits vor 2500 Jahren statt – und ist dennoch erfrischender und moderner als so manche Party unserer Tage. Neugierig geworden?

Wir erleben mit, wie die Partygäste sich einfinden, gemeinsam plaudern, lachen, scherzen, sich auf das Essen stürzen, Kleinkunst bewundern, und am Ende voller Freude, Elan und guter Ideen wieder auseinander gehen. Auch Sokrates ist zu dieser Party geladen, aber wer erdenschwere philosophische Monologe erwartet, wird angenehm enttäuscht: Xenophon schreibt ganz anders als Platon, und so regieren nicht Ernst und Gedankenschwere, sondern Witz und Esprit diesen Text. Hier findet man keine von der Lebenswirklichkeit isolierten Gedankengänge, sondern das pralle Leben.

Doch es ist eben nicht nur das pralle Leben, sondern auf subtile Weise auch der Geist, der aus diesen uralten und doch so jungen Zeilen spricht: Der Geist des klassischen Athen, der eine völlig neue und noch nie dagewesene Welt hervorbrachte: Die Lust am Leben, an der Natur, am Spielerischen, an der Freiheit des Ausprobierens, an der Vernunft, am Denken selbst; das also, was sich an Lebendigem hinter Begriffen wie „Humanismus“ oder „Aufklärung“ verbirgt.

Wer eintauchen will in die Ursuppe der Moderne und verstehen will, aus was sich das alles zusammengebraut hat, der sollte seine Schuhe schnüren und sich auf den Weg machen, um teilzunehmen an dieser einmaligen Party, die die Leser Xenophons nun schon seit 2500 Jahren begeistert feiern.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 22. Juni 2010)

Apuleius: Der goldene Esel (2. Jhdt. n.Chr.)

In die Vollen des antiken Alltagslebens gegriffen

Der Goldene Esel des Apuleius (auch bekannt als: Metamorphosen) ist ein Stück antike Unterhaltungsliteratur, die uns auch heute noch bestens amüsieren kann. Mit Witz und Ironie wird eine Abenteuergeschichte erzählt, die weitere Erzählungen und Anekdoten in sich einschließt, darunter auch so bekannte Erzählungen wie die von Amor und Psyche.

Der Leser erhält Einblick in das Denken und Leben antiker Menschen im 2. Jahrhundert n.Chr. Ob Handel, Handwerk, Reisen und Erotik, ob Geizhälse, Räuber, Frauen und Mägde, ob Zauberei und Isis-Kult – man kommt voll auf seine Kosten.

Wegen der Erzählkunst des Autors, und wegen der tiefen Einblicke in die antike Welt wird dieses Kleinod mit gutem Grund zur Weltliteratur gezählt.

Die kostenlose Kindle-Ausgabe der Übersetzung von August Rode 1920 ist erfreulich fehlerfrei und akzeptabel lesbar.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 28. September 2013)

Victor Hugo: Der Klöckner von Notre Dame (1831)

Ein durch und durch gotisches Meisterwerk, voller Gedankentiefe, Tragik und bissiger Ironie

Der Roman „Notre Dame de Paris“ (deutsch: „Der Glöckner von Notre Dame“) ist ein durch und durch gotisches Meisterwerk. Im Mittelpunkt steht natürlich die gotische Kathedrale Notre Dame in Paris. Aber auch der Stil des Buches ist gewissermaßen „gotisch“: Teilweise ist er fast unerträglich burlesk, teilweise ist er recht grob gestrickt, und treibt die Handlung in „klobigen“ Stücken voran, teilweise verliert sich das Buch in Beschreibungen und Betrachtungen, und teilweise ist der Stil auch überraschend fein und verspielt. Nicht zuletzt wird die Kathedrale Notre Dame in einem großartigen Gleichnis als ein „Buch aus Stein“ bezeichnet, an dem ein ganzes Volk „mitgeschrieben“ hat. Aber auch die beiden Figuren des Glöckners Quasimodo und des Archidiakonus Claude Frollo verkörpern gotische Charakterzüge, die das Kirchengebäude wiederspiegeln, das sie bewohnen. Schließlich bricht Victor Hugo in diesem Roman ähnlich wie Goethe eine Lanze für den gotischen Baustil, und schmäht die Moden der späteren Baumeister.

Die Freiheit der Menschen habe sich gerade in der Baukunst ausgedrückt, meint Victor Hugo. Deshalb gäbe es so viele Bauten, Baumeister und Maurer. Der Gedanke geht in Richtung Freimaurerei, doch diese Beziehung wird nicht explizit ausgesprochen. Die Bauform der Priester und des Mythos sei die Romanik und der Hindu-Tempel, die Bauform des Volkes aber die Gotik, wo der Mensch im Mittelpunkt stehe, meint Victor Hugo. Hier schreibt Hugo manches, was man aus moderner Sicht nur als Pseudowissenschaft einordnen kann, aber die Absicht Hugos bleibt klar. Der Buchdruck werde das „Buch aus Stein“, die Baukunst verdrängen, meint Victor Hugo, und es entstehe ein neues Weltgebäude: Die Literatur.

Der Roman handelt jedoch nicht nur von der Kathedrale Notre Dame und der gotischen Bauform, sondern erweckt das ganze mittelalterliche Paris des Jahres 1482 zum Leben. Ausführlich werden die verschiedenen Stadtteile und Bauwerke darin beschrieben, und ebenso das bunte Treiben der Pariser Bevölkerung. Auch Gaunergilden und das mittelalterliche Gerichts- und Strafwesen sind ein Thema, und Victor Hugos Abneigung gegen die Todesstrafe kommt auch hier voll zum Ausdruck. Auch König Ludwig XI. wird vorgeführt, der Frankreichs Weg in den Absolutismus zu beschreiten begann. Insofern Victor Hugo hier das Leben und Wesen von Paris von damals beschreibt, und damit natürlich ganz Frankreich meint, hat er mit diesem Buch auch ein Nationalepos geschaffen.

Im Zentrum der Handlung steht „die Esmeralda“ (spanisch: Smaragd), eine bezaubernde junge Zigeunerin mit ihrer liebenswerten Zauber-Ziege Djali, die von allen begehrt wird (die Esmeralda, nicht die Ziege): Von Quasimodo dem hässlichen Glöckner von Notre Dame, der sich als erstaunlich selbstreflektiert erweist, denn er kennt seine bedauerliche Lage genau, vom gelehrten Archidiakonus von Notre Dame, und von dem schnöseligen, feschen Hauptmann Phoebus, in den sich die Esmeralda in jugendlicher Naivität rettungslos verliebt, obwohl er sie nur ausnutzt. Hinter allem steht ein dunkles Geheimnis, das die Esmeralda und Quasimodo verbindet: Einst wurde die Esmeralda von Zigeunern geraubt und durch Quasimodo ausgetauscht. Die unglückliche Mutter der Esmeralda und ihr Leiden ist eine der stärksten Figuren in diesem Roman, die man – wie vieles an diesem Roman – anfangs völlig unterschätzt.

Nebenfiguren sind Pierre Gringoire, der die Karikatur eines gescheiterten Dichters und Philosophen verkörpert, und Jean Frollo, der jüngere Bruder des Archidiakonus, der dessen Spiegelbild ist: Statt Gelehrsamkeit nur eitle Lebenslust. Ebenso König Ludwig XI., seine Errungenschaften und seine grausame Art. Eine Nebenhandlung sind die Bemühungen des Archidiakonus um Gelehrsamkeit und alchemistische Kunst, wobei öfter der name Nicolas Flamel fällt. Der Archidiakonus erscheint zunächst sehr sympathisch, denn er ist ein großer Gelehrter und kümmert sich vorbildlich um die Erziehung des Krüppels Quasimodo und seines jüngeren Bruders Jean Frollo. Doch im Laufe des Buches verwandelt er sich in das glatte Gegenteil, in einen geilen Priester, dem die Gelehrsamkeit nichts mehr gilt.

Immer wieder streut Victor Hugo Kommentare voller bissiger Ironie ein, die anhand der mittelalterlichen Zustände das Frankreich seiner Gegenwart kritisieren sollen. Leider ist dem modernen Leser nicht immer klar, worauf Victor Hugo damit anspielt, doch die Bissigkeit der Ironie spricht für sich. Lateinische Bildung und Gelehrsamkeit wird in diesem Buch leider konsequent durch den Kakao gezogen. Es werden viele lateinische Zitate gebracht, deren Übersetzung dem Leser überlassen bleibt. Der Roman endet tragisch für alle Beteiligten. Über allem sieht Victor Hugo die Ananke stehen, die Notwendigkeit und Unabweisbarkeit des Schicksals. Auch hier möchte der moderne Leser ein Fragezeichen setzen, ob wirklich alles so unabweisbar notwendig geschieht.

Fazit: Ein großartiger Roman, der in vielfacher Hinsicht völlig unterschätzt wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. März 2020)

Julia Voss: Darwins Jim Knopf (2009)

Michael Endes Jim Knopf als positive „Bannung“ und Umprogrammierung negativer Mythen und Bilder

Der deutsche Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende (1929-1995) begann seine Karriere 1960/62 mit dem zweibändigen Werk Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, das zu einem Klassiker der deutschen Kinderbuchliteratur wurde. Lange Zeit galt das Werk als ein gelungenes Erzeugnis der freien Phantasie des Autors. Doch 2009 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss eine Untersuchung, derzufolge Michael Ende mit den Motiven dieses Jugendbuches Motive des Nationalsozialismus aufgriff, um sie durch eine alternative Bilderwelt zu überschreiben und umzuprogrammieren, mithin also positiv zu „bannen“.

Der schwarze Junge und Held des Buches Jim Knopf entspricht dem realen Jemmy Button, dem Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle begegnete: Damit ist das Thema des Darwinismus gesetzt. Die Drachenwelt Kummerland, zu der keine Halbdrachen Zugang haben, entspricht der Welt des Nationalsozialismus, die auf Reinrassigkeit wert legte. Der autoritäre Lehrerdrache Frau Malzahn verwandelt sich später in einen Drachen der Weisheit und des Glücks. Und schließlich führt die Reise von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer in eine versunkene Stadt, die am Ende der Geschichte aus den Tiefen des Meeres wieder auftaucht. Dabei entpuppt sich die kleine Insel Lummerland, die Heimat von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, als die höchste Bergesspitze eines versunkenen Kontinentes. Aus allen Himmelsrichtungen ziehen die Völker herbei, um in trauter Eintracht in dem neuen Land zu leben. Der Name „Atlantis“ wird bei Michael Ende zwar nicht explizit genannt, doch ist das Motiv unverkennbar. Ähnlich wie in Thomas Manns Joseph und seine Brüder ist Atlantis bei Michael Ende nicht der Ursprungsort einer „reinen“ Rasse, sondern im Gegenteil ein Ort, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben. Ähnlich wie bei Thomas Mann ist bei Michael Ende nicht etwa die Vernichtung des Bösen, sondern die Erneuerung und Verwandlung des Bösen zum Guten das Ziel: Der Drache Mahlzahn verwandelt sich in einen Drachen der Weisheit und des Glücks, und das versunkene Atlantis taucht wieder auf.

Woher Michael Ende die Idee hatte, dass es eine Verbindung zwischen Atlantis und Nationalsozialismus gab, ist unbekannt. Die Schulszene mit dem Lehrerdrachen Frau Mahlzahn lässt vermuten, dass Michael Ende seine persönlichen negativen Eindrücke über den Nationalsozialismus hauptsächlich in der Schule gewonnen hatte. Einzelne Lehrer können ihre Schüler mit dem Thema Atlantis traktiert haben, obwohl dies nicht der offiziellen Parteilinie entsprach. Eine wichtige Rolle der Schule vermutet auch Julia Voss, allerdings verengt auf den Biologieunterricht. Vielleicht würde man fündig, wenn man statt des Biologie- den Geschichts- oder Geographieunterricht in den Blick nehmen und statt nach offiziellen Lehrplänen nach den konkreten Lehrern des Schülers Michael Ende fragen würde?

Fehler

Leider sind Julia Voss einige typische Irrtümer unterlaufen, die im Zusammenhang mit dem Thema Atlantis und Nationalsozialismus im Umlauf sind, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. So schreibt sie z.B.: „Atlantis, der alte Mythos, den die Nationalsozialisten in Deutschland zuvor an sich gerissen und in unzähligen Kinderbüchern zu einer biologischen Rassenparabel umkodiert hatten. … … … Mit dem Nationalsozialismus war die Wahnvorstellung massentauglich geworden. … … … … fand … der Atlantis-Mythos seinen größten Umschlagplatz in der Kinder- und Jugendbuchliteratur.“

Natürlich spielte Atlantis im Nationalsozialismus keine Rolle, erst recht keine öffentliche Rolle, und Julia Voss kann natürlich keine „unzähligen Kinderbücher“ vorweisen, in denen das Atlantisthema im Nationalsozialismus verarbeitet worden wäre. Das einzige Beispiel, das Julia Voss vorweist, ist die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis. Das ist aber erstens kein Kinderbuch, und zweitens ist diese Serie keine Erfindung der Nationalsozialisten. Ganz im Gegenteil: Unter Einfluss der Nationalsozialisten musste eine der beiden Hauptfiguren der Serie – ein Schwarzer – erst künstlich aus der Serie entfernt werden, wie Julia Voss selbst beschreibt. Schließlich ist Sun Koh eine Phantasiegeschichte, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Wegen Sun Koh hat im Nationalsozialismus gewiss niemand an Atlantis geglaubt, geschweige denn vermutet, dass Atlantis etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun haben könnte. Im Gegenteil hat Sun Koh dazu beigetragen, dass Atlantis als ein literarischer Topos für phantasievolle Groschenromane und nicht als ein realer Ort wahrgenommen wurde.

Dass die Groschenromanserie Sun Koh – Der Erbe von Atlantis nicht als Ausdruck eines engen Verhältnisses von Nationalsozialismus und Atlantis gesehen werden kann, wird auch daran deutlich, dass es seit 1941 eine US-Comicserie gab, die eine ganz ähnliche Thematik hatte und ein ganz ähnliches look and feel aufwies: Aquaman. Aquaman ist ein moderner Mensch, der sich unter Wasser bewegen kann und dessen Mutter von Atlantis stammt. Die bevorzugten Gegner von Aquaman während des Zweiten Weltkrieges waren nationalsozialistische U-Boote: Hier waren Atlantis und Nationalsozialismus also Gegensätze. Aquaman ist bis heute eine feste Größe in der US-amerikanischen Popkultur. Im Jahr 2018 erschien der Kinofilm Aquaman, der Kinostart in Deutschland war am 20. Dezember 2018.

Auch bei den möglichen Ursachen der angeblichen Atlantisbegeisterung der Nationalsozialisten folgt Julia Voss den klassischen Irrtümern: Theosophen und Ariosophen werden als Quellen dieser Idee genannt. Doch Julia Voss weiß weder etwas von Gleizès und Richard Wagner, noch vom Artamanenbund.

Diese populären Irrtümer schmälern natürlich in keiner Weise die großartige Entdeckung von Julia Voss, dass Michael Endes Jim Knopf der Versuch einer systematischen Umprogrammierung vermeintlicher oder echter Motive des Nationalsozialismus war.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung als Unterkapitel in Thorwald C. Franke: Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis, 2016)

PS 28.02.2024

Am 22. Februar 2024 ging die Schreckensmeldung durch die Presse: Nun ist auch Michael Endes Jim Knopf im Sinne des Wokismus sprachlich und bildlich „bereinigt“ worden. Das Wort „Neger“ wird vermieden und als angeblich rassistisches „N-Wort“ geschmäht, und auch das schöne Wort „Mandelaugen“ fiel dem Rassismusvorwurf zum Opfer. Die bekannten Grafiken wurden retuschiert, z.B. um die „schwarzen“ Eigenschaften von Jim Knopf weicher zu zeichnen.

Der Vorgang ist an sich schon grotesk, aber im Falle von Michael Endes Jim Knopf zeigt sich die ganze Lächerlichkeit des Wokismus mit besonderer Deutlichkeit: Denn eine zentrale Technik in den Werken Michael Endes ist die positive „Bannung“ von Vorurteilen und Stereotypen, indem diese positiv gewendet und „umprogrammiert“ werden, wie oben beschrieben. Der Effekt dieser positiven Bannung geht nun jedoch teilweise verloren, denn umprogrammieren kann man nur das, was man auch offen und unverblümt darstellt!

Durchgeführt wurde die Säuberungsaktion vom Verlag Thienemann, in Abstimmung mit den Erben Michael Endes. Der ganze Vorgang ist an Dummheit und Unverschämtheit kaum zu überbieten. Es handelt sich um nichts anderes als um einen Anschlag auf einen sehr wertvollen Teil unserer deutschen Kultur. Denn wo sonst finden wir einen so konstruktiven und aufbauenden Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom (1954) – Teil 3 der Trilogie des Scheiterns

Erdenschwere Auseinandersetzung um Täter, Schuld, Söhne, Bewältigung

Der dritte Roman „Der Tod in Rom“ aus der „Trilogie des Scheiterns“ von Wolfgang Koeppen befasst sich mit weiteren Gruppen von Deutschen: Den Tätern, den willigen Mitläufern, deren Söhnen und deren Bewältigungsstrategien, aber auch mit Opfern. Im ersten Roman ging es noch um die kleinen Leute, im zweiten Roman um die Politiker und Journalisten des Wiederaufbaus.

Im Zentrum des Romans steht die Familie Pfaffrath-Judejahn, deren Teile sich durch Zufall alle in Rom aufhalten und dort treffen. Wieder laufen verschiedene Handlungsfäden nebeneinander her, bis sie sich immer mehr berühren und verstricken.

Judejahn, der alte NS-General, arbeitet inzwischen für ein arabisches Regime, für das er als Waffenhändler mit Diplomatenpass, Limousine und Chauffer in Rom ist. Im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wurde er in Abwesenheit zum Tod verurteilt. Judejahn ist der uneinsichtige Nazi, ignorant, befehlsgewohnt, aber auch alt geworden und leidet daran, dass er nicht mehr befehlen kann. Psychologisch wird immer wieder auf den infantilen kleinen Gottlieb angespielt, der in dem General steckt. Literarisch werden ihm die Symbole von Tod und Teufel zugeordnet.

Friedrich Wilhelm Pfaffrath war vor dem Krieg Oberpräsident, als der er dem Dirigenten Kürenberg die Scheidung von seiner jüdischen Frau aus der Kaufhausfamilie Aufhäuser nahegelegt hatte. Kürenberg lehnte ab und emigrierte. Heute ist Pfaffrath demokratisch gewählter Bürgermeister. Er sieht die Verbrechen der Nazis als „Fehler“, meint aber, man könne danach weitermachen wie bisher, wiederaufbauen, evtl. sogar einen weiteren Krieg zum Ausgleich führen.

Seine Frau ist die Schwester von Eva, der Ehefrau Judejahns. Eva ist NS-gläubig und versteht die Welt nicht mehr. Sie wollen sich mit Judejahn treffen, zum ersten Mal nach dem Krieg, und über eine mögliche Rückkehr Judejahns beraten, dem Pfaffrath einen Beamtenposten verschaffen möchte.

Dietrich Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrath, und ein Karrierist. Er bemisst alles und alle nur danach, ob es ihm auf dem Karriereweg nützen kann. Friedrich Wilhelm und Dietrich Pfaffrath sind eigentlich die zwei Charaktere, die den Leser am meisten verzweifeln lassen, denn sie sind zwar definitiv keine Nazis, aber eben doch willige Mitläufer, Karrieristen, deren Ideologie das Mitmachen und das Erfolghaben ist. Die Plage aller Zeiten.

Siegfried Pfaffrath ist Sohn von Friedrich Wilhelm Pfaffrat und hat sich komplett von der Familie losgesagt. Als Kind hat er mitbekommen, wie sein Vater Kürenberg die Scheidung von Ilse Aufhäuser nahelegte, wie das Kaufhaus Aufhäuser brannte, und später stöberte er in der geplünderten Bibliothek der Aufhäusers. Siegfried war auf einer NS-Ordensschule, ist Komponist geworden, und zu einem Musikkongress in Rom, auf dem Kürenberg seine Symphonie aufführen wird, ein Stück voller Verzweiflung und Zerstückung des Geistes. Siegfried Pfaffrath ist zum Päderasten geworden. Ein Menschenleben in dieser Welt zu zeugen ist ihm ein Greuel.

Adolf Judejahn ist der Sohn von Judejahn, der Priester wurde. Er war zusammen mit Siegfried auf einer NS-Ordensschule, und liefert sich im Laufe des Romans zwei hochinteressante Gespräche um die Verstrickung und um das Entkommen daraus, welches Handeln Sinn hat, und wie es weitergehen soll. Beide sind ratlos und wissen um die Brüchigkeit der rationalen Legitimation ihres Weges. Sie fragen sich, ob sie es sich nicht zu einfach machen usw.

Die Klimax des Romans ist mehrfach: Alles trifft sich im Konzert zur Aufführung der Symphonie von Siegfried. Danach trifft sich alles in den Künstlerräumen hinter der Bühne. Dann trifft sich alles in einer Schwulenbar. Zum Schluss erschießt Judejahn Ilse Kürenberg, und stirbt an einem Schlag.

Kritik

Wolfgang Koeppen malt auch hier zu schwarz. Für ihn ist die ganze Geschichte eine Orgie von Macht und Sinnlosigkeit. Ganz so verdorben ist die Menschheit dann doch nicht. Außerdem gerät Koeppen durch diese Sicht in Gefahr, das Besondere der NS-Verbrechen zu relativieren. Würde Koeppen seine Verzweiflung über die Menschheit konsequent zu Ende denken, würde er beim Pfaffrathschen Denken herauskommen: Fehler sind geschehen, aber nichts besonderes, und jetzt muss wieder aufgebaut werden – das ist eben zu einfach gedacht.

Koeppen beobachtet vieles richtig, repräsentiert aber dennoch eine extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus. Dies wird auch deutlich an seiner für ihn selbst fragwürdigen Vision einer Nation ohne jedes nationale Pathos. Lösungen bietet dieses Buch gar keine. Nur Zweifel und Verzweiflung.

Für einen Menschen wie Koeppen, der in einem Interview mit Marcel Reich-Rarnicki angab, doch lieber an Gott zu glauben, und sich auch sonst versöhnlicher zeigte, ist das eigentlich erstaunlich. Vielleicht ist es mit seinen Büchern wie mit seinem Interview: Erst auf Nachfrage relativiert und präzisiert Koeppen eine anfänglich allzu harte, allzu einseitige Aussage. Ein Buch lässt sich leider nicht befragen.

An einer Stelle blitzt kurz doch so etwas wie die Idee eines anderen, besseren Weges auf. Dort nämlich, wo ausgerechnet Friedrich Wilhelm Pfaffrath an eine Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückdenkt, an seine Jugend, wo er einen besseren Weg ging, den er aber verließ (S. 562, als Judejahn aus der Schwulenbar wieder herauskommt).

Zusammenfassung

Wolfgang Koeppen thematisiert die Uneinsichtigkeit der Täter und ihr Davonkommen ohne Urteil, und wie sie nach dem Krieg in Luxus leben. Dann die Fortsetzung ihrer Schlechtigkeit in der nächsten Generation. Die hilflosen Versuche der Nachgeborenen, sich von ihren Täterfamilien zu lösen, und ihre Zweifel, ob es gelingt und welchen Sinn ihr Dasein hat.

Noch mehr als sonst in der „Trilogie des Scheiterns“ malt Koeppen schwarz, was nur als extreme Überreaktion auf den Nationalsozialismus gedeutet werden kann. Man nimmt es dem guten Koeppen nicht ganz ab.

Literarisch ist das Buch wieder besser gelungen als der zweite Roman, es gibt wieder mehr gelungene überraschende Effekte und Übergänge von einer Szene zur nächsten, aber es reicht nicht an den ersten Roman heran.

Nebenbei

Der Roman klappert alle bekannten touristischen Orte Roms ab, und verknüpft so die Fragen von Schuld und Bewältigung mit einem Sehnsuchtsort der Deutschen. Der Name „Judejahn“ ist wohl eine Anspielung auf den General Guderian, dessen Namen berlinerisch ausgesprochen „Judejahn“ nahe kommt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. Oktober 2018)

Margaret Atwood: Die Penelopiade – Der Mythos von Penelope und Odysseus (2005)

Ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber eben doch nur ein Pamphlet

In der „Penelopiade“ erzählt Margaret Atwood die Geschichte der Odyssee aus Sicht von Penelope, der Ehefrau des Odysseus, und zwar im Rückblick nach ihrem Tod aus dem Hades heraus. Atwood gestaltet dieses Werk als ein Pamphlet, mit dem sie feministische und sozialkritische Themen in literarischer Form transportiert. Literarisch ist dieses Werk ein Erlebnis, doch inhaltlich kann es nicht überzeugen. Es handelt sich um ein literarisch gelungenes Pamphlet, aber es ist eben doch nur das: Ein Pamphlet.

Kritik am feministischen Aspekt

  • Der feministische Ansatz, man müsse die Odyssee doch auch einmal aus weiblicher Perspektive, also aus Sicht der Penelope, erzählen, übersieht, dass die Odyssee des Homer von einem Sänger erzählt wird. Zudem geht es über lange Strecken der Odyssee hinweg nur um Penelope und die Situation in Ithaka, nicht aber um Odysseus. Wenn man nun Penelope selbst zu Wort kommen lässt, ist das in Wahrheit eine Bevorzugung der Frau, und nicht etwa eine nachgeholte Gleichberechtigung.
  • Atwood unterlegt die Geschichte mit viel Zynismus, vor allem gegen Männer: Gegen das Extrem einer rein romantischen Darstellung mit wahrer Liebe und echtem Heldentum stellt sie das andere Extrem von berechnenden Hintergedanken und bloß gespielter Tugend, hinter der sich Laster und List verbergen. Als clever gilt, wer zynisch ist. Tugend ist naive Dummheit. Doch auch hier ist die originale Odyssee besser: Denn sie geht einen Weg zwischen beiden Extremen. Penelope ist eben nicht die brave, dumme Ehefrau, die zuhause bleiben und dienen muss, während der Ehemann in die Welt zieht und das Leben kennenlernt. Dieses Klischee wird hier beschworen. Zugleich wird dieses Klischee konterkariert durch die Aussage, dass Penelope natürlich heimlich reihenweise mit den Freiern ins Bett gegangen wäre, denn wieso sollte nur der Mann Anspruch auf Laster haben? Es ist ein Feminismus, der die Parole ausgibt: Wir Frauen wollen endlich auch so schlecht sein, wie wir uns die Männer immer vorgestellt haben! Nicht gerade verlockend.
  • Atwood lässt Penelope ans Publikum appellieren, es ihr nicht gleichzutun! Bloß nicht tugendhaft sein! Die Botschaft ist also: Lebe Deine Lust aus, sei lasterhaft, sei nicht treu! Doch davon wollen wir allen Leserinnen (und Lesern) gründlich abraten. Tugend ist keine historische Worthülse, auch wenn jede Zeit die genauen Umrisse von Tugend neu bestimmen muss. Tugend kommt von innen, wirkt nach innen, und zahlt sich aus. In eigener seelischer Balance, in sozialer Balance, und auch sonst. Die „alten Regeln“ gelten trotz allem noch, wenn auch in stark erneuertem Gewand.
  • Irgendwie ist dieser Odysseus, den Atwood zeichnet, trotz allem sympathisch. Er ist klug, Penelope ist es auch. Die Hochzeitsnacht ist für damalige Verhältnisse wirklich ganz passabel. Beide haben Spaß aneinander und erzählen sich gerne Geschichten. Ich meine, dass Atwood bei allem Zynismus nicht darum herumgekommen ist, das Gute an Odysseus, das auch im Original steckt, durchscheinen zu lassen.
  • Atwood bürstet einen 3000 Jahre alten Stoff feministisch gegen den Strich und zielt mit ihrer Botschaft sichtlich auf ihre Gegenwart (das Buch wurde 2005 veröffentlicht). Doch die Sitten der Männer (und Frauen) vor 3000 unterscheiden sich doch erheblich von den Sitten in unseren Tagen. Auf diese Weise verfehlt Atwood beide Zeithorizonte: Sie ist einerseits nicht fair zur Gegenwart, aber sie ist andererseits auch nicht fair zur Vergangenheit, denn man kann moderne Maßstäbe nicht 1:1 an alte Zeiten anlegen. Atwood quetscht etwas in diese Geschichte hinein, was dort nicht hineinpassen will.
  • Atwood verbreitet die pseudowissenschaftliche Idee, dass es in der Vorzeit ein Matriarchat gegeben habe, das von patriarchalen Männern, für die Odysseus urbildlich steht, gestürzt worden sei. Diese Idee hat sie ganz offensichtlich von Robert von Ranke-Graves, denn sie nennt ihn als Inspirationsquelle für zahlreiche Aspekte ihres Werkes (allerdings nicht für diesen, seltsam). Die Wissenschaft hatte diese Idee schon zu Zeiten von Ranke-Graves verabschiedet, warum muss Atwood das 2005 immer noch verbreiten?

Kritik am sozialkritischen Aspekt

Neben dem feministischen Aspekt gibt es aber auch einen stark sozialkritischen Zug. Die niedere Stellung der Mägde gegenüber den Oberen Odysseus und Penelope, ihre Abhängigkeit und ihre Ermordung zur Rettung der Ehre ihrer Herrin Penelope zieht sich durch das ganze Buch durch, angefangen von der Geburt der Penelope. Die Mägde treten auch immer wieder als Chor verkleidet auf und singen Matrosen-Shantys und andere kommentierende Moritaten, die zu den literarischen Höhepunkten des Werkes zählen.

  • Durch diese zweite, sozialkritische Botschaft wirkt das Werk überfrachtet. Es gibt kein dominierendes Thema, und die beiden Themen Feminismus und Sozialkritik stehen sich gegenseitig im Weg herum und lassen den Leser ein wenig ratlos zurück, was Atwood jetzt genau sagen wollte. Eine solche Überfrachtung mit Themen ist auch in anderen Werken Atwoods zu beobachten.
  • Wie schon beim Feminismus wird auch bei der Sozialkritik eine moderne Interpretation an ein 3000 Jahre altes Geschehen angelegt, die unpassend ist.

Literarische Qualität

Auf literarischem Gebiet überzeugt Margaret Atwood sehr viel mehr: Es fällt dem Leser auf, dass sie Homers Odyssee sehr genau gelesen hat, denn sie greift geschickt Details auf, die von den meisten überlesen werden. Es beeindruckt die Vielzahl literarischer Formen: Prosa, Lieder, eine dramatische Gerichtsverhandlung. Auch das Angebot einer mythologischen Paraphrasierung des Geschehens gegen Ende ist interessant. Die Songs der Mägde sind jedoch das Größte. Es sind wahre Ohrwürmer voll saftiger Ironie und Sarkasmus.

Fazit

Das Ziel von Margaret Atwood war es offensichtlich, mit der Odyssee einen Grundlagentext unserer Kultur zu konterkarieren, indem sie ihn scheinbar „realistisch“ ausdeutete, nämlich respektlos zynisch und lächerlich, um auf diese Weise seine Autorität infrage zu stellen. Denn Atwood sieht in der Odyssee einen Grundlagentext des Patriarchats, gegen das sie anschreibt. Doch ihr Pamphlet verfehlt die Wirklichkeit der Odyssee ebenso wie die Wirklichkeit unserer Tage. Es ist eine Rebellion der Unvernunft gegen die Sinnhaftigkeit der Tradition selbst. Eine solche Perspektive wird den alten Texten grundsätzlich nicht gerecht und verfehlt deren Weisheit, die trotz ihres Alters noch in ihnen steckt. Man enthebt sich der Mühe, diese Weisheit zu entdecken und für die Gegenwart zu aktualisieren. Darum müsste es eigentlich gehen. Im Grunde befasst sich Atwood gar nicht mit der Überlieferung, sondern drückt umgekehrt der Überlieferung etwas aufs Auge, was gar nicht in dieser drin steckt. Was bleibt ist ein literarisch gelungenes Pamphlet. Am Ende entpuppt sich Margaret Atwood als mindestens genauso listenreich wie jener Odysseus, den sie uns vor Augen führt: Die allzu listenreiche Autorin kritisiert den allzu listenreichen Odysseus – und es fällt auf sie zurück.

Bertolt Brecht

Der naheliegendste literarische Vergleich ist Bertolt Brecht. Auch Brecht war literarisch genial und hatte ein politisches Anliegen, mit dem er letztlich auf dem Holzweg war. Auch bei Brecht finden wir diesen Zynismus, aber auch solche Lieder wie in Atwoods „Penelopiade“. Einen direkten Vergleich können wir in Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ sehen. Dort fragt Brecht u.a.: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ – Es ist dieselbe Respektlosigkeit vor der Überlieferung wie bei Atwood. Es ist wahnsinnig sozial gedacht, geht aber an der Wirklichkeit völlig vorbei. Denn Alexander und Caesar waren jeweils der „spiritus rector“ ihrer Feldzüge, und nicht ihre Soldaten. Es ist ein Anschlag auf die Überlieferung, im Grunde eine Lächerlichmachung. Caesars Gallienfeldzug war eine echte Leistung von Caesar, in vielerlei Hinsicht – und dann kommt der respektlose Herr Brecht, der wischt das alles beiseite, und fragt pseudo-realistisch nach dem Koch, und dass die eigentliche Leistung doch von den Legionären erbracht worden sei. Was so eben nicht stimmt. Aber ja … auch Brecht war literarisch genial, kein Zweifel.

Bewertung: 3 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 13. Mai 2020)

Miguel de Cervantes: Don Quijote von der Mancha (1605/1615)

Eine saftige Satire auf die Irrungen des Zeitgeistes, mit viel Witz und literarischer Finesse

Das spanische Nationalepos, der Roman „Don Quijote von der Mancha“ von Miguel de Cervantes, ist ein Schlüsselroman der europäischen Geistesgeschichte, der alle späteren literarischen Werke stark beeinflusst hat. Ein Roman voller Witz und ein großes Lesevergnügen!

Eine Parodie

Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei „Don Quijote“ um eine recht simpel gestrickte Parodie auf die damals in Spanien fast schon krankhaft populären Ritterromane: Ein kleiner spanischer Landadliger hat zu viele dieser Ritterromane gelesen und bildet sich daraufhin ein, es handele sich bei den Abenteuern von Ritter Roland oder des Amadis von Gallien um wahre Geschichten. Deshalb fühlt er sich dazu berufen, das Rittertum wieder aufleben zu lassen und in der Gegenwart des Romanlesers (17. Jahrhundert) als fahrender Ritter durch die Lande zu ziehen, um Elende, Witwen und Waisen zu beschützen und gegen Schurken und Riesen zu kämpfen.

Dabei deutet Don Quijote alles, was ihm begegnet, im Sinne seines Wahnes um: Schenken hält er für Burgen, Windmühlen für Riesen, Frauen für Prinzessinnen, Soldaten für Ritter, Schafsherden für Heere, ein Scherbecken für einen Ritterhelm, und seinen alten Klepper Rosinante für ein stolzes Ross. Kommt es zu Widersprüchen oder offensichtlichen Enthüllungen, die diese Wahnwelt stören, glaubt Don Quijote sich durch böse Zauberer getäuscht, die alles nach Belieben verwandeln können. Erst im letzten Kapitel, kurz vor seinem Tode, erwacht Don Quijote aus seinem Wahn, um final allen Ritterromanen abzuschwören.

Sancho Pansa

Einen der Bauern aus einem Nachbardorf, Sancho Pansa, hat Don Quijote gegen Geld angeheuert, um ihm als Knappe zu dienen. Zwischen Don Quijote und Sancho Pansa entspinnen sich köstliche Dialoge: Hier der idealistische aber unrealistische Don Quijote, dort der praktisch denkende aber auch zynische und egoistische Sancho Pansa. Der Leser kann beiden Sichtweisen etwas abgewinnen, aber auch keiner der beiden Sichtweisen unumschränkt zustimmen, und wird so zum eigenen Nachdenken gezwungen.

Sancho Pansa ist auch nicht immer ehrlich, sondern lügt Don Quijote manchmal etwas vor, woraufhin Don Quijote diese Lügen prompt in sein wahnhaftes Weltbild einbaut, was zu urkomischen Verwicklungen führt. Sancho Pansa lässt sich an manchen Stellen selbst in die Wahnwelt seines Herrn hineinziehen, mit der typischen Pragmatik des Unintellektuellen: Was weiß ich denn schon? Außerdem wird Sancho Pansa durch die Bezahlung gelockt, die ihm winkt, insbesondere auch durch das Versprechen Don Quijotes, ihm ein Eiland zum gubernieren zu verschaffen, nachdem Don Quijote seinerseits als Belohnung für seine Ritterdienste – so sein Wahn – dereinst ein Königtum erhalten haben wird. Das „Eiland zum gubernieren“ ist einer der vielen running gags dieses Romans. Obwohl das Versprechen reiner Wahn ist, kann Sancho Pansa sich nicht überwinden, diese „Chance“ fahren zu lassen, denn zu verlockend ist für seinen beschränkten Bauernverstand diese Aussicht.

Sancho Pansa ist außerdem eine köstliche Quasseltante, die in einem fort Sprichwörter herunterrattert, die sich nicht selten reimen und seinen praktischen Bauernverstand zum Ausdruck bringen. Außerdem verdreht Sancho Pansa gerne Sätze oder auch die Lautfolge einzelner Worte, vor allem bei Fremdworten, die er nicht kennt, und die ihm deshalb nicht leicht von der Zunge gehen. Seine gewitzte Bauernschläue zeigt sich, wenn Sancho Pansa schwierige Aufgaben und Rätsel mit der ungetrübten Klugheit des einfachen Hausverstandes meistert. Zum Schluss hat sich bei Sancho Pansa auch eine gewisse Zuneigung zu seinem Herrn herausgebildet, die ihn zu ihm halten lässt, trotz seines Wahns. Aber auch zu seinem „Grauohr“, seinem Esel, hat Sancho Pansa ein inniges Verhältnis, das zu manchem komischen Verhalten führt. Sancho Pansa ist ohne Zweifel eine zu Don Quijote mindestens ebenbürtige Hauptfigur des Romans. Aber auch seine überaus praktische Ehefrau Teresa Pansa hat immer ein Wörtchen mitzureden.

Komische Abenteuer

Zusammen erleben Don Quijote und Sancho Pansa zahlreiche Abenteuer, die sich meistens daraus ergeben, dass Don Quijote irgendwelche Belanglosigkeiten in seiner Phantasie zu wilden Abenteuern aufbläst und sich als Ritter zum Einschreiten berufen fühlt. Die Menschen, die ihm begegnen, wissen oft nicht, wie ihnen geschieht, und nehmen reißaus. Andere lassen sich auf den Wahn von Don Quijote ein und machen sich einen Spaß mit ihm. Nur wenige versuchen, mit Don Quijote zu argumentieren. Noch öfter aber endet alles damit, dass Don Quijote und Sancho Pansa eine Tracht Prügel einstecken müssen. An diesen Stellen erinnert der Roman an modernen Slapstick à la Dick und Doof. Häufig trifft es Sancho Pansa dabei härter als Don Quijote, der sich mehr als einmal mit irgendeiner Ausrede, an die er selbst glaubt, feige zurückhält, statt Sancho Pansa zu Hilfe zu eilen.

Der übersteigerte Idealismus des Don Quijote führt dabei – zusätzlich zu seinem Ritterwahn – manchmal zu höchst unerwarteten doch sehr lehrreichen Konsequenzen. Die entsprechenden Episoden erinnern an manche bissige Kurzgeschichte von Mark Twain. So befreit Don Quijote z.B. einige Galeerensträflinge aus ihrer Gefangenschaft, doch als er Dank erwartet, rauben ihn die soeben befreiten Sträflinge kurzerhand aus.

Jeder Ritter verehrt eine Dame, und so hat sich Don Quijote ein Mädchen, das er vor langer Zeit in dem Nachbardorf Toboso gesehen hatte, zu seiner Dame erkoren. Diese Dame wird von ihm zur schönsten Prinzessin verklärt und mit dem Phantasienamen „Dulcinea von Toboso“ versehen, während Sancho Pansa genau weiß, dass es sich um eine sehr praktisch veranlagte Bäuerin handelt. Auch dieser Widerspruch zwischen Phantasie und Wirklichkeit sorgt für manche komische Verwicklung im Verlauf der Geschichte. – Ein weiterer running gag sind die anderen Dorfbewohner aus Don Quijotes Dorf, namentlich der Pfarrer, der Barbier und der Baccalaureus Samson Carrasco, die immer wieder neue Listen ersinnen, wie sie Don Quijote zurück in ihr Dorf locken und von seinem Wahn befreien könnten.

Einzelthemen

Neben der Parodie auf die Ritterromane und der Komik des Paars Don Quijote und Sancho Pansa enthält die Geschichte zahlreiche durchaus ernst gemeinte Aussagen und Lehren, die am Rande eingeflochten werden. So hält Don Quijote immer wieder kluge Reden über Themen, die mit dem Rittertum nichts zu tun haben, und alle verwundern sich, wie jemand, der einem so schrecklichen Wahn verfallen ist, so kluge Reden halten kann. Auch werden vor allem im ersten Teil einige Novellen nach Art des Decamerone eingeflochten (z.B. Cardenio und Luscinda, Alfonso und Lotario, Don Luis und Clara, Claudia und Don Vicente, Quiteria, Camacho und Basilio, der Narr von Sevilla, der Abstieg in die Höhle des Montesinos (II 22 f.)), die weitgehend unabhängig von der übrigen Handlung erzählt werden. Hier sind insbesondere Auseinandersetzungen mit islamischen Piraten zu nennen, sowie die Befreiung und der Freikauf von Christen aus der sarazenischen Gefangenschaft. Es erinnert so vieles an den bekannten Plot von Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“, einschließlich des Auftretens eines Renegaten, dass man hier wohl einen Einfluss sehen muss.

Einige Geschichten sind regelrecht feministisch: In der Episode um die Schäferin Marcela (I 12-14) wird beißender Spott gegen alle Männer geübt, die glauben, von einer Frau erhört werden zu müssen, wenn sie nur intensiv genug um diese werben – doch die Schäferin Marcela bleibt lieber unverheiratet und beklagt sich über die Zudringlichkeit der Männer. Diese wiederum vergehen reihenweise buchstäblich vor Liebe, und es ist urkomisch. – Die schöne Leandra wiederum, um die zahllose Jünglinge warben, verschmähte alle guten Angebote und brannte statt dessen mit einem Blender durch (I 52). Ihre verschmähten Liebhaber sehen daraufhin keinen Sinn mehr im Leben und ziehen sich in Scharen in eine Einöde zurück, um dort ein arkadisches Schäferleben zu fristen. Zynisch sagt einer der Hirten über eine seiner Ziegen: „Denn als Weib, das sie ist, schätze ich sie gering“. – Die Ehefrau von Sancho Pansa gibt diese Weisheit zum Besten: „Es ist nun mal das Kreuz von uns Frauen, dass wir unseren Männern gehorsam sein müssen, wenn’s auch die größten Gimpel sind.“ (II 5) Schließlich begegnet uns noch eine Frau, die sich als Mann verkleidet, um aus dem Haus gehen zu können (II 49). – In manchen Episoden werden Freundschaft und Liebe ähnlich schwärmerisch gefeiert wie in Hölderlins Hyperion.

In einer Rede über Waffenkunst und Wissenschaft doziert Don Quijote, dass das Ziel des Krieges der Frieden ist, dass Waffen und Recht einander bedingen, auch wenn der Soldat über dem Rechtsgelehrten stünde, sowie über die Veränderung des Krieges durch die Erfindung des Schießpulvers (I 37). An anderer Stelle belehrt Don Quijote über die Weltgeographie des Ptolemaios (II 29). Für das Gubernieren eines Eilandes weiß Don Quijote weisen Rat an den zukünftigen Herrscher Sancho Pansa zu erteilen (II 42).

An der Ständegesellschaft wird reichlich Kritik geübt. So wird der Adel sehr grundsätzlich delegitimiert: „Glaubst du aber, dein Fürstenblut würde verderben, wenn du es mit dem meinen mischst, bedenke, dass es auf Erden wenig oder keinen Adel gibt, der diesen Weg nicht gegangen wäre, und dass der Frauen Herkunft für die Vornehmheit der Nachkommen nicht von Bedeutung ist, umso mehr, als der wahre Adel in der Tugend liegt“ (I 36). Die Welt wird mit einem Theater verglichen: „Das Gleiche … spielt sich auf der Bühne unserer Welt ab, wo die einen die Kaiser geben, andere die Päpste, kurzum, all die Masken, die man auf den Theatern sieht. Aber wenn man zum Schlussakt gelangt, wenn das Leben also endigt, zieht der Tod allen die Kostüme aus, die sie voneinander unterschieden haben, und im Grab ist einer wie der andere.“ (II 12) Vom Papst sagt Sancho Pansa: „Jeder ist Kind seiner Taten, der Papst ist auch nur ein Mensch wie ich, da kann ich doch allemal Gubernator eines Eilandes werden“ (I 47). Und Don Quijote teilt die Menschen in vier Klassen ein: Hoch und niedrig stehende Menschen, aber vor allem auch sich erhöhende und sich erniedrigende Menschen (II 6): Für Don Quijote ist die soziale Hierarchie also durchlässig und sollte durch Leistung bestimmt werden. – In dem 1668/69 erschienenen „Simplicissimus“ von Grimmelshausen wird übrigens eine ähnliche Kritik an Adel und Ständegesellschaft geübt.

Don Quijote spricht sich eindeutig gegen Sklaverei aus: „Mir jedoch erscheint es grausam, wenn man die zu Sklaven macht, die Gott und die Natur frei erschuf.“ (I 22) Auch Rassismus wird besprochen: Rassismus gegen Schwarze wird in den Worten des zynisch-praktischen Sancho Pansa saftig ironisiert und damit kritisiert. Für den Fall, dass sein zu gubernierendes Eiland in Afrika liegt, macht sich Sancho Pansa folgende Gedanken: „Was juckt es mich, wenn meine Vasallen schwarz sind? Was muss ich anderes tun, als sie einsammeln und nach Spanien bringen? Da verkaufe ich sie und kriege bare Münze dafür, damit besorge ich mir einen Titel oder irgendein Amt, und davon lebe ich und habe für den Rest meiner Tage keine Sorgen mehr. Ja, immer schön wach und rege, so viel Verstand und Geschick wirst du doch haben, dass du dreißig- oder vierzigtausend Vasallen in einem Schwupp an den Mann bringst! Bei Gott, die will ich ihm Nu verschachert haben, paarweise oder im Haufen, und so pechschwarz sie auch sein mögen, ich will sie mir versilbern und vergolden. Nur her zu mir, ich bin ein harmloser, kleiner Windelschisser! Mit derlei Gedanken war er so beschäftigt und zufrieden, dass er ganz den Verdruss vergaß, zu Fuß gehen zu müssen.“ (I 29) – Wie gesagt, die Kritik am Umgang mit Schwarzen kommt ironisch durch den zynischen Pragmatismus des Sancho Pansa zum Ausdruck. Wenige Absätze später ist von dem „berühmten Mohr Muzaraque“ die Rede: Diese positive Konnotation eines Mohren kontrastiert auffallend zu den Worten Sancho Pansas. – An ganz anderer Stelle wird die Geschichte eines Mohren erzählt, der eine Gefangene bewachen soll, sie küsst, und dafür bestraft wird (II 26). Auch dieses Motiv taucht in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ auf. Die Geschichte wird als Marionettentheater aufgeführt. Anschließend zerhaut Don Quijote im Wahn alle Mohrenfiguren, wie wenn sie echt wären, nur um hinterher kleinlaut Schadenersatz zu bezahlen.

Juden kommen als Thema fast gar nicht vor. An einer Stelle sagt Sancho Pansa: „Und selbst wenn ich mir sonst nichts zugute halten könnte, als fest und unerschütterlich an Gott zu glauben, wie ich’s tue, und an all das, was die heilige römisch-katholische Kirche sagt und glaubt, und Todfeind der Juden zu sein, wie ich’s bin, müssten doch die Geschichtenschreiber Erbarmen mit mir haben und mich in ihren Schriften gut behandeln.“ (II 8) – Wir vermuten auch hier die Ironie des Autors, die diese naive Haltung durch ihre Darstellung kritisieren will. Ganz so deutlich wie bei den Mohren wird die ironische Kritik hier allerdings nicht.

Der Islam kommt immer wieder vor, vor allem als Bedrohung durch Piraten von den nordafrikanischen Küsten. Aber auch die Vertreibung der Morisken aus Spanien wird wiederholt angesprochen. Die Morisken waren die letzten Muslime, die in Spanien nach der Reconquista zurückblieben und zum Christentum konvertierten. Doch viele von ihnen nur zum Schein, weshalb auch sie später vertrieben wurden. Dieses Schicksal spiegelt sich vor allem in der Person von Ricote wieder, einem Krämer aus dem Dorf von Sancho Pansa (II 54). Dieser brachte seine Familie nach Deutschland, um als Pilger nach Spanien zurückzukehren. Einerseits ist er voller Trauer über den Verlust seiner Heimat Spanien, andererseits zeigt er volles Verständnis für die Vertreibung der Morisken: „… dass es meiner Meinung nach göttliche Eingebung war, die Seine Majestät bewogen hat, einen so beherzten Entschluss in die Tat umzusetzen, nicht etwa, weil wir alle schuldig gewesen wären, nein, manche unter uns waren aufrechte, wahre Christen, doch so wenige, dass sie gegen die nicht ankamen, die es nicht waren, und eine Schlange nährt man nicht am Busen. Kurzum, zu Recht war unsere Strafe die Vertreibung“ (II 54).

Von Deutschland heißt es in diesem Zusammenhang: „Ich zog weiter nach Italien und kam schließlich nach Deutschland, wo wir, wie mir schien, freier würden leben können, denn die Leute dort sind nicht allzu zimperlich, jeder lebt, wie er mag, nach eigenem Gusto und Gewissen.“ (II 54) – Deutschland kommt im ganzen Roman sonst nur noch an einer einzigen anderen Stelle vor, an der von „feinstem Tuch aus deutschen Landen“ die Rede ist (II 32), als Gegensatz zu grobem, gewöhnlichen Tuch.

Auch die Moriskin Ana Felix wurde nach Algerien vertrieben, flieht jedoch zurück nach Spanien, weil sie überzeugte Christin ist (II 63). Dort wird sie gut aufgenommen, und alle reden davon, dass sie sich dafür einsetzen wollen, dass Ana Felix in Spanien bleiben darf. Dabei wird ausdrücklich der Beauftragte für die Vertreibung der Morisken, Don Bernardino de Velasco, Graf von Salazar, als konsequent und nicht barmherzig im Einzelfall beschrieben, und dafür auch gelobt, weil dies so notwendig sei (II 65). – Schließlich wird auf einen Unterschied im Rechtssystem zwischen Spanien und den islamischen Ländern hingewiesen. Hier mit dem Wort „Mohr“, aber gemeint sind wiederum Muslime: „Da könnt Ihr sehen, das Verbrechen ist kaum begangen, und die Strafe folgt auf dem Fuß, denn unter den Mohren gibt es kein Vorladen der Parteien, kein Vertagen zur Erbringung weiterer Beweise wie bei uns.“ (II 26)

Neben der Kritik an den Ritterromanen ist auch eine Kritik an anderer Literatur sowie der Schauspiele zur damaligen Zeit eingeflochten (I 48). In einem Vortrag über Dichtung fordert Don Quijote eine Dichtung in der Nationalsprache (II 16). Als Don Quijote einem Transport von Gemälden begegnet, kommentiert er die verschiedenen Gemälde mit Kennerschaft (II 58). – Immer wieder streut Cervantes auch Zitate, Hinweise und Vergleiche zu Autoren der klassischen Antike ein, die er offenbar gut kannte.

Literarische Finessen

Wie schon gesagt, ist „Don Quijote“ ein Schlüsselroman der europäischen Geistesgeschichte, der alle späteren literarischen Werke stark beeinflusst hat. Eine Besonderheit für die damalige Zeit war es, dass die handelnden Personen des Romans nicht nur Adlige, Geistliche und Ritter waren, sondern das einfache Volk: Bauern, Barbiere, Schankwirte, usw., die sich mit ihren praktischen Sichtweisen und ihrer einfachen Sprache zur Geltung bringen.

Die größte literarische Finesse des Romans liegt aber in seiner Selbstbezüglichkeit. Wir sahen bereits, dass der Roman die Forderung nach einer Literatur in der Landessprache enthält, und diese Forderung zugleich erfüllt. Auch an anderen Stellen beziehen sich die Romanfiguren auf den Verfasser des Romans, in dem sie als Romanfiguren existieren, z.B. Sancho Pansa: „… müssten doch die Geschichtenschreiber Erbarmen mit mir haben und mich in ihren Schriften gut behandeln. Aber sollen sie sagen, was sie wollen, nackt bin ich geboren, nackt bin ich jetzt, hab nichts gewonnen, nichts hinzugesetzt. Und solang ich nur in einem Buch stecke und von Hand zu Hand kreuz und quer durch die Welt gereicht werde, schere ich mich den Teufel drum, was immer man von mir sagen mag.“ (II 8)

Es wird aber noch doller: Im zweiten Band begegnen Don Quijote und Sancho Pansa lauter Leuten, die den ersten Band des Romans schon gelesen haben! Diese wissen bereits, mit wem sie es zu tun haben, und treiben nun erst recht ihren Scherz mit den beiden. Es wird auch deutlich, dass insbesondere die Quasseleien des Sancho Pansa besonders gut beim Publikum angekommen sind. Besonders auffällig wird dies bei der Begegnung mit der Herzogin und dem Herzog, der einen Großteil des zweiten Bandes einnimmt (II 30 ff.). Das Herzogspaar lässt ihre Dienerschaft ganze Szenerien aus der Traumwelt des Don Quijote vorgaukeln, um ihn auf die Schippe zu nehmen, so z.B. einen Aufmarsch der bösen und der guten Zauberer im Wald (II 34 f.), und dass Sancho Pansa sich viele tausend Schläge selbst versetzen muss, um Dulcinea von Toboso aus einer angeblichen Verzauberung zu lösen (ein running gag im zweiten Band). Oder der vorgegaukelte Ritt auf dem Holzpferd Clavilegno durch die Lüfte (II 36). Vom Herzog erhält Sancho Pansa zum Schein das Gubernament über ein „Eiland“, nämlich über ein Dorf namens Baratária (II 44). Und Sancho Pansa schlägt sich erstaunlich wacker und weise als Gubernator!

In den Kapiteln beim Herzogspaar verlaufen die Handlungsstränge mit Don Quijote und Sancho Pansa getrennt. Deshalb alternieren die Kapitel: Mal verfolgen wir, was mit Don Quijote passiert, mal, was mit Sancho Pansa vor sich geht.

Ebenfalls im zweiten Band besucht Don Quijote eine Druckerei (II 62). Es wird genau beschrieben, wie es damals in einer Druckerei zuging, und es wird bei dieser Gelegenheit auch ausgiebig über das Elend des Verlagswesen und die Schwierigkeiten von Autoren mit ihren Verlegern hergezogen. Vor allem aber wird in dieser Druckerei auch der erste Band des Don Quijote gedruckt. Als Don Quijote dies bemerkt, verlässt er die Druckerei schnell wieder. – Der zweite Band (II 1) nimmt auch Bezug zu einem Bruch im Handlungsverlauf des ersten Bandes, der dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein kann (I 25): Zuerst wird das Grauohr des Sancho Pansa gestohlen, doch wenig später reitet Sancho Pansa wieder munter auf ihm, wie wenn es nie gestohlen worden wäre. Die Schuld für diesen Bruch in der Handlung wird dem Drucker zugeschoben.

Nicht zuletzt kommt im zweiten Band auch ein anderer zweiter Band des „Don Quijote“ vor, der aber gar nicht von Cervantes geschrieben wurde, sondern von einem Unbekannten, der sich an den Erfolg des ersten Bandes anhängen wollte (II 59, 70, 74). Da der falsche zweite Band erwähnt, dass Don Quijote angeblich in Saragossa war, beschließt Don Quijote, Saragossa zu meiden, um den Autor des falschen zweiten Bandes Lügen zu strafen.

Schließlich wird die gesamte Geschichte von Don Quijote als eine Geschichte des fiktiven maurischen Autors Cide Hamete Benengeli dargestellt. Cervantes selbst gibt sich als der Übersetzer der Geschichte aus, der die Geschichte aber nicht nur übersetzt, sondern auch kommentiert, z.B. so: „Cide Hamete, der Chronist dieser großen Historie, tritt zu Beginn dieses Kapitels mit folgenden Worten auf: ‚Ich schwöre als guter Katholik und Christ …‘ Dazu merkt sein Übersetzer an, wenn Cide Hamete als guter Christ schwöre, wo er doch tatsächlich Maure sei, habe er nichts anderes sagen wollen, als dass ein Katholik beim Schwören die Wahrheit schwört oder stets Wahres schwören und sagen sollte und er nun ebenfalls die Wahrheit spreche, ganz wie ein solcher Katholik“ (II 27) – In Wahrheit ist es natürlich Cervantes selbst, der spricht.

Ein tieferer Sinn?

Gibt es hinter dem vergnüglichen aber oberflächlichen Plot und den vielen Weisheiten am Rande eine große Weisheit, einen tieferen Sinn der Gesamtgeschichte? Viele meinen, dass Cervantes seine Leser darüber hätte verwirren wollen, was Wahrheit und was Fiktion ist. Doch das ist nicht der Fall. Das ganze Buch hindurch ist immer und zu jedem Zeitpunkt klar, dass Don Quijote nicht mehr alle Tassen im Schrank hat und einem Wahn verfallen ist. Es ist immer klar, was Wirklichkeit ist und was nur Phantasie, auch wenn es manchmal etwas verwickelt wird. Auch dort, wo es in einem Disput zwischen Sancho Pansa und einer anderen Person über die Frage, ob ein Scherbecken ein Ritterhelm und der Packsattel eines Esels das wertvolle Riemenwerk eines Pferdes sei, für einen Moment zu der Situation kommt, dass Wahn und Wirklichkeit für die Romanfiguren ununterscheidbar scheinen, wird diese Unklarheit sofort eindeutig aufgelöst durch den Stoßseufzer des Kontrahenten, der sich schlussendlich doch nicht beirren lässt: „Ich schwör’s …, niemand auf Erden kann mir einreden, das hier sei kein Scherbecken und das da kein Eselsattel.“ (I 45)

Die beiden Romanfiguren Don Quijote und Sancho Pansa kommen allerdings immer wieder in Verwirrung, was Realität und was Trug ist. Don Quijote wegen seines Wahnes, Sancho Pansa wegen seiner Unintellektualität, die ihn vor einem eigenen Urteil zurückschrecken lässt und allzu bereitwillig anderen glauben lässt, die er für klüger hält. Doch der Leser des Romans kommt an keiner Stelle in Zweifel.

Während Sancho Pansa durchaus auch manches aus der blauen Luft heraus erfindet, und sich darüber meistens auch bewusst ist, glaubt Don Quijote praktisch alles, was er in seinem Wahn zu sehen glaubt. Nur an einer einzigen Stelle scheint es, als habe Don Quijote ein Bewusstsein davon, dass es sich bei dem, was er anderen erzählt, um Lüge handele: Als Sancho Pansa reichlich Lügen auftischt, was er am Himmel angeblich gesehen habe, als er mit dem Holzpferd Clavilegno zu den Sternen ritt, sagt Don Quijote zu ihm: „Sancho, wenn man ihm glauben soll, was er am Himmel gesehen hat, soll er mir auch glauben, was ich in der Höhle des Montesinos gesehen habe. Wir verstehen uns.“ (II 41) – Doch was isoliert wie eine recht klare Aufforderung nach dem Muster aussieht: „Glaubst Du meine Lügen, glaub‘ ich Deine Lügen“, ist in Wahrheit anders zu verstehen. Denn nur wenige Kapitel zuvor wird berichtet, wie Don Quijote in Zweifel darüber kommt, ob seine Erlebnisse in der Höhle des Montesinos (II 22 f.) Realität oder Traum waren: „weil sich ihm die Frage, ob es Wirklichkeit war, was er in der Höhle des Montesinos erlebt hatte, immer mehr verwirrte.“ (II 34) Es geht also nicht um erfundene Lüge, sondern um Traum, und es sind Zweifel, ob es Realität oder Traum war, aber keine Gewissheit, dass es ein Traum war. Damit ist der obige Satz an Sancho Pansa eine Aufforderung, weniger misstrauisch zu sein, dann werde auch er, Don Quijote, weniger misstrauisch sein. Aus moderner Perspektive ist das von Don Quijote vorgeschlagene gegenseitige Vertrauen natürlich nicht sehr vernünftig, aber es geht nicht um Vernunft, sondern es geht um Ritterlichkeit und gutes Benehmen, zu dem Don Quijote Sancho Pansa immer wieder ermahnt. So auch hier. Das ist alles.

Es gibt auch Stimmen, die sagen, der Roman solle zeigen, dass tugendhafte Menschen Idioten sind, die nicht verstanden haben, wie die Welt funktioniert. Wer tugendhaft und gut sein will, sei ein Idiot, und die klugen Menschen seien bauernschlau wie Sancho Pansa. Doch auch das ist falsch. Denn die Idiotie des Don Quijote liegt nicht zuerst in seinem Streben nach Tugendhaftigkeit, sondern vor allem in seinem Wahn, der ihn die Realität verkennen lässt. Und der zynische Pragmatismus des Sancho Pansa wird in diesem Roman mehr als einmal gehörig auf die Schippe genommen.

Eine Kritik, die man durchaus aus dem Roman herauslesen könnte, ist eine Kritik an den holzschnittartigen Vorstellungen von Tugendhaftigkeit des Don Quijote, der seine Ideale ohne Rücksicht auf eigene Verluste durchzusetzen versucht, und damit immer wieder scheitert. Aber auch hier ist nicht die Tugendhaftigkeit selbst das Problem, sondern das Verkennen der Realität, die im Wahn des Don Quijote begründet ist. Damit formuliert der Roman eine Kritik an der Gesinnung von „Gutmenschen“. „Gutmenschen“ sind Menschen, die stets das Gute wollen, was an sich kein Problem wäre, die aber von der Realität und damit auch von dem, was wirklich gut ist, keine Ahnung haben. Man könnte auch von Naivlingen sprechen. Aber diese Kritik steht nicht im Zentrum des Romans.

Im Zentrum des Romans steht die Kritik an den Ritterromanen. Das ist der Plot, der bis zuletzt durchgehalten wird. Auch die Bekehrung des Don Quijote von seinem Wahn am Ende des zweiten Bandes wird einzig dadurch motiviert, dass Don Quijote auf diese Weise den Ritterbüchern abschwören kann, bevor er stirbt. Ein anderer Sinn ist in der Bekehrung des Don Quijote nicht erkennbar, es wird auch kein Grund genannt, warum sich Don Quijote bekehrt.

Eine moderne Deutung

Cervantes ging es in seinem Werk um die Verwirrung des Menschen darüber, was Realität und was Trug ist, so schreiben es Literaturwissenschaftler. Doch das gibt der Roman so nicht her. Denn Verrücktheit auf der einen Seite (Don Quijote) und Unintellektualität auf der anderen Seite (Sancho Pansa) sind nicht das, was wir meinen, wenn wir von der Verwirrung über Realität und Trug in einem tieferen, philosophischen Sinne sprechen. Dieses Thema finden wir in dem Schauspiel „Das Leben ist ein Traum“ von Pedro Calderón von 1634/35, aber nicht hier.

Doch es gibt eine unverhofft moderne Deutungsmöglichkeit für „Don Quijote“! Man könnte den Wahn des Don Quijote, der aus seiner völligen Versenkung in die Welt der Ritterromane herrührt, mit dem modernen Phänomen der Informationsblase vergleichen: Durch eigene Präferenzen und durch die Algorithmen elektronischer Medien bekommt jeder heute ein anderes Universum von Informationen serviert, das bestimmte Teile der Wirklichkeit – alternative Meinungen – ausblendet, und im Extremfall in der Verstrickung in einem Verschwörungswahn enden kann. Das trifft den Wahn des Don Quijote ziemlich gut!

Wir alle kennen das Phänomen von Andersdenkenden, die sich in einem Universum von Irrtümern eingerichtet haben, bei dem ein Irrtum den anderen stützt, und die richtige Argumente falsch verwenden. Es ist unheimlich schwierig, ein solchermaßen geschlossenes Weltbild argumentativ aufzusprengen. Und tatsächlich gibt es mindestens zwei Versuche in diesem Roman, Don Quijote mithilfe von Argumenten davon zu überzeugen, dass er sich in einem Wahn befindet. Doch sie scheitern, denn Don Quijote weiß seinen Wahn mit Argumenten zu verteidigen. Als der Pfarrer des Dorfes z.B. nach den Riesen fragt, bringt Don Quijote die Knochenfunde von Zwergelefanten auf Sizilien vor, die man damals für Knochen von riesenhaften, einäugigen Zyklopen hielt (II 1). Und auch ein Domherr kommt mit seinen Argumenten nicht weit und muss Don Quijote einige Zugeständnisse machen, dass er in diesem und jenem Punkt durchaus Recht hat. „Der Domherr konnte nicht genug über solch durchdachten Unfug staunen, den er von Don Quijote hörte …“ (I 50).

Aber auch Sancho Pansa passt hervorragend in diese moderne Deutung: Denn Sancho Pansa ist der exemplarisch unintellektuelle Mensch, für den der Unterschied zwischen Wahr und Falsch nicht so wichtig ist, der seinen eigenen Verstand unter die Autorität von Leuten stellt, die er für gelehrt hält, und der von der Aussicht, das Gubernament eines Eilandes zu erlangen, so geblendet ist, dass er völlig außer acht lässt, dass diese Aussicht auf Sand gebaut ist. Das Zitat über den Domherrn von oben setzt sich so fort: „… und schließlich staunte er über Sanchos Torheit, den es so hartnäckig nach der Grafschaft verlangte, die sein Herr ihm versprochen hatte.“ (I 50)

Diese beiden Charaktere, der irrende Intellektuelle und der irrende Unintellektuelle, begegnen einem auch in der Gegenwart auf Schritt und Tritt, und in der Welt der Sozialen Netzwerke des Internets wurde daraus ein Massenphänomen. Schon Hannah Arendt meinte, Intellektuelle hätten es leichter, sich an eine Diktatur anzupassen, weil sie über die besseren geistigen Fähigkeiten verfügen, sich selbst argumentativ zu betrügen. Und unintellektuelle Menschen, für die die Wahrheit keinen hohen Stellenwert hat, die irgendwelchen Autoritäten hinterherlaufen, und die auf falsche Versprechungen oder falsche Angstmacherei hereinfallen, gibt es heute ebenfalls zuhauf.

Die modernen Don Quijotes kämpfen nicht gegen Windmühlen, die sie für Riesen halten, sondern z.B. gegen Rassismus, den sie überall zu sehen glauben, auch dort wo keiner ist. Sie haben tausend Argumente, warum man die Stromversorgung einer modernen Volkswirtschaft allein aus Sonne und Wind bestreiten könnte, und übersehen dabei wesentliche Randbedingungen. Oder sie wiegeln berechtigte Hinweise auf die Radikalität einer Partei mit dem Argument ab, es handele sich nur um die Propaganda der Gegenseite.

Die modernen Sancho Pansas wiederum hängen sich mit ihrer Meinung an irgendeine Fernsehpersönlichkeit an, statt selbst zu denken. Insbesondere könne es nicht sein, dass die Experten einer bevorzugten Partei dermaßen irren, denn es sind ja Experten! Die modernen Sancho Pansas hoffen auf mehr Bürgergeld und höhere Renten, ohne zu sehen, dass die Sozialsysteme unbezahlbar werden und massive Fehlanreize gesetzt werden, und sie lassen sich von politisch interessierter Seite übertriebene Ängste einreden, etwa vor der Atomkraft, dem Fracking oder dem Klimawandel.

Womöglich ist diese moderne Deutung zugleich auch die originale Deutung für das 17. Jahrhundert, nur, dass wir modernen Menschen den Zeitgeist von damals nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen und deshalb die Anspielungen darauf für uns nicht mehr erkennbar sind.

Fazit

Der Roman „Don Quijote“ von Cervantes ist eine gelungene Zeitkritik, die mit viel Witz geschrieben ist und ein großes Lesevergnügen bereitet. Viele der Verhaltens- und Denkweisen, die Cervantes im 17. Jahrhundert auf die Schippe nahm, finden sich auch in unserer Gegenwart wieder, und so ist der Roman immer noch höchst lesbar und von einer geradezu zeitlosen Aktualität.

Die neue Übersetzung von Susanne Lange bringt den Witz in den Dialogen hervorragend zum Ausdruck. Das Hörbuch wurde von Christian Brückner wie immer bestens vorgelesen. Allerdings ist Christian Brückner ein langsamer Leser. Man kann die Geschwindigkeit auf 1.7 steigern und es hört sich immer noch gut an. Die Plappereien des Sancho Pansa kommen dabei vielleicht sogar noch besser zur Geltung. Das Hörbuch hat eine Länge von 46 Stunden. Mit einer Geschwindigkeit von 1.7 sind es noch 35 Stunden. – Die Übersetzung von Susanne Lange ist im Hanser-Verlag in zwei Bänden erschienen, die zusammen 1490 Seiten haben, und über Anmerkungen, Register und ein Nachwort verfügen. Die verlangten 78,- EUR sind dafür wohlinvestiert.

Im allgemeinen Bewusstsein ist Don Quijote heute nur noch wegen seines Kampfes gegen die Windmühlen bekannt. Das liegt vermutlich daran, dass der Kampf gegen die Windmühlen eine sehr anschauliche Episode ist, die ziemlich am Anfang des ersten Bandes vorkommt. Vermutlich haben viele Leser auch gar nicht viel weiter in den Roman hineingelesen. Es ist ähnlich wie beim „Simplicissimus“ von Grimmelshausen, der auch nur noch für die Ereignisse am Anfang der Geschichte bekannt ist, obwohl so viel mehr darin enthalten ist. – Das deutsche Sprichwort „gegen Windmühlen kämpfen“ hat übrigens eine andere Bedeutung als der Kampf gegen die Windmühlen im Roman. Im Roman täuscht sich Don Quijote über die wahre Natur der Windmühlen und hält sie für Riesen. Das Sprichwort kennt diesen Aspekt der Selbsttäuschung hingegen nicht und geht von einem durchaus bekämpfenswerten Gegner aus, den zu bekämpfen allerdings sinnlos ist, weil er nicht besiegt werden kann.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit (1967)

Das Epos Lateinamerikas

Der Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marquez aus dem Jahr 1967 ist ein wahres Epos: Es ist nicht nur eine Geschichte, sondern die Geschichte aller Geschichten, eine Erzählung, die eine ganze Welt umgreift und in Worte fasst. Es ist die Welt Lateinamerikas um 1850-1950 und ihr Lebensgefühl.

Der Roman entfaltet sein Panorama anhand der Geschichte der Familie Buendía über mehrere Generationen hinweg. Am Anfang steht die Gründung des Ortes Macondo, der klein und beschaulich ist, ohne Kontakt zur Außenwelt, der nur von Zigeunern besucht wird. Nach und nach ziehen Staat und Kirche ein, dann kommt ein immer wieder aufflammender Bürgerkrieg zwischen „Liberalen“ und „Konservativen“, dann kommen italienische Tanzlehrer und französische Huren, dann eine ausbeuterische Bananengesellschaft und die Eisenbahn, Streiks und Erschießungen von Arbeitern, schließlich die Mode der 20er Jahre, das Motorrad und (fast) das Flugzeug. Die Geschichte der Buendías wiederholt sich in jeder Generation auf immer gleiche und doch immer wieder andere Weise. Verwirrenderweise wiederholen sich auch die immergleichen Namen: Aureliano, José Arcadio, Amaranta, Remedios, usw. Der Eindruck eines ewigen Kreislaufes entsteht, von Streben und vergeblicher Hoffnung, von Verrücktheit und Genie. Der Roman enthält zahllose „running gags“, die immer wieder und wieder vorkommen. Der Roman hat Züge eines psychedelischen Flusses, der rauschhaft vor den Augen des Lesers vorübergleitet.

Zum Lebensgefühl Lateinamerikas scheint auch der Aberglaube als fester Bestandteil zu gehören. Er wird in diesem Roman durch diverse übernatürliche Phänomene repräsentiert, die als faktische Gegebenheiten ohne weiteres in die Handlung eingebaut werden. Dazu gehören die Geister von Verstorbenen, Vorahnungen, Telepathie, die Levitation eines Priesters, Gegenstände, die im Haus umherwandern, Vieh, das besonders fruchtbar ist, je mehr Sex seine Besitzerin hat, oder jahrelanger Dauerregen, und ein Zimmer, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint – aber nicht für jeden. Dazu gehören auch Menschen, die über 100 Jahre alt werden und über mehrere Generationen im Leben mitmischen, und eine Schönheit in edler Einfalt, die der Oberst für die klügste von allen hält, weil sie ein vernünftiges Verhältnis zur Sexualität hat, und die leibhaftig in den Himmel auffährt. Diese Vorkommnisse sind aber nicht plakativ „esoterisch“ aufgebauscht, sondern zur Gesamtatmosphäre passend in die Handlung eingewoben.

Zu diesen übernatürlichen Phänomenen gehört insbesondere auch der Zigeuner Melquiades, der Alchemie, antike Texte und geheime Manuskripte nach Macondo bringt, und eine Prophezeiung über die Zukunft der Familie Buendía ausspricht. Und natürlich der „weise Katalane“, der eine Buchhandlung für seltene Bücher im Ort eröffnet, die am Ende des Romans zur Entzifferung der Manuskripte des Melquiades und seiner Prophezeiung gebraucht werden, woraufhin der Ort Macondo der endgültigen Zerstörung anheim fällt.

Sexualität wird in diesem Roman vorwiegend derb gelebt. Liebe im eigentlichen Sinne kommt zwar vor, aber selten. Es mag dem Milieu entsprechen, aber man hätte sich etwas mehr Kritik gewünscht, und sei es nur durch Ironie. Es ist so ziemlich alles dabei: Angefangen von Männern, die Hausmägde schwängern und dann verlassen, über Zweitfrauen und Scheinehen, über Mütter, die ihre Töchter dem berühmten Oberst wie einem Zuchtbullen zuführen, über ständig vorkommende Prostitution, die vom Autor immer wieder als heilsam und hilfreich gezeichnet wird, über hin und wieder vorkommende Inzucht, über die Andeutung eines Päderasten, bis hin zu Beziehungen, die allein auf rauschhaftem Sex gegründet sind.

Ein Grundthema des Romans, das allerdings immer nur angedeutet und nie zu größeren Höhen der Einsicht geführt wird, ist die Einsamkeit, das Scheitern der Hoffnungen und die Sinnlosigkeit, schließlich das Warten auf den Tod. Dabei die ewige Wiederholung des Immergleichen. Obwohl meistens recht heiter, durchzieht ein melancholischer Grundton das Buch.

Der Schluss des Romans ist etwas seltsam: Für Sippen, die zu hundert Jahren Einsamkeit verdammt waren, so heißt es, gibt es keine zweite Chance. Damit schneidet der Roman seine Verbindung zur Gegenwart ab, und lässt auch keinen Raum für eine bessere Zukunft. Der Roman beschreibt, was geschieht, gibt aber keine Ratschläge und vermittelt keinen Sinn.

Nebenbei:

Der Autor des Romans war Unterstützer diverser kommunistischer Regime. Davon ist im Roman aber kaum etwas zu merken. Eine leichte Sympathie für die „Liberalen“ hat damit nichts zu tun. Im Roman sind „Konservative“ und „Liberale“ gleichermaßen albern. Auch die Bananengesellschaft der „Gringos“ wird zumindest nicht auffallend für ein antiamerikanisches Ressentiment ausgeschlachtet.

Unter den Manuskripten des Melquiades sind auch die Texte von Hermann dem Lahmen, einem Mönch von der Insel Reichenau („damit er das Astrolabium, den Kompass und den Sextanten bedienen konnte“).

Die Neuübersetzung von Dagmar Ploetz erweist sich als sehr gelungen. Als Vorleser hat Ulrich Noethen komplett überzeugt.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 21. November 2018)

Leo Tolstoj: Krieg und Frieden (1868/69)

Trotz allem ein echter Klassiker über Mensch und Gesellschaft, der bleiben wird

Der Roman „Krieg und Frieden“ von Tolstoj beschreibt den Werdegang mehrerer Familien und ihres Umfeldes rund um die Zeit des Russlandfeldzuges Napoleons. Obwohl man zunächst den Eindruck hat, einem eher oberflächlichen Werk wie etwa einem Roman von Alexandre Dumas gegenüber zu stehen, zeigt sich bald, dass der Roman reich an Einsichten ist, die teils implizit, teils fast aufdringlich explizit vermittelt werden.

Zunächst bietet sich eine Fülle an Material, um seine Menschenkenntnis zu schulen und Einsichten in das gesellschaftliche Leben zu gewinnen. Zahlreiche Charaktere und ihre Veränderung und Entwicklung nach Situation, Stimmung und Zeitläuften werden genauestens nachgezeichnet: Da ist der Besonnene, der Tatkräftige, der Heißsporn, der Vorsichtige, der Praktische, der Karrierist, der Vater, die Mutter, die Kinder, die Brüder, die Schwestern, der naive Intellektuelle, der Reiche, der Alte, der Bauer, der Adelige, die Gesellschafterin, der Hauslehrer, der Kutscher, der General, der Skeptiker, die Gläubige usw. Diese Charaktere sind aber nicht stereotyp gezeichnet, sondern durchlaufen eine Entwicklung. Es handelt sich auch keineswegs um Randfiguren: Tolstojs „Krieg und Frieden“ hat nicht zwei oder drei Hauptpersonen, sondern gleich ein ganzes Dutzend davon.

Als Folie für diese Figuren entfaltet sich in epischer Breite ein gewaltiger Bilderbogen verschiedenster typischer Szenen des gesellschaftlichen Lebens: Die Salonrunde, der Ball, die Jagdgesellschaft, das Militärleben, die Schlacht, das Duell, der Gottesdienst, die Begegnung mit dem Kaiser, die Eheanbahnung, die Geburt, die Sterbeszene, die Bauernrevolte, das vertraute Zwiegespräch unter Eheleuten, die Rituale der Freimaurer usw.

Damit ist dieser Roman auch ein ausgezeichnetes Dokument dieser Zeit. Der moderne Leser wird viel Geduld mitbringen müssen, um diese aufmerksam beschriebenen Szenen genießen zu können; wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Lediglich in der zweiten Hälfte des Romans nehmen die Beschreibungen des größeren geschichtlichen Verlaufs einen deutlich zu großen Raum ein, sie führen zu weit weg von den betrachteten Personen – hier muss man als Leser eben durch.

Tolstoj hebt immer wieder auf die Eigenheiten des russischen Charakters ab. Die Negativfolie dazu ist häufig der deutsche Charakter: Während man den Russen im Krieg zügeln, den Franzosen hingegen in den Krieg prügeln müsse, müsse man dem Deutschen erklären, warum er in den Krieg ziehen solle; die Deutschen seien die einzigen, die Selbstbewusstsein aus einer selbsterfundenen Theorie schöpfen könnten; die Deutschen seien dazu imstande, Verletzte ignorant liegen zu lassen, während sie ihr Hab und Gut retten; der Deutsche wird als „Wurstmacher“ bezeichnet, er spalte sein Korn auf dem Rücken des Beiles, und wenn eine Lokomotive nicht vom Teufel bewegt werde, dann doch sicher „vom Deutschen“.

Das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe und der Abtreibung wird am Rande gestreift. Interessante Einsichten vermittelt der Roman auch zum Thema Freimaurer, die als eine Gruppierung dargestellt werden, deren Mitglieder ihre Ideale genauso selbstgerecht verraten, wie die Mitglieder jeder anderen Kirche auch. Tolstoj hat auch einen Blick für die charakterliche Verhärtung und das schlechte Gewissen von Menschen, die ein Verbrechen auf Befehl begehen, und weist vehement den Gedanken zurück, dass ein Verbrechen verzeihlich werde, wenn es auf Befehl großer Männer geschieht. Die Entscheidungsfindung unter Politikern und Generälen wird ebenso kritisch beleuchtet wie der Umstand, dass in der Politik morgen verdammt sein kann, was heute gilt, und umgekehrt.

Ins Zentrum seiner Darstellungen hat Tolstoj jedoch die Erkenntnis gerückt, dass die Geschichte nicht von großen Männern und Denkern gemacht wird, sondern dass die großen Männer und Denker seiner Auffassung nach nur dem Zug der Zeit entsprechen und nicht wirklich nach eigenem Willen handeln und Einfluss nehmen können. Tolstoj hat damit eine Art Chaostheorie der menschlichen Gesellschaft geschaffen: Das chaotische Zusammenwirken vieler Einzelner sei es, das in Strömungen und Gesetzmäßigkeiten zusammenlaufe. In den allerletzten Absätzen des Romans entwickelt Tolstoj daraus die Idee, dass der Mensch in Wahrheit gar keinen freien Willen habe, dass freier Wille eine Einbildung sei.

Die Radikalität dieser Auffassungen verwundert ein wenig, ist aber für Tolstoj typisch. Denn natürlich hat ein großer Mann erheblich mehr Einfluss auf den Gang der Geschichte als ein kleiner Mann, ein vielgelesener Denker mehr als ein schlichter Arbeiter; und der finale Schluss Tolstojs auf die Nichtexistenz des freien Willens ist vollends übertrieben. Verstehen kann man diese Radikalität nur vor dem Hintergrund der damaligen Geschichtsschreibung, die die großen Männer zu sehr ins Zentrum rückte, was Tolstoj natürlich völlig zurecht kritisiert. Unangenehm fällt auf, dass Tolstoj die Idee, dass große Männer den Gang der Geschichte nicht beeinflussen könnten, immer wieder und wieder in stets neuen und anderen Variationen vorträgt, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches – der Leser ist dessen bald überdrüssig, Tolstoj hört und hört nicht auf, wieder und wieder die gleichen Gedanken zu wiederholen. Tolstoj stößt auch nicht zu einer allgemeinen Theorie kollektiver Irrtümer vor, sondern bleibt ganz bei diesem einen kollektiven Irrtum stehen, dass Geschichte allein von großen Männern gemacht werde.

Fazit

Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ hat einige auffällige Schwächen, dennoch ist und bleibt er ein lesenswerter Klassiker, der dem Leser viel zu geben vermag. Erstaunlich ist dabei, dass dies nicht so sehr an den explizit formulierten Intentionen des Autors liegt, sondern vielmehr an den zahlreichen Einsichten in das Wesen von Mensch und Gesellschaft, die Tolstoj eher implizit mitteilt. Diese sind es, die das Werk zu einem Klassiker machen: Wer mit den Figuren dieses Romans, mit Andrei, Pierre, Natascha, Boris, Nikolai, Marja usw. mitgefiebert hat, gehört fortan zu einem Kreis von Eingeweihten, die einen gemeinsamen Schatz von Einsichten und Erfahrungen teilen. Es lohnt sich, dazu zu gehören.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.

(Erstveröffentlichung auf Amazon am 09. Juli 2010; dort ist die Rezension inzwischen verschwunden)

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